von Klaus Kunze
(Publikation: Junge Freiheit
2/1997 vom 3.1.1997)
Wer
sich mit dem Zeitgeist verheiratet, wird schnell Witwe(r). Der
Wertewandel machte auch vor ewigen Werten nicht halt. Während
das Verfassungsgericht die Wertordnung der Verfassung noch
allezeit tapfer verteidigt und politisch
korrekte Regierungsbehörden überall Extremisten wittern,
hat sich die Bonner politische Klasse schon klammheimlich
vom Grundgesetz verabschiedet. Indem sie die kommunistischen
Enteignungen in der SBZ bestehen ließ, erklärte sie willkürlich
bisheriges Unrecht zu neuem Recht.
Das
Grundrecht auf Eigentum zählte zu den heiligen Säulen unseres
Rechts, den "unverletzlichen und unveräußerlichen
Rechten", zu denen sich seit 1949 das deutsche Volk in Art.1
GG "bekennt". Solche "vorstaatlichen" Rechte
erheben sich weit über bloßes Gesetzesrecht. Sollen sie nicht
angeblich als "Menschenrechte" selbst dort gelten,
wo ein Staat nicht im Traum daran denkt, sie zu seinen Gesetzen
zu zählen? Als "Naturrecht" tragen sie die höheren weltanschaulichen
Weihen für alle, die an sie glauben.
Für
das politischen Bonn und seine Interpretatoren in Karlsruhe
erwies sich das Menschenrecht auf Eigentum als Lippenbekenntnis.
Man relativierte es, indem man bei den Enteignungen in der SBZ
die Macht der letztlich von Stalin geschaffenen Fakten vor
dem Recht gehen ließ, an das die vollziehende Gewalt und die
Rechtsprechung doch nach Art.1 GG als unmittelbar geltendes Recht
gebunden ist. Bonn profitierte doppelt davon: kein Ärger mit
der Lobby derer, die sich das geraubte Land angeeignet haben,
und ein fettes Zubrot für die leere Bundeskasse aus den Verkaufserlösen
großer Flächen. Sollte das nicht recht sein? Wem die "Deutung
der Orakel der Gerechtigkeit anvertraut ist", schrieb Pufendorf
1667, wird immer "diese Göttin bewegen können, nichts
zu antworten, was wider den eigenen Vorteil ist." Die
Orakel der Wertordnung des Grundgesetzes sind Verfassungsrichtern
anvertraut, denen die Parteien vor allem darum vertrauen können,
weil ihr Parteienproporz die Bonner Machtverhältnisse treu
widerspiegelt.
Das
politische Bonn hat sich schon lange von der naiven Idee verabschiedet,
es gebe nur ein Recht, das ewig, absolut und unverletztlich
allem staatlichen Handeln vorausliegt. Jeder hält für gerecht,
was seinen subjektiven Wertentscheidungen entspricht, und was
ihnen widerspricht, nennt er Unrecht. In jedem Gesetz stecken
solche Wertvorstellungen. Für Juristen ist es keine Kunst, den
Sinn des Gesetzes auf den Kopf zu stellen, ohne den Wortlaut
zu ändern. Zwar schützt das Grundgesetz "Ehe und Familie",
aber ist ein Schwulenpärchen vielleicht keine Ehe? Nach Meinung
der neuen BVerfG-Präsidentin Limbach soll sie es sein.
So
einfach geht das. So einfach war es auch mit dem Eigentum. So
einfach ist es immer, wo man nur einem Begriff einen anderen
ideologischen Inhalt zu geben braucht. Solange buchstabengläubige
Bürger und schlapphütige Bürokraten noch an den formalen Gesetzesstaat
glauben, ist das Interpretationsmonopol der Verfassung ein
zentrales Machtmittel. Souverän ist, wer über die verbindliche
Interpretation der selbstgeschaffenen Gesetze entscheidet:
"Wie die Verfassung auszulegen und wer ihr Feind ist, bestimmen
wir!" Der Feind sind immer die anderen, die auch gerne mal
mitentscheiden möchten. Sie dürfen es nicht. Staunend stehen
sie vor einer juristischen Rabulistik, die aus Unrecht Recht
macht. Doch es gibt nicht bloß das eine Recht, sondern viele:
deren Recht - und unser Recht.