(Publikation:
Junge Freiheit 44/1995)
Rezension
von: Meinhard Adler: „Vergangenheitsbewältigung“
Freunde
hatten den Autor gewarnt: "Ist Ihnen nicht klar, wem Sie
damit in die Hände spielen?" Wer gern mit gefährlichen
Gedanken spielt, den können Warnungen nur neugierig machen.
"Vergangenheitsbewältigung in Deutschland" - hat
das Thema noch Reiz? Wenn ein Professor für Psychiatrie darüber
schreibt, hat es ihn. Nüchtern und theoretisch-trocken kommt
nur der Untertitel daher: "Eine kulturpsychiatrische
Studie über die »Faschismusverarbeitung«, gesehen aus dem
Blickwinkel der Zwei Kulturen". Dahinter verbirgt sich
ideologiekritischer Sprengstoff:
Die
Vergangenheitsbewältigung ist auf der ganzen Linie mißglückt.
Mehr noch: Die hinter der NS-Weltanschauung stehenden Ängste
sind so virulent wie eh und je; nur treten sie in anderem ideologischen
Gewand auf. Unsere Umwelthysterie erbte psychiatrischer Ansicht
nach den reaktionären Drang hin zu einem mythischen Naturzustand.
Den NS-Ideologen Ohlendorf sieht Adler als direkten Vorläufer
des romantisierenden Naturbegriffs der GRÜNEN. Heute redeten
Leute über "die Natur", die einen Atomkern nicht von
einem Kirschkern unterscheiden können.
War
der NS modern? Adler zufolge war seine äußerliche Technizität
nur Fassade, nur Instrument für eine retardierende Reaktion
auf die Moderne: mit Hilfe ihrer Rationalität sollte der Zug
mit Volldampf in Richtung auf einen archaisierenden "Naturzustand"
rollen. Darunter verstand man die unmittelbare "Auseinandersetzung
mit Natur, Macht und Tod." Der "Krieg sollte mit der
Technik gewonnen werden, aber eigentlich war die Technik das
Böse." Damit ist der Autor bei seinem Thema. Er knüpft an
Snow an und stellt innerhalb unserer Gesellschaft zwei antagonistische
Denkkulturen fest: während die geistig-literarische Kultur
Ideologien produziert und Sinn stiftet, bedient sich eigentlicher
"Vernunft" nur die empirisch-naturwissenschaftliche
Kultur. Bis hin zu den Arbeitsmethoden und Zeitschriften lebt
man aneinander vorbei. So gebe es zwei Anthropologien: eine
naturwissenschaftliche, die den Ideologen nur mit Mühe ihre
Hirngespinste über die Natur des Menschen ausreden kann, und
eine geisteswissenschaftlich-philosophische. Sie nimmt empirische
Resultate über den Menschen nur wahr, wenn sie in ihren ideologischen
Kram passen. Bei ihr "steht nicht die Breite und Vielfalt
des induktiven Wissens und seiner begründeten Methodik im Mittelpunkt,
sondern ein Quasi-Extrakt der 'Ansichten' hierüber und vor allem
normative Entwürfe", wie der Mensch sein soll: eine philosophische
Anthropologie. Auf den Erkenntnissen vom Menschen, wie er tatsächlich
ist, solle dagegen eine "naturwissenschaftliche Ethik"
aufbauen.
Haupthindernis
sind erkenntnishemmende Mechanismen: Für sie benutzt die Psychobiologie
den Terminus der Gruppenideologie. Diese fixiert einen Moralbegriff
anhand des Gruppeninteresses und errichtet Tabus um ihn. Motivation,
Wahrnehmung und Denkstrukturen des einzelnen werden von kollektiver
Indoktrinierung beherrscht. In diesen Fesseln befindet sich
der naturwissenschaftlich Aufgeklärte heute mindestens so
wirksam wie im NS. Er sieht sich umgeben von Sprach- und Denkverboten
und Tabus bis hin zu nur noch psychiatrisch erklärbaren Hysterien:
Adler nennt als Beispiel für sozialneurotisches Verhalten,
wenn man in antiquarischen Büchern aus der Zeit von 33-45 auf
Flohmärkten die Hakenkreuze durchgestrichen findet. "Die
Reaktionen erinnern an die des Neurotikers, bei dem durch
die bloße Vorstellung einer Berührung Waschzwang ausgelöst
wird, je stärker, desto weiter das Trauma zurückliegt."
Aus
aufklärerischer Sicht ist die VB gründlich schiefgegangen.
Die vom "Faschismus" Befreiten befinden sich in
den Fängen "antifaschistischer" Ideologen, deren
Tumbheit ihren Vorgängern in nichts nachsteht. Der "Antifaschismus"
ist der Schlüsselbegriff zum Verständnis eines Funktionsmechanismus:
Durch die Herrschaft über seine Anwendung wird Macht ausgeübt
und werden Tabus errichtet. Neurotisches ist leicht instrumentierbar:
"In der Psychiatrie und auch in Politik und Öffentlichkeitskultur
läßt sich mit Emotionalisierung Macht ausüben; die 'emotional
Erschütterten bleiben schön abhängig
...
. Die Priester der sog. Aufklärung entscheiden dann, wie
die Emotion zu dosieren ist, welche Fakten mitzuteilen sind,
wie man, was man vergleichen darf etc." Es gebe in jeder
Gesellschaft absolute Momente, die nicht in Frage gestellt
werden dürften, so etwa bei uns die FdGO. Gerade das juristische
Denken drücke Wertsetzungen aus und verbinde sich mit Macht
und Ideologie. Aufklärung heiße dagegen "jede Revolutionierung
der Erkenntnisstruktur gegen eine inhaltlich beliebige
Priesterherrschaft."
"Die
sogenannte Vergangenheitsbewältigung in Deutschland",
schrieb der Autor 1995 in der FAZ, "trägt alle Züge einer
kollektiven, ins Wahnhafte gehenden Umdeutung. Sachliche
Informationen über die Denkstrukturen, die den NS möglich gemacht
hatten, wären gefährlich für seine ideologischen Nachfolger.
Sie bedienen sich nämlich strukturell derselben Techniken.
"Es gibt eine bestimmte Form von 'Aufklärung', die sich
zum Vormund aufschwingt und 'pädagogisch' im normativen Gewand
tätig wird" und - "selbstverständlich - als 'Nebenprodukt
dabei Herrschaft gewinnt." "Fortschritt, Gesellschaft
und Demokratie" heißen ihre neuen Kultworte, die diejenigen
früherer Ideologien abgelöst haben. S.167
Gelingen
könne "Faschismusverarbeitung" nicht durch Neurotisierung
und Verdrängung. Wenn "der Mensch psychisch oder psychophysisch
erkrankt, so erkrankt er auch an dem Widerspruch zwischen naturhaft
gesehener Realität und dem Zwang der Gruppe, etwas anderes als
'Realität' bezeichnen zu müssen": Früher sollte er nicht
sehen, was naturhaft gesehen Mord war, und man bezeichnete ihn
etwa als Euthanasie. Auch heute sieht man nicht, was naturhaft
betrachtet Mord ist, und nennt es Schwangerschaftsabbruch.
Jede Kultur bilde ein ideologisches Eigenbewußtsein aus, durch
dessen Brille betrachtet das Naturhafte gewertet und uminterpretiert
wird. Solange die geistig-litararischen Kulturproduzenten
die Macht haben, uns ideologische Beruhigungsmittel zu
verpassen und unsere klare Sicht auf die Realität zu brechen,
so lange bleibt jedes "Nie
wieder!" scheinheilig. Wir sind gegenüber der NS-Zeit
keinen Schritt weitergekommen zum Ziel einer kritischen, naturwissenschaftlich-anthropologischen
Weltsicht. Es kann nicht nur wieder passieren - wir sind
schon mitten drin.
Um
hinauszugelangen, müssen wir erst einmal mitten durch die verdrängte
Vergangenheit hindurch. Gerade am Beispiel des NS ließe
sich die funktionale Seite der Herrschaft durch Ideologisierung
exemplarisch aufzeigen. Die 0-8-15-VB dagegen beschränkt sich
darauf, Zeichen zu setzen und Betroffenheiten zu wecken. Gerade
darin liegt ihre Strukturgleichheit zum NS: Es dominieren
normative Appelle über sachbezogene Vernunft. Faschismus
und Antifaschismus stehen auf derselben Seite der Barrikade!
Als Psychiater plädiert Adler dafür, sich bewußt "der
Emotionalität der Ereignisse auch von der faszinativen
Seite auszusetzen". Berührungs- und Vermeidungsängste
und die Struktur des Abwehrverhaltens müßten kognitiv-emotional
durchsichtig gemacht werden.
Nur so können die Triebfedern verstanden werden, die zum
NS geführt haben und im Antifaschismus heute noch wirksam
sind.
Eine
konsequent naturwissenschaftliche Aufarbeitung setze ein Weltbild
voraus, das von der alten Anthropozentrik Abstand nimmt. Unser
anthropologisches Erbe läßt uns nach weltanschaulicher Geborgenheit
suchen und die eigentlich wissenschaftliche Frage "Wie funktioniert das?" scheuen. Was funktioniert, ist
nicht länger heilig oder tabu. Eine neue, naturwissenschaftlich
fundierte Ethik müsse "alle bekannten Weltbilder, die
unserem persönlich ängstlichen Fühlen schmeicheln, indem sie
Gott, Welt und Menschen in einem Plan aufeinander beziehen,
außer Kraft setzen.
...
Solches zu ertragen, ist naturgemäß schwierig, da Weltbilder
gerade auf gegenteiligen Prinzipien aufgebaut sind.
Meinhard Adler, Vergangenheitsbewältigung in Deutschland, Peter Lang
Verlag, Frankf./M., 1990, 312 S., kart., 89 DM. ISBN 3-631-41611-3.