Klaus Kunze
- Publizierte Zeitungsartikel (Auswahl) -
 

Liberalismus als Staatsreligion?

(Publikation: Junge Freiheit 27/1994)

 

Der Li­be­ra­lis­mus geht zu­neh­mend zum totalitä­ren Ge­sin­nungs­druck über. Nach Kelsen möchte die li­berale De­mokra­tie gern "der Ausdruck eines po­litischen Re­la­tivismus und einer wun­der- und dog­menbefreiten, auf den menschlichen Ver­stand und den Zwei­fel der Kritik gegrün­deten Wissen­schaft­lichkeit" sein. In ei­nem säkula­risierten, weltan­schaulich neu­tralen Staat dürfte es libe­raler An­sicht nach keine frei­heitliche demokrati­sche Staats­religion geben. Es gibt sie den­noch. Der Li­beralis­mus möchte sei­nen Bürgern ein nie ge­kann­­tes Maß an Geistes­frei­heit ermöglichen. Die li­be­rale Selbsteinschät­zung als kritisch, rationa­li­stisch und auf­geklärt ist aber brü­chig.

 

Wie jedes Herr­schafts­system besitzt auch der Liberalismus schon in sei­nem geistigen Vor­feld eine tie­fere meta­physi­sche Recht­ferti­gung. Wird diese Gesin­nung angegriffen, kann er sie nur mit Ge­sinnungsdruck ver­teidi­gen. Die weltli­che Macht über die Men­schen behält er nur durch die spiri­tu­elle Kontrolle über ihren Glauben. Mit­telal­terlichen Feudal­her­ren mach­ten ihre Un­ter­tanen glau­ben, ihre Herr­schaft beruhe auf Gottes Wil­len. Die intellektuel­le Raf­finesse mo­der­ner li­be­ra­ler Herr­schafts­rechtfertigung steht den altvorde­ren Vorbildern in nichts nach. Die gesellschaftli­che Macht der ökono­misch je­weils Stärk­sten be­darf zu ihrer Legitimierung des Glaubens der vielen Schwächeren, das möglichst un­kontrol­lierte Walten ökonomi­scher Fak­toren führe über eine Art Kräfteba­lance zur Har­monie und auch ihrem, der Schwä­cheren, Gedeihen. Durch kritisch-ratio­nalisti­sches Infra­gestellen aller nicht ökonomisch be­gründeten menschlichen Gemein­schaf­ten sollen diese entle­giti­miert und schließlich zerstört wer­den. So gerät der von den Bindungen an Volk und Familie be­freite Deutsche umso si­che­rer unter die Herrschaft des interna­tio­na­len Gel­des und findet sich als Ver­braucher wieder.

 

Die aufklärerische Atitüde des Libe­ra­lismus teilt das Schicksal des ganzen Di­lemmas der Aufklä­rung: Das kriti­sche Hinterfragen von Werten geht Hand in Hand mit ihrer Relati­vierung und mün­det in ihrer Zerstörung im Nihilismus. Die Werte der Aufklärung und des Libe­ralis­mus können diesem Schicksal nicht ent­gehen: So steht der Aufgeklärte schließ­lich vor der Frage, wo er bei allem Auf­ge­klärtsein über­haupt noch die Letzt­recht­fertigung für humanes Handeln her­lei­ten soll; wor­auf für den Liberalen das beson­dere Di­lemma folgt, daß er als Li­be­raler wohl plura­listi­sch sein möch­te. Mora­li­sche oder religiöse Dog­men liegen quer zu seiner Eigenrecht­ferti­gung. Die Einlö­sung sei­nes Plura­lismus­ver­spre­chens würde aber zu sei­ner fakti­sche Selbst­auf­gabe füh­ren: Was macht er mit den nicht Liberalen? Er meint sich im ent­schie­de­nen Gegensatz zur totali­tären Dikta­tur, welche die Recht­fer­ti­gung der richtigen Politik durch Rück­griff auf er­ste, wahre Prin­zi­pien will. Er möchte die Dog­ma­ti­sierung des politi­schen Irrtums ver­hin­dern und lehnt angeblich eine po­sitive, in­­haltli­che Normie­rung und Fest­schrei­bung des so­zia­len Le­bens nach vorgefaß­ten Po­stula­ten ab. Tat­säch­lich aber ist der Libe­ralismus selbst ein um­fas­sendes me­taphysi­sches Sy­stem und kann die­ses nur auf dieser Ebene vertei­digen.

 

Das zeigt sich bereits in seinen All­tags­formen: Heute werden politische Reden nach Be­obachtung Michael Jeismanns (FAZ) "wie ein mo­ra­lisch-rhetorisches Hochamt began­gen", in dem "die Litur­gie vom gu­ten Men­schen zelebriert wird. Nicht zufällig ent­fernen wir uns seit ei­ni­gen Jah­ren wieder von jener nüchter­nen Nach­kriegszeit, in der noch wirk­lich Be­trof­fene von amtlichem Pathos, Schwü­ren, Auf­märschen, Fahnen, Hym­nen und Fackelzügen die Nase voll hat­ten. Die nachgebore­nen Be­trof­fenen ah­men in steigendem Maße reli­giöse Ri­tuale nach, wie früher die Fah­nenweihen der Natio­nalsozialisten und der Kom­mu­nisten. So ist es kein Zufall, wenn wir evange­lische Pastoren an der Spit­ze von Lichterket­ten marschieren sehen. Diese gehö­ren zur Familie der Fackel­züge und Bußpro­zes­sio­nen und ge­hen letztlich auf vorchrist­lich-ar­chaische Kulthand­lungen zu­rück. Es ist auch kein Zufall, wenn CDU-Stra­tegen ope­rativ die Stig­ma­ti­sie­rung po­liti­scher Gegner emp­fehlen. In die­sen Zu­sam­men­hang ge­hören die ge­betsmüh­len­ar­tig wie­der­hol­­ten Betrof­fen­heitslita­nei­en ebenso wie der gesell­schaftliche Bann für Un­gläubige.

 

Je­de Herrschaftsrechtferti­gung ist in ih­rem Kern Religion. Alle prägnanten Be­grif­fe der modernen Staatslehre sind sä­ku­la­risierte theologische Be­grif­fe. Daher ist je­des System - nur - im Kern sei­ner metaphysi­schen Letztrecht­fer­ti­gung er­folg­reich an­­greifbar. Diese wird es mit quasi ­re­ligiö­ser In­brunst ver­tei­digen und dabei mit den Waf­fen der Ket­zer­ver­fol­gung zu­rück­­schlagen müssen, oder es wird un­ter­ge­hen. Es genügt nicht, die Handlun­gen des Ab­weichlers zu ver­bie­ten. Auf Dau­er läßt sich ein System nur verteidi­gen, wenn es alle Taten und die Gesin­nung des­jenigen ver­flucht, der es ab­schaf­fen will. Im diesem Lichte be­trachtet ent­puppt sich der angeblich auf­ge­klärte, säku­larisierte Deutsche des aus­gehen­den 20. Jahrhun­derts als ebenso an­fäl­lig für das Pa­thos der humanitaristi­schen Zi­vil­­­religion wie sein mit­telal­terli­cher Vorfahre für die christ­li­che.

 

Je­des Zeital­ter hat seine eige­nen My­then. Nach Robert Michels Beobach­tung von 1911 er­füllt "heute der Glau­be, daß alle Gewalt vom Volk kom­me, eine ähn­liche Funktion wie früher der Glaube, daß alle obrig­keit­li­che Ge­walt von Gott komme," und er sprach tref­­fend vom Gott der De­mokratie. Die Gläubigen un­serer Zeit ver­teidigen ih­ren Gott mit demselben quasireli­giösen Fa­na­tismus wie die Gläu­bigen al­ler Zeiten und aller Götter. Fried­rich der Große hatte sie in ei­nem Brief an Voltaire am 6.7.1737 so charakteri­siert: "In Deutschland fehlt es nicht an aber­gläu­bi­schen Leu­ten, auch nicht an von Vorurteilen beherrsch­ten und bös­arti­gen Fanati­kern ... Es steht fest, daß man im Dunstkreis solcher Un­ter­tanen vor­sich­tig sein muß. Selbst der ehrenhafteste Mensch ist ver­schrien, wenn er als Mann ohne Religion gilt. Religion ist der Fe­tisch der Völ­ker. Wer auch im­mer mit profaner Hand an sie rührt, er zieht Haß und Ab­scheu auf sich."

 

60 Jahre nach diesen Sät­zen de­kretierten die Jakobiner die Göttin der Vernunft. Auch die moder­nen Be­troffe­nen, haben ihren Fe­tisch. Wer mit pro­fa­ner Hand an die ver­göt­terte Demokratie rührt oder sie gar an­zweifelt, stößt sich selbst aus der Ge­mein­schaft der Guten so sicher aus wie jeder Ketzer in ir­gend ei­nem Zeitalter. Wer das nicht glaubt, kann ja einmal öf­fentlich be­ken­nen, kein Demo­krat oder nicht be­troffen zu sein, und war­ten, was dann pas­siert: Er zieht un­wei­gerlich die soziale Re­akti­on des Mob­bing auf sich: die Grup­pen­hatz. Er wird er­fahren, was das Wort Sünden­bock eigent­lich be­deutet und was es heute heißt, einer zu sein: Wie in allen Zeiten der Sün­denbock rituell ge­schlach­tet wurde, um symbo­lisch die Sün­den der Gemein­schaft der Recht­gläubigen auf sich zu zie­hen und je­ne zu erlösen, fühlt sich der moderne Betroffene gleich bes­ser, wenn in ei­ner Talk­schau, der Mitter­nachtsmette der li­beralen Diskursgesell­schaft, mit ge­hörig be­troffener Miene der Neo­nazi beschwo­ren, ver­dammt und aus­ge­trie­ben wurde. Oh Herr, ich danke dir, daß ich nicht so scheußlich bin wie je­ner! In Sodom und Gomorrha soll es leider kei­nen Ge­rechten mehr gege­ben haben. Im Li­be­ra­lismus gibt es nur Ge­rechte: Pharisäer - Selbstge­rechte - sagte man frü­her. Vor den Rich­ter­stüh­len der mo­dernen Dreifaltigkeit aus Fernsehmode­ra­toren, Staats­par­tei­en und Verfas­sungs­schutz gilt wieder das Wort Fried­richs des Gro­ßen: "Wir ha­ben hier eine Sekte See­liger, die den Pres­by­te­ria­nern in Eng­land ausge­spro­chen äh­nelt und sogar noch un­er­träg­li­cher ist, weil sie in stren­ger Recht­gläubigkeit ohne Ein­spruchs­recht alle je­ne der Ver­dammung überant­wortet, die nicht ihre An­sich­ten teilen." Damit hatte er auf Voltairs Satz ge­ant­wortet: "Es wird eines Ih­rer größten Ge­schenke an die Mensch­heit sein, wenn Sie Aber­glauben und Fanatis­mus un­ter Ihren Sohlen zer­tre­ten, nicht zu­las­sen, daß ein Mensch in Robe andere Men­schen ver­folgt, die nicht so denken wie er."

 

Der Liberalismus hat die Souveräni­tät des Vol­kes und ein egali­taristi­sches Ver­ständnis der Men­schenrechte zu moder­nen Dogmen und Betrof­fenheit zur Pflicht gemacht. Mit dieser Fest­stel­lung ist nichts darüber ausgesagt, ob Men­schen­rech­te, Demokratie oder die Betrof­fenheit real oder wünschens­wert sind. Der amerikanische Philosoph Alasdaire Mac­Intyre spottete, wer an sie glaube, könne auch gleich an Hexen und Ein­hör­ner glau­ben. Heute ist das Be­kenntnis zu ih­nen Pflicht. Ein Leugnen ihrer me­ta­phy­si­schen Faktizität ist 1994 ebenso un­tun­lich wie 1194 ein Anzwei­feln der Jung­fräulichkeit Mariens. Sie wer­den von ih­ren Gläu­bigen mit der­sel­ben Wut ver­tei­digt, über die Voltaire im März 1737 an Fried­rich schrieb: "Alle Theolo­gen aller Län­der (sind) Leute, die von heili­gen Schi­mären trunken sind, (und) äh­neln je­nen Kardinä­len, die Gali­lei ver­damm­ten..." Darin be­weist sich heute nach Mei­nung Hans Mag­nus En­zens­ber­gers der theologi­sche Kern der humani­taristi­schen Men­schenrechts- und Demo­kratie­theorie, der alle Sä­kularisie­rungen über­standen ha­be.

 

"Was die Theologen an­geht," schrieb Friedrich am 4.11.1736, "so scheint es, als ähnel­ten sie sich alle im allgemeinen, gleich welcher Re­ligion oder Na­tion sie an­gehö­ren; stets ist es ihr Be­stre­ben, sich über die Gewissen eine des­potische Au­torität an­zuma­ßen." So mußte der Libe­ra­lismus des­potisch werden, so­bald eine wach­sende und nicht mehr ohne weiteres beherr­sch­bare Zahl sei­ner Untertanen mit ihren Interessen in Konflikt zu den In­ter­essen derjenigen kam, welche durch den liberalen Status quo be­vor­zugt wer­den. Die li­be­ra­le Auffassung vom Staat als großem Be­trieb führt zur Öffnung der Grenzen und zur Pri­va­tisie­rung wichtiger Lebensberei­che wie demje­nigen der öf­fentlichen Si­cher­heit, wi­derspricht aber den Be­dürf­nissen vieler Bür­ger. Ihrem Po­chen auf ge­gen den Libera­lismus ge­richtete persönliche und nationa­le In­ter­essen kann dieser nur noch mit dem Ver­such ih­rer Stigmati­sierung begeg­nen. Der Kultus der Staats­religion Li­be­ralismus mit seinen von Pastoren an­geführten Lichterket­ten und Be­trof­fen­heitsri­ten, seinen Tabuzonen und Exor­zis­men wird sich aller­dings nur halten können, wenn es dem Libera­lismus gelingt, die An­zahl sei­ner Geg­ner rechtzeitig durch Mas­sen­ein­wan­derung in die Minorität zu drän­gen und weiterhin sozial und po­litisch aus­zuschal­ten.