Das Fluide der westlichen Ideologie

In der Ideologie jedes Staates verdichtet sich die objektivierbare Interessenlage seiner Mehrheitsgesellschaft oder ihrer Lenker. Es gilt ihr als nicht zu hinterfragender Grundsatz einer gerechten Weltordnung immer ausgerechnet das, was ihr nützt.

Wem die “Deu­tung der Ora­kel der Gerechtigkeit an­ver­traut ist”, wird er­fah­rungs­ge­mäß “die­se Göttin be­we­gen können, nichts zu antwor­ten, was wi­der den ei­ge­nen Vorteil ist.”[1]

Samuel von Pufendorf, De statu Imperii Germanici, 1667

Das politische Establishment Nachkriegsdeutschlands wandte sich von der Vorkriegsideologie ab und erklärte in allen Fragen ihr jeweiliges Gegenteil für richtig. Für militärisch Besiegte erschien Wohlstand durch Handel unter Übernahme der mit dem Handel verbundenen weltanschaulichen Voraussetzungen als einzige Option. Die westlichen Siegermächte nahmen ein pazifistisches Deutschland gern in den Kreis der moralisierenden Handelsstaaten auf. Eine interventionswürdige Unmoral findet sich regelmäßig dort, wo es Rohstoffe zu sichern gilt.

Wandel der bis 1989 noch totalitären Staaten des Ostens durch freien Handel sollte die World safe for democracy machen und überall einen Systemwechsel herbeiführen. Dieser Doktrin folgend gab Deutschland als treuer Vasall viel Geld zum Beispiel für das Studienfach Gender-Studies in Kabul aus.

„Freier Handel“ und seine Nutznießer

Wer sich nicht mit Räsonnieren zufrieden gibt und die dahinter stehende Ideologie auf ihre Interessenlage zurückführt, findet die „westliche“ Ideologie vorherrschend in Ländern, die ihren Wohlstand auf „freien Handel“ bauen. Frei – so nannten sie ihn und setzten ihre Interessen, in einem fremden Land frei handeln zu dürfen, seit dem 19. Jahrhundert auch schon mal mit dem einen oder anderen kleinen Einmarsch. Die klassische Handelsmacht der Epoche waren England und das die Insel bald überflügelnde US-Amerika.

Commander Perrys Flotte erzwang 1854 die “Öffnung” Japans für den amerikanischen Handel (Bild: Wikipedia, gemeinfrei)

Heute erfordert der Wohlstand der sich zum „Westen“ bekennenden politischen und wirtschaftlichen Eliten so unabdingbar den „freien Welthandel“ wie schon im 19. Jahrhundert. Die industrielle Massengesellschaft kann Massenproduktion und -konsum nur unter bestimmten ökonomischen Bedingungen aufrechterhalten. Sie ist auf Wachstum und Rendite angelegt und würde in einer globalen Finanzkrise wie eine Seifenblase platzen, käme der stetige Kreislauf zum Erliegen:

Er benötigt im Inland eine keinesfalls sinkende Anzahl von „Verbrauchern“, und die Rohstoffe und Arbeitskräfte für die ständige Nachfrage benötigt sie ebenso. Sie wirkt wie ein schwarzes Loch, wie ein gewaltiger Meeresstrudel, in dem ständig Rohstoffe und wie ein industrieller Rohstoff genutzte Menschen von irgendwoher zusammenfließen, eingesaugt, in ihre „atomaren Bestandteile“ zerlegt und als genormte Produkte und „flexible Arbeitnehmer“ wieder ausgespuckt werden.

In ihre Bestandteile zerlegt werden die Völker und Kulturen der Industrieländer, aber auch die als Konsumenten und Arbeitskräfte benutzten Einwanderer. Man erhofft sich, daß sie ihre angestammte Identität im Schmelztiegel der Massengesellschaft irgendwann einbüßen.

Die statischen und die fluiden Gesellschaften

Ein Land kann auch über Jahrhunderte autark bleiben und in seiner Wohlfahrt von Handel unabhängig sein. Wir verdanken Carl Schmitt wertvolle Einsichten in die verschiedenen Interessenlagen und Ideologien von Land- und von Seemächten.[2] Die angelsächsischen Seemächte hatten das Erbe alter, reich gewordener Handelsmächte wie Venedig angetreten und eine Ideologie der „Freiheit der Meere“ entwickelt, die in erster Linie ihnen selbst nützte.

Klassische Landmächte wie Deutschland bis 1945, Rußland oder China wußten mit dieser Phrase nicht viel anzufangen. Carl Schmitt nannte sie erdgebundene, „tellurische“ im Gegensatz zu den maritimen Mächten. Sie haben kein Interesse an einer Atomisierung ihrer eigenen Sozialstruktur und ihrem Aufgehen in einer „One World“, deren Mächtige da zu suchen sind, wo der Wohlstand der Welt hinfließt. Darum setzen sie sich beharrlich der Auflösung ihrer national geprägten Sozialstrukturen entgegen.

Wir verdanken Emanuel Pietrobon eine bildmächtige Wortprägung, die uns den globalen Gegensatz veranschaulicht: Es geht um Fluidität oder Identität. Menschen mit festen nationalen und kulturellen Identitäten werden vom Mahlstrom angesaugt, ihre Identitäten verflüssigen sich, und sie werden zu mit uns frei austauschbaren Bauteilchen unserer Massengesellschaft. Sie werden entwurzelt, entpersonalisiert und von ihren alten Familien- und Stammeswurzeln abgeschnitten. Ihre Religion dürfen sie in folkloristischem Rahmen behalten, eben so, wie auch das Christentum in Deutschland weitgehend nicht mehr geglaubt, sondern nur noch rituell bei Taufe, Hochzeit und Begräbnis als Staffage dient.

Das Wort Fluidität stützt die Vorstellung einer Auflösung aller Dinge. Angesaugt vom Mahlstrom der Massengesellschaft verschmelzen sie zu einer Einheitsflüssigkeit. Seemächte – versteht sich auch im Wortbild – beherrschen diese fluide See, ihren Handel und ihre Ideologie von der Freiheit der Meere und dem freien Welthandel.

Ihre Macht ist noch nicht grenzenlos

Freilich beherrschen sie die Köpfe der Menschen mit ihrer Ideologie nur so weit, wie ihre Macht reicht. Noch ist sie nicht grenzenlos. Zwar haben sie unser Land erobert und zu ihrem ideologischen Brückenkopf und Bollwerk umgestaltet. Hinter Deutschland fängt aber gleich der Osten an und ist überhaupt nicht begeistert von allen „westlichen“ Ideen.

In Polen, Ungarn, Rußland und so weiter bricht sich die Welle der Fluiditäts-Ideologien noch. Man hat hier seine eigenen Vorstellungen und möchte keine Einwanderungen. Man möchte lieber Pole, Ungar oder Russe bleiben, und katholisch oder orthodox dazu. Hier geht Identität vor Fluidität. Migration ist unerwünscht.

Der Zusammenstoß, der wirkliche, harte Zusammenstoß, besteht zwischen zwei völlig gegensätzlichen Weltbildern: dem der Identität und dem der Fluidität. Auf der einen Seite steht der Westen, der die Welt nach seinem Bilde formen will. Aber im Vergleich zum 19. Jahrhundert bringen Missionare heute keine Bibeln nach Lateinamerika, Asien und Afrika: Sie bringen Geld an Parteien, NGOs und Co., die Gender-Ideologie, Regenbogenrechte, Feminismus der vierten Welle, Transhumanismus, das Ende der Geschichte, Kosmopolitismus und Schmelztiegel fördern.

Emanuel Pietrobon, Flusso e identità: il conflitto del terzo millennio

Man ist im Osten entsetzt über die Auflösung aller Dinge und Wertbegriffe im Westen und ihre Perversion wie in einem grotesken Zerrspiegel:

Auf der anderen Seite haben wir den Osten, der sich auf das Duo Moskau-Peking stützt, der Schwulenstolz verbietet, den “Verweichlichten” den öffentlichen Raum entzieht, in den Schulen Männlichkeit und Patriotismus lehrt, in die Verbreitung konservativer Werte investiert, Vermischung ablehnt und an seinen Wurzeln festhält.

Emanuel Pietrobon, am angegebenen Ort, deutsch auf Synergon 5.9.2021.

Mental geht der ideologische Riß nicht ganz so schematisch wie im Gegensatzbegriff von Land und Meer. Auch im „Westen“ gibt es Bewegungen, die an unseren Identitäten festhalten wollen, und im Osten gibt es Menschen, die ihr Eigeninteresse in einer „Liberalisierung“ sehen. In Afghanistan sehen wir die Mehrheit der Landbevölkerung militant an ihrer moslemischen Identität festhalten, während eine städtische Minderheit „fluide“ gemacht wurde und jetzt als „Schutzbedürftige“ eingeflogen wird.

In Deutschland hat das politische Establishment, haben die Wirtschaftsbosse und die Kirchen sich klar auf Seiten der globalen Fluidität gestellt. Der noch widerständige Restbestand an konservativen Menschen fragt sich dabei, ob Deutschland global gesehen wirklich auf der „richtigen“ Seite steht.


[1] Samuel von Pufendorf, De statu Imperii Germanici, 1667, Die Verfassung des Deutschen Reiches, Hrg. Horst Denzer, Frankfurt/M.1994, S.165.

[2] Carl Schmitt, Die Freiheit der Meere, in: Der Nomos der Erde, 4.Aufl. 1950, S. 143 ff.; derselbe: Das Meer gegen das Land, in: Staat, Großraum, Nomos, S.395 ff., Staatliche Souveränität und freies Meer, a.a.O. S.401 ff.