Konservativ sein heißt: immer zu wissen, daß die Lebensuhr tickt.

Wenn es hingegen ein Merkmal des modernen Menschen schlechthin gibt: Er lebt in einer immerwährenden Gegenwart. Für ihn gilt allenfalls die Anzeige seiner Armbanduhr. Sie treibt und hetzt ihn von Ort zu Ort. Er lebt für den Augenblick. Er muß nicht unbedingt wissen, woher er kommt. Und wohin er einst gehen wird, schert ihn nicht. Wird er verbrannt oder in einem “Friedwald” anonym verbuddelt? Egal.

Hora volat

Die moderne Industriegesellschaft zwingt die ihre menschlichen Bestandteile zu ständigen räumlichen Rochaden: morgens nach hier, nachmittags nach dort. Der Ortswechsel wird zum Dauerzustand. Alle Konzentration gilt dem Jetzt und Hier.

Konservative Menschen dagegen leben nicht primär im Raum, die leben in der Zeit. Gerade sie wissen: Hora volat – die Stunde verfliegt. Das wirft viele Fragen auf. Das Morgen und das Übermorgen begrenzt ihren Horizont nicht. Sie denken viel weiter in die Zukunft, wissen sie doch: Irgendwann ist es aus mit mir – und was dann? Was werde ich hinterlassen? Werden die Spuren meines Daseins hinter mir verwehen wie eine Fährte im Wüstensand?

Man kann allerdings nur für den Augenblick und nur in der Gegenwart leben, zeitlos gewissermaßen, wie eine Eintagsfliege, die keine Vergangenheit hat und keine Zukunft kennt. In der Zeit größter menschlicher Not und Vergänglichkeit, am 15.6.163o, mitten im dreißigjährigen Krieg, hieß es in einer Leichenpredigt, die blinden Klosterleute hätten vor Zeiten diesen Reim geführt:

Ich lebe und weiß nicht wie lange,
Ich sterbe und weiß nicht wanne,
Ich fahre und weiß nicht wohin,
Mich wundert, daß ich frölich bin.

Für blinde Klosterleute bildete jeder Augenblick ihre persönliche Ewigkeit. So genügsam wie die blinden Klosterleute damals und moderne Augenblicksmenschen sind Konservative nicht. Konservatives Denken umfaßt notwendig Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zugleich. Es möchte etwas in der Vergangenheit lieb Gewonnenes heute bewahren, damit es künftig noch zur Verfügung steht.

Der wehmütige Rückblick, der besorgte Rundumblick und der sorgende Ausblick sind dem Konservativen in die Wiege gelegt. Da sieht er viel Wertvolles, das er erhalten möchte, sein Leben lang behalten und hegen, weitergeben an seine Nachkommen. Er denkt nämlich nicht nur an sich wie ein nur im Jetzt Lebender. Der Konservative weiß: Er ist nur ein Glied in einer endlos zurückreichenden Folge von Generationen, denen er sein Leben verdankt. Das möchte er in die Zukunft weitergeben.

Er lebt bewußt in der Zeit, in allen Zeiträumen gleichzeitig. Stellen Sie sich eine Zeitrafferaufnahme einer Blüte vor, die vor ihren Augen aufblüht, blüht und verblüht. Ihre Identität bleibt davon unberührt. Was wir uns im zeitgerafften Film sofort deutlich wird, spielt sich im menschlichen Leben in Jahrzehnten ab.

Die körperlichen Augen des Konservativen sehen nur die Gegenwart. Mit den inneren Augen seiner Vorstellungskraft aber ruft er aus seiner Erinnerung das Vergangene ins Bewußtsein zurück und stellt es sich, wie in einem Zeitrafferfilm, gleichzeitig vor. Er vermag sein Gegenüber nicht nur in der Eindimensionalität des Jetzt zu sehen. Was seine Augen dann sähen, wäre wie eine Momentaufnahme nur ein jetziges Gesicht. Wer in Zeitabläufen denkt, vermag Menschen aber wie in einem sich bewegenden Film zu sehen: das Gesicht eines Kindes, es wandelt sich zum Antlitz des Erwachsenen, altert, runzelt sich. Die gesamte Person erschließt sich nicht aus einer Momentaufnahme, sondern erst aus der Abfolge verschiedener Zustände in der Dimension der Zeit.

Ein sehr alter Mensch “ist”, in dieser Weise gesehen, nicht nur, was der Verfall ihm noch gelassen hat. Er “ist” eine geschichtlich gewordene Gesamtpersönlichkeit in ihrem steten Werden, Wachsen und Vergehen. Darum ist der Konservative ein geschichtlicher Mensch. In seiner Vorstellung sieht er nicht nur Individuen sich als Gesamtpersönlichkeiten in ihrer vollständigen Lebenszeit entfalten und vergehen. Kulturen, Völker, Staaten erfaßt er ebenso in ihrer gesamten, geschichtlich gewordenen Gestalt.

Es ist schon endlos darüber gerätselt und gestritten worden, was Konservatismus ist. Als Konservative bezeichnete das frühe 19. Jahrhundert eine konkrete soziale Schicht mit spezifischen Standesinteressen: Sie suchten als adlige Vertreter und Abkömmlinge der vormodernen Ständegesellschaft ihren Status und gewisse Vorrechte zu konservieren. Diese sind lange vergangen. Der einprägsame Begriff konservativ wandert seitdem, Jahrzehnt um Jahrzehnt, von Hand zu Hand. Mal wird er dieser Gruppierung, mal jener geistigen Strömung angeheftet. Die offiziellen “Konservativen” von heute hätten vor 150 Jahren als progressive Extremisten gegolten. Als konservativ gilt, wer jeweils irgend etwas bewahren oder wiederherstellen möchte.

Wenn man Konservatismus im ursprünglichen Sinne verwendet, ist jener alte Standes-Konservatismus längst mit seinen Trägern weggestorben. Und nennt man jeden konservativ, der an irgend etwas Bestehendem festhält, dann war auch ein Politbüro-Mitglied der SED konservativ, wenn es an der “Arbeiter- und Bauernmacht” festhalten wollte. Es führt aber zu keinem Verständnis des Konservativen, den Begriff jeweils nur relativ zu einer konkreten historischen Lage zu verwenden.

Da paßt schon eher die Formulierung: “Konservativ sein, heißt nicht, aus dem zu leben, was momentan besteht, sondern aus dem, was immer gilt.” In dem Wörtchen “immer” steckt bereits eine Kampfansage an ein geschichtsvergessenes Augenblicksdenken. Dieses kennt nichts immer Geltendes. Sein neuester Schrei besagt, alle gesellschaftlichen Phänomene seien nur geistige Konstruktionen, geboren aus der vergänglichen Laune des aktuellen Augenblicks.

Doch was konkret ist es denn, “was immer gilt”? Das ist eine Frage des jeweiligen persönlichen Standpunkts und Geschmacks, verschieden je nach historischer Verortung des jeweiligen Konservativen in Raum und Zeit. Ob ein Baströckchen und ein Brauttanz im Kral etwas ist, das immer gilt, oder eine weißgekleidete Braut unter den Klängen von “Treulich geführt …”, solche kulturellen Traditionen können nicht “für immer gelten”.

Eine gültige Antwort auf die Frage, was einen Konservativen ausmacht, läßt sich auf solchen Wegen nicht finden. Wir finden sie nur in der Persönlichkeit des einzelnen Konservativen, seinem emotionalen Persönlichkeitskern, dem Blickwinkel, aus dem er die Welt betrachtet. Konservativ zu sein ist eine emotionale und geistige Grundhaltung.

Sie wird ermöglicht und gefördert durch bestimme emotionale Voraussetzungen: Konservativ zu sein, setzt ein Mindestmaß an Grundzufriedenheit voraus. Wer mit sich und seinen Lebensverhältnissen völlig unzufrieden ist, weil er vielleicht meint, er sei im Leben zu kurz gekommen, kann gar nicht konservativ werden. Was wollte er bewahren?

Konservative sind zufriedene, meistens sogar glückliche Menschen. Sie haben oder hatten, was sie zum Leben und zu ihrem Glück brauchen. Sie haben etwas geschaffen oder ererbt, das ihnen wert ist. Das möchten sie behalten und konservieren. Ein Häuschen könnte das sein, eine gelernte Fähigkeit wie schöne Lieder zu singen, geliebte Menschen oder die Anerkennung im Verein oder der Gemeinde. Für die emotionale Verfassung und die darauf sich gründende Denkstruktur ist ganz gleichgültig, was im einzelnen einer liebt und bewahren möchte.

Die Gegenpersönlichkeit zum Konservativen würde dann der potentielle Umstürzler bilden: unzufrieden, zerfressen vor Neid und Mißgunst gegen seine begünstigten Mitmenschen, möchte er am liebsten deren ganzes Lebensglück, alles, was sie lieben – er selbst aber nicht hat – in die Luft jagen. Um diese Grundhaltung herum lassen sich sehr leicht Ideologien oder Religionen bauen, die seinen Haß auf das Bestehende fokussieren und ihm das Gefühl schenken, ein Akt der Vernichtung des Altüberkommenen sei ein fortschrittlicher oder frommer Akt.

Gesellschaftliche Stabilität bewährt sich an der Aufgabe, den Bürgern zu ermöglichen, etwas ihr Eigen zu nennen, das sie lieben können und bewahren wollen. Je mehr wurzellose Habenichtse aber im Lande herumstreunen, desto größer wird das Potential derer, die “nichts zu verlieren haben …”, wie schon Karlchen Marx erkannte und mit dem Zusatz schmückte: “außer ihren Ketten”. Angekettet und festgehalten wird in unserem Lande niemand mehr, aber eine Einsicht war richtig: Der Habenichts ist der geborene Feind alles Konservativen.

Dieser denkt nicht nur in Kategorien des Raumes, sondern auch in solchen der Zeit und der Zeitlichkeit. Betrachtet er seine alte Pendeluhr, liegt der Gedanke in der Luft, wem diese einst vor 100 Jahren einmal gehört haben mag und in noch einmal 100 Jahren gehören wird. Die Zeitdimension ist die geborene Hebamme des Besitzdenkens.

Nicht nur geliebte oder geschätzte Gegenstände möchte der Konservative nach seinem Tod in guten Händen wissen. Seinen emotionalen Schatz bilden seine Erinnerungen, die Erzählungen seiner Eltern und Großeltern, ihre alten Fotos, Lieder und Gedichte. Für ihn ist es eine schreckliche Vorstellung, daß alle Liebe, die er damit verbindet, nach seinem Tod einfach so verschwindet. Er sucht diese Liebe wie einen Keim in seine Kinder und Enkel zu pflanzen, damit diese dereinst auch einmal an ihn und an alles das denken, wovon sein Herz überquillt.

Denn er vergißt nie:

Konservativ empfindet, wer sich mit seiner Vergänglichkeit nicht abfindet. —

Quelle des Reimes "Ich lebe und weiß nicht ...": Leichenpredigt auf  auf Agnes Götz von Olenhusen, aus: Ludolphus WALTERUS, Lehrreicher MenschenSpiegel: Das ist: Christlicher LeichSermon/ Von Gebrechligkeit und Hinflüchtigkeit Menschliches Leben/ das fürgestellet an den verdorrenden Graßspeyerlein und Verwelckenden FeldBlumlein im 103. Psalm Davids, Zell 1635, gehalten Hannover 15.6.1630, SUB Göttingen Katalognr. 537280286, S.393: Zwar die blinden Klosterleute haben vor Zeiten diesen Reim geführtet [folgt Text w.o.]. WALTERUS vertritt in seiner Predigt dann mit Luther die Ansicht, der Sinn müsse aus theologischer Sicht genau umgekehrt werden.