Klaus Kunze
- Publizierte Zeitungsartikel (Auswahl) -
 

Mordmaschine abgebaut

Todesmutige Studenten beschafften Be­weismittel

von Klaus Kunze
 (Publikation: Student Okt./Nov.1979)

Vor drei Jahren wurde der junge Mittel­deutsche Michael Gartenschläger an der Zonen­grenze ohne Anruf von ihm auflau­ernden Wachposten des SED­-Regimes erschossen. Er wollte an derselben Stelle wie schon zweimal zuvor ein Selbst­schußgerät vom Typ SM-70 abmontieren. Nach Auskunft des Bundesgrenzschutzes sind inzwischen rund 35 000 dieser An­lagen an der innerdeutschen Grenze in­stalliert worden, die im Bruchteil einer Sekunde aus einem flüchtenden Men­schen ein zuckendes Bündel Fleisch mit zerfetz­ten Gliedmaßen machen. "DDR"-Staatschef Honecker behauptet dagegen in einer Rede vor der "DDR-Volkskammer", Todesautomaten seien Erfin­dungen kran­ker Hirne von Entspannungskriti­kern und westdeutscher Revan­chistenkreise. Wi­derspricht ihm jemand? Am 1. Juni 1979 unternahmen es drei todesmutige Studen­ten aus Köln und Münster, die Existenz und die Wirkungs­weise der Todesanlagen durch die Demontage eines SM-70 erneut zu beweisen.

Eine Nacht wie jede andere, mitten in Deutschland. Der Morgen graut bereits. Drei ver­mummte Schatten schleichen im Lauf­schritt durchs Unterholz. Eine Streife des Bundesgrenzschutzes nähert sich - volle Deckung! Sie passiert die drei zweimal im Abstand von nur wenigen Metern. Die ge­schwärzten Gesichter der drei bleiben reglos ins Gras geduckt, niemand rührt sich. End­lich ist die Streife vorüber.

Wenige Schritte, und die drei überschrei­ten die Zonengrenze, jetzt sind sie schon in Thü­ringen. Nur noch 20 Meter bis zum Metall­gitterzaun. Plötzlich entdecken sie auf der ande­ren Seite des Zaunes einen abgestellten Wagen der Nationalen Volksarmee mit Be­satzung. Zwei Solda­ten verlassen ihren Un­terstand in etwa 50 Metern Entfernung. Schon wird es heller. Waren alle Vorberei­tungen umsonst? Scheitert die wochenlange Detailplanung an einem, unerwarteten Zu­fall? Endlich entfernt sich das Fahrzeug, mit ihm die Posten. Los!

Michael und Rainer rennen los - nur noch ein paar Sprünge, dann erreichen sie das unend­lich scheinende Band des 3,50 Me­ter ho­hen Metallgitterzaunes, das bis an den Horizont reicht. Nur das Morgenkon­zert der Vö­gel durchbricht die gespensti­sche Atmosphä­re. Jetzt machen sich die genauen Erkundun­gen und die Übung aller Handgriffe bezahlt. Im Nu sind die mitgebrachten Werkzeuge in ihren Hän­den, während Ralph Posten be­zieht. Sei­tenschneider, Bolzenschneider, Tep­pich­messer, Schere, Schweißdraht, Schrau­benzieher und Brecheisen tun ihren Dienst. Die beiden wissen, was sie zu tun haben, doch der drei­lagige Metallgitter­zaun verzö­gert den Zugang zum Strom­versorgungska­bel. Seine Ma­schen sind für den Bolzen­schneider ein wenig zu eng.

Wenn es ihnen nicht gelingt, Löcher ins Me­tall zu schneiden, war alles umsonst. Zwar handelt es sich - laut Ulbricht und Honec­ker - um einen "antifaschistischen Schutz­wall", aber merkwürdig: Die Aus­lösedrähte für die Todesautomaten und auch diese selbst befin­den sich nur auf der Ostseite. Scheinbar befürchtet das SED-Regime "faschistische Provo­kation" nicht vom Westen, sondern aus dem eige­nen Land.

3.30 Uhr, schon ist es fast taghell. Das Stromversorgungskabel ist zweifach mit verschie­dener Drahtummantelung ge­schätzt. Die Klinge des Teppichmessers bricht daran ab. Ge­trenntes Durchschnei­den des aus vier Adern bestehenden Ka­bels ist nicht mehr möglich. Michael arbeitet fieberhaft. Rainer setzt den Bol­zenschneider jetzt an zwei Stellen an, um Öffnungen in den Draht zu schneiden. Dann durchtrennt er die Vogel­schutz­drähte und den blinden Verbindungs­draht zum Nachbargerät. Michael kappt das Stromzuführungskabel am Boden, den Auslö­sedraht und die Halterungsschrau­ben. Jetzt kann Rainer durch den Zaun greifen und das Selbstschußgerät sichern, das an einem Eckpfosten befestigt ist. Schnell legt er es in die mitgebrachte Tragetasche. Während Michael das Werkzeug zu­sammensucht, läuft Rainer Richtung Ralph. Treffpunkt Auto. Es ist ge­schafft!

Die spätere genaue Untersuchung des Apparates löst noch einmal Grauen aus: Oben be­findet sich ein Trichter, in dem 120 vierkantige Stahlwürfel lagern. Der Auslösedraht ist jeweils zwischen zwei SM-70 gespannt. Er bewirkt die sofortige Detonation, wenn er durchtrennt oder nur geringfügig gezogen wird. Der Auslöse­mechanismus enthält einen Schlagbolzen, der aus seiner Arretierung schießt, die Kontakte zusammengedrückt und damit den Stromkreis schließt. Dann rasen mit der Wirkung einer explodierenden Gra­nate die 120 vierkantigen Stahlwürfel in alle Richtungen. Wehe dem, der in ihren Wir­kungsbe­reich gerät! Die fürchterli­chen Fleischwunden verurteilen ihn zum baldigen Tode, wenn nicht schon die blut­führenden Adern zerrissen werden und der Tod sofort eintritt, verblu­tet der Flüchtling doch in kur­zer Zeit.

Der Mauerbau, die Minenfelder, die Wach­hunde, der Metallgitterzaun, die Todesautoma­ten, der Schießbefehl, dies alles bildet ein nahezu perfektes System des Schreckens, das ein Entkommen un­möglich machen soll. Wie hieß es so schön in Helsinki? Freizügigkeit für Men­schen, Informationen und Meiun­gen. Doch wer auf dem Höhepunkt der Ent­span­nungshysterie geglaubt haben mag, der Ostblock könnte seinen Untertanen ein Mini­mum an Menschenrechten ge­währen, wurde bitter enttäuscht. Am bit­tersten aber war die betro­gene Hoffnung für die Menschen drü­ben, die sich noch täglich von ihren Machthabern verhöhnen lassen müssen mit Parolen wie "Alles für das Wohl der Werktätigen, Glück für die Menschen!"

Wie gut, daß es im freien Westen noch de­mokratische Politiker gibt, die sich für die Men­schenrechte einsetzen, so dachten Rainer V. (28), Student aus Köln, Mi­chael B. (24), Stu­dent aus Münster, und Ralph F. (21), Stu­dent aus Köln. Sie rei­sten mit ihrem Beweis­stück kurzent­schlossen in die Hochburg der Menschen­rechte, zu den Gralshütern der Frei­heit, der Europäischen Kommission für Men­schenrechte in Straßburg. Doch was sie dort erlebten, war wie eine kalte Dusche. Man wisse nichts von derartigen Anla­gen. Seit der KSZE in Helsinki sei doch wohl al­les in schönster Ordnung. Als die drei Studenten prompt das Beweisstück auf den Tisch des Hauses legten, winkte die zuständige Sachbearbeiterin ab: Dafür sei die Kom­mission nicht zuständig. Es könne nur derje­nige Beschwerde erhe­ben, der persönlich durch eine menschen­rechtswidrige Handlung verletzt sei. Ob sie damit meinte, die zerfetz­ten Leichen der Mordgrenze möchten doch bitte ein­mal selbst vorbei­schauen, sagte die Dame leider nicht.

Was tun? Bundesaußenminister Genscher lehnte das Angebot der drei Studenten, das Ge­rät als "corpus delicti" anläßlich seiner Rede vor der UNO vorzulegen, ab. Ja, er erwähnte die Mordmaschine nicht einmal. Wen interessieren schon ein paar zerfetzte Flücht­linge, wenn es Deutsche sind?

Inzwischen haben die drei das Gerät dem Bundesgrenzschutz übergeben - um nicht mit dem Waffengesetz in Konflikt zu geraten wegen eines Gerätes, das es gar nicht geben darf.