Mehrheitswahlrecht
(Publikation des Aufsatzes:
Junge Freiheit 6 / 1994 )
In den letzten Monaten geisterte im Zusammenhang mit dem möglichen Einzug rechter Parteien in die Parlamente immer wieder die Forderung nach Einführung des Mehrheitswahlrechts durch die Meldungen, wie unlängst von Baden-Württembergs Ministerpräsident Teufel. Solange das Bonner Parteienkarussell der regelmäßigen Wiederwahl durch Akklamation sicher war, kam es mit dem geltenden Verhältniswahlrecht gut zurecht.
Sein Listensystem wurde sogar zu einem Grundpfeiler der Parteienmacht über die Abgeordneten und das Volk: Die politische Personalauswahl wird nämlich durch das Instrument der Wahlliste bestimmt, und hier dominieren Parteioligarchen und Seilschaften. Für den Berufspolitiker wird der Kampf um seine Wiederaufstellung auf der Wahlliste zur persönlichen Existenzfrage. Hat der Abgeordnete aber seinen Listenplatz in der Tasche, ist die Wiederwahl meist nur noch Formsache. Was das Volk von ihm hält, kann ihm für sein persönliches Fortkommen gleichgültig sein. Das Risiko des Mandatsverlustes durch eine Wahl ist mit 2-5% der Abgeordneten außerordentlich gering. Wenn die Gewählten aber von ihrer Partei stärker abhängen als vom Wahlvolk, wird der Zusammenhang zwischen Wählern und Gewählten zwangsläufig zerrissen.
Die für die Aufstellung der Wahllisten verantwortliche Parteiorganisation ist die Mutter einer dauernden Herrschaft der Gewählten über ihre Wähler, der Delegierten über die Delegierenden, der Beauftragten über die Auftraggeber. Die Abgeordneten sind in Parteiabhängigkeiten so eingebunden, daß sie in ihrer Masse selbst dann nicht für das Wohl des ganzen Volkes eintreten könnten, wenn sie das gerne wollten. Nichts zwingt sie zu einem auf das Ganze bezogenen Amtsethos, wohingegen sie von den in ihrer Partei organisierten Gruppeninteressen hinsichtlich ihrer Wiederaufstellung persönlich abhängig sind.
Beugen sie sich diesen Abhängigkeiten nicht, werden sie zu tragischen Helden, wie Namen von unbequemen und nicht mehr aufgestellten CDU-Abgeordneten wie dem jungen, bosnienfreundlichen Schwarz oder dem alten, schlesienfreundlichen Hupka reihenweise bezeugen.
Hauptschwachpunkt des Bonner Systems ist die absolute Parlamentsherrschaft dieser Leute auf Dauer einer Legislaturperiode: Der Bundestag gibt die Gesetze, führt sie über die von ihm jederzeit abhängige Bundesregierung aus und kontrolliert durch die von ihm mehrheitlich eingesetzten Verfassungsrichter. Während der Bundestag wie eine riesige Antichambre der Lobbyisten wirkt, in dem sich Parteiinteressen durchsetzen, ist das allgemeine Interesse nicht repräsentiert: Das Volk darf seinen Bundespräsidenten nicht selbst wählen, der mit seiner Regierung die Integrität des Ganzen und die unorganisierbaren Schwachen zu schützen hätte.
Gäbe man den Parteien zusätzlich zur Parlamentsregierung noch das Mehrheitswahlrecht, wären Minderheiten künftig parlamentarisch nicht mehr vertreten. Damit sänke das Parlament vollends zum Ausführungsorgan der Majoritätspartei oder Koalition herab. Der Idee des Parlaments nach soll durch seine plurale Zusammensetzung so etwas wie eine Ausgewogenheit erzeugt werden, die in ihrer Quersumme dem Gemeinwohl nahekommen soll. Wenn im Parlament aber nur noch die Vertreter derjenigen Parteien sitzen, die im Zeitalter der Fernsehdemokratie und der damit verbundenen Wählergleichschaltung sowieso in jedem Wahlkreis relative Mehrheiten haben, ist das Parlament kein plurales Interessenvertretungsorgan mehr. Es würde in seiner Summe keinen repräsentativen Querschnitt der Interessen und geistigen Haltungen der Wähler mehr repräsentieren, sondern nur noch das Interesse und die Ideologie der Herrschenden. Die ohnehin schon vorhandenen Unzulänglichkeiten des heutigen Parteienparlaments-Absolutismus würden mit dem Mehrheitswahlrecht also noch verstärkt und nicht abgebaut.
Die völlige Beseitigung der parlamentarischen Interessenvertretung aller nicht mehrheitsfähigen Gruppen wäre mit dem Grundsatz demokratischer Repräsentation unvereinbar. Dieser ist aber der tragende Pfeiler der parlamentarischen Demokratie überhaupt: Da das Volk als Ganzes weder selbst herrscht noch Gesetze gibt, handeln seine Vertreter an seiner Stelle. Diese ziehen ihre Legitimation aus ihrem Anspruch, die Interessen der Vertretenen zu repräsentieren. Es sollen daher keine Interessen völlig unrepräsentiert bleiben, sonst wird die repräsentative Demokratie zu einer illegitimen Majoritätsdiktatur.
Zwar wären im Wahlkreis aufgestellte, nach dem Mehrheitswahlrecht gewählte Abgeordnete nicht so parteiabhängig wie listengewählte. Mit Abgeordneten, die nicht ihrer Partei botmäßig, sondern tatsächlich dem ganzen Volk innerlich verpflichtet und nur ihrem Gewissen verantwortlich wären, ließe sich die Übermacht des totalen Parteienstaats brechen. Der Preis des Mehrheitswahlrechtes wäre aber ein systemsprengender Verstoß gegen den Gedanken der Interessenvertretung: Das Parlament ist als plurales Interessenvertretungsgremium gerade auf ausgewogene Repräsentation angewiesen. Es soll und muß nach dem Verhältnissystem die plurale Zusammensetzung der Gesellschaft widerspiegeln. Das kann es nicht, wenn im Plenum die Vertreter der Majoritätspartei(en) unter sich sind. Wenn Verfechter des Mehrheitswahlrechts wie Erwin Teufel diesen Zustand als besonders stabile Demokratie herbeiwünschen, darf das durchaus selbstironisch verstanden werden: Tatsächlich regiert sich nirgends stabiler, als wenn die herrschende Koalition in Parlamenten, Regierungen, Verfassungsgericht und Fernsehstudios sitzt, die Opposition gegen das Postenverteilungskartell der Großen aber draußen bleiben muß.
Während die Mehrheitswahl unter heutigen Verhältnissen kein pluralistisch zusammengesetztes Interessenvertretungsorgan erzeugen kann und für den Bundestag fehl am Platze ist, hat es seinen guten Sinn bei der erforderlichen Volkswahl eines Bundespräsidenten. Das Parlament hat die Einzel- und Parteiinteressen gegen die Räson des Ganzen zu vertreten; und der Bundespräsident vertritt mit der Regierung seines Vertrauens die Integrität des Ganzen gegen seine Teile. Solange das Parlament alles beherrscht, gibt es zwar Abgeordnete als nominelle Vertreter, aber es gibt keine Institution, der gegenüber sie vertreten. Eine Vertretung ohne Gegenüber, gegen das also Interessen vertreten und repräsentiert werden, ist aber als "Vertretung" in sich sinnlos und hat ihre wahre Funktion in der Beherrschung des ganzen Staates, der Kompetenz-Kompetenz des Bundestages. Das Parlament als gesetzgebendes Verfassungsorgan und Vertreter der in ihm pluralistisch enthaltenen Gruppen- und Parteiinteressen bedarf eines ihm gegenüberstehenden anderen Verfassungsorgans, dem gegenüber es die Partikularinteressen der Wähler vertritt.
Diesen institutionellen Dualismus zwischen Parteiinteresse und Gemeinwohl gibt im Bonner System nicht, weil dieses keine Direktwahl und daher keine echte Repräsentation des Ganzen gegen seine Teile kennt. Die Parteien vertreten nur sich selbst, denn da sie ein anderes Gegenüber nicht haben, vertreten sie gegen das Volk. Wegen der länderübergreifenden Parteistrukturen gilt das heute im Bundestag ebenso wie im Bundesrat, der kein Gegengewicht bildet, sondern in dem, wie im Märchen vom Hasen und vom Igel, auch wieder immer nur dieselben austauschbaren Gesichter sitzen: Da wird ein in Rheinland-Pfalz abgehalfterter Ministerpräsident mal so eben nach Thüringen verschoben, wo er mit Segen seines Parteichefs weiterregieren darf, und so geht es überall.
Wer das Mehrheitswahlrecht für die Parlamentswahl fordert, geht den entscheidenden Schritt vom parlamentarischen Regierungssystem Bonner Observanz zur totalen Machtergreifung seiner Staatsparteien. Der Versuch, eine mögliche Opposition aus dem Parlament fernzuhalten, ist allzu durchsichtig. Durch Mehrheitswahlrecht ist die Parteienübermacht nicht zu brechen, zumal dieses bei einem Machtwechsel nur eine Staatspartei durch eine andere ersetzen würde. Und wieso würde Deutschland bei einem Einzug oppositioneller Parteien oder einer größeren Parteienvielfalt im Bundestag "unregierbar", wie Anhänger des Mehrheitswahlsrechts behaupten? Schon die Fragestellung zeigt ein gestörtes Verhältnis zur Gewaltenteilung, das nur im System der Regierung aus den Reihen des Parlaments heraus möglich ist. Dürfte das Volk dagegen seinen Präsidenten selbst wählen, dieser das Ganze repräsentieren und durch seinen Kanzler regieren, würden die Probleme gar nicht auftauchen, die heute zur Forderung nach einem Mehrheitswahlrecht für den Bundestag führen: Dem Parlament wäre die Bürde genommen, für eine "stabile Regierung" geradestehen zu müssen, und ungeniert könnten sich hier die vielfältigsten Interessen, Parteien und Meinungen tummeln. Stabil regiert würde anderswo!