(Publikation: Junge Freiheit
19/2001)
Worüber
regen sich die Gemüter eigentlich so auf? Im Geltungsbereich des
Grundgesetzes über aktive "Sterbehilfe" zu diskutieren
scheint so sinnlos wie ein Streit um des Kaisers Bart. Der ist
dem Zugriff der Diskutanten ebenso entzogen wie das unveräußerliche
Recht auf Leben nach dem Grundgesetz. Das Gesetz sieht im Grundrecht
auf Leben prinzipiell
kein Verfügungsrecht über
das eigene Leben, und darum kann auch kein solches Verfügungsrecht
auf andere übertragen werden. Darum ist das Töten auf Verlangen
nach § 216 StGB strafbar. Das Grundgesetz hat dem Staat eine umfassende
Lebensschutzgarantie aufgebürdet, die durch Art. 19 II (Wesensgehaltsgrenze)
und 79 III GG (Ewigkeitsklausel) zur Verfassungswidrigkeit
des Rufes führt, künftig andere auf Verlangen töten zu dürfen.
Kein Grundrecht darf in seinem Wesensgehalt angetastet werden.
Wer für Deutschland staatliche Mitwirkung an der Beendigung
des menschlichen Lebens einfordert, kann gegen Art.1 sowie 2 I
GG (Menschenwürde und unbedingtes Recht auf Leben) verstoßen.
Unsere
Rechtsprechung hat penibel die Grenzen des hierzulande soeben
noch Erlaubten herauspräpariert. Die Scheidelinie läuft zwischen
einer Tötungshandlung in Form der verbotenen Euthanasie und dem
unter Umständen erlaubten Unterlassen apparatemedizinischer Lebenserhaltung.
In diesen Grenzfällen zwischen Leben und Tod können sich tief
Bewußtlose oder Gelähmte nicht äußern, ob sie ihr Siechtum beendet
wissen möchten. Die Justiz zieht die letzte Grenze des Erlaubten,
wenn lebenserhaltende Maßnahmen wie die Ernährung oder Medikamentierung
beendet werden und der Sterbende vom Tropf genommen wird. Nach
§ 1904 BGB kann die unmögliche Zustimmung des Bewußtlosen zum
Abschalten der Apparate vormundschaftsrichterlich ersetzt werden.
Weiter darf sich das deutsche Recht durch die jeder Änderung entzogenen
Grenzen der Verfassung nicht wagen. Nicht einmal nach Verfassungsänderung
dürfte der Staat an der Lebensbeendigung mitwirken, etwa durch
Ausdehnung des § 1904 BGB auf eine Tötungserlaubnis. Bei der
Verfassungsgebung ist allen Gutmenschen die Entscheidung über
“Euthanasie oder nicht” schon längst von wohlmeinenden Bessermenschen
abgenommen worden.
Die
ausgewogenen Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen
Sterbebegleitung von 1998 halten sich im Rahmen des von Grundgesetz
und Strafgesetz Erlaubten. Auch bei aussichtsloser Prognose darf
in Deutschland Sterbehilfe nicht durch gezieltes Töten, sondern
nur entsprechend dem mutmaßlichen oder erklärten Patientenwillen
dadurch geleistet werden, daß lebensverlängernde Maßnahmen unterlassen
werden. Sterbehilfe ist Hilfe im Sterben, darf aber nicht Maßnahmen
zum Sterben umfassen.
Zu
allem Überfluß ist jede Tötung eines Menschen aus christlicher
Sicht böse. Strafgesetz und Bibel gehen Hand in Hand. Auch für
Christen ist Euthanasie kein Grund zum Grübeln, denn die Entscheidung
ist ihnen längst abgenommen. Der argumentative Deus ex machina
hat gesprochen. Gegen
sein klares Gebot “Du sollst nicht töten!” gibt aus Sicht eines
Gläubigen nichts wegzudiskutieren. Gilt also auf allen Ebenen
“Roma locuta, causa finita?”
Mitnichten,
denn die Moralisten möchten auch zu Wort kommen. Zu gut eignet
sich der “Skandal Holland” zur Selbsterhöhung unserer Tugendwächter.
In den Niederlanden wurden jahrzehntelang moralinsauere Sprüche
gegen die bösen Deutschen geklopft, und dafür empfängliche Gemüter
wurden des Sichschämens nicht müde. Da eignet sich der moralische Fauxpas unserer
Nachbarn, die staatlichen Lizenz zum Töten Kranker, hervorragend
dazu, das eigene wunde Gewissen zu entlasten. Der moralischen
Anklagebank entkommt am sichersten, wer sich selbst zum Tribunal
erklärt. Man leidet nicht mehr unter dem moralischen Verdikt,
indem man selbst zur personifizierten Moral wird. Weil die globalen
Sünderlisten immer länger werden, darf der moralisierende deutsche
Michel ruhig schlafen: Es wird immer genug Türen geben, vor denen
wir kehren können. Holland ist überall!
So
hob allerorten ein fröhliches Disputieren an. Die Aufschreie der
Empörung überboten sich umso lauter, je deutlicher Demoskopen
auf die 67% Euthanasiebefürworter auch in Deutschland verwiesen.
Im Verein mit ihrem Gesetzbuch erklärten Juristen die Euthanasie
für immer und ewig verboten, und mit Fingerzeig nach ganz oben
zitierten sorgenfaltige Kirchenfürsten immer und ewig geltende
Gebote. Wen wir auch fragen, Juristen, Theologen, Moralisten,
alles scheint entschieden.
Doch
ist wirklich schon alles in höherer Instanz über uns entschieden?
Dürfen wir nicht wenigstens am Sterbebett ein bißchen mitreden?
Wer Entscheidungsfreiheit für sich selbst bejaht und fordert,
kann logischerweise nicht seine persönliche Antwort auf die letzten
Fragen von Leben und Tod für allgemeinverbindlich erklären. Alle
anderen täten das dann vermutlich auch, und ihre Absolutheitsansprüche
relativierten sich wechselseitig. Philosophisch betrachtet
gibt es keine objektiv richtige oder falsche, keine absolut geltende
Antwort auf die jedem sich stellende Frage nach Sinn, Ziel und
Erfüllung seines Lebens. Gleichwohl wird erbittert, aber argumentativ
unbeholfen die Debatte geführt, was “ethisch unbedingt geboten”
sei:
Jemandem
den Tod zu geben, wird mit demselben Pathos von den einen für
unethisch (weil inhuman) verurteilt, mit dem die anderen das
Leidenlassen eines Sterbenden als unethisch (weil inhuman) verdammen.
Nach Auffassung beider Seiten liegt es einfach in der “Natur des
Menschen”, menschliches Leid nicht zuzulassen. Aus dieser vermeintlich
empirischen Feststellung möchten sie eine Pflicht jedes Menschen
ableiten, sich “human” zu verhalten, als ob aus einem einfachen
Sein ein Sollen folgen könnte. Die um der Menschenwürde willen
töten möchten und die um der Menschenwürde lieber leiden lassen
wollen: alle gleichen sich in ihrer Denkstruktur und sind sich
ideologisch näher, als sie im Eifer des Gefechts merken. Sie schließen
im Zirkel, indem sie eine angebliche empirische Eigenschaft in
den Menschen projizieren, um sie wie ein Kaninchen aus dem Zylinder
als ein Sollen wieder hervorzuzaubern: “Der Mensch ist mitleidig”,
also “soll” er mitleidig sein.
Weil
sich aber leider verschiedene solcher Naturrechtler für ganz
unterschiedliche Eigenschaften als angebliche “Natur des Menschen”
entscheiden und jeden als “inhuman” verdammen, der sie nicht
als unbedingtes Sollen akzeptiert, können uns auch solche moralischen
Zauberkünstler nicht das Denken und nicht die eigene Entscheidung
abnehmen. Wer mühsam den Durchblick hinter die Dreifaltigkeit
aus Gesetz, Religion und Naturrechtsphilosophie erkämpft hat,
sieht durch die Ritzen der Drohkulissen aus Thron, Altar und
Feuilleton Menschen, nichts als Menschen wie dich und mich, die
uns nur zu gern das Denken, die Entscheidungsmacht und mit ihr die Verantwortung
abnehmen. Viele geben diese Verantwortung gern ab. Freilich ist
das eigene Denken mühsam geworden, wenn man es nicht mehr gewöhnt
ist, und hart drückt die Verantwortung, wenn wir sie wieder selbst
tragen müssen.
Immerhin
geht es am und im Sterbebett um Gefühle, die jeden empfindenden
Menschen im Innersten erschüttern. Uralte Traditionen und Rituale
entlasten uns von ihnen. Eine tröstende Vorstellung: Die Familie
versammelt sich am Sterbebett und nimmt Abschied, so war das einmal.
In das alte, rührende Bild drängt sich ein Weißkittel mit Giftspritze.
Im Nebenzimmer warten diskret Krankenschwestern, um das Bett
für den nächsten Sterbenden frisch zu beziehen. Noch drei stehen
heute auf dem Programm des Sterbens nach Stundenplan. - Nicht
jedermann ist bei solch einer Vorstellung von Gefühlen des Abscheues
gebeutelt. Die feineren Empfindungen werden manchem tagtäglich
vom Fernsehen mit dem Holzhammer ausgetrieben. Doch viele spüren
noch:
Einen
anderen Menschen zu töten, ist ein Zivilisations- und Kulturbruch,
auch wenn es aus Mitleid geschieht. Das kriegerische Töten eines
Feindes war und ist in allen Gesellschaften erlaubt. Einem hilflos
Sterbenden den Tod zu geben, ist hingegen ein jahrhundertealtes
Tabu. So etwas macht man nicht. In der europäischen Tradition
stützte es sich heute auf christliche Vorstellungen, hätte in
anderem religiösem Kontext aber durchaus auch anders begründet
werden können. Ärzte durften schon bei den alten Griechen nicht
töten. Die Krise dieses Tötungstabus stand im 20. Jahrhundert
mit der Krise des Christentums auf der Tagesordnung. Atheistischen
Ideologien wie Marxismus und Nationalsozialismus galt ein einzelnes
Menschenleben nichts. Soweit diese Ideologien moderne und rationale
Elemente enthielten, drängten diese nach ökonomischer Effizienzsteigerung
ohne Rücksicht auf das Leid Einzelner. Es zählte nichts angesichts
utopischer Glücksverheißung für alle.
Heute
steht die Todesspritze aus Mitleid auf der Tagesordnung. Diskussionsfähig
wurde sie aber erst durch die ideologischen Rammböcke des 20.
Jahrhunderts, die das zuvor Undenkbare denkbar machten und durchführten.
Doch auch damals mag es viele Ärzte gegeben haben, die Euthanasie
in wirklichem Glauben anwandten, das Leben eines Krüppels, eines
Hirnlosen, eines Geisteskranken sei wirklich lebensunwert, und
sie alle würden von ihrem Leiden nur erlöst; andererseits aber
gab es Technokraten und Juristen, die das Verbotene erlaubten
und sich dabei ganz andere Gedanken machten als der mitleidige
Arzt. Die Euthanasie des Dritten Reichs hatte mehrere Aspekte:
Von “Leid zu erlösen” war ein vorzeigbarer und vorgezeigter Anlaß;
die Gesundheit des Volkskörpers als Ganzem das eigentliche ideologische
Ziel und die Entlastung der Volkswirtschaft von “Nutzlosen” ein
willkommener Nebeneffekt.
Diese
Zeit nur als Horrorschau darzustellen und die damaligen Menschen
auf ihre Rolle als Übel-Täter zu verkürzen, verhindert die Einsicht:
Genau dasselbe komplizierte Geflecht und subjektivem Mitleid und
objektiver Rationalität droht auch heute eine Lawine ins Rollen
zu bringen, von der niemand wissen kann, ob sie ihn nicht einmal
selbst erreicht. Welchem Kostendämpfungsgesetz werden du ich ich
dereinst zum Opfer fallen? Wie werden wir unsere Fortexistenz
noch rechtfertigen können, wenn wir nach den Gesetzen des Marktes
keinen Wert mehr haben? Müssen wir uns nicht schon ständig als
“Verbraucher” beleidigen lassen, indem wir nur noch in der Rolle
als Fresser, Konsumenten und Müllproduzent wahr- und ernstgenommen
werden? Im Zeitalter des extremen Liberalismus, in dem der Geldwert
über alles geht, ist tiefes Mißtrauen angebracht gegen die Eigendynamik
eines Systems, das sich nur durch ökonomisches Wachstum selbst
erhalten kann. Unproduktiven Sterbenden mit großzügiger Geste
das Recht zu geben, sich töten lassen zu dürfen, hinterläßt einen
Beigeschmack von Zynismus.
Nicht
der linderbare Schmerz ist das Problem, sondern ein System, in
dem ein Sterbender sich “nutzlos” fühlt und eben darum verzweifelt.
Die Massen haben sich der industriellen Massenzivilisation und
der ihr innewohnenden funktionalen Rationalität angepaßt und vermögen
sich selbst nur noch in den Kategorien nützlich und unnütz zu
sehen. In vorindustriellen Zeiten hätte die Reduktion eines Menschen
auf seine familien- und volkswirtschaftliche Nutzbarkeit Erstaunen
geweckt. Greise durften früher einmal als edel gelten, und ihre
Meinung war als Weisheit gefragt. Heute erklärt die offizielle
Ideologie die Abtreibung und bald das Sichtötenlassendürfen zum
Menschenrecht und Gebot der Menschenwürde. Zugleich erweckt die
Reklame der Großindustrie die Vorstellung, ohne Jugend, Fitneß
und Leistungsfähigkeit sie einer nichts mehr wert.
Auf
das Selbstgefühl Siecher blieb das nicht einflußlos: Der Krebsarzt
Stephan Sahm hat in der FAZ eindrucksvoll die Seelenpein alter
Kranker geschildert: Nicht der linderbare körperliche Schmerz
ist das Entsetzlichste. “Vereinsamung, finanzielle Probleme,
Trennung von Lebensgefährten sind es, die Menschen den Wunsch
nach Hilfe zur Selbsttötung und Euthanasie äußern lassen.”
Katastrophal wirke sich, Studien zufolge, schon der Gedanke aus,
Angehörige oder der Arzt könnten auf seinen Wunsch spekulieren,
sich aus dem Weg räumen zu lassen und unausgesprochen darauf warten,
diesen Wunsch zu exekutieren. Wo das Weiterleben nur eine von
zwei legalen Optionen sei, da werde jeder rechenschaftspflichtig,
der den anderen die Lasten seines Weiterlebens aufbürdet.
Wer
mit alten Menschen zu tun hatte, kennt die drückende Mischung
aus Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit und Zukunftslosigkeit,
die zu dem Wunsch führt, seinen Lieben “nicht mehr zur Last fallen”
zu wollen. Theodor Storm hatte den Todeswunsch formuliert: “Urahne
spricht: ‘Morgen ists Feiertag, am liebsten morgen ich sterben
mag. Ich kann nicht singen und scherzen mehr, ich kann nicht sorgen
und schaffen schwer; was tu ich noch auf der Welt?’” - Wer den
alten oder kranken Menschen aber seinerseits liebt, vermag es
zumeist nicht über sich zu bringen, ihm genau diesen Todeswunsch
eigenhändig zu erfüllen.
Hier
sind gesellschaftspolitische Weichen zu stellen. Ob die staatliche
Gemeinschaft überhaupt den handelnden Einzelnen Vorschriften
über ihr höchstpersönliches Lebensende machen darf, ist ebensosehr
Entscheidungssache wie das Ausmaß etwaiger Beschränkungen der
Freiheit zum Tode und zum Töten. Wer diese Entscheidungsfreiheit
leugnet und sich hinter religiösen Geboten oder selbstgesetzten
ethischen Verboten versteckt, verleugnet das Menschlichste am
Menschen: die Fähigkeit zur persönlichen Sinnstiftung.
Jenseits
der unproblematischen juristischen und religiösen Antworten wie
auch der vergeblichen Versuche einer allgemeinverbindlichen
Ethik lautet die ausschlaggebende Frage: Welche zwischenmenschliche
Umwelt wollen wir alle uns gemeinsam gestalten: eine klinisch
saubere, normierte Lebenskurve vom Reagenzglas bis zur Todespille,
oder eine Lebenswelt, in der natürliche Geburt wie natürlicher
Tod, Glück wie auch Tragik, Seligkeit wie auch Schmerz ihren Platz
haben? Wollen wir uns gesellschaftsnützlich durchorganisieren
lassen, leistungsoptimiert bis hin zum sozialverträglichen Ableben,
oder geben wir jedem die Chance zum Abenteuer allen menschenmöglichen
Schicksals? Wollen wir eine Vollkaskogesellschaft mit gesellschaftlich
garantiertem Mindestglück, oder akzeptieren wir das Leben als
Wagnis?
Nicht
individuelle Schicksale machen diese Fragen politisch interessant,
sondern die kulturelle Gesamttendenz unseres Volkes. Wenn wir
zum Leben keine Lust mehr haben sollten, werden sich genug andere
finden, die uns die Last der Existenz abnehmen. Die holländische
Entscheidung für das Töten auf Verlangen und die weitergehende
Diskussion einer Sterbepille liegen in der Logik einer vergreisenden
Gesellschaft, dominiert von Feigheit vor dem Sterben und Mutlosigkeit
vor dem Leben. Sie wird ihre Mediziner weiterforschen lassen:
nach der krankenkassenfinanzierten Gehirnsonde zur Stimulierung
des Glückszentrums, nach der ultimaten Pille gegen Leid und Schmerz,
nach der drahtlosen Cyberspace-Verbindung vom Gehirn ins Fernsehen
und Internetz mit Zugang zu 99 virtuellen Computerspielen, nach
vollrobotischer Industrie und arbeitslosem Einkommen für alle,
ja nach dem Gen für ein Leben ohne Ende. Als Konrad Lorenz 1972
die Verhausschweinung des Menschen geißelte, gebrach es ihm
an Phantasie, wie schweinisch wohl wir uns dereinst werden fühlen
können.