Der Altmeister der französischen Neuen Rechten hat wieder publiziert.
„Heide sein“ – das neue Buch von Alain de Benoist, dem Altmeister der französischen Neuen Rechten. Das mit Spannung erwartete Werk erfüllt alle Wünsche an ein hochpolitisches und zugleich gelehrtes Werk. Benoist zeigt wieder einmal geistesgeschichtliche Zusammenhänge auf, die vieles Altbekannte miteinander sinnvoll verknüpfen.
Der Titel könnte aber auch falsche Erwartungen wecken. Benoist wirbt keine Jünger für altnordische Fruchtbarkeitsriten und ruft auch zu keinem Ragnarök auf.
Man braucht nicht an Jupiter oder Wotan zu ›glauben‹ – was jedenfalls nicht törichter ist, als an Jahwe zu glauben –, um Heide zu sein. Heutzutage besteht das Heidentum nicht darin, Apoll Altäre zu errichten oder den Odin-Kult wiederzuerwecken.
Alain de Benoist, Heide sein, S.23.
Sein Blickwinkel ist religionsgeschichtlich. Europas vorchristliche Religionen haben in unserer kollektiven Psyche tiefe Spuren hinterlassen, wurden aber 2000 Jahre lang überlagert und fast ausgemerzt durch den vorderorientalischen Monotheismus. Auch wo der buchstäbliche Glaube an Gott oder Götter längst der Aufklärung gewichen ist, scheiden sich in den Tiefenstrukturen unseres Denkens „Heiden“ von den Jüngern eines „einen Gottes“.
Viele moderne Philosophien und Ideologien sind von Metaphysik tief geprägt. Diese behauptet entweder ein vom Diesseits geschiedenes transzendentes Jenseits oder doch den Erscheinungen der Welt immanente Wirkkräfte. Diese stellt sich Metaphysik per definitionem als nicht physikalisch vor, also als spirituell oder “heilig”. Alain de Benoist setzt der monotheistischen Jenseits-Metaphysik des Judenchristentums sein “Heidentum” entgegen: seine Metaphysik, seine
besondere Weltanschauung, die von vornherein allen ihren Teilen einen Sinn gibt. Unter diesem Gesichtspunkt können wir die Ansicht vertreten, daß der Mensch die Welt durch seine Weltbetrachtung schafft, daß die Seele sich einen Körper zusammenbaut, daß eine kollektive Weltanschauung eine Gesellschaft formt, indem sie sie in-formiert.
Alain de Benoist, Heide sein, S.198.
Im Kern vertritt Benoist eine pantheistische oder panpsychistische Metaphysik:
Während im jüdischchristlichen Monotheismus die Seele sich »vom Absoluten ontologisch unterscheidet, daß sie von ihm geschaffen wird, und nicht von ihm ausgeht, daß sie ein Teilchen der göttlichen Substanz ist«[1], ist die Seele in der Religion Europas göttlichen Wesens. Somit stehen Mensch und Gott in einer wechselseitigen Beziehung. Die Vereinigung des Menschen mit Gott, die Verkörperung Gottes im Menschen, die Erhöhung des Menschen zur göttlichen Substanz sind in dieser Welt möglich.
Alain de Benoist, Heide sein, S.221 f.
Benoist will den Menschen nicht, wie im jüdischchristlichen Monotheismus, zu einem sündhaften Geschöpf erniedrigt wissen, sondern als erhöht verstehen im Sinne des Nietzsche’schen Übermenschen. Wenn aber das Göttliche in jedem Menschen lebt und webt und uns inspiriert, über uns selbst hinauszuwachsen, liest sich das zwar sehr hübsch und erbaulich:
»Nichts ist im Himmel noch auf Erden, das nicht im Menschen sei. Der Gott, der im Himmel ist, der ist auch im Menschen. Denn wo ist der Himmel als im Menschen?«[2] Angelus Silesius ebenfalls: »Der Himmel ist in dir. Suchst du Gott anderswo, du fehlst ihn für und für.«[3] Giordano Bruno behauptet seinerseits, daß die Seele sich »zum Himmel« hinaufschwingt, wenn sie sich »in ihrer eigenen Innerlichkeit erhöht«, denn »Gott steht ihr nahe, er ist bei ihr, in ihr, dem tiefsten ihrer selbst näher, als sie selbst es sein kann, etwa als die Seele der Seelen, das Leben allen Lebens, das Wesen aller Wesen«.
Alain de Benoist, Heide sein, S.222 f.
Aber Gott als normgebende Instanz ist damit vollständig beseitigt: Er waltet dann täglich in jedem, aber gebietet und verbietet nichts und richtet am Schluß nichts. Er wird zur dichterischen Metapher ohne praktische Relevanz. Dieses Ergebnis ist von den Vertretern des Pantheismus gern in Kauf genommen, wenn nicht beabsichtigt. Damit verhält sich Benoists Heidentum tatsächlich antithetisch zum monotheistischen Judenchristentum und zum Islam. Wer Gott vollständig im Weltlichen verortet, entpersonalisiert ihn, löst ihn damit auf und macht ihn irrelevant.
Wenn Gott und Welt miteinander identisch sind, weil er in allem lebt, drängt sich nämlich die Frage auf, wozu er überhaupt noch als semantische Figur benötigt wird. Indem man zugibt, daß alle Vorstellungen von immanenter Göttlichkeit nur in unseren Köpfen entstehen, werden sie praktisch bedeutungslos. Wir benötigen ihn nicht mehr, weil wir selbst wie Götter werden:
Der Mensch darf nicht danach trachten, Gott zu werden, sondern wie die Götter zu werden. […] Der Mensch verwirklic selbst, das heißt, wenn er über sich hinauswächst.
Alain de Benoist, Heide sein, S.226.
Vom Universalismus zum Totalitarismus
Benoists Analyse und Verwerfung des Monotheismus sind überzeugender als die Verortung rechter Wertvorstellung in einem als metaphysisch gedachten Heidentum. Daß jemand diese Wertvorstellungen als „für mich richtig“ annimmt, weil sie seiner Perspönlichkeit und ihren Bedürfnissen entsprechen, erfordert keine Metaphysik. Man kann sich auch einfach so für ihre Geltung entscheiden. Eine tiefe Kluft scheidet metaphysisch denkende Rechte und Linke von nichtmetaphysisch denkenden Rechten, und Linken.
Innerhalb der Metaphysiker wiederum scheiden sich die Geister erneut in Vertreter unerbittlich moralisierender Jenseitsgötter wie Jahwe, Sohn & hl. Geist hier, dort aber eine lachende[4] oder auch zürnende Göttervielzahl. Auf der einen Seite glauben die Menschen an universelle Wahrheiten, an absolut geltende Wertmaßstäbe, an die vorstaatliche Geltung einer strengen Moral. Ihnen steht ein fröhliches Heidentum derer gegenüber, denen es ganz gleichgültig ist, welchen Göttern man auf den Fidschis opfert, für die nicht die Weltordnung wankt, wenn Chinesen oder Perser einen „Kritiker“ einsperren, die aber ihr Eigenes, ihre Identität, strikt verteidigen.
Wer die Existenz einer jenseitigen Welt ablehnt, die Scheidung von Sein und Welt zurückweist, eine Auffassung der Göttlichkeit verwirft, die auf dem Begriff der alleinigen Wahrheit und demnach auf der Abwertung des Anderen gründet, der ist seit jeher bereit, alle Götter anzuerkennen, selbst diejenigen, die ihm am meisten fremd sind, selbst diejenigen, die er niemals verehren wird, selbst diejenigen, die seiner Seele habhaft zu werden wagten. Der ist ebenfalls bereit, das Recht der Menschen zu verteidigen, sich in den Göttern ihrer Wahl wiederzuerkennen – vorausgesetzt natürlich, daß dieses Recht ihm auch gewährt wird.
Alain de Benoist, Heide sein, S.10.
Die philosophischen Geister scheiden sich schon lange in Vertreter des ontologischen Dualismus (eines Diesseits versus Jenseits) und die Befürworter des ontologischen Monismus. Benoist ist Monist. Er zieht mit keinem Wort in Erwägung, ob es Götter tatsächlich gibt. Alle Götter entspringen unserer Vorstellungswelt und menschlichen Erfahrungen, auch die Vorstellung eines gestaltlosen, abstrakten „einzigen Gottes“, den sich Wüstennomaden einst ausgedacht hatten; ihm entgegen gestaltete sich die Götterwelt der Europäer vielfältig, bunt und üppig wie unsere einheimische Natur. In ihr führen die Menschen einen oft gefährdeten Existenzkampf. Zeige mir deinen Gott, und ich sage dir, wer du bist!
Der Mensch ist Schöpfer der Natur, aber auch Schöpfer von Göttern. Er ist mit Gott verwandt, jedesmal, wenn er an die Grenzen des Besten und des Stärksten seiner selbst stößt. Mit dem – so häufig mißverstandenen – Gedanken des Übermenschen griff Nietzsche unter einem besonderen Gesichtspunkt auf diese Ansicht zurück. Sie fand in der modernen philosophischen Anthropologie (Gehlen, Portmann, Plessner) ihre wissenschaftliche Untermauerung in dem Gedanken des Menschen als Baumeister, als Erbauer seiner selbst.
Alain de Benoist, Heide sein, S.198.
Allerdings hatte schon der christliche Renaissancephilosoph Pico della Mirandola 1494 den Menschen zum Former und Schöpfer seiner selbst erklärt.[5] Er legte „Gott“ die Worte an Adam in den Mund:
Du wirst von allen Einschränkungen frei nach deinem eigenen freien Willen, dem ich dich überlassen habe, dir selbst deine Natur bestimmen. In die Mitte der Welt habe ich dich gestellt, damit du von da aus bequemer alles ringsum betrachten kannst, was es auf der Welt gibt. Weder als einen Himmlischen noch als einen Irdischen habe ich dich geschaffen und weder sterblich noch unsterblich dich gemacht, damit du wie ein Former und Bildner deiner selbst nach eigenem Belieben und aus eigener Macht zu der Gestalt dich ausbilden kannst, die du bevorzugst. Du kannst nach unten hin ins Tierische entarten, du kannst aus eigenem Willen wiedergeboren werden nach oben in das Göttliche.
Pico della Mirandola, De hominis dignitate 1494, S.9 (Reclam).
Diese Uminterpretation der Schöpfungsgeschichte hatte allerdings keinen päpstlichen Segen gefunden. Benoist[6] würde sie vielleicht unter „heidnisch“ katalogisiert haben. Wir sehen darin, wie kompliziert die argumentativen Fronten der Geistesgeschichte oft verlaufen sind. Das Querdenken war eher die Regel als der Ausnahmefall.
Im Grundsätzlichen hat Benoist jedenfalls völlig Recht: Ideologische Weichen wurden schon vor Jahrtausenden durch die monotheistische Grundentscheidung ganz anders gestellt als in der polytheistischen Tradition Alteuropas. Ihrer religiösen Form entkleidet prägen sie unsere modernen Ideologien, und zwar entlang der Trennungslinie zwischen altheidnischem und monotheistischem Denken.
Erließe ein solitärer Gott Verbote, müßten diese für alle Menschen gelten. Gibt es aber von Volk zu Volk verschiedengestaltige Götter, mögen auch unterschiedliche religiöse und ethische Regeln gleichberechtigt existieren können. Die Behauptung nur eines einzigen Gottes zieht unweigerlich religiösen und moralischen Universalismus nach sich, der kein anderes Denken erlaubt: „Ich bin ein eifersüchtiger Gott!”
Jahwe ist der Gott, der den Anderen ablehnt. Zunächst stellt er sich über alle anderen Götter, dann hält er sie für nicht-existent. Der andere Gott existiert nämlich nicht. Er wird wie ein Gott dargestellt, in Wirklichkeit ist er lediglich ein ›Götze‹, ein falscher Gott, ein Gott ohne göttlichen Wert. Auf weltliche Ebene übertragen, scheint dieser Denkprozeß sämtliche Formen der Alterophobie (Angst vor dem anderen), sämtliche Rassenideologien, sämtliche Ausstoßungen zu rechtfertigen. Vom Begriff des als Gottheit wertlosen Gottes geht man zu dem in seiner Menschlichkeit wertlosen Menschen über und zu dem in seinem Lebenswert wertlosen Leben. Der Mensch wird mit dem anderen ebenso verfahren, wie Jahwe mit den anderen Göttern verfährt. Im biblischen Monotheismus sind die anderen die eigentliche Hölle.
Benoist S.145 f.
De heidnische Denkstruktur
Benoist versteht sich dagegen als Heide. Damit meint er nicht, in heiligen Hainen Opfergaben darzubringen. Seine Denkstruktur ist es, die er dem alteuropäischen Heidentum entnimmt, mit Goethe ausgedrückt: „… und es ist das ewig Eine, das sich vielfach offenbart…“ Hier streitet ein Pluralismus gegen onologischen Monismus.
Potentiell gibt es nämlich „Götter“ im Plural, soviel wir uns nur auszudenken vermögen, und – da liegt der Hase im Pfeffer – auch unendlich viele verschiedene Kulturen, Religionen, Völker und ihre jeweiligen Moralen. Benoist beschwört den Pluralismus der Ethnien, ohne den Begriff Ethnopluralismus zu benutzen. Er beinhaltet Toleranz gegenüber jedem anderen und seinen „Göttern“. Die „heidnische“ Antike kannte keine Mission, keine Religionskriege und keinen Religonshaß. Und „eifersüchtig“ war allenfalls die Göttin Hera im Olymp, wenn ihr Mann Zeus, der alte Schwerenöter, mal wieder fremdgegangen war.
Vornehmlich das alte Testament liest sich dagegen wie eine Gruselgeschichte von Moralismus, “Gottesfurcht”, Blut und Tod. Und heißt es nicht noch heute: „Trinket, das ist mein Blut?“ Benoist erweckt das vielen Christen unbekannte biblische Grauen und spickt es mit Zitaten:
Zur Vernichtung der Abgötterei scheinen in der Tat alle Mittel gut zu sein: »Völlig zerstören sollt ihr all die Stätten, an denen die Völker, welche ihr alsbald verdrängen werdet, ihre Gottheiten verehrten, auf den hohen Bergen, auf den Hügeln und unter jedem grünen Baume. Reißt ihre Altäre ein, zertrümmert ihre Malsteine, verbrennt im Feuer ihre heiligen Bäume, zerhaut ihre Gottesbilder und tilgt so ihren Namen an jener Stätte.«[7] Und sollte eine ganze Stadt ihren Göttern treu bleiben, dann wird der Massenmord zu einer frommen Pflicht.
Benoist S.139 f. mit Fußnotennachweisen.
Die politischen Implikationen liegen auf der Hand: Vom real existierende Monotheismus führt ein direkter Weg in den modernen Totalitarismus.
Die von Lukas wiedergegebene Äußerung Jesu: »Wenn jemand zu mir kommt und nicht Vater und Mutter und Weib und Kinder und Brüder und Schwester und dazu auch sein eigenes Leben haßt, kann er nicht mein Jünger sein«[8], hat die Geister besonders bewegt.
Benoist S.150.
Das polytheistische Heidentum hingegen läßt den ganz Anderen gelten als das, was immer er ist oder glaubt.
Der Totalitarismus stammt in seinem Wesen auch nicht von Saint-Just oder Stalin, von Hegel oder Fichte. Der Totalitarismus kommt vielmehr auf oder neigt dann dazu aufzukommen, wenn ein starres ›monotheistisches‹ System, das auf der exemplifizierenden Einmaligkeit sowie auf der beschränkenden und todbringenden Einseitigkeit gründet, »die flexible, da pluralistische, polytheistische, kontradiktorische Totalität einer organischen Verknüpfung« (Michel Maffesoli) ersetzt oder zu ersetzen droht.
Benoist S. 156.
Es ist kein Zufall bei einem Autor wie Benoist, daß er im „Heidentum“ genau diejenigen Ideologeme, Wertmaßstäbe und Haltungen wiederfindet, die auch Grundlagen seiner rechten politischen Haltung sind:
Als es um die Bestimmung der kennzeichnenden Merkmale des Heidentums ging, wurden allgemein folgende kennzeichnende Äußerungen aufgezählt: eine äußerst aristokratische Auffassung der Person; eine auf der Ehre gründende Ethik (eher ›Schande‹ als ›Sünde‹), eine heroische Haltung gegenüber den Herausforderungen des Daseins; die Erhöhung sowie Heiligung der Welt, der Schönheit, des Körpers, der Kraft und der Gesundheit; die Ablehnung einer jenseitigen Welt; die Untrennbarkeit von Ästhetik und Moral und so weiter.
Benoist S.31.
Er bezieht sich in seiner Metaphysik ausführlich zitierend und anderem auf Sigrid Hunke und Herbert Böhme, beide, maßgebliche Denker der Unitarier-Religionsgemeinschaft. Man kann „Heide sein“ auch als politisch-philosophisches Manifest dieser aus freikirchlichen Gemeinden hervorgegangenenreligiösen Gruppe lesen. Das mindert nicht den Wert von Benoists brillanten Analysen des Monotheismus und seiner Gefahren. Es macht aber in Großbuchstaben deutlich: Was Benoist hier vorträgt, ist Metaphysik, ist letztlich eine Spielart von Religion.
Wie Sigrid Hunke zeigt: Im Gegensatz zu dieser Theologie der Erbsünde behauptet das Heidentum, daß der Mensch seinem Leben einen Sinn zu verleihen vermag, sofern er sich selbst gestaltet und eine seinen Grundsätzen entsprechende Existenz führt; daß er nicht von irgendeiner Erbsünde durch einen Erlöser reingewaschen zu werden braucht; daß er nicht an der Ankunft der messianischen Zeiten zu arbeiten hat; kurzum, daß er in und durch seine Handlungen, durch seine Entscheidungen und seine Werke sich selbst genügt.
Benoist, S.240 f.
Man kann dem Satz Sigrid Hunkes über die Fähigkeit des Menschen, seinem Leben einen Sinn zu verleihen, aber voll zustimmen,[9] ohne damit religiöse Ambitionen zu verbinden. Als Metaphysiker lehnt Benoist indessen jede Erklärung menschlichen Verhaltens aus angeborenen Unterschiedlichkeiten als “naturalistisch” ab, obwohl die Genetik uns inzwischen eines Besseren belehrt.
Deshalb auch lehnen wir jegliche hauptsächlich naturalistische Auslegung der indoeuropäischen Religionen ab, um deren Kern nicht in einer Vergöttlichung der natürlichen Elemente zu ermitteln, auch nicht in einer Folge geschichtlicher, durch den Mythos verklärter Ereignisse, sondern wohl in einem ideologischen System, in einer besonderen Weltanschauung, die von vornherein allen ihren Teilen einen Sinn gibt. Unter diesem Gesichtspunkt können wir die Ansicht vertreten, daß der Mensch die Welt durch seine Weltbetrachtung schafft, daß die Seele sich einen Körper zusammenbaut, daß eine kollektive Weltanschauung eine Gesellschaft formt, indem sie sie in-formiert. Dem Naturalismus stehen wir hier vollkommen gegenüber.
Benoist, S.198.
Dafür ist er scharf kritisiert worden. Was naturwissenschaftliche Tatsache ist, bedarf keine metaphysischen Sinndeutung, und zwar weder einer monotheistischen noch einer pantheistischen.
In den 1970er Jahren fing er einmal als dezidierter nichtchristlicher, neuheidnischer und der Biopolitik verpflichteter “Vordenker” an. Heute hört man von all solchen Dingen kaum noch etwas unter den rechristianisierten “Neuen Rechten”. […]
Wir sollten es klarer ausdrücken: Es geht hier um die Erkenntnisse der Naturwissenschaft, um das naturalistische, naturwissenschaftsnahe Menschenbild, zu dem es heute gar keine Alternative gibt, auch wenn man das gerne hätte in “neurechten”, sprich christlichen und okkulten Kreisen.
Ingo Bading: Alain de Benoist – Er hat “biologische Fragestellungen” “allzu sehr in den Vordergrund gerückt”, studgenpol.blogspot, 7.10.2015.
Das religiöse Bedürfnis
Offenbar verspüren viele Menschen aber ein religiöses Bedürfnis. Glaube vermag ein Gefühl der Geborgenheit in einer von einer sinnvollen Seinsordnung erfüllten Welt zu wecken.
Die Vernunft muß einsehen, daß sie sämtliche inneren Bestrebungen des Menschen nicht zu erschöpfen vermag. Das Bedürfnis nach Heiligem ist für das menschliche Wesen ein Grundbedürfnis, ebenso wie das Essen oder der Geschlechtsverkehr. Mircea Eliade stellt fest, daß »die Erfahrung des Heiligen eine Struktur des Bewußtseins ist«[10], auf die man nicht verzichten kann.
In diesem Sinne ist wohl zu verstehen, wenn der Quantenphysiker und Nobelpreisträger Anton Zeilinger auf die Gretchenfrage antwortete:
Als Naturwissenschaftler bin ich Agnostiker, so wie Monod[11], da kann ich nichts zur Gottes-Frage sagen. Aber als Mensch bin ich weder Agnostiker noch Atheist. Ja, für mich -und ich verstehe das nicht – war es im Leben immer evident, daß es einen Gott gibt.
Anton Zeilinger[12], Ein voll berechenbares Universum wäre eine Schreckensidee, 24.3.2023.
Man könnte das auch so ausdrücken: Der animalische Anteil am Menschen fürchtet sich davor, bloßer “Zigeuner am Rande des Universums” (Jacques Monod [13]) zu sein, und sucht verzweifelt nach einer Vaterfigur, die ihn birgt. Wissenschaftlich arbeitender Verstand bewahrt ihn aber davor, an Schutzgottheiten zu glauben. Benoist beschreibt das seelische Bedürfnis mit den Worten:
Der Mensch braucht einen Glauben oder eine Religion – wir halten hier Religion und Moral auseinander – als Ritual, als beruhigende einförmige Handlung, als Bestandteil der Gewohnheitsnetze, aufgrund derer er sich formt. Diesbezüglich gehört die in letzter Zeit aufgekommene echte Ungläubigkeit zu jenen Untergangserscheinungen, die den Menschen in dem zersetzen, was er an kennzeichnend Menschlichem aufweist. (Ist jemand, der die Fähigkeit oder den Wunsch zu glauben verloren hat, überhaupt noch ein Mensch?
Benoist S.24 f.
Nach diesem strengen Urteil des Autors mußte ich mich spontan durch einen Blck in den Spiegel vergewissern. Zumindest eine gewissen Menschenähnlichkeit des Rezensenten war nicht zu leugnen. Aber das heidnische Urteil Alain de Benoists fiel noch vernichtender aus:
Alle Glaubensbekenntnisse sind zwar nicht gleichwertig, aber die totale Nicht-Gläubigkeit ist noch schlimmer als jeglicher niederträchtige Glaube.
Benoist S.8.
Ja, so sind sie eben, unsere Gläubigen. – Jedenfalls hat der Rezensent hier den Vorteil, gänzlich unparteiisch zu sein, wenn bei Benoist die heidnischen Götter Alteuropas mit dem judenchristlichen Gott streiten. Unparteiisch heißt aber nicht, auf ein eine Beurteilung zu verzichten. Wo der Verstand urteilt, hat gewöhnlich das Herz schon lange entschieden.
Die mir aus meinem Homer seit Schülertagen vertrauten griechischen Götter habe ich mir innerlich zu eigen gemacht. „Unauslöschlich Gelächter erhoben die seligen Götter, als sie da sahen Hephaistos keuchendes Humpeln“, las ich damals in der Ilias. Im Konfirmandenunterricht hörte ich dann von jenem eifersüchtigen Gott mit seinen nervenden Geboten und Verboten, las „seine“ Bibel mit der Geschichte, wie Jahwe dem Abraham die Opferung des Sohnes Isaak befahl und schließlich seinen eigenen Sohn ans Kreuz schlagen ließ. Mein Herz hat sich schon damals entschieden, welche Götter meinem innersten Wesen und Bedürfnis entsprechen und welche ich abscheulich finde.
Damit bin ich Heide im Sinne Benoists. Ja, ich empfinde eine emotionale Leerstelle, ein leises Bedauern, daß die Götter meiner Ahnen niemals real existiert haben. Aber ich bin stolz auf sie, daß sie mit Wotan und Donar, mit Ziu und Freija so wunderbare Vorstellungen erschaffen haben, die bis heute viele Menschen faszinieren und inspirieren. Wenn ich jetzt im Frühling durch einen Laubwald gehe und zu einer leisen Quelle komme, höre ich die Götter meiner Ahnen leise in den Blättern flüstern und raunen.
[1] Anm. Benoist: Claude Tresmontant, Les idées maîtresses de la métaphysique chrétienne, aaO., S. 83.
[2] Anm. Benoist: Paracelsus, Das Buch von den natürlichen Dingen, 9, S. 219.
[3] Anm. Benoist: Angelus Silesius, Cherubinischer Wandersmann, Wiesbaden 1949, I,
82.
[4] Homer, Ilias, 1.Gesang, 599: “Unauslöschlich Gelächter erhoben die seligen Götter ….”
[5] Siehe bereits Klaus Kunze, Die kollektivistische Sozialreligion, Blogbeitrag vom 1.5.2020.
[6] Benoist kennt die Zitatstelle auch, siehe S.242.
[7] Deuteronomium 12, 2–3.
[8] Lukasevangelium 14,26.
[9] Vgl. etwa Klaus Kunze, Mut zur Freiheit, 1995, Kapitel Determinismus und teleologisches Denken.
[10] Mircea Eliade, Gespräch mit Le Monde-Dimanche, 14. September 1980.
[11] Zu Jacques Monods Standpunkt siehe im einzelnen mit Nachweisen; Klaus Kunze, Die Geburt des kosmischen Bewußtseins aus dem Geist der Aufklärung, Blogartikel vom 22.11.2019.
[12] Anton Zeilinger, Ein voll berechenbares Universum wäre eine Schreckensidee, Interview mit Christian Wehrschütz, in: Perry-Rhodan-Journal 200, Beilage zur Perry-Rhodan-Serie, hier Heft 3214 vom 24.3.2023, S. 6 ff. (12).
[13] Siehe Zitatnachweise K. Kunze a.a.O.