Klaus Kunze
- Publizierte Zeitungsartikel (Auswahl) -

ExKlu­sivität deutscher Ver­bre­chen als Staatsräson?

Die Justiz und die "historische Wahr­heit

von Klaus Kunze

(Publikation: Junge Freiheit Juli/August 1991)

 

Der jahrzehntelang nur in engen Zir­keln verbreitete sogenannte historische Revi­sionismus ist erwachsen geworden. Dem Dogma, Deutschland sei schon im­mer an allem schuld gewesen, hatten Amateur­historiker die Antithese entge­genge­setzt: Deutschland war an nichts schuld; und dabei hatten sie teilweise er­staunliche, von der historischen For­schung vernach­lässigte Details ans Licht befördert.

 

Seit dieser Revisionismus das rührend naive Stadium "Deutschland war an nichts schuld" verlassen hat und sich mit Namen verbindet wie Professor Hellmut Diwald oder Ferdinand Otto Miksche, er­reicht er in zunehmendem Maße eine breitere Öffentlichkeit. Die Historisie­rung des von dem Berliner Geschichts­professor Ernst Nolte so­genannten europäi­schen Bürger­kriegs von 1914 bis 1945 vermit­telt einem Millionenpublikum dif­feren­zierte Aussa­gen zur Frage der Kriegs­schuld an beiden Weltkriegen und zum Ausmaß deutscher und alliierter Verbre­chen. Anders als frühere revisioni­stische Amateure, vertre­ten diese Autoren kei­neswegs die Auffas­sung, ei­gentlich sei das nationalsozialisti­sche Deutsch­land ganz harmlos und lie­benswert gewesen. Als zahlenmäßig und moralisch be­deutend werden den deutschen Verbre­chen die alliierten Ver­brechen gegen­übergestellt, und wenn das ein Millionen­publikum nicht etwa aus der Feder eines verbohrten Altnazis liest, sondem im Buch eines Miksche, der im Zweiten Weltkrieg Offi­zier im persönli­chen Stabe von General de Gaulle gewe­sen ist, kann eine Bewußtseinsver­schie­bung in einer breiteren Öffentlichkeit nicht ausbleiben.

 

Wer als Leser derartiger Bücher die Mei­nungsfreiheit in diesem Lande einer Probe aufs Exempel unterzieht und etwa, Miksche folgend, im privaten Kreise be­hauptet, es seien nicht sechs, sondem höchstens 1,5 Millionen Juden ermordet worden, sieht sich zu seinem Erstau­nen strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt. Ge­fährlich ist es auch, darauf weist Di­wald in seinem Buch "Deutschland einig Vaterland" von 1990 hin, die Konzentra­tionslager des Drit­ten Reiches zu einem Gegenstand historischer Forschung zu machen.

Wer an der alleinigen Schuld Deutsch­lands zweifelt, wird als Verfas­sungsfeind und Staats­feind angesehen und behandelt. Wer diese Be­hauptung Diwalds in seinem oben zitierten Werk liest und die ein­schlägige Gerichtspraxis nicht kennt, wird ihn belächelt und sich im Wohlge­fühl gesonnt haben, im freie­sten Staat zu leben, den es je auf deut­schem Boden gegen hat. Indessen ent­zieht der Zweifler an der alleinigen Schuld Deutschlands eben diesem Staat und den Grundlagen der Verfassungs­mäßigkeit allen staatli­chen Handelns nach Meinung von Diwald den Boden: Wenn sich nämlich das Grunddog­ma der alleinigen Schuld nicht aufrechterhalten lasse, werde der Zweite Weltkrieg zum größten Verbrechen der Geschichte, das zu einem bedeu­tenden Teil auf England, Frankreich und den Vereinigten Staaten laste.

Daß dieser Begründungszusammen­hang aktu­ell ist, bestätigte das höchste deutsche Verwal­tungsgericht in einem Urteil vom 28.9.90, in dem es die Wer­tungen Di­walds indirekt bestätigt und ih­nen die juristische Weihe verleiht (NJW 1991, S.997). Das Bundesverwaltungs­gericht entfernte einen Soldaten trotz überdurch­schnitt­licher dienstlicher Lei­stungen aus dem Dienst. Ein Offizier verstoße gegen seine Pflicht zur Loyalität gegenüber dem Staat, wenn er natio­nal­sozialistische Ver­brechen leugne. Die politi­sche Treue­pflicht gehöre zu den Kernpflichten des Soldaten und verlange, sich zu der Idee des Staates, dem er dient, zu bekennen. Durch das Bestreiten der Verfolgung und Tötung von Juden im"Dritten Reich" habe der Soldat gegen die Pflicht verstoßen, die freiheitliche demokra­tische Grundord­nung im Sinne des Grundgeset­zes anzu­erkennen und durch sein gesamtes Ver­halten für ihre Erhaltung einzutreten.

 

Das Urteil entspricht dem geltenden Ge­setzes­recht und dem Selbstverständnis dieser Bundes­republik. Zum Kernpunkt des Staatsverständ­nisses und zur Grund­lage der Verfassungsmä­ßigkeit gehört das Dogma von der Alleinschuld Deutsch­lands und von der Einzigartigkeit seiner Verbrechen. Eine historische Forschung, die diese Verbrechen und alliierte Ver­brechen, be­gangen von den Führem de­mokratischer Staa­ten, als moralisch und zahlenmäßig gleichge­wichtig nebenein­ander stellt, trifft die Grundla­ge der Le­gitimität der Nachkriegsordnung ins Mark. Wenn der durch das nationalso­zialisti­sehe Deutschland an den Juden be­gangene Völ­kermord und andere Verbre­chen nicht einzigar­tig und nicht schwer­wiegender waren, als bei­spielsweise der angloamerikanische Bomben­krieg gegen die deutsche Zivilbevölkerung, als das Verhungernlassen von bis zu einer Mil­lion deutscher Kriegsgefangener in ame­rikanischen Gefangenenlagem, dann steht auch die Recht­fertigung aller Verfol­gungsmaßnahmen seit den Nümberger Prozessen in Frage.

 

Spätestens seit dem Urteil des Bun­des­verwal­tungsgerichts haben wir es schwarz auf weiß: Die "Idee unseres Staa­tes" ist keine Schimäre; es gibt sie wirklich. Nach dem klassischen Staats­recht weist jeder Staat die Komponenten des Staats­volks auf, des Staatsgebiets und der Staatsgewalt. Letztere geht vom Volk aus. Der Staat hat die Aufgabe, durch seine Staatsgewalt den Frieden und die Wohl­fahrt des Staatsvolkes nach innen und außen zu schützen.

 

Das Bundesverwaltungsgericht hat diesen klassischen juristischen Kanon erweitert und eine "Staatsidee" juristisch dingfest gemacht.

Im politischen Bereich' definierte sich die Identität unseres Gemeinwesens von Anfang an im Gegensatz zu allem, was mit dem Dritten Reich zusammenhängt oder mit diesem in Zu­sammenhang ge­bracht werden kann. Jetzt hat dieses po­litische Selbstverständnis in der Juris­pru­denz Einzug gehalten, einer Wissen­schaft, die dem Politischen sonst ver­schlossen gegenü­bersteht.

 

Die moralische Rechtfertigung für die histo­risch einzigartige Metamorphose ei­ner Nation zu einer sich selbst leugnen­den Gesellschaft ist die angeblich histo­risch singuläre Schuld unse­rer Großvä­tergeneration. Wegen unserer blut­mäßi­gen Abstammung von dieser Generation der "Täter" weist man uns Jüngeren eine "Be­troffenheit" zu. Die rassische Kom­ponente der Abstammung und die morali­sche Komponente der singulären Schuld werden funktionalisiert, um uns auf das historische Novum einer be­stimmten Staatsidee einzuschwören. Da diese Staatsidee eines sich sonst als pluralisti­sch ver­stehenden Staates ausschließlich in der Negation eines bestimmten histo­risch verflossenen Rei­ches mit allen sei­nen Erscheinungsformen be­steht, muß je­de Veränderung des historisch fix­ierten Bildes vom Dritten Reich als Angriff auf die als Spiegelbild fixierte Idee unseres heutigen Staates angesehen werden. Darum wertet das Bundesverwaltungsge­richt und werten deutsche Gerichte und Regierungen jeden Versuch einer Korrek­tur selbst bloßer historischer Detailfragen als Mohren­wäsche oder Verharmlosung, lassen eine Bewei­saufnahme über wirkliche oder an­gebliche "historische Tatsachen" nicht zu.

 

Fragwürdig ist nicht nur die Verteidi­gung historischer Detailfragen durch den Strafrichter, wie beispielsweise die Frage der exakten Anzahl der jüdischen Opfer, oder die Frage, ob die Morde an Juden etwa durch Massenerschießungen verübt wurden oder mit Gaskammern, als käme es für die grundsätzliche historische Bewertung darauf noch an. "Der Strafjustiz würde damit eine Rolle in der politi­schen und historischen Auseinande­rsetzung auf­gebürdet, mit der sie über­fordert ist. Wir bezwei­feln auch, daß sol­che Auseinandersetzungen in einer frei­heitlichen Gesellschaft mit strafrechtli­chen Kategorien belastet werden dürfen", er­klärte sogar der Vorstand des linksste­henden Re­publikanischen Anwaltsvereins Klaus Eschen (Zeitschrift für Rechtspoli­tik 1983, S. 10) und vertritt die Auffas­sung, bei aller wünschenswer­ten Ein­dämmung neonazistischer Tendenzen sei die strafrechtliche Festschreibung histori­scher Dogmen kein geeignetes Mittel. Damit hätte die Strafjustiz die Aufgabe, historische Vorgänge als "strafrechtlich wahr" festzustellen, deren Anzweiflung oder Verharinlosung fürderhin mit Strafe bedroht wäre. Die Strafjustiz hätte (... ) historische Dogmen zu bilden und ihr Leugnen zu ahnden."

 

Die Klärung historischer Verbrechen würde zum "Gegenstand der Beweisauf­nahme. Es käme zu der unerträglichen Situation, daß sich deutsche oder auslän­dische Sachverständige, Historiker, Poli­tologen und Ethnologen darüber ausein­andersetzen mußten, was als historische Wahrheit (...) zu gelten hätte. Diese Schwierig­keit wird deutlich, wenn sich eine der inkrimi­nierten Schriften nicht mit dem Völkermord als Ganzem, son­dem lediglich mit Teilakten be­schäftigt, etwa mit der Existenz oder Funktion des Warschauer Gettos." Genau diese Pro­bleme, von Klaus Eschen 1983 hellsichtig vorausgese­hen, sind heute aber Gegen­stand der Rechtsspre­chung. Diese hilft sich mit dem Pochen auf "historisch fest­stehende Tatsachen" und lehnt es grund­sätzlich ab, in Beweisaufnahme über die Richtigkeit historischer Behauptungen einzutre­ten.

 

Die "Idee" unseres Staates, sich aus­schließlich als Negation eines früheren Systems zu begrei­fen und den Zweifler an historischen Details zum Staatsfeind zu machen, ist politisch und juristisch sy­stemwidrig. Politisch systemwidrig in einem pluralistischen System ist es, einen Bürger wegen einer abweichenden Mei­nung zu historischen Ereignissen zu be­strafen. Dem po­litischen Pluralismus zuwider ist vor allem aber die Vorstel­lung, das Staatsvolk auf irgend­eine be­stimmte Idee des Staates einschwören zu wollen. Es ist ja gerade Merkmal des po­litischen Pluralismus, dem Bürger jede Freiheit der Ideen und Gedanken zu ge­währen. Ein pluralistischer Staat darf keine "Idee" haben, sonst ist er nicht mehr pluralistisch.

 

Juristisch systemwidrig ist die An­nahme, wer bestimmte vorgegebene hi­storische Behauptun­gen nicht glaube oder ein an­deres Staatsver­ständnis als das der Nega­tion eines bestimmten historischen Mo­dells habe, sei deshalb ein Feind der De­mokratie. Es wäre traurig um unser de­mo­kratisches Gemeinwesen bestellt, wenn es zu seiner Legitimation des fest­stehen­den Feindbil­des des "Nazis" und der Einzigartigkeit seiner Verbrechen be­dürfte. Die Negation von irgend etwas Vergangenem oder die Festschreibung hi­storischer "Tatsachen" ist kein Wesens­merk­mal der freiheitlichen demokrati­schen Grund­ordnung und darf auch nicht dazu gemacht werden. Andernfalls droht dieser Demokratie ein zwangsläufiger Legitimationsverlust, sobald sich histori­sche Detailbehauptungen, von der Straf­justiz erbittert verteidigt, durch die Ge­schichtswissenschaft selbst nicht mehr aufrechterhalten lassen.