Die Deutungshoheit bröckelt
Kartenhäuser brechen zusammen, wenn man sie zu hoch auftürmt. Das gilt auch für politische Theorien. Man könne ewig eine Karte auf die andere setzen bis in die luftigen Höhen des Ideenhimmels, scheitert an der Realität. Die Gravitation verbietet es. So ergeht es jetzt vor unseren Augen den linken und woken Hirngespinsten: Unbarmherzig zerbricht die Realität sie alle.
Pauline Voss schrieb gestern auf NIUS:
Endlich haben die Linken die absolute Deutungs- und Handlungsmacht erlangt. Nun fällt eine ihrer Ideen nach der anderen in sich zusammen. Alles, was ihnen bleibt, ist die Verleugnung der Realität und die Diffamierung all jener, die diese Realität benennen.
Pauline Voss, Wir haben das Falsche aus der Geschichte gelernt, NIUS 13.9.2024.
Doch irrt die ehemals linke Frau Voss, ihre früheren Genossen hätten außer der bundesregierungsamtlichen Handlungsmacht auch die „absolute Deutungsmacht erlangt“. Das Gegenteil ist richtig.
Es gibt keine absolute Deutungshoheit
„Deuten“ ist eine Sinnproduktion. Altrömische Auguren deuteten den Flug der Vögel auf kommende Ereignisse, TV-Kommentatoren „deuten“ Wahlergebnisse, und Juristen fällt die undankbare Aufgabe zu, den zuweilen gut verborgenen Sinn dunkler Gesetzesformulierungen zu deuten. Meistens gelangen sie zu dem Ergebnis, das die von ihnen gerade vertretenen Interessen fördert.
Wem die “Deutung der Orakel der Gerechtigkeit anvertraut ist”, wird erfahrungsgemäß “diese Göttin bewegen können, nichts zu antworten, was wider den eigenen Vorteil ist.”[1]
Samuel von Pufendorf 1667; Klaus Kunze, Mut zur Freiheit, 1995.
Solange es Menschen gibt, wird es verschiedene Weltbilder geben und werden sie den realen Fakten einen ganz unterschiedlichen Sinn beilegen.
Private Interessenkonflikte werden in einem gerichtlichen Rechtsstreit ausgetragen, kollektive aber durch Kampf um die politische Macht. In beiden Fällen wird er auf sprachlicher, also auf symbolischer Ebene geführt: Der Sieger setzt seine Deutung der umkämpften Leerformeln durch, Er erringt und stabilisiert dadurch seine Macht.
Leerformeln sind abstrakte Begriffe, die sich allgemein durchgesetzt haben, der aber jede Seite einen anderen, eigennützlichen Sinn verleiht.
Leerformeln sind immer Herrschaftsformeln, Herrschaftsinstrumente, und der »Streit um Worte« ist, wie Hermann Lübbe dargelegt hat, der eigentlich demokratische Kampf um Zustimmungsbereitschaft im Medium der Öffentlichkeit.
Helmut Schelsky, Der selbständige und der betreute Mensch, Frankfurt/M., 1978, S.119.
Solche Herrschaftsinstrumente sind etwa die verbindliche Deutung von Begriffen wie „gesichert rechtsextremistisch“, soziale Gerechtigkeit oder Demokratie. Jede Seite sucht die Deutungshoheit über solche abstrakten Begriffe zu erringen und sich ein Interpretationsmonopol zu sichern. Konsens mag über einen abstrakten Begriff möglich sein, doch die Festlegung seines Inhalts ist eine Machtfrage.
Der Konsens stützt sich – notwendigerweise öfter – auf Leerformeln, weil sie strittige Punkte ausklammern. So ist Konsens nichts anderes als die Ausklammerung oder die Aussetzung der Inanspruchnahme eines Interpretationsmonopol[s]. Solche Leerformeln des Konsenses sind: Demokratie, Herrschaft des Volkes usw. Die Leerformel beinhaltet eine solche Weite, daß niemand gezwungen ist, die Frage des Interpretationsmonopols zu stellen – und aufgrund ihrer Breite wird wiederum garantiert, daß alle zu irgendeinem Zeitpunkt sie stellen können. Beziehungsweise: Konsens ist nicht möglich, wenn alle dauernd die Frage der Interpretation stellen; und ebenfalls ist er nicht möglich, wenn niemand das Recht hat, sie zu stellen!
Panajotis Kondylis (1943-1998), nachgelassene Notate, Nr.1736.[2]
Herrschaftsmacht ist total, sobald die Beherrschten nicht mehr das Recht oder nicht mehr die faktische Möglichkeit haben, die Frage der Interpretation zu stellen. Dann ist 2+2 = 5 wie in George Orwells Dystopie „1984“, sobald die herrschende Partei es befiehlt. Dann ist ein Mann kraft Gesetzes eine Frau nicht etwa, weil er es real wäre, sondern, weil er eine sein möchte, ganz wie in Grimms Märchen aus „vor langer Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat“.
Die Realität läßt sich nicht betrügen
Wie Pauline Voss aus NIUS geschrieben hat und es seit Monaten die Spatzen von den Dächern pfeifen, hat sich die reale Welt nicht vor unseren regierungsamtlichen Sinnstiftern und ihren Hirngespinsten gebeugt. Für Propheten war es schon immer peinlich, wenn angesagte Katastrophen nicht eintraten, sondern ganz andere, unerwartete. Im Jahr 1000, wurde einst gepredigt, werde die Welt untergehen und der Tag des jüngsten Gerichts anbrechen. „Na gut“, gaben Prediger danach kleinlaut zu, „dann haben wir uns nur etwas verrechnet.“ In ihre Schule ist unser Wirtschaftsminister und Märchenerzähler gegangen: „Na gut, die Firmen sind nicht pleite, sie haben nur kein Geld mehr.“[3]
Für Gläubige aber spielt die Realität keine Rolle. Sie haben ihre eigene, ganz persönliche Welt in ihrem Kopf für sich allein. Brennt ein Dornbusch, hören sie aus ihm die Stimme ihres Stammesgottes, regnet es, kaufen sie sich Rettungsringe, um nicht im wegen des durch menschengemachten Klimawandel angestiegenen Meer zu ertrinken, scheint die Sonne, interpretieren sie das als Indiz für die globale Erderwärmung. Menschen sind sehr kreativ darin, sich in der Matrix einer Scheinwelt zwischen Beichtstuhl, Computerspiel und Wahnwitz zu verirren, die keinen Ausgang mehr kennt.
Solche Menschen haben Angst, die Augen vor der empirischen Wirklichkeit zu öffnen und zu akzeptieren, was sie erblicken. Damit sind sie aber leicht lenkbar, steuerbar und beliebig manipulierbar. Man muß ihnen nur vor einem Hirngespinst Angst einjagen und sich zugleich als Retter anbieten. Diese Herrschaftstechnik hört aber zu funktionieren auf überall da, wo Menschen sie durchschauen und keine Angst (mehr) haben. Darum besteht das oberste Gebot aller Techniker von Herrschaftsmacht, ihre Deutungshoheit zu erringen und ein Interpretationsmonopol zu installieren.
Es gibt viele Science-Fiction-Romane, die in solchen utopischen Gesellschaften spielen: 1984, Fahrenheit 451 und andere mehr. Aber soweit sind wir in Deutschland noch lange nicht. Lückenlose Interpretationsmonopole vermochte historisch noch keine Herrschaft zu erringen. Davon zeugen in der frühen Neuzeit verbrannte „Ketzer“, zeugen Literaten im Stalinismus und Widerständler im Nationalsozialismus 1933-45 wie im Sozialismus 1948-89.
Heute gibt es ein vielfältiges und quicklebendiges Geflecht alternativer Medien und Publizisten, die uns täglich zum Frühstück beweisen, daß die Hochzeiten linksradikaler Deutungshoheit vorüber sind. International haben geldmächtige Leute wie Elon Musk die Gefahren auch für ihre eigene Freiheit durch linke Übergriffe (Brasilien, EU) erkannt. Ihre Medien bilden eine stärker und selbstbewußter werdende Gegenöffentlichkeit. Und in Deutschland? Mal ehrlich: Wer außer ein paar Ewiggestrigen glaubt dem linken Klüngel und seinen staatlichen Propagandaschleudern denn überhaupt noch irgendwas?
Je heterogener unsere Gesellschaft gemacht wurde, desto illusorischer wird die Vorstellung eines alle Beteiligten übergreifenden und homogenisierenden Deutungsmonopols.
Kein juristisches Interpretationsmonopol
Auch auf rechtlicher Ebene gibt es kein vollständiges Interpretationsmonopol. Dem Bundestag als Normgeber steht hinsichtlich seiner eigenen Gesetze ohnehin keines zu:
Damit verkennt er, daß dem Normgeber bereits kein autoritatives oder authentisches Interpretationsrecht seiner Normen zukommt. Der Normgeber hat kein Interpretationsmonopol.
Verwaltungsgericht Stuttgart, Beschluß vom 4. Mai 2021 – 16 K 2291/21 –, Rn. 18, juris.
Das Interpretationsmonopol des Bundesverfassungsgerichts ist kein umfassendes zur Lenkung der Gesellschaft, sondern in mancher Weise eingeschränkt.
Mit den unvermeidlichen Spielräumen in der Verfassungsinterpretation erlangt die Frage, wer ermächtigt ist, die Verfassung zu interpretieren, entscheidende Bedeutung. Denn das Ergebnis hängt – so weit der Spielraum reicht – nicht nur von der Methode, sondern auch von den Entscheidungen der Person des Interpreten ab. Verschiedene Interpreten können zu verschiedenen Ergebnissen kommen. Die Interpretationskompetenz muß auch nicht monopolisiert werden, sondern kann sich auf verschiedene Organe verteilen. Die Frage lautet dann nicht nur, wer zur Verfassungsinterpretation ermächtigt ist, sondern auch, wer wie weit hierzu ermächtigt ist.
Martin Borowski in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl. 2014, § 274 Subjekte der Verfassungsinterpretation, Rdn.9.
Borowski macht auf verschiedene rechtliche Theorien aufmerksam
Man kann den Begriff des Verfassungsinterpreten eng oder weit verstehen. An dem einen Ende des Spektrums läge es, dem Verfassungsgericht ein Interpretationsmonopol zu geben. Nach einem weniger engen Begriff des Verfassungsinterpreten sind auch andere oder alle staatlichen Organe zur Verfassungsinterpretation berufen, sofern die ihnen zugewiesenen Aufgaben dies implizieren. Nach dem weitesten Begriff schließlich sind alle Akteure in der Rechtsordnung, also auch Private, Interpreten der Verfassung.
Borowski in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl. 2014, § 274 Subjekte der Verfassungsinterpretation, Rdn.10.
Von einem Monopol des BVerfG kann nur in festgelegten Grenzen gesprochen werden, nämlich bei der juristischen Auslegungen konkreter Normen und ihrer Tragweite.
Schon Georg Jellinek hat darauf hingewiesen, daß auch Parlamente, Gerichte und Behörden die Verfassung interpretieren[4]. Und auf die Bedeutung von Verfassungsbestimmungen kommt es nicht nur in Verfahren vor dem Verfassungsgericht an, sondern auch im Verfassungsleben. Wenn der Bundespräsident von seiner Kompetenz hinsichtlich der Prüfung auszufertigender Gesetze Gebrauch macht, dann wird das Gesetz am Maßstab der Verfassung gemessen. Die Verfassung als Maßstab bedarf dabei der Konkretisierung durch Interpretation[5]. Fachgerichte haben gemäß Art.100 Abs.1 GG zwar nicht die Kompetenz zur Verwerfung nachkonstitutioneller formeller Gesetze, sind aber zur Prüfung von deren Verfassungsmäßigkeit ermächtigt und verpflichtet, was ebenfalls eine Auslegung der Verfassung impliziert.
Borowski in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl. 2014, § 274 Subjekte der Verfassungsinterpretation, Rdn.11.
Aber gesellschaftlich ist keine Privatperson gezwungen, daran zu glauben. Jedem ist unbenommen, eine zu weit gehende woke, egalitaristische oder quasireligiöse Begründung einer BVerfG-Entscheidung als lächerlich zu kritisieren.
Grenzen der Deutungshoheit
Es gibt nämlich einen wesentlichen Unterschied zwischen einer Rechtsanwendung, die das geschriebene Gesetz respektiert und anwendet, und einer staatlichen Zumutung, an metaphysische Letztbegründungen einer solchen Norm zu glauben. Daß die Grundgesetzgeber die Menschenwürde für staatlich unantastbar erklärt haben, war eine freiheitliche Errungenschaft. Sie aber statt aus dem (Grund)gesetz aus „vorstaatlichen“, also quasi religiösen Normen abzuleiten und diese Interpretation für rechtsverbindlich zu erklären, ebnete den Weg zu einer Anmaßung, einem staatlichen Deutungsmonopol, das seinerseits verfassungswidrig ist.
Diesen Irrrweg bereitet das Grundgesetz mit seinem „Bekenntnis“ zu „vorstaatlichen“ Rechten bereits vor. Vorstaatliche Rechte lassen sich mit einem lieben Gott und seinen Geboten oder aber überhaupt nicht begründen. Es gibt niemals ein Gesetz ohne Gesetzgeber.
Ein der Würde des Menschen verpflichteter Staat darf seine eigenen Gesetze nicht so interpretieren, daß er dem Bürger mehr abverlangt, als den Gesetzen zu gehorchen. Nicht verlangen darf er, daß der Bürger quasireligiöse, metaphysische Offenbarungen glaubt. Das Wesen jedes angeblich objektiven Wertes besteht aber genau darin, daß man an ihn glaubt wie an religiöse Offenbarungen. Genau dieser Glaube wird ihm abverlangt, wenn er unter der Würde des Menschen amtlich eine “fundamentale Gleichheit der Menschen” verstehen und wenn er zugleich an sie glauben soll, indem diesem “fundamental” ein religiöser, moralischer oder metaphysischer Inhalt beigelegt wird.
„Die westliche Auffassung von Freiheit und Gleichheit mag eine willkürliche Setzung sein, die einer Offenbarung weit ähnlicher ist als strenger deduktiver Logik,“[6]
Udo Di Fabio
durchschaute der frühere Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio. Dem Bürger “Glauben” an eine nicht im Gesetz stehende, erst durch verfassungsschützerische Formulierungen herausdestillierte “fundamentale Gleichheit der Menschen” abzuverlangen, würde seinerseits die Würde der Bürger schwer beeinträchtigen. Wesentlicher Inhalt seiner Würde ist nämlich, zu glauben, was immer er will.
Das vermag jeder Mensch jederzeit, und daran muß jeder Versuch scheitern, ein Interpretationsmonopol zu errichten, das über den Gehorsam gegenüber dem geschriebenen, dem positivierten Gesetz hinausgeht.
[1] Samuel von Pufendorf, De statu Imperii Germanici, 1667, Die Verfassung des Deutschen Reiches, Hrg.Horst Denzer, Frankfurt/M.1994, S.165.
[2] Panajotis Kondylis, Das Politische und der Mensch, Grundzüge der Sozialontologie, Nachgelassene Notate zu den konzipierten Bänden, Gesellschaft als politisches Kollektiv (Band II), Identität, Macht, Kultur (Band III), Aus dem Griechischen übersetzt und mit Einleitung und Registern versehen, von Fotis Dimitriou, 2021.
[3] Soll er, Meldungen zufolge, sinngemäß gesagt haben.
[4] Georg Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung, 1906, S.9ff.
[5] Der genaue Prüfungsmaßstab – (1) bloß formelle Prüfung, (2) formelle und begrenzte materielle Prüfung oder (3) formelle und volle materielle Prüfung – ist umstritten. In jedem Fall ist jedoch der Maßstab vom Bundespräsidenten durch Verfassungsinterpretation zu konkretisieren.
[6] Udo Di Fabio, Die Kultur der Freiheit, 2005, S.114.