Klaus Kunze
- Publizierte Zeitungsartikel (Auswahl) -
 

 

Die Stunde der Demokraten

Die Altparteien vor dem Offenbarungseid

Publikation: Junge Freiheit 6 (Juni) 1993

 

Gewiß wird der 4. Mai 1993 als Schwarzer Dienstag in die Geschichte des Bonner Systems eingehen; vielleicht aber auch als Meilenstein auf dem Wege zu demokratischer Volksherrschaft. Erstmals erkannte mit dem Hamburger Verfassungsgericht ein juristisches Gremium für Recht, was der Erzvater der Soziologie, Robert Michels, schon 1911 als Ehernes Gesetz der Oligarchie erkannt und sein Epigone, der Kölner Professor Erwin Scheuch, 1992 publikumswirksam nachgewiesen hatten: Die Führungscliquen eines Parteienblocks haben, mit den Worten der Stuttgarter Zeitung, „die Macht unter sich aufgeteilt und jede politische Erneuerung und jeden Ansatz innerparteilicher Demokratie erstickt.“ Der Landesvorstand der Hamburger CDU „hieß inenrparteilich nicht zufällig ‚Zentralkomittee’, und er vergab die politischen Pfründen.“ Ein ausgeklügeltes ‚Blockwahlsystem’  ließ unbequemen Neuen keine Chance bei der Kandidatenkür“ für Parlamentswahlen.

Das Urteil verdeutlicht, mit welchen Tricks ein geschlossener Zirkel Parteioberer seine Macht durch Block-„Wahlen“ ohne Alternative absichert und nach soziologischer Erkenntnis eine geschlossene Gesellschaft bildet, zu der nur Eintritt hat, wer den Etablierten genehm ist. So hat sich in 40 Jahren ungestörten Machtgenusses eine „Classe politique“ in den Sesseln der Macht eingenistet, deren zentraler Einflußzirkel nach Erkenntnissen Scheuchs bundesweit parteiübergreifend etwa 600 Machthaber umfaßt und nur nich seinen eigenen Gesetzen gehorcht.

Die Stabilität ihrer Herrschaft haben sie aus Positionen in den gesetzgebenden Körperschaften verfahrensrechtlich festgeschrieben: Das ist nicht schwer, wenn man sich die Gesetze selbst auf den Leib schneidern darf, nach denen alle Konkurrenten antreten müssen. Es hat auch den angenehmen Nebeneffekt, daß jeder Konkurrent als Feind des Gesetzes und der Verfassung verunglimpft werden kann, wenn er zaghaft ein paar kleine Änderungsvorschläge vorbringt.

Das gesetzestechnische Grundprinzip der Machtabschottung ist das der Repräsentation. Es verhindert in gewünschtem Maße die demokratische Durchlässigkeit von unten nach oben und die Neubildung von Eliten. Ein Delegierter läßt sich leicht in das System der Vorteilnahme und Protektion einspannen, und Delegiertenparteitage gefährden die Macht der oberen weniger als demokratische Urwahl. Deshalb machte die SPD bei der Suche nach einem neuen Kanzlerkandidaten jüngst die für manche überraschende „Entdeckung“, daß das Parteiengesetz die Direktwahl eines Parteivorsitzenden durch alle Parteimitglieder nicht zuläßt! Die Demokratielücke im Staatsaufbau besteht in der fehlenden Direktwahl des Staatsoberhaupts bzw. des Hauptes der regierenden Gewalt durch das Volk, und diese Lücke setzt sich nach unten konsequent in Staat und Parteien fort.

Sie ist so gewollt, denn aus Sicht der Nutznießer dieses Systems besteht sein Sinn nicht darin, sich durch demokratische Verfahrensregeln abwählen zu lassen. Es ist vielmehr nach den Worten Scheuchs „ein System, Vorteile zu gewähren und Geschenke untereinander auszutauschen. Bei diesen Politikern läßt sich kein politischer Entwurf, kein hochgestecktes Ziel ausmachen. Es ist nur der Wille erkennbar, innerhalb der Partei an der Macht zu bleiben.“ Deshalb verbieten die Wahlgesetze der Länder und das Parteiengesetz auch das Blockwählen bei der Kandidatenaufstellung nicht ausdrücklich, so daß die Block“wahl“ ohne Gegenkandidaten erst durch Rückgriff auf die Fundamente der Demokratie für verfassungswidrig erklärt werden konnte.

Wenn die Bonner Parteien Gesetze machen, sind sie im Vorteil der Made, die den sie umhüllenden Nährspeck fortwährend legal requirieren darf: Da schafft man Haushaltsgesetze, labt sich an der gesetzlichen Diätenerhöhung, erfinden ein „Parteiengesetz“ mit „Wahlkampfkostenerstattungen“ und sichert diese Pfründen durch Rundfunkgesetze mit Zugriff auf die Intendantensessel sowie für Verfassungsschutzgesetze für die letzten Unbotmäßigen ab, die trotz Parteiproporzfernsehen „unbelehrbar“ bleiben. Offenbar verübelt ihnen das in Deutschland nur eine radikal dem Recht verpflichtete Minderheit. Nach einer FAZ-Umfrage vom 19. Mai schätzen nur 22% die Westdeutschen als „ehrlich“ ein. Hat doch jedes Volk die Regierung, die ihm gemäß ist und die es verdient?

Nach dem Hamburger Urteil blieb der allgemeine Aufschrei des demokratischen Gewissens aus. Darin liegen der eigentliche Skandal und das Menetekel für den Parteienstaat: Der Aufschrei blieb aus, weil niemand wirklich überrascht war. Nur die Verfassungspatrioten selbst nehmen ihr falsches Pathos noch ernst. Viele Pfeile wie das Hamburger Urteil ließen die Luftballons demokratischer Eigenlegitimation des Systems zerplatzen und seinen Akzeptanzverlust auf über 30% Nichtwähler und weitere 10% Oppositionswähler gegen die Altparteien anwachsen. Das eisige Schweigen nach „Hamburg“ zeigt das eigentlich Gefährliche: Es markiert die innere Distanz Millionen mündiger Bürger zu einem System, an das sie nicht mehr glauben.

Schon einmal zerbrach in Deutschland ein Parteistaat an seinem für jedermann offenkundigen Widerspruch zwischen Anspruch und Realität. Es herrscht heute eine groteske Diskrepanz zwischen dem nachgewiesenen Demokratiedefizit der Altparteien und der geheuchelten Fürsorge ihrer Führungsoligarchien: Da wird dann medienwirksam mit sorgenzerfurchter Stirn von der „Gemeinsamkeit der Demokraten“ salbadert, die sich gegen „Radikale“ bewähren müsse, die zufälligerweise immer in den Reihen konkurrierender Kleinparteien vermutet werden. Während die politische Opposition aber durch einen beamteten „Verfassungsschutz“ frech ausgespäht wird, obwohl Gerichte, wo immer sie in eine Sachprüfung eintraten, nichts „Verfassungsfeindliches“ zum Beispiel bei den beobachteten Republikanern finden konnten, blamierten Urteile die selbsternannten Demokraten bis aufs Hemd, so zuletzt in Hamburg.

Inzwischen geben sogar ihre Spitzenleute offen zu, was ihnen die tragenden Grundsätze der Verfassung wert sind: Im Mai äußerte sich Außenminister Kinkel im ARD-Programm auf den Hinweis, der Maastricht-Vertrag mit seiner Euro-Gesetzgebung durch Regierungsbeamte lasse sich mit der Gewaltenteilung und dem Demokratieprinzip nicht vereinbaren: Das wisse er auch, wir Deutschen hätten uns aber mit unseren Vorstellungen von Demokratie nicht durchsetzen können. Kein Wunder, daß der dänische Widerstand gegen Maastricht vornehmlich von links mit dem Argument geführt wurde, ohne souveräne Herrschaft des dänischen Volkes gebe es eben dort keine Demokratie. Herrschaft des deutschen Volkes über sich selbst wird es auch in Deutschland nicht geben – nicht unter der Herrschaft von „Maastricht“ und nicht unter dem Regime des „Kartells der großen Parteien auf Dauer“, das Scheuch 1992 hellsichtig vorhersah und das sich für 1994 in Form einer großen Koalition abzeichnet.