Publikation: Junge Freiheit 42/1994 v.14.10.1994, S.2.
In der Mitte der 80er Jahre geschah es. Der rote Teppich für
Honecker war noch eingerollt. In der Parteizentrale der CDU lachte man hinter
vorgehaltener Hand über die offizielle Wiedervereinigungsrhetorik. In der
SPD diente man dem Frieden, indem man an mit der SED gemeinsamen Positionspapieren
formulierte. Unterdessen reckte ein verzweifelter, hinter Mauer und Stacheldraht
Eingesperrter bei einer Grenztruppenvereidigung ein Plakat hoch mit der
Aufschrift: DDR, Deine Grenzen sind für
mich kein Friedensbeitrag. So wollte er seine Ausreise erzwingen.
Von seiner Freiheitsstrafe von anderthalb Jahren saß er bis zu seinem
Freikauf 8 Monate ab.
"Beeinträchtigung
staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit" - so nannte § 214 des
DDR-Strafgesetzes seine Tat. Als "Rechtsbeugung"
verurteilte dagegen das Schweriner Landgericht seine Aburteilung durch
SED-Richter - und wurde prompt am 6.10.94 vom BGH in Karlsruhe aufgehoben.
"Der Bundesgerichtshof verkennt nicht", ließ er in seiner Presseerklärung
wissen, "daß das von den Angeklagten betriebene Strafverfahren Bestandteil
eines von der politischen Führung der DDR entwickelten Systems 'zur
Unterbindung und Zurückdrängung' von Ausreiseanträgen war." Das Verfahren
habe nicht den Anforderungen eines freiheitlichen demokratischen Rechtsstaats
entsprochen.
Aber warum wurden die SED-Verurteiler dann freigesprochen?
Um das zu verstehen, müssen wir die gewohnte FdGO-Brille abnehmen, reiben
uns erstaunt die Augen und lesen in der BGH-Erklärung weiter: Die DDR-Strafe
war "nicht grob ungerecht im Sinne willkürlicher Rechtsanwendung."
Bei "Zugrundelegung von Maßstäben einer 'sozialistischen Gesetzlichkeit'"
könne das Verhalten des Ausreisewilligen "noch unter den Tatbestand
des § 214 StGB-DDR subsumiert werden." Also: Weil DDR-Recht gar nicht
erst gebeugt werden mußte und der Mann "Opfer des Systemunrechts geworden
ist", kamen seine Verurteiler frei. Es waren nach Ansicht des BGH
"die in der DDR herrschenden Wertvorstellungen zu berücksichtigen,
soweit diese nicht in schwerwiegender Weise gegen elementare Menschenrechte
und damit gegen überpositives Recht verstießen." Als
"überpositiv" bezeichnet die Naturrechtslehre das nicht gesetzlich
normierte Recht, das sie universal über allen menschlichen Ordnungen
schweben sieht.
Damit wird es wirklich interessant: Tatsächlich ist jede
Rechtsordnung nichts weiter als ein Bündel von abstrakt-generellen Geboten
auf Grundlage eines solchen, gewöhnlich interessebedingten, Systems von
überpositiven Wertvorstellungen. Es gibt deren viele. Was in dem einen
weltanschaulichen System ein Verbrechen ist, macht ein anderes geradezu
zur Pflicht. Im Deutschland unseres Jahrhunderts pflegte man das Gebotene
und Verbotene mit der jeweils herrschenden Ideologie zu wechseln wie ein abgelegtes
Hemd. Soweit hat der BGH recht: Für die SED war das Recht nichts weiter als ein
Instrument des Klassenkampfes und brauchte gar nicht gebeugt zu werden, um
Klassenfeinde abzustrafen. Aber wieso muß diese in Strafgesetze gegossene
Ideologie "berücksichtigt" werden, soweit sie nicht in schwerwiegender
Weise gegen elementare Menschenrechte, also gegen "überpositives
Recht", verstößt? Was dem SED-Staat seine "Maßstäbe der sozialistischen
Gesetzlichkeit", sind der FdGO das (vorsichtshalber im Grundgesetz niedergeschriebene)
"überpositive Recht". Von "elementaren Menschenrechten"
macht ein Marxist sich nun einmal aus seiner Interessenlage heraus andere
Vorstellungen als ein Liberaler. In Paragraphen gegossene Ideologie
stößt hier an ihre feindliche Schwester. So erkennen wir in wünschenswerter
Klarheit "Recht" als das, was alles Recht ist: zeit- und weltanschauungsbedingt.
Daß diese Erkenntnis auch das heutige, vom BGH erwähnte "überpositive
Recht" relativiert, ist den Bundesrichtern offenbar nicht aufgefallen.