Publikation in: Junge Freiheit 43/1994 vom 21.10.1994, S.2 unter dem Titel "Aufweichung der Spielregeln", Der Liberalismus und der Verfall des
Rechts
Die
gegenwärtige Zeit steht vor der größten geographischen und ideologischen
Machtausdehnung des Liberalismus. Jede Epoche, in der eine historische
Macht ihre größte Ausdehnung erfährt, ist zugleich eine Epoche der
Entpolitisierung. Das hat bestimmte Gründe, die in Notwendigkeiten ihres
Machterhalts liegen.
Verschiedene
Menschen pflegen verschiedene Interessen zu haben. Diese suchen sie mit unterschiedlichen
Mitteln gegeneinander durchzusetzen. Dabei ist im Vorteil, wer "die
Waffen wählen" und damit die Spielregeln seinen besonderen Fähigkeiten
anpassen kann: Setzt der Lehrer für den Sieger eines Wettbewerbes einen
Preis aus, wird der schnellste Schüler für einen Wettlauf eintreten, der stärkste
für einen Ringkampf, der Klassenbeste aber für ein Wettrechnen. Wer sich bei
der Wahl der Spielregeln durchsetzt, wird gewinnen. Auch die Macht im Staat
oder die Macht in einer Staatengesellschaft hat, wer die Regeln des Miteinanders
regeln kann. Solange noch keiner die Geltung bestimmter Regeln durchgesetzt
hat, wird um die Regelung der Regeln gekämpft. Der Sieg im Kampf um die
Regeln entscheidet über den schließlichen Erfolg im Wettbewerb. Wo keine
Regel allgemein anerkannt ist, herrscht der Ausnahmezustand. Wer ihn durch
das Setzen allgemeiner Regeln beendet, ist souverän und gewinnt die Macht.
Die Regeln des
Machterhalts sind schlicht. Ihr kleines Einmaleins lautet: "Regele die
Regeln so, daß sie dich begünstigen, dann bleibst du oben, und die anderen
bleiben unten." Wenn zwei Jungen auf dem Schulhof raufen, hat kein Interesse
an weiteren Auseinandersetzungen mehr, wer oben liegt. Auch die Partei, die
den Staat erobert hat, möchte ihre Macht friedlich genießen, ebenso wie der
Staat, der zur Weltmacht gelangt ist. Ihr und sein oberstes erlassenes Gesetz
wird jeden weiteren Kampf um die Macht verbieten. Sie müssen ja nicht mehr
kämpfen. Der Partei innerstaatliches Verbot, weiter um die Macht zu
kämpfen, begründet ihren Rechtsstaat: einen Staat, in dem nur ihr Recht gilt,
das sie allein begünstigt und in dem der Unterlegene auf der Grundlage
ihrer Interessen nach ihren Spielregeln friedlich unten bleiben muß und sie
oben bleiben kann. Des Staates völkerrechtliches Friedensgebot aber begründet
seine neue Weltordnung, in dem alle anderen Staaten unten und er oben bleiben
wird.
Dem juristischen
Verbot des weiteren Kampfes um die Macht folgt das moralische. Der Unterlegene
soll eine Wiederaufnahme des Kampfes noch nicht einmal mehr denken dürfen.
Die Entpolitisierung beginnt mit der endgültigen Durchsetzung der
etablierten Macht. Sie wird durch Moralisierung des Politischen herbeigeführt
und heißt konkret, dem Unterlegenen einzureden, daß es moralisch anstößig
sei, um Macht zu kämpfen, und daß es überhaupt keine existentielle Feindschaft
gibt, die das Kämpfen lohnen würde. Das Unterscheidungskriterium der Sphäre
des Politischen ist Freund oder Feind.
Es wird ersetzt durch das Unterscheidungskriterium des Sphäre des Moralischen: Gut oder böse. So wird gegenwärtig
nach Beobachtung des Passauer Prof.Johann Braun "das Faktum, daß existentielle
Feindschaften
auch auf dem Boden des Rechtsstaats
jederzeit aufbrechen können,
bei uns systematisch aus dem
Bewußtsein verdrängt."
Doch umsonst:
Auf Dauer lassen sich fundamentale Interessenunterschiede nicht mit moralisierender
Atitüde unter den Teppich kehren. Warum sollte jemand ausgerechnet an eine
Moral oder einen Gott glauben, der offensichtlich mit seinen Gegnern im Bunde
ist? Immer mehr Bürger pochen auf gegen den Liberalismus gerichtete
persönliche Interessen, die sich auf nationale Integrität ihres Staates und
damit gegen die tendenziell supranationalen und multikulturellen Interessen
derjenigen richten, die unter Geltung rein pekuniärer Spielregeln persönlich
begünstigt werden. Deren geistiges Rechtfertigungssystem ist der Liberalismus.
In ihm prägt sich die faktische Machtposition derjenigen normativ aus,
die ihren ökonomischen Vorteil aus einer Wirtschaftsverfassung ziehen,
in der ein freies Spiel der Kräfte weitestmöglich ist.
Potentiell
sind alle jene ihre existentiellen Feinde, die bei freiem Walten rein ökonomischen
Kräfte unterlegen wären und zur Sicherung ihrer persönlichen Freiheit daher
einen Staat benötigen, der ihnen Schutz und Frieden gewährleistet. Ihre
Wohlfahrt läßt sich mit den Interessen jener nicht verbinden. Ihr Lebensentwurf
ist ein anderer. Das gesetzte Recht der einen empfinden die anderen als Waffe
zur Niederhaltung ihrer Interessen. "Wo ein Teil der Bürger in einem
Teil der anderen aus welchen Gründen auch immer nicht 'Rechtsgenossen', sondern Feinde erblickt, die den Lebensentwurf,
den man für sich selbst hegt, durch ihren eigenen Lebensentwurf gefährden und
an deren loyaler Gesinnung man zweifeln muß, dient das Recht in der Sicht der
beiden Kontrahenten weniger dem Schutz der eigenen Person; es schützt
und erhält vielmehr zunächst den 'Feind' und verdient daher selbst bekämpft
zu werden.
...
Denn warum
...
sollte in einer Demokratie
die überstimmte Mehrheit sonst bereit sein, sich dem Willen der Mehrheit
freiwillig zu unterwerfen, wenn nicht deshalb, weil sie im Kern eben doch damit
übereinstimmt?"
Die Chance des legalen Machtgewinns ist der einzig
plausible Grund für jede Opposition, sich friedlich an die jeweiligen
Spielregeln des jeweiligen Rechts zu halten. Schließen diese Regeln die
Chance des friedlichen Machtgewinns aus, provozieren sie ihre illegale
Durchbrechung. Eine Rechtsordnung, die allen Bürgern Rechtsfrieden verspricht,
"kann nur dann mit allgemeiner Akzeptanz rechnen, wenn und soweit die Normadressaten
überhaupt bereit sind, einander als Rechtsgenossen, d.h. als Gleiche und
Gleichheitsfähige zu akzeptieren.
...
Wo es aber an dieser prinzipiellen
Übereinstimmung fehlt, ist die Demokratie nichts anderes als eine Diktatur
der jeweiligen Mehrheit; über diesen Zusammenhang wird sich jedenfalls die
Minderheit niemals täuschen lassen." Es sind eben doch, mit den Worten
des bedeutendsten deutschen Staatsrechtlers unseres Jahrhunderts, die
Höhepunkte der großen Politik die Augenblicke, in denen der Feind in konkreter
Deutlichkeit als Feind erblickt wird.
[Gekennzeichnete Zitate: Johann Braun, Recht und Moral im pluralistischen Staat, Juristische Schulung (JuS) 1994,727ff.]