(Publikation: Junge Freiheit
42/1999)
Wenn
Metaphysiker sich zanken, ist es mit der philosophischen Gelassenheit
schnell vorbei. Pünktlich wie der Herbst nach langem Sommer
Regen herantrug, traten rechtzeitig vor der herbstlichen Buchmesse
Habermas und Sloterdijk in den Ring: Einig in fortschrittlichen
Grundsätzen, galt es ihnen offenbar den Rang des moralischen
Platzhirschs auszukämpfen. Mangels rechter Gegner übten altlinke
Streiter als "Ritter der Übermoral" das "beliebte
Gesellschaftsspiel" (Antje Vollmer FAZ v. 23.9.99), sich
gegenseitig als Faschisten zu entlarven.
Sloterdijk
hatte nur Begriffe wie Gentechnik und Züchtung aussprechen müssen,
um bei Habermas die bekannten Reflexe auszulösen. Dabei ist
das eigentliche Thema der Kontroverse viel zu wichtig, um es
Moralisten zu überlassen. Mit einiger Verspätung haben diese
bemerkt, was technisch heute schon möglich ist und morgen noch
werden könnte. Der Berliner Philosoph Rüdiger Safranski gehört
zu den wenigen Ersten, die ernsthaft fragten: "Wie kann
die Entfesselung der technischen Produktivkräfte moralisch
beherrschbar bleiben?" (Vom Recht, geboren und nicht gemacht zu werden,
FAZ v. 23.9.1999). Eine "neue Leibeigenschaft" sieht
Safranski kommen: Wer künftig seine Identität erfahren wolle,
werde Kataloge studieren müssen, mit deren Hilfe seine Eigenschaften
zusammengekauft wurden. Die Bestimmungen des Guten und des
Bösen auf dem Feld solcher Möglichkeiten seien noch nicht vorgenommen.
Doch
entspricht nicht dem Theorem der völligen individuellen Selbstbestimmung:
"Mein Bauch gehört mir - meine Gene gehören auch mir? Wer
wollte mir das Recht absprechen, meinen Kinder meine Plattfüße
zu ersparen?" Habermas will den Diskurs darüber verhindern,
Sloterdijk wagte es als Problem anzusprechen, und Safranski
begreift die Freiheit der Genwahl als "moralische Herausforderung":
"Wir befinden uns in einer ziemlich gefährlichen Phase
des Abenteuers der Freiheit. Diese Freiheit feiert als wissenschaftlich-technische
Erfindungsgabe Triumphe und fordert die andere Freiheit heraus,
die sich in unserer moralischen Erfindungsgabe manifestiert."
Dazu genüge "die altmodische Moral der Ehrfurcht vor dem
Ungeheuren der Natur."
So
sprang die metaphysische Katze aus dem von Habermas und Sloterdijk
noch dichtgehaltenen Sack. Wie jeder Moralist wohl weiß, werden
uns technische Produktivkräfte schnell gefährlich, wenn sie
nicht "moralisch beherrschbar" bleiben. Wären sie
einmal moralisch beherrscht, stünde der Moralist als berufener
Interpret moralischer Grundsätze über dem Naturwissenschaftler,
aber auch über dem Laien als "Kunden" der Gentechnik.
Nur ein Schelm dächte Arges über jeden, der uns scheinbar so
uneigennützig seine Moral anpreist.
Wer
seine Warnung vor der Gentechnik nicht anders begründen kann
als mit "der altmodischen Moral der Ehrfurcht vor dem Ungeheuren
der Natur," katapultiert sich mit einem Salto weit rückwärts
vor die Aufklärung. Er muß sich sofort in die bekannten logischen
Dilemmata des historischen Naturrechts verstricken. Wie sollte
jemand Träger des Rechts sein, "geboren und nicht gemacht
zu werden", bevor er überhaupt ge- oder erzeugt ist? Vor
Befruchtung der Eizelle existiert noch kein Individuum mit "Rechten",
und ein im Moment der Zeugung entstehendes Recht, nicht "mit
zusammengekauften Genen" erzeugt worden zu sein, wäre so
absurd wie ein Recht der Kaulquappe, kein Frosch zu sein. -
Für Metaphysiker ist das freilich kein Hindernis: Vielleicht
halten sie für einen möglichen Rechtsträger der "Menschenwürde",
lange vor der körperlichen Erzeugung, etwa einen Geist oder
ein seelenwanderndes Gespenstchen, das mit der Er-zeugung in
die so schnöde zusammengekauften Materie einziehen muß.
Geballten
metaphysischen Glaubenseifer braucht auch, wer "in Ehrfurcht
vor dem Ungeheuren der Natur" erstarrt. Die alten Theologen
hatten da noch konsequent gedacht: Ehrfurcht vor der unantastbaren
Schöpfung Gottes mag man schon haben, sofern es ihn denn gibt
und man an ihn glaubt. Aber Ehrfurcht vor "der Natur"
- ohne Schöpfergott? Schon die Aufklärer des 18. Jahrhunderts
lachten unter der Hand über die zankenden Theologen und ihren
Gott. Um Sitte und Moral über seine Entthronung hinwegzuretten,
siedelten sie diese in der eigens zu diesem Zwecke ersonnenen,
werthaften Mutter "Natur" an. Wenn kein Gott mehr die
geltende Moral befahl, mußte sie wohl in der "Natur des
Menschen" stecken: Dem Menschen, so beginnt der Zirkelschluß
mit einer kühnen Behauptung, wohnen moralische Gesetze inne.
Folglich verwirkliche er sein wahres Menschsein nur, wenn er
diese Gesetze beachtet. So projizierte man die erwünschte Moral
in den empirischen Menschen hinein, um sie bei Bedarf als Naturrecht
wieder aus ihm abzuleiten.
Die
"Ehrfurcht" vor einer moralischen Natur des Menschen,
die sich nur mit logischen Taschenspielertricks begründen
läßt, war allerdings im 18. Jahrhundert schon gering. Auch Safranski
wird es nicht glücken, sie gegen die Gentechnik zu mobilisieren.
Für Gottgläubige ist es ohnehin naheliegend, dem Schöpfer
nicht ins Handwerk zu pfuschen, und Ungläubige lassen sich durch
Ehrfurcht vor "der Natur" nicht abhalten: gestern
nicht von einem künstlichen Herzen und morgen nicht von Genen
aus dem Katalog. Ehrfurcht kann man nur vor etwas kategorial Höherem
empfinden, nicht aber vor bloßen Produkten der eigenen "moralischen
Erfindungsgabe". An solches Höhere zu glauben ist Merkmal
der Metaphysik oder gar Theologie. So entpuppen sich unsere
fortschrittlichen und aufgeklärten Trendphilosophen als begnadete
Metaphysiker.
Die
interne Diskussion moralisierender Spießbürger des Geistes
ist so unnütz und gespenstisch wie jeder Theologenzank über
Dogmen, an die außer ihnen niemand glaubt. Sie ist auch gefährlich:
Die Öffentlichkeit könnte alle Warnungen pauschal als hilfloses
Geschwätz von Philosophen ohne realen Hintergrund abtun, und
der Gesetzgeber könnte moralisch korrekte, sachlich aber verhängnisvolle
Fehlentscheidungen treffen. Realen Anlaß zu Gesetzen gibt es
tatsächlich, die einen beliebigen Gen-Einkauf ("Nur das
Beste für Ihr Kind!") beschränken sollten.
Nicht
die Moral liefert Gründe für gesetzgeberische Vorsicht vor
beliebiger Umformung des menschlichen Genoms, sondern die Genetik
selbst. Allzu vieles ist hier unerforscht, doch steht fest: Unsere
genetische Vielfalt ist eine Lebensversicherung der Evolution.
Der Schein moderner medizinischer Sicherheit trügt. Was früher
die Pest war und eine Zeitlang Aids zu werden schien, schwebt
als Damoklesschwert beständig über uns: die Gefahr einer weltweiten
Epidemie mutierter Krankheitserreger. Vielleicht wird aber
dereinst einmal eine durch Ozonschichten nicht mehr gebremste
Sonne ganze Bevölkerungen dahinraffen, vielleicht, indem ihre
Strahlung unsere Zellkerne schädigt. Die potentiellen Gefahren
der Zukunft kennen wir nicht. Eines steht aber fest: Keine historische
Geißel der Menschheit vermochte unsere ganze Art auszurotten.
Durch zufällige Mutationen gab es immer Immune. Von ihnen stammen
wir ab. Eine genetisch gleichgeschaltete Menschheit aus dem
Katalog modischer Äußerlichkeiten wäre anfällig wie mancher
Rassehund: schön, aber labil.
In
absehbarer Zeit werden sich global kaum mehr Menschen "Katalog-Gene"
leisten können als heute künstliche Nieren. Vielleicht wird
man das Genom in 200 Jahren einmal besser erforscht haben: Bis
auf weiteres aber könnte man mit Vaters Plattfüßen zugleich
Eigenschaften hergeben, die unsere Nachkommen noch brauchen.
Gilt es heute eine neue Arznei auf den Markt zu bringen, muß
sie medizinische Kontrollen durchlaufen und nicht moralische.
Auch Eingriffe ins Genom müssen noch in langer Zukunft dieser
staatlichen Schranke unterworfen sein. Moralisierende Reaktionäre
aber mögen in Angelegenheiten schweigen, von denen sie nichts
verstehen. In ihrer Schreckreaktion vor unserer Macht über das
Physische greifen sie bis in die mittelalterliche Mottenkiste
der Metaphysik und vergessen darüber die Erkenntnisse mehrerer
hundert Jahre Aufklärung. Im Geltungsbereich des demokratischen
Postulats kann nur der durch Mehrheit gefundene Konsens darüber
entscheiden, welcher individuelle Gebrauch von Gentechnik gemacht
werden darf: nur zu medizinischen Heileingriffen oder zur Genwahl
à la carte.
Heiß
umstritten ist der Einfluß der Gene auf Charakter und Intelligenz.
Solange die Genetik nicht klar sieht, ob unsere Moral tatsächlich
"in den Genen" steckt, sollte der Gesetzgeber nicht
beliebige Auswahl von Genen "aus dem Katalog" erlauben
- sobald dies denn technisch möglich wird. Die Pointe zur von
Safranski geforderten Beherrschung der Gene durch die Moral könnte
nämlich die Abhängigkeit der Moral von den Genen sein. Manche
Genetiker sind sich ihrer Sache sicher: Nicht nur Lernfähigkeit
- vulgo Intelligenz - ist nach Ansicht des Leiters des Konrad
Lorenz Instituts für Evolutions- und Kognitionsforschung in
Altenberg, Adolf Heschl (Das
intelligente Genom, Heidelberg 1998, ISBN 3-540-64202-1)
genetisch determiniert. Unsere Moralvorstellungen, ja selbst
ideologische Positionen seien bloß sublimierter Ausdruck genetischer
Konkurrenz: Die staatlichen Gesetze hemmen zwar noch den
Wissensfortschritt bei der Entschlüsselung menschlicher
Gene, doch funktionieren diese im Prinzip nicht anders als tierische.
Bei Mäusen etwa sind bereits die Genkombinationen entschlüsselt,
die das Einzeltier mehr oder weniger ängstlich werden lassen.
Das menschliche Genom, prophezeit Heschl, wird über kurz oder
lang restlos entschlüsselt werden und mit ihm die umfassende
Prädisposition, wie der Einzelne mit seiner Umwelt interagiert.
Was ihm in seinem Bewußtsein als "Idee" wie "Friedfertigkeit"
erscheine, beruhe tatsächlich auf nichts anderem als genetisch
prädisponierter besonderer Ängstlichkeit. So bilden Gene die
Basis unserer Vorstellungen: "Der Frieden" wäre somit
genetisch programmiertes Bedürfnis und erst dann moralisches
Ideal. Freilich bindet genetisch vorprogrammierte Moral nicht:
Wenn auch "unser gesamtes moralisches wie auch kognitives
Verhalten evolutiv durch Mutation und Selektion entstanden
ist", betont Heschl, "und somit in unseren Genen verankert
ist", gehört zu unserem Verhaltensrepertoire auch
die freie Entscheidung gegen die angestammte Moral. Es sind
nämlich durchaus "beide Fähigkeiten, also sowohl das Aufstellen
eines hohen ethischen Gebots wie auch das situationsbedingte
Durchbrechen eben desselben, in verschiedensten Varianten in
unseren Genen angelegt." Es bleibe eine "irrige Vorstellung,
...
man könnte irgend etwas normativ Verbindliches aus der Biologie
ableiten."
Vielleicht
wird die Genetik aber einmal die Zukunftschance schlechthin
für unsere Nachkommen bilden. Science-Fiction-Autoren waren
da schon vor Jahrzehnten phantasiebegabter als unsere Moralisten,
ohne die philosophischen Implikationen ihrer Visionen zu übersehen.
Das Genre ist durchaus nicht immer trivial. Anspruchsvolle
Autoren plädieren vor dem unterhaltsamen Hintergrund ferner
Welten und Zeiten für ein Verständnis von "Mitmenschlichkeit",
das diejenigen einschließt, die nicht wie Menschen aussehen.
Das mögen fiktive Außerirdische sein, mit denen uns Intelligenz
und Neugierde auf die Wunder des Kosmos verbinden, oder auch
gentechnisch veränderte Menschen.
Als
"Gene aus dem Katalog" wirklich noch ferne Fiktion waren,
schrieb der amerikanische Zoologe und bekannte SF-Autor James
Blish schon 1957 seinen Roman "Auch sie sind Menschen" (bei Goldmann
1962, TB-Reihe Nr.07). Nicht auf das Äußere kommt es an, wenn
etwa gentechnisch gezüchtete "Robbenmenschen" ferne
Wasserplaneten besiedeln, sondern nur auf das uns allen gemeinsame
menschliche Bewußtsein. Sie bleiben unsere "Brüder
im All", so der Titel einer Geschichte des Autors Harry
Harrison von 1965 (Goldmann 097). Die sich jahrzehntelang als
unsere Moral-Blockwarte aufgeplustert haben, würden gentechnisch
an eine andere Umwelt angepaßtes Leben vielleicht für lebensunwertes
Leben halten. Der Weg vom Tugendbold zum Philister ist eben kurz.
Für
jeden Freiheitsliebenden beklemmend ist dagegen die Vision einer
Zukunft, beherrscht von dank Gentechnik unsterblichen Diktatoren,
die bei einfachen Leuten keine aufmüpfigen Gene durch die umfassende
Kontrolle lassen (Frank Herbert, Revolte gegen die Unsterblichen, 1966, Heyne SF 3125). - Niemand weiß, ob und welche Zukunft unsere
Nachkommen haben werden. Langfristig werden sie aber nicht mit
moralisierender Kleingeisterei das Abenteuer des Lebens
bestehen können, sondern nur mit einem Höchstmaß an Beherrschung
unserer biologischen Grundlagen.