Klaus Kunze
- Publizierte Zeitungsartikel (Auswahl) -
 

Tigerkä­fig in Mitteldeutschland

(Publikation: Student Juli 1979)

Mut in der Diktatur - und bei uns?

Im April 1979 begab es sich, daß eine durch die Holocaust-Diskussion auf­gerüt­telte Kölner Öffentlichkeit auf eine frühe­re Gestapo-Zelle aufmerksam gemacht wurde, die seit Jahrzehnten im Keller eines Kölner Behördenhauses ver­schlos­sen und vergessen war. Sofort regte sich das öffentliche Gewis­sen, die Lokalpresse berichtete groß, Wandkrit­zeleien lange befreiter Häft­linge wurden sorgfältig archiviert. So tat das öffentliche Gewissen laut Buße, und man konnte wieder zur Tagesordnung übergehen, demokratisch lauter und moralisch gereinigt. Im April 1979 begab es sich auch, daß der junge Deutsche Thomas Steinberger im Zucht­haus Brandenburg im berüchtigten "Tigerkäfig" dahinvegetierte, gegen den die Kölner Gestapo-Zelle wie ein Luxus­hotel anmutet.

Der Tigerkäfig ist 1,50 Meter mal 3,50 Me­ter klein, enthält nichts als einen Be­tonsockel zum Schlafen und einen Eimer für die Not­durft. Es schneit in die Zelle; Wärter haben das vergitterte Fenster eingeschlagen. Auf dem Boden steht das trübe Wasser fünf Zen­timeter hoch, totes Ungeziefer treibt darin. Nachts kriechen dem Gefangenen Spin­nen und Kakerla­ken übers Gesicht, Ameisen in die Ohren. Wochenlang gibt es keinen richtigen Schlaf, denn alle drei Minuten dringt aus einem Nebenraum ein ohrenbetäu­bendes Pfeifen unbekannten Ursprungs in den Tigerkäfig. Es hält dreißig Sekunden an. Von den täglichen Schikanen soll hier nicht die Rede sein, der Prügel durch betrun­kene Wärter, dem mangelnden Essen, der fehlen­den ärztlichen Versor­gung des erst Neun­zehnjährigen.

Und die moralisch geläuterte Öffentlich­keit im "freien Westen" schwieg. Es schwieg die Presse, es schwiegen die Politiker. Das "Rus­sel-Tribunal" hielt sich für örtlich nicht zu­ständig. "Komitees gegen die Isolationsfol­ter" pranger­ten den "BRD-Strafvollzug" an, die DKP pries das Modell Deutschland öst­lich der Elbe. Man entspannte und ver­schloß die Augen vor dem Unrecht im anderen Deutsch­land, schließlich wußte doch jedes Kind aus dem Fernsehen: Seit der Befreiung Deutschlands von Militarismus sind Fa­schis­mus kann es so etwas per definitio­nem nicht mehr geben! Das selektive Unrechtsbewußt­sein der persönlichkeits­gespaltenen westdeut­schen Öffentlichkeit zeigt sich täglich. Un­recht ist nicht mehr gleich Unrecht, Mord nicht gleich Mord.

Es lohnt sich, diese Muster an morali­scher Tugendhaftigkeit, die unser Staat mit allen seinen erdenklichen, Freihei­ten samt Wohl­stand hervorbringt, mit dem Menschenschlag zu vergleichen, der unter kommunistischer Herrschaft aufwächst. Ihnen sind unsere selbstverständlichen Freiheitsrechte vage Sehnsucht. Sie wer­den erzogen im starren Schematismus der Massenorganisationen von der FDJ bis zur "Partei". So war es auch Thomas Steinberger ergan­gen, geboren 1957 in Berlin-Weißensee. Der Vater, Journalist, erzählte ihm vom Klassenfeind im We­sten, die Mut­ter, Sekretärin, vom großen Bruder­volk im Osten. Doch was westliche Milieu­theoretiker verblüffen mag, ist drüben an der Tagesordnung: Thomas pfiff auf sein kommunistisches Milieu; mit 15 Jahren scheiterte sein erster Fluchtver­such, mit 19 der zweite. Im Zuchthaus verweigerte er die Zwangsar­beit und kam in den Tigerkäfig. Keine Prügel konnten ihn brechen. Dem An­staltsarzt, einem Offizier, schrieb Tho­mas, als dieser ihn nicht behandelte: "Ich trage meinen Ar­restkittel stolzer als Sie Ihre Uniform."

Persönlicher Mut, unbeugsamer Wille und die unauslöschliche Sehnsucht nach der Freiheit, das zeichnet einen Großteil der Jugend im anderen Deutschland aus. Nach Pop-Fe­stivals prügeln sie sich mit Vopos, in Erfurt, in Ber­lin. Sie erzählen spöttische Witze über die Partei, sie sammeln leere Bierdosen aus dem Westen und stapeln sie in ihrer Bude auf dem Bücherbord. Viele werden regi­striert, erleiden Berufsverbot, manche wer­den eingesperrt. Trotz Freikaufs sinkt die Zahl der politischen Gefangenen nie un­ter 6000 bis 7000.

Am 17. Juni 1978 geschah es, daß die Häft­linge in einem der größten Zuchthäu­ser die Zwangsarbeit verweigerten. Für sie war Fei­ertag. Aus den Zellen der Ge­peinigten drang nachts das Lied der Deut­schen durch die Zuchthausgän­ge, und sie warfen brennende Gegenstände als Fac­keln in den lnnenhof. Aus Cottbus wurde bekannt, daß Häftlingen, die wegen Ver­weigerung der Zwangsarbeit in die Ein­zelhaft abgeführt wurden, von ande­ren zugerufen wurde: "Deutschland soll leben -", und die schon seit den 20er Jahren bekannte Antwort erscholl sofort: "- und wenn wir sterben müssen!"

Am 17. Juni 1979 geschah im goldenen We­sten nichts. Massenhaft fuhren unsere mora­lisch sauberen Bundesbürger ins Grüne - ­wer wollte es ihnen verdenken? Ein paar ge­langweilte Politiker hielten Sonntagsreden. Ernstzunehmen­de Kriti­ker forderten, diesen Feiertag ganz abzu­schaffen. Vorerst wird ih­nen noch wider­sprochen, wegen der "Wahrung des sozia­len Besitzstandes". Nur einige "Ewig­gestrige" demonstrierten für die deut­sche Einheit.

Thomas Steinberger ist heute für 40 000 Westmark freigekauft, welch menschliche Erleichterung! Mit großen Au­gen geht er durch die neonbeleuchteten Straßen des Westsektors der geteilten Stadt Berlin und staunt fassungslos vor der Fülle in den Schaufenstern. Fremdling in der eigenen Vaterstadt. Einer von uns.