Jedem VB'ler seinen Flüchtling!
-Die Schwierigkeit eines Bochumer Zufluchts-Projekts-
(Publikation des Aufsatzes:
Junge Freiheit 21.4.1995 )
Schwer lastet das allgegenwärtige Gewissen über diesem unserem Land. Jedes schlechte Gewissen verlangt nach Sühne und Buße. Der Bußtrieb wird zum um so unwiderstehlicheren Verlangen, je länger einer den Bewältigungsmühlen unseres Bildungssystems ausgesetzt war. Trauer kann da zur Arbeit werden und um ein halbes Jahrhundert verspäteter Widerstand zur fixen Idee. "Es entstand", schrieb der Philosoph Odo Marquard, "ein frei flottierender quasimoralischer Revoltierbedarf auf der Suche nach Gelegenheiten, sich zu entladen." Wo moralischer Überdruck zur Qual wird, schafft man sich dann Entlastung, wo man sie eben findet. Auch zwei Dutzend Studenten aus dem Ruhrgebiet um den Hagener Studenten der Sozialarbeit Klaus Raabe quälte das Gewissen. So gründeten sie das "Projekt Zuflucht". Am liebsten hätten sie ja Juden vor Nazis versteckt. Davon hatte ihr Gemeinschaftskundelehrer immer so geschwärmt. Leider fanden sich keine. So blieb denn als einziger Ausweg, "daß wir von Abschiebung bedrohte Flüchtlinge vor dem Zugriff der Behörden schützen oder sie, wenn es gar nicht mehr anders geht, über die grüne Grenze ins Ausland schaffen, wo die Gesetzeslage liberaler ist", erklärt Raabe.
Ein besonders eifriges Ehepaar hielt sogar lange eine kurdische Familie versteckt. "Das führte zu enormen Spannungen", berichtete die Zeitung UNICUM weiter. "Die Leute in der Wohngemeinschaft konnten nicht mehr unbekleidet über den Flur gehen. Für das Klo mußte ein Schlüssel angeschafft werden. Als die Frau Geburtstag hatte, machten ihr die Männer der Studenten-WG ein Geschenk. Im islamischen Glauben ist es jedoch nicht üblich, daß Männer, die nicht zur Familie gehören, einer Frau Geschenke machen. Das könnte als Werbungsversuch gedeutet werden." So stressig kann tätige Vergangenheitsbewältigung sein! "Einen Flüchtling in den eigenen vier Wänden zu verstecken, ist für die meisten ein viel zu starker Einschnitt ins eigene Leben. Das Irre ist nun, über das Projekt Zuflucht wird viel geredet, viele finden es gut, aber kaum einer will es machen, mokiert sich ein Physikstudent."
So beschränkt man sich aufs Symbolische. Den meisten genügt das Bekenntnis. Vor seinem schlechten Gewissen kann zwar niemand fliehen. Nach Beobachtung Marquards kann man es aber überlisten: Wo Schuldvorwürfe das Gewissen überlasten, braucht man es nicht mehr zu haben, wo man selbst zum Gewissen wird. So entsteht aus dem nachträglichen "Widerstand" das Gewissen, das man selbst "ist", das Tribunal, dem man entkommt, indem man es wird. Es geht ganz leicht: Statt seine eigene Kurdenfamilie zu verstecken und zu beköstigen, braucht man nur mit dem Finger auf andere zu zeigen und zu fordern: Tut ihr es doch! - um sich moralisch aufzuplustern, wenn die anderen das auch nicht selbst tun möchten.
Dieser andere ist immer der Staat. Vor allem verlangen ihm die Versorgung der Mühseligen und Beladenen aller Herren Länder diejenigen Jünger ihrer Moral ab, die selbst durch keine einzige Steuermark der Kosten mit tragen, weil sie selbst auf Staatskosten leben. So ist die tägliche moralische Selbstrechtfertigung wohlfeil: Ein paar Flugblätter für "Pro-Asyl" verteilt, ab und zu eine kleine Wochenenddemo, am 8.Mai ein Stoßseufzer über unsere bösen Opis und wie gerecht wir heute dagegen sind - schon fühlt man sich leichter. Selbstgerechte nannte man solche Leute früher: Pharisäer. Wie Katholiken sich durch die Beichte moralisch entlasten, bekennt sich der säkularisierte Bußfertige rituell zu seiner kollektiven Erbschuld. Die Bußübungen, das Kasteien und die guten Werke überläßt er großzügig denen, die Gewissen noch selbst haben. Wir aber - wir, das Gewissen, sind der reine Edelmut und das Gute - die Bußarbeit tun die anderen. Da langts man gerade für eine gelegentliche Spende. Wenn die Mark im Beutel klingt, die Seele aus dem Fegefeuer springt! "Die Leute spenden mit dem Gefühl," resigniert der Bochumer Student, "daß man der Asylpolitik etwas mit praktisch-politischem Nährwert entgegensetzen muß und kaufen sich von der Verantwortung frei."
Das sind natürlich nur Surrogate und Halbheiten. Wir sollten den gequälten Seelen helfen. Luther hatte entdeckt, daß das mit dem Geld im Kasten und der aus dem Fegefeuer springenden Seele nichts als Selbstbetrug ist. Nur durch Gnade und gute Werke können wir erlöst werden. Seit Gott tot ist, müssen wir auf die Gnade leider verzichten. Da wird es zum Menschenrecht jedes Kollektivsünders, seine eigene Flüchtlingsfamilie zu haben. Unser Asylrecht ist geradezu blind vor der einfachen Wahrheit: Wir brauchen sie! Wenn sie nicht von selbst kämen, müßte man sie anlocken. Und für unsere Mitbürger, die sich am allermeisten kollektiv schämen und der moralischen Entlastung bedürfen, bliebe das Nonplusultra an Buße: So ein paar Jährchen mit einer rumänischen Zupfgeigenspielerfamilie - dann würde das schlechte Gewissen rapid nachlassen. Wir sollten es unseren Bewältigern gönnen: Jeder sollte eine haben.