Moral und Herrschaft
(Publikation des Aufsatzes: Ostpreußenblatt 9.3.1995)
Sie mögen Philosophie nicht? Sollten Sie aber! Mit Philosophie können Sie anderen das Geld aus der Tasche ziehen. Darauf legen Sie keinen Wert? Nun, wenn andere aber Ihnen Geld aus der Tasche ziehen, z.B. als Steuern, um diese nach dem Sterntalerprinzip an Fremde zu verstreuen, sollten Sie weiterlesen. Man verlangt uns ja so viel ab heutzutage. Untertan der Obrigkeit sollen wir sein, denn die ist ja demokratisch. Unser Geld verschwenden sie für alles mögliche, und das nennen sie gerecht. Unser Gehorsam begründet ihre Macht. Willig halten wir nur still, solange er uns sinnvoll und für uns nützlich erscheint. Uns ihren Sinn zu stiften und einzupflanzen ist die Grundbedingung ihrer Macht. Kritisch hinter die Kulissen dieses Sinnes zu leuchten, ist Philosophie, eine höchst nötige Beschäftigung, und die Suche nach einem letzten Sinn heißt Metaphysik.
Keine Herrschaft ist stabil, die ihren Bürgern nicht die Sinnfrage beantworten kann. Ein umfassendes Gedankengebäude zur Legitimierung von Macht nennen wir Herrschaftsideologie. Sie sieht im Gottesstaat persischer Mullahs anders aus als in Clintons USA, die soeben das Schulgebet wieder einführen will und auf deren Geld noch immer steht: "In God we trust." Die nackte Tatsache der Macht tritt immer gekleidet im Glauben an ihre Übereinstimmung mit einer sinnvollen Ordnung des Kosmos auf, die sich im Gesetz bloß verkörpert. So liegt vor dem Strafgesetz, das den Mörder verurteilt, ein meta-physisches Verständnis vom Wert des Menschenlebens und vor dem Unterhaltsrecht eine Idee vom "natürlichen" Zusammengehören von Menschen oder vor dem Todesurteil der Mullahs über Salman Rushdie eine bestimmte Idee von Allah und von Gotteslästerung.
Alle klugen Gesetzgeber geben ihre Gesetze als Gottes Willen oder der Natur des Menschen entsprechend aus. Es herrschen unter Berufung auf göttliches oder Naturrecht immer diejenigen, die jeweils die Definitionsmacht besitzen, welche konkreten Forderungen der angebetete Gott an die Beherrschten richtet oder welchen konkreten Inhalt das Naturrecht angeblich hat; und in einem Lande, in dem nur das Gesetz herrscht oder nur die Gerechtigkeit gilt, herrscht in Wahrheit, wer dieses Gesetz erläßt oder konkret darüber entscheidet, was im Einzelfall als gerecht gelten darf.
Zufälligerweise pflegt jeder Herrscher für gerecht, dem Naturrecht entsprechend oder für Gottes Willen zu halten, was gerade seine Macht und seine Interessen erhält. Die Herrschaft der Bonner Parteien macht da keine Ausnahme. Ihr Parteienstaat hat seine ganz besondere Ethik: ein umfassendes Gedankengebäude, dessen Einzeltugenden die Parteien an der Macht halten und denjenigen nützen, deren Vorteil sich in gerade dieser Parteienmacht stabilisiert. Innerhalb eines Volkes gibt es nämlich verschiedene Menschen mit verschiedenen Interessen, Bedürfnissen und demzufolge Welt-Anschauungen. Im Kampf um Macht und Interessen führen diese Ideologien einen Stellvertreterkrieg. Nur scheinbar tobt der Streit um philosophische, metaphysische oder ethische Fragen. Die Wertordnung des Parteienstaates dient der Aufrechterhaltung eines bestimmten Status quo, in dem sich die faktische Machtposition derjenigen normativ ausprägt und stabilisiert, die ihren Vorteil aus einer Wirtschaftsverfassung ziehen, in der ein freies Spiel rein ökonomischer Kräfte weitestmöglich ist.
Menschen, die sich schutzbedürftig fühlen, schätzen eher die Gemeinschaft wert als geborene Hechte im Karpfenteich. Jene sehnen sich zu ihrer Sicherheit nach einem starken Volk und Staat - diese fühlen sich durch zu viel Polizei und Gemeinschaftssinn in ihrem Tatendrang eher gehemmt.
Der Liberalismus ist die Religion des Wolfs, der die Gans zur Tafel lädt - bei freier Menüwahl! Weil jeder alles dürfen soll, braucht er einen Unparteiischen nicht. Staatliche Verbotstafeln sind unerwünscht. Der Staat ist allenfalls mißtrauisch beäugter Diener der gesellschaflichen Mächte. Ihre parteienstaatliche Ethik arbeitet mit Fiktionen wie jede Ethik, und so kann man glauben oder es sein lassen: Es bestehe das Gemeinwohl darin, allen Einzelegoismen freien Lauf zu lassen, im Parlament vertreten würden sie sich in ihrem Widerstreit doch zu einem harmonischen, ausbalancierten Ganzen zusammenfügen, und die Regierungspolitik solle als Resultante dem jeweils stärksten organisierten Interessendruck folgen. Die Gesellschaft der Wölfe beruht auf einer Ethik des ökonomischen Fressens und Gefressenwerdens und setzt ihr Alles-ist-erlaubt konsequent in Gesetze um. Darum schreit ihr spezifisches Pathos empört auf, wenn irgendwo in der Welt ein Indio oder Chinese ein liberales Wort nicht sagen darf. Ob Oberschlesier in der Schule deutsch lernen, läßt ihn kalt, weil Ordnungen wie Völker quer zu seinen liberalen Tugenden liegen. Verfehlt er damit einen der Welt tatsächlich innewohnenden, vorgegebenen Sinn? -
Eine jeden eigenständigen Sinnzusammenhanges verlustige Welt, völlig angewiesen auf menschliche Bedeutungsstiftung, muß nicht nur ohne solche Anweisung in unseren Augen zu einem Chaos auseinanderfallen: Sie ist dieses Chaos. Der Gedanke, daß es im Weltall nichts und niemanden gibt, der uns Sinn und Zweck unseres Daseins vorschreibt, ist für den einen unerträglich; für den anderen aber Grundbedigung seiner Freiheit. Zwischen modernen physikalischen Erkenntnissen und meta-physischen Urbedürfnissen besteht eine eigenartige Konvergenz:
Die Physik lehrt uns, daß die Welt, wenngleich von naturwissenschaftlichen Gesetzen erfüllt, ein Chaos ist. Sie unterliegt dem Gesetz des Energieverlustes: alle Struktur fällt tendenziell vom geordneten Zustand in einen ungeordneten, chaotischen zurück. Dem entgegen wirkt aber eine andere Gesetzmäßigkeit, auf deren Existenz wir nur von ihrer Wirkung schließen können: Aus dem anorganischen Urmeer bildeten sich die ersten organischen Mikroorganismen, aus ihnen kompliziertere, und aufgrund uns noch rätselhafter Naturgesetze immer differenziertere Organismen, die mehr auf ihre Umwelt bezogene Informationen enthielten als die ihnen vorangegangenen und die damit "intelligentere", geordnetere Seinsformen verkörperten.
Wir sind die jüngsten, differenziertesten Abkömmlinge, die Spitze dieser Pyramide. Wir verkörpern gegenüber allem Vorangegangenem ein Höchstmaß an Ordnung gegen das Prinzip des ständigen Energie- und Strukturierungsverlustes. Damit gehorchen wir einer Ordnung in sich widerspruchsfreier Naturgesetze. Allenfalls hinter ihnen stellt sich die letzte Sinnfrage - aber nicht in ihr. Den Gegensatz von Ordnung und Chaos haben wir auf unbewußter Ebene verinnerlicht: Alles Geordnete dünkt uns edler, "höher" als das Chaotische.
Weil alles menschliche Tun zielstrebig, also sinnerfüllt ist, vermuten viele, daß auch der Kosmos nicht nur von Naturgesetzen beherrscht wird, sondern einer normativen Wertordnung unterliegen müsse. An eine konkrete, als über-sinnlich verstandenen Weltordnung zu glauben, entspricht dem inneren Bedürfnis der meisten Menschen. Leider lassen sie sich darum auch willig indoktrinieren, sind sie doch stets auf der Suche nach sinnstiftenden Angeboten. Wer aber über die sittliche Begründung seines Tuns frei entscheiden will, darf an keine übersinnliche Wertordnung als Realität glauben.
Die Entscheidung hingegen läßt als harmlose Möglichkeit offen, aus transzendentem Bedürfnis die eigene Ethik zu personifizieren, an die Wand zu malen und zwei Kerzen daneben zu stellen. Wer dagegen an das wirkliche Walten ihm vorgeschriebener Normen glaubt, aufgrund deren alle Menschen in eine übersinnliche moralische Ordnung gestellt sind und diese zu verwirklichen haben, liefert sich denjenigen aus, die sich auf sie berufen und zu ihrem Nutzen konkrete Verhaltensanweisungen auf sie stützen. Vor normativistischen Fiktionen ist Vorsicht geboten: Sie lassen ihren Interpreten getarnt im Hintergrund und rechtfertigen seine Macht über die Gläubigen.
Wir dürfen uns die freie Entscheidung für eine unseren Bedürfnissen entsprechende Ethik nicht entwinden lassen. Fremdbestimmung beginnt mit der gegen uns gerichteten Funktionalisierung einer Moral, deren Bann uns fesselt und kalte, graue Begriffsnetze über uns wirft. Diese geißeln uns mit Wahnvorstellungen von Sündhaftigkeit, Bösesein und Schuld: Begriffen, die es nur innerhalb ihrer Glaubenslehre gibt. Ihr praktischer Sinn aber ist es, uns Gehorsam abzuverlangen, denn Sühne oder Buße, jedenfalls aber Gehorsam, verlangen sie alle. Am heimtückischsten sind dabei diejenigen Normentempel, die uns allein schon aufgrund unserer Abstammung eine metaphysische Schuld als Erbsünde aufladen. Wer an einen Gott und seine Moral glaubt, in dessen Hölle der eigene Großvater bereits schmort, der allerdings ist wirklich selbst schuld und verstrickt sich unentrinnbar in einem Labyrinth von erster, zweiter und dritter Schuld. -
Weltanschauungen sind zwar philosophisch gleichwertig, aber nicht praktisch gleich nützlich. Vor allem entspricht nicht jede denkbare Ethik unserem innersten Bedürfnis nach Ordnung gegen das Chaos. Eine Ethik der völligen Beliebigkeit, Bindungslosigkeit und Unbezüglichkeit führt uns ins Chaos - denkmöglich, aber doch unserem Wesen widersprechend. Der Mensch ist eben mehr ist als die Summe seiner Atome, der Glieder, Organe und Säfte, aus denen er besteht. Eine Ehe ist mehr als Mann und Frau, eine Familie mehr als Mann, Frau und Kind, eine Freundschaft ist mehr als zwei Männer und ein Volk mehr, als durch das Ergebnis einer Bevölkerungszählung zum Ausdruck gebracht werden kann.
Die Tugenden des liberalen Parteienstaates nützen vor allem finanzstarken Einzelgängern und Egozentrikern, die sich am liebsten alles erlauben möchten. Sie beeinträchtigen aber langfristig das Wohl des Ganzen. Dagegen gibt es Ethiken, die sich auf den Bestand höherer Ordnungen richten, mit auf menschliche Gemeinschaften gerichteten Tugenden wie der Vaterlandsliebe und der Familienbindung. An eine metaphysische Realität solcher gemeinschaftsbildenden Werte muß niemand glauben. Das übereinstimmende tatsächliche Bestehen solcher Werte bei allen Völkern und in allen Kulturen läßt aber den Schluß zu, daß es offenbar einen Nutzen hat, wenn die Mitglieder einer Gruppe ein gemeinschaftsstabilisierendes System von Normen anwenden.
Wir Menschen verfügen nach Konrad Lorenz über ein hochdifferenziertes System von Verhaltensweisen, das in durchaus analoger Weise wie das System der Antikörperbildung im Zellenstaat der Ausmerzung gemeinschaftsgefährdender Parasiten dient. So verstanden schweben Sinngebung und Wertbindung und Gemeinschaftsordnung nicht in übersinnlichen Sphären. Es gilt daher eine System vorpositiver ethischer Normen durchzusetzen und schließlich gesetzlich zu normieren, das unsere individuelle Freiheit mit dem Bestand der Gemeinschaft verknüpft, der wir alle angehören und die uns die individuelle Freiheit nach innen und außen garantieren soll. Philosophische Einsicht hilft uns, die alltägliche Anmaßung der herrschenden Liberalen abzuwehren.
Für einen Augenblick öffnet sich uns so der Vorhang der Erkenntnis, daß alle Ethik eben nur Menschenwerk und Sache freier, interessenbedingter Entscheidung ist. Paradoxerweise müssen wir ihn leider schnell wieder schließen: Auch die freie Entscheidung für eine Ethik der Ordnung ist keine Sache für Mehrheiten. Diese müssen an die gemeinschaftsbildenden Tugenden glauben, als seien diese im metaphysischen Sinne real, sonst kann sozial organisiertes Leben sich nicht auf Dauer erhalten.