Zum 161. Geburtstag von Kaiser Wilhelm
Hatten wir Deutschen das verdient? Es lief nicht gut für uns im 20. Jahrhundert. Modern betraten wir es, stolz auf unsere technischen Errungenschaften, stolz als Volk der Dichter und Denker. Zwei Weltkriege haben das eine zerstört, 75 Jahre Nachkriegszeit das zweite.
Unsere jeweiligen Staatsoberhäupter haben es nicht verhindert. Immer wieder ließen wir uns führen, und immer wieder führte der Weg am Ende ins Unglück. Sind wir daran selbst schuld?
Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient.
Joseph de Maistre (1753-1821)
Es gibt zwei verschiedene Erklärungen für historische Weichenstellungen. Die einen sagen: „Männer machen Geschichte.“ Die anderen sehen Politiker und Staatslenker hervorgehen aus einem komplizierten sozialen Geflecht, einer Art Kräfteparallelogramm. In ihm verkörpern sich soziale Strömungen und emotionale Einstellungen idealtypisch in einer Person. Hätte diese nicht gelebt, wäre es jemand anderes gewesen.
Beide Erklärungsmuster können im Einzelfall man stärker hervortreten, mal weniger sichtbar. Im 20. Jahrhundert wurde das deutsche Volk von Männern geführt, die dem Durchschnitt breiter Schichten gefielen. Ich werde nie vergessen, wie mir als Kind eine alte Dame, 1890 geboren, immer wieder voller Stolz von der Zeit erzählte, als sie in Berlin als Dienstmädchen in Stellung war. Das war die „Friedenszeit“.
Sie bekam immer einen wehmütigen, ins Unendliche gerichteten Blick, wenn sie erzählte: „An einem Tag habe ich die ganze kaiserliche Familie gesehen.“ Das konnte jedem schnell passieren, damals in Berlin, auf der Straße, einfach mal soeben: Unter den Passanten traf mal halt auch mal seinen Kaiser mit Familie. Warum auch nicht?
Sie hat ihren Kaiser geliebt. Sie war auch als einfache Frau stolz auf so einen Kaiser und blieb ihm bis zu ihrem Tode unverbrüchlich treu. Er bot ja auch etwas fürs Auge, wenn er, schick wie er gern auftrat, mit seiner Familie in Berlin flanierte. Das sahen die Leute gern und fühlten sich selbst großartig, gerade als nähmen sie ein klein wenig am Glanz des Kaisershauses teil.
Wir waren ja so unbedarft unpolitisch, damals, in der guten, alten Zeit. Wir wußten noch nichts davon, wie erbarmungslos andere Mächte das junge, moderne, aufstrebende Deutschland in die Zange nehmen wollten. Der Historiker Christopher Clark hat in seinem Werk von 2013 minutiös nachgezeichnet, wie sich die Schlingen der kriegswilligen Nachbarn Frankreich, Rußland und Serbien immer enger um uns zogen. Wie Schlafwandler, so sein Buchtitel, tappten die Regierungen Deutschlands, Englands und Österreich-Ungarns in die Falle. Der Kaiser wollte keinen Krieg. Er war allerdings auch unfähig, ihn zu verhindern.
Unsere Regierung und der Kaiser waren so grenzenlos naiv wie der deutsche Michel war und ist. Wir erwiesen uns als gänzlich unpolitisches Volk. In Nibelungentreue standen wir zu unserem Bündnis mit Wien. Das war unser letzter Bündnispartner nach einer Reihe von Jahren katastrophaler Außen- und Bündnispolitik seit Bismarcks Abgang.
Wir hatten den Kaiser, den wir verdienten. In ihm verdichteten sich idealtypisch die Eigenschaften des wilhelminischen Deutschlands:
„Im Innern war die deutsche Gesellschaft nach 1871 spürbar härter geworden: der hämmernde Geist des rheinischen Industriekapitalismus, bürgerlicher und wissenschaftlicher Leistungswille und der zackige Gehorsam von Militär und Beamten hatten sich verbunden. Dieser überwiegend protestantische Ggeist wurde das Rückgrat einer Gesellschaft, die aus einem selbstvergessenen Partikularismus stammte, der manchmal auch unversehens in einen schwärmerischen Kosmopolitismus umschlagen konnte, und die gesellschaftspolitisch seit jeher in germanisch-christlichen Traditionen nicht selten auch zu Sozialträumereien neigte.
Udo di Fabio, Die Kultur der Freiheit, 2005, S.199.
Sie waren wie die Kinder; mal auftrumpfend, großsprecherisch, mal verträumt bis zur Versponnenheit und schwelgten in phantastischen Theorien wie der eines Weltgeistes oder einer Dialektik der Geschichte. Verschwörungstheorien und sektiererischer Glauben an „Wahrheiten“ gedeihen in Deutschland.
„Politisch blieb die Nationalkultur unfertig und unreif: nicht harmonisch gewachsen, zu viel Kompromiß, zu wenig pragmatische Erfahrungen, ein träumender Nationalcharakter.“
Udo di Fabio, am angegebenen Ort S.200.
Die wilhelminischen Deutschen und ihr Kaiser waren klug, aber nicht schlau. Viele spintisierten gern nach Dingen hinter den Dingen, statt die Kriegswolken am Horizont zu sehen. Andere waren knallharte Rechner. Sie rechneten mit allem, aber nicht mit unserer Niederlage. Sie waren politisch unfähig, und ihr Kaiser war ihr geborener Repräsentant.
Intellektuell war er nicht das hellste Lichtlein auf der Torte. Das war aber auch nicht seine Aufgabe. Bis heute haben wir uns an Männer an unserer Staatsspitze gewöhnt, die durchschnittliche Reden von durchschnittlichen Mitarbeiten schreiben lassen und sie vor durchschnittlichem Publikum halten. Heute triefen solche Reden von falscher Moral.
Wilhelms Reden troffen von Geltungsbedürfnis vor der Welt: ‘Wir sind wer, auch moralisch. Am deutschen Wesen wird die Welt genesen.’ Immer hörten die jeweiligen Deutschen andächtig zu. Jedes Volk hat das Sprachrohr, das es verdient und durch das sich die Quersumme der Ansichten artikuliert, die man gerade gern hört. Bis heute triefen solche Reden vor moralischem Weltgeltungsbedürfnis: ‘Wir sind wieder wer, nicht nur Gutmenschen, sondern Bestmenschen.’ So hat sich der Akzent verschoben. Das kraftmeierische Auftreten ist geblieben.
Heute meinen unsere Politiker, den Frieden der Welt unblutig erzwingen zu können. Damit stehen sie in den Stiefeln der Hohenzollern, auch Wilhelm II. Neben dem Südportal des Kölner Doms erinnert eine Metallplatte an die Grundsteinrede seines Urgroßvaters Friedrich Wilhelm IV. zum Weiterbau des Doms vom 4.9.1842. Dort stehen bis heute der fromme Weltgeltungswunsch:
Das große Werk verkünde den spätesten Geschlechtern von einem durch die Einigkeit seiner Fürsten und Völker großen, mächtigen, ja, den Frieden der Welt unblutig erzwingenden Deutschland.
Das entsprach bereits aufs Haar dem Sendungsbewußtsein Wilhelm II. und seiner Zeit.
Wer an Wilhelms heutigen 161.Geburtstag erinnert, denkt in gewisser Weise an die Kindheit unseres Volkes zurück. Bis zum 1. Weltkrieg waren die meisten Deutschen junge Leute, weil viele Familien kinderreich waren. Die emotionale Stimmung war jugendlich unbekümmert und forsch. Wenn wir die Metapher fortspinnen, befinden wir uns heute im Greisenalter unseres Volkes. Es gibt immer weniger deutsche Kinder. Irgendwann wird der letzte von uns das Licht ausmachen.
Schulkinder hatten an Kaisers Geburtstag einen Feiertag. Sie sangen in der Schule:
Der Kaiser ist ein lieber Mann
und wohnet in Berlin.
Und wär es nicht so weit von hier,
dann führ ich heut noch hin.
Liebe zu irgend etwas wird heute in Schulen nicht mehr vermittelt. Gelehrt wird aber häufig eine Abscheu vor uns selbst. Aus aufgehetzten und zum Hassen erzogenen Schulkindern werden Erwachsene, die wie Robert Habeck haßerfüllt gegen Deutschland hetzen.
Aus der Warte eines alten Menschen und eines alten Volkes sehen wir vieles an der wilhelminischen Zeit als Jugendtorheiten. Wilhelm der Zweite war der Obertor. Aber waren wir nicht alle einmal jung? Wollen wir uns und unser Volk aus unserer emotionalen Mumienperspektive richten, weil es einmal jung, forsch und übermütig war?
Niemand liebt sich selbst weniger nur wegen seiner Jugendsünden. Es gibt auch keinen Grund, sich nicht über die glanzvollen Zeiten des Kaiserreichs und seines obersten Repräsentanten zu freuen. Damals hat sehr vieles noch wie am Schnürchen funktioniert und Deutschland groß gemacht, wo heute die Welt über unsere Unfähigkeit lacht.
Darum denke ich mit Wehmut und Zuneigung an unseren letzten Kaiser: unseren übertrieben schneidigen, zackigen, ewig großmäuligen politischen Dilettanten: ganz und gar deutsch – einer von uns.
Der Vorhang fällt
Der 1. Weltkrieg endete mit einer deutschen Niederlage. Vor seinem Ausbruch hatte Deutschland sich im Innern sind sonderlich von seinen westlichen Nachbarn unterschieden. Die Reichsverfassung sah einen Konsitutionalismus vor, also eine Machtbalance zwischen Regierung (Thron) und Parlament.
Autokratische Machtgelüste konnte man Wilhelm II. nicht nachsagen.
„Der im Zeichen des monarchischen Prinzips stehende deutsche Konstitutionalismus entartete selbst unter dem temperamentvollen Wilhelm II. nicht zu einem ‚persönlichen Regiment‘[1], sondern enthielt ganz im Gegenteil praktische bedeutende parlamentarische Elemente, so daß er nicht als in sich abgesonderte Erscheinung, sondern vielmehr als Übergangszustand von der monarchischen zur parlamentarischen Regierungsform angesehen werden sollte.[2]
Panajotis Kondylis, Konservativismus, Geschichtlicher Gehalt und Untergang, 1986, S.426.
Jede Verteufelung des Kaisersreichs wird schließlich ganz unnötig, wenn wir an die grundsätzlich herrschende Rechtsgleichheit und bürgerliche Freiheit denken, die immerhin kaum hinter dem zurückstand, was in England oder Frankreich damals in dieser Hinsicht anzubieten hatten.“
Die Erinnerung an diese „gute alte Zeit“, die „Friedenszeit“, blieb in großen Teilen des Volkes lebendig. Sie läßt sich an den Wahlergebnissen ablesen, wo Parteien mehr oder weniger deutlich wieder die Monarchie eingeführt hätten wie die DNVP.
Es gab aber einen starken Generationenbruch. Mein 1873 geborener Urgroßvater blieb innerlich zeitlebens bei seinem Kaiser, während seine Söhne sangen: „Mit uns zieht die neue Zeit!“
So hat noch jedes Bühnenstück der Weltbühne sein
Ende gefunden, wenn sein Vorhang fiel.
[1] Huber, Das persönliche Regiment.
[2] Böckenförde, Verfassungstyp.
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