Erstpublikation: Junge
Freiheit 51/2001
Darf man einen anderen als “Nazi” bezeichnen? Die einfache
Frage führt über juristische Hochseilakte tief in das Gestrüpp von Sinn und
Unsinn dessen, was jeder vernünftige Laie uns Juristen als Wortverdreherei
ankreidet. Für die richtige Antwort kommt es darauf an: Sollte “Nazi” nur ein
beliebiges Schimpfwort ersetzen, oder war es als Meinung gedacht? Das erste
wäre eine strafbare Beleidigung, das zweite erlaubt. So macht sich strafbar,
wer seinen Thekennachbarn mit "Nazi" anbrüllt, weil der ihm ein
Bier über die Hose geschüttet hat. Klug beraten wäre der Gießer freilich, vor Gericht zu erklären, der Begossene
hätte ihm gerade erzählt gehabt, die Bundeswehr fände er dufte. Wenn das
"Nazi" nämlich möglicherweise ein Produkt meinenden Nachdenkens
war, ist es nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
(BVerfG) erlaubt.
Vor allem in öffentlich interessierenden Fragen spricht das
BVerfG sich in Zweifelsfällen immer für die Zulässigkeit der freien Rede
aus. Wenn es noch irgendeine noch so abwegige Möglichkeit gibt, eine Beleidigung
als politische Meinungsäußerung auszulegen, läßt es sie durchgehen. In politischem Zusammenhang darf darum praktisch jeder jeden als Nazi
beschimpfen, wenn dem Richter nur ernsthaft erklärt, er halte den Beschimpften
wirklich für einen Nazi.
Wenn vorgeblich “Rechte” beschimpft werden, halten sich die
Gerichte meist genau an den großzügigen Spielraum, den das BVerfG der Meinungsfreiheit
einräumt. Kritisieren aber “Rechte” ihre politische Konkurrenz, gehen die
Uhren in Gerichtssälen oft nach. So soll die Bezeichnung anderer als
"braune Ratten" nach dem LG Paderborn eine erlaubte Meinungsäußerung sein. "Rotlackierter Nazi" hält
dagegen für eine Beleidigung das LG Wiesbaden (1994).
Die Unitarier darf man nach Meinung des OLG Hamburg (1992) als
"Nazi-Sekte" bezeichnen. Aber "Altkommunisten im Geiste des Massenmörders Stalin" darf
man einen anderen nicht straflos nennen, urteilte das LG Mannheim (1996).
Als Faustregel gilt: Es beleidigt, wer den anderen bloß kränken
und in seiner Persönlichkeit treffen will. Wie viele Richter zu wissen
glauben, darf man bei “rechten” Äußerungen grundsätzlich davon ausgehen, daß
sie nur beleidigen wollen, wohingegen “linke” wohldurchdacht sind: Dem
Verteidigungsminister dürfen Linke darum nachsagen, er begehe durch Entsendung
von Soldaten ins Ausland eine Beihilfe zum Völkermord (OLG Naumburg 1994).
Auch dürfen sie Soldaten im allgemeinen als Mörder bezeichnen.
Eine Strafe wegen Beleidigung wegen Beleidigung verhängte
hingegen das AG Mannheim wegen eines Briefes eines “Rechten”, ein Staatsanwalt
habe “Gestapo-Methoden” angewandt. Das LG Aachen hielt es 1995 für verboten, den Düsseldorfer Innenminister
unter Berufung auf die Wortherkunft und den Brockhaus als “Terroristen"
zu bezeichnen, weil er Angst und Schrecken verbreite. Ein CDU-Minister durfte (OLG Düsseldorf 1986) nicht als Oberfaschist bezeichnet
werden. Generell neigen Gerichte zu engherziger Auslegung, wenn Behördenvertreter
kritisiert werden: Ein Oberstaatsanwalt gebe eine nationalsozialistische
Weltanschauung in erschütternder Deutlichkeit zu erkennen, durfte auch ein
medienbekannter Münchener Rechtsanwalt nicht sagen; über einen rechten Politiker hätte er es vermutlich straflos äußern dürfen.
Das LG Göttingen verbot, die Musikanten Böhse Onkelz eine "Neonazi-Band" zu nennen, das sei eine
Formalbeleidigung, weil es ersichtlich nur um Stimmungsmache und unsachliche Herabwürdigung jenseits jeden sachlichen
Inhalts gehe. Nach
Ansicht des BVerfG soll jeder Zweifelsfall zugunsten der Meinungsfreiheit
gelöst werden. "Im Zusammenhang mit Wahlkämpfen verstärkt sich diese Regel zur"
so genannten "Supervermutungsformel", wonach gegen "das Äußern
einer Meinung nur in äußersten Fällen eingeschritten werden darf."
Dabei wird das Gericht häufig der persönlichen Ehre nicht gerecht, die als
Ausfluß der Menschenwürde gleichen Verfassungsrang besitzt. Man darf sogar
Polizeibeamte als “abkassierende Bullen” bezeichnen, wenn nicht auszuschließen
ist, daß dies nicht den einschreitenden Beamten persönlich galt, sondern der
Polizei im allgemeinen.
Lüge oder erlaubte
Meinung?
Zentrale Bedeutung in der politischen Auseinandersetzung mit
journalistischen und juristischen Mitteln hat die Frage, ob Gegner mit Lügen bekämpft
werden dürfen. Juristisch kann jede ehrenrührige, falsche Tatsachenbehauptung
mit vielerlei Mitteln unterbunden werden. So verboten Gerichte Zeitungen Lügen
wie: ein Republikaner-Schatzmeister sei mit der Kasse durchgebrannt,
Schönhuber habe die Juden Stinker genannt, gegen die man schärfer rangehen
müsse, Republikaner hätten zu Brandanschlägen geschwiegen und viele andere mehr. Ein Mitglied der Potsdamer SPD durfte nicht behaupten,
in einer Zeitung würden "immer wieder Stimmen laut, die die Rückeroberung
von Ostpreußen und Oberschlesien fordern."
Hingegen können Meinungen nicht verboten werden: Norbert Blüms
Republikaner seien "Schreibtischtäter der Gewalt" ist, ebenso eine Meinung ohne nachprüfbaren Tatsachengehalt wie: sie seien
rechtsextremistisch, sie seien neonazistisch und so fort; ja sogar für kommunistisch
dürfte man sie öffentlich halten. Nach dem BVerfG ist jede Meinung durch Art.5
Grundgesetz geschützt, mag sie noch so falsch oder dumm sein.
Falsche Pressebehauptungen unterscheidet man von erlaubten
Meinungen dadurch, daß man Beweis über sie erheben könnte: Ob jemand wegen
Verstoßes gegen das Waffengesetz vorbestraft ist, läßt sich im Gerichtssaal
überprüfen; ob er ein “stadtbekannter Neonazi” ist, hingegen nicht. Das erste
wurde durch Gerichtsbeschluß untersagt, das andere darf weiterhin gemeint werden.
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Neuerdings schützt der BGH auch gegen verdeckte Behauptungen:
Wenn die Presse zutreffend behauptet, ein Bischof habe die Abtreibung seitens
einer kirchlichen Mitarbeiterin nicht verhindert, steckt darin eine verdeckte
Falschbehauptung, wenn der Bischof gar nichts von der Schwangerschaft wußte.
Unsere Presse ist stets trickreich darin, einen falschen Eindruck zu erwecken,
ohne sich auf der Formulierung festnageln zu lassen. Als Meinung ließ der BGH
durchgehen, ein Manager wisse, wie man gekonnt pleite macht (was er aber tatsächlich
noch nie gemacht hatte),
und das OLG Hamburg (2000) erlaubte, jemand sei "Multifunktionär mit einschlägiger
brauner Sektenerfahrung". Nach Horst Sendler, dem ehemaligen Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts,
bietet die Rechtsprechung des BVerfG "hilfreiche Hinweise, Invektiven
mit einem Rest von Zweideutigkeit so zu formulieren, daß sie für jeden Kenner
eindeutig diffamieren, aber liebevollen Interpreten - so auch dem BVerfG -
die Chance lassen, dem Schmäh dank seiner zweideutigen Eindeutigkeit eine
eindeutige Zweideutigkeit zu unterschieben."
So hatte ein Strafgefangener das OLG Nürnberg in einem Brief
als "Reichsparteitags-OLG" bezeichnet. Als die Justiz den
(kontrollierten) Brief anhielt, sah das BVerfG darin eine unzulässige Beschränkung
der Meinungsfreiheit: Schmähabsicht sei keineswegs zwingend: "Die
beanstandete Äußerung kann objektiv auch dahin verstanden werden, daß die vom
Gefangenen als unerfreulich empfundene, von ihm auf die Rechtsprechung des
OLG Nürnberg zurückgeführte eigene Situation gewissermaßen in Parallele gesetzt
ist zu der Bedeutung, die der Sitzort des Gerichts in der unerfreulichen Geschichte
des Nationalsozialismus hatte."
Die Abgrenzung zwischen noch erlaubter Meinungsäußerung und
verbotener Schmähung gerät zum fragwürdigen Glücksspiel, zumal wenn ein
Geschädigter beim Gericht keinen Sympathiebonus hat. Warum darf man über den
Leiter einer Kommunalverwaltung (zurecht) nicht sagen, er sei die
"allergrößte Pfeife" wohingegen unter dem Schutz der Meinungsfreiheit zulässig sein soll, ein Fußballtrainer
sei eine "linke Bazille"? Manchmal hilft in diesem Glücksspiel der Genius
loci: So half er 1998 dem Adenauer-Sohn und -Erben: Das OLG Köln verbot
den Republikanern die Wahlkampfwerbung, wenn Konrad Adenauer noch lebte,
würde er Republikaner wählen. Auswärtige Gerichte, z.B. in Mainz und München, hatten das anders gesehen. In
der Heimatstadt des lokalen Säulenheiligen aber waren die die Gerichte nicht
davon zu überzeugen, daß hier eine Meinungsäußerung par excellence vorlag.
Ohne Anwalt chancenlos
Wer gerichtliche Hilfe in Anspruch nehmen will, ist bei unserem
hochgezüchteten Presse- und Prozeßrecht ohne spezialisierten Anwalt chancenlos.
Für Landgerichtsprozesse herrscht ohnehin Anwaltspflicht. Als Faustregel
gilt: Nachfrage beim Anwalt lohnt sich, wenn die beanstandete Pressemeldung
so unerträglich ist, daß es auf ein vierstelliges Prozeßrisiko nicht entscheidend
ankommt und wenn sie entweder eine beleidigende Schmähung oder eine Falschbehauptung
enthalten könnte. Die meisten Zeitungen arbeiten so professionell, daß viele
gerichtliche Fälle Grenzfälle ohne sicher voraussagbaren Ausgang sind.
Wenn die Presse Falschbehauptungen oder Beleidigungen
veröffentlicht, kann sie gerichtlich durch einstweilige Verfügung auf Unterlassung
verklagt werden. Die Kosten trägt immer der Verlierer des Prozesses. Wenn eine
untersagte Pressebehauptung in der Öffentlichkeit fortwirkt und den Ruf
schädigt, kann gerichtlich ein Widerruf oder Veröffentlichung der
einstweiligen Verfügung durchgesetzt werden. Einstweilige Verfügungsverfahren
dauern nur Wochen und sind damit sehr schnell. Mit ihnen kann vorläufig Unterlassung
der Pressebehauptung oder Veröffentlichung einer Gegendarstellung durchgesetzt
werden.
Prozesse über alle anderen Ansprüche dauern Monate. Wer sich
langfristig in der politischen Arena behaupten will, muß der Presse von Anfang
an die Zähne zeigen und jede Verletzung seiner Rechte durchprozessieren,
sonst wird er zum Freiwild. Erst wenn die Platzhirsche der jeweiligen Lokalpresse
ihren ersten Dämpfer bekommen haben, beginnen sie auch bei Artikeln über
"Rechte" sauber zu recherchieren. Gegendarstellungen allein
schmerzen sie ebensowenig wie bloße Unterlassungsansprüche. Müssen sie aber
einem Geschädigten Schmerzensgeld bezahlen oder gar in ihrem eigenen Blättchen
ein gegen sie gerichtetes Unterlassungsurteil veröffentlichen, tut ihnen
das ebenso weh wie es einem Geschädigten, der sich in der Presse dauernd
wehrlos beschimpfen lassen mußte.
10000 DM Schmerzensgeld mußte 1997 eine Zeitung einem als
Neonazi beschimpften, harmlosen Junge-Union-Jüngling zahlen; 5000 DM kostete es, jemand sei Stasimitarbeiter gewesen und 50000 DM die falsche Fernseh-Verdächtigung, an Drogengeschäften beteiligt
zu sein - alles beweisbare Falschbehauptungen mit bleibenden Persönlichkeitsrechtsverletzungen.
Nicht jede Verletzung zieht aber ein Schmerzensgeld nach sich. Da wurde einem
oft vorbestraften (tatsächlichen) Neonazi eine politische Straftat nachgesagt,
die er nicht nachweisbar begangen hatte. Der Focus muß dies bleiben lassen und
das Unterlassungsurteil veröffentlichen - aber Schmerzensgeld? Das ist hier ebenso fraglich wie bei der ehemaligen
Prostituierten am Steuer ihres Sportwagens, leicht überfordert im Straßenverkehr,
der ein wildfremder, erzürnter Busfahrer aus dem Fenster zurief:
"Kannst du nicht aufpassen, du alte Nutte!" - Ich riet ihr von einer
Schmerzensgeldklage ab, und auch die für eine Unterlassungsklage erforderliche
Wiederholungsgefahr bestand nicht nach dieser eher einmaligen Verkehrssituation.
Nur bei schwerwiegenden Persönlichkeitsrechtsverletzungen gibt
es Schmerzensgeld. Vor Gericht hat eine von Papparazzi heimlich nackt fotografierte
und abgebildete Prinzessin Chancen auf sechsstelliges Schmerzensgeld. Im politischen Raum hingegen gilt: Wer selbst in Reden austeilt, muß mehr einstecken.
Zu weit ging 1993 das Magazin PRINZ, als es Portraits u.a. eines unbescholtenen
Publizisten mit dem Text veröffentlichte: "Die Augen des Bösen -
Rostock, Mölln, rechter Terror... Man kanns schon nicht mehr hören, aber was
kann man tun? [...] Prinz übergibt die vorliegende Liste der
Staatsanwaltschaft. Mit der dringenden Bitte um Haftbefehle. Höchststrafe für
Volksverhetzung: 5 Jahre".
Prozessuale Stolpersteine
Nicht jeder rechtswidrige Eingriff in das Persönlichkeitsrecht
zieht nämlich Ansprüche nach sich, und wenn, dann muß man diese zügig verfolgen.
Wer in der Tagespresse geschmäht wurde und eine einstweilige Verfügung
beantragt, muß dies auch binnen Tagen tun, sonst hat auch der Richter keine
Eile: Dann weist er den Antrag auf einstweilige Verfügung kostenpflichtig ab
und läßt dem Geschädigten nur die gewöhnliche Klage. Entsprechendes gilt bei
wöchentlichen und monatlichen Zeitungen. Weil im politischen Geschäft nach
Monaten vieles vergessen ist, muß ein Geschädigter praktisch immer sofort
reagieren, wenn er überhaupt etwas erreichen will.
Solche Probleme vermeidet, wer spätestens nach zwei oder drei
Tagen die komplette Zeitungsseite und das Impressum seinem Anwalt schickt
und diesen zugleich darüber informiert, durch welche falsche Behauptung
oder welche Beleidigung er seine Rechte verletzt glaubt. Verletzter ist
jeder, auf den sich die Presse namentlich oder klar identifizierbar bezieht.
Nicht verletzt ist dagegen Lieschen Müller, wenn die Bildzeitung titelt,
Nazis hätten Joseph ertränkt, und sie ist selbst dann nicht persönlich in ihren
Rechten betroffen, wenn sie sich selbst für einen Nazi hält.
Alle verschiedenen Ansprüche, auf Unterlassung, Widerruf,
Gegendarstellung und Schmerzensgeld, darf der Geschädigte gegebenenfalls
nebeneinander erheben. Ihre Voraussetzungen und Rechtsfolgen sind verschieden:
Der Unterlassungsanspruch stoppt schnell mit einstweiliger Verfügung die
weitere Verbreitung. Im späteren Hauptsacheverfahren kann verlangt werden,
daß die Presse den Tenor der gerichtlichen Unterlassungsverfügung - auf
ihre eigenen Kosten und gleichsam zu ihrer Schande - auf derselben redaktionellen
Seite veröffentlicht wie ihre Falschmeldung. Dieser Anspruch setzt, ebenso
wie der Anspruch auf Widerruf, den Beweis voraus, daß die Presse etwas Falsches
behauptet oder durch Schmähung beleidigt hat.
Nicht nötig ist dieser Beweis für den Anspruch auf bloße
Gegendarstellung, einem im Grunde zahnlosen, formal hochkomplizierten
Anspruch. Zahnlos ist er, denn die Presse vergibt sich nichts, wenn sie mit
hämischen Bemerkungen druckt, was ein Betroffener wider sie behauptet. Wer die
Wahrheit sagt, bleibt für den Leser offen, und er mag über den Gegendarstellenden
vermuten: Wer sich verteidigt, klagt sich an. - Das Gegendarstellungsrecht
ist für Betroffene mit einer Überfülle formeller Schwierigkeiten befrachtet.
Jedes Bundesland hat sein eigenen Landespressegesetz mit zum Teil unterschiedlichen
Fristenregelungen. Das Hauptproblem für Laien ist es, daß nur falschen Tatsachen
gegendargestellt werden können, und kein Wort mehr. Ich schätze, daß 95%
laienhafter Gegendarstellungen unter schon formellen Mängeln leiden und
von der Presse ohne Risiko in den Papierkorb gesteckt werden können. Aber wer
sich schon für die Formulierung der Gegendarstellung einen Anwalt nimmt, muß
seine Kosten dafür selbst bezahlen, wenn der Anwalt erfolgreich außergerichtlich
eine Gegendarstellung plaziert. Anders als Unterlassungsansprüche setzt die
Gegendarstellung nämlich keine Rechtsverletzung durch die Presse voraus.