Klaus Kunze
- Publizierte Zeitungsartikel (Auswahl) -
 

Fukuyamas Rückzugs­gefechte

von Klaus Kunze

(Publikation: Junge Freiheit 51/1994)

 

Während deutsche Piloten erstmals seit 50 Jahren den möglichen Kampfein­satz über Bosni­en proben, rücken russi­sche Panzer im Kaukasus vor. Das Ge­sicht des Krieges hat sich im 20. Jahr­hundert ständig gewandelt. Der völker­recht­lich gebändigte Ka­binetts­krieg und das ritter­lich-sports­mä­ßi­ge Kavaliers­den­ken von Offizieren ver­schwan­den samt säbel­schwingenden Rei­ter­at­tacken hin­ter dem Horizont der Welt­kriege und ihren Mate­rialschlachten. Deren Ultima ra­tio, das absolut Zer­störeri­sche der Atom­bom­ben­ab­würfe über Japan, ver­moch­­ten kei­nen Schlußpunkt unter das Phä­nomen Krieg zu setzen. An Stelle des offi­­ziellen Staa­tenkrieges nebst Genfer Kon­­vention und Rotem Kreuz traten der Stell­­vertre­ter­krieg, der un­erklärte Busch­krieg und der Bürgerkrieg - im Durch­schnitt drei Krie­ge jährlich seit 1945. An der Schwelle der Jahrtausendwende wird die Zukunft des Krieges zum viel­dis­ku­tier­ten Thema.

Im FAZ-Magazin vom 16.12.1994 äu­ßerte sich der Japano-Amerikaner Francis Fukuyama auf fünf Seiten zur "Zukunft des Krieges"; der­sel­be Fuku­yama, der 1989 mit seiner These vom Ende der Ge­schichte und dem Sieg des Libera­lismus hervorgetreten war. Es lohnt sich allemal für Deutsche, sehr ge­nau hinzuhören, wenn ame­rikani­sche Vordenker des Libe­ralismus sich räus­pern. Wir verdan­ken Armin Mohler den Hinweis darauf, daß Fukuyamas Den­ken gegen­über sei­nem Mentor Alexander Kojève (alias Ko­sche­wni­kow) wenig Neu­es bietet. Dieser hatte in Anleh­nung an He­gel das Ende der Ge­schichte und mit ihr der Kriege und bluti­gen Revo­lu­tionen in ei­nem Weltstaat ge­fordert und pro­phezeit. Da das Ende der Geschichte und der Krie­ge seit 1989 aber of­fenbar ausgeblieben ist, sah sein Jünger Fuku­ya­ma sich in Erklä­rungsnot­stand:

Drei Meinungen stehen ihm zufolge ein­ander gegenüber: Die makroskopische Kriegs­­theorie Kis­singers, Brzezinskis und des Harvard-Lehrers Huntington, die mi­kroskopische "Chaostheorie" des Ameri­ka­ners Robert Kaplan und des Deut­schen Hans Magnus Enzensberger und - seine, Fukuyamas Meinung. Die erste, traditio­nelle An­sicht extrapoliert die Zukunft aus der Ver­gan­genheit und erwar­tet, die ge­wohnten nationalstaat­li­chen Macht­kon­flik­te wür­den sich fort­entwickeln zum Zusam­men­prall zwi­schen den großen Zivili­sati­onskreisen der Erde. Folge man Hunting­ton, habe sich eine "islamisch-konfuziani­sche Achse" gegen den We­sten als gemein­samem Feind gebil­det. Der Bos­ni­enkonflikt trage prototypisch alle Züge der kommen­den Zivilisationskon­flikte. Rea­listen wie Kissin­ger freilich sä­hen das in­ter­na­tio­na­le Leben jenseits der ideologischen oder mo­ra­lischen Einklei­dung als unbarm­her­zi­gen Kampf um die Macht. So seien Deutsch­land und Japan nach Kissinger schon allein deshalb be­drohlich, weil sie Macht hätten, ganz gleich, ob sie nun kai­ser­lich, demo­kra­tisch, sozialistisch oder national­sozia­li­stisch verfaßt seien.

Dagegen sieht eine zivilisationskri­ti­sche Denk­schule, deren deutscher Expo­nent Hans Magnus En­zensberger ist, die Zu­kunft als Bühne gang­stermäßig orga­ni­sier­ter Kleinstbürgerkriege. Un­ter der Ebene handelnder Großkollektive werden aggres­sive junge Männer das Geschehen bestim­men. Jeder U-Bahn-Wagen kann zum Bos­nien en miniature werden. Die selbst­zerstö­re­rische Ag­gression braucht keinen Anlaß, kei­nen Sinn und kein Ge­sicht. In einer Welt, durch die lebende Bomben ir­ren, bleibt Enzensberger zu­folge nur die Hob­bes­sche Vorstellung des Krieges aller ge­gen alle übrig. Er wird ermög­licht und be­glei­tet vom Zusam­menbrechen staat­li­cher In­stitutionen wie im Kaukasus und So­ma­lia.

Vorläufig muß Fukuyamas zugeben, daß die Vision eines zukünftigen Krie­ges, der klein und schmutzig geworden ist, die Rea­li­tät der Gegen­wart recht präzise be­schreibt. Aber "trotz der In­sta­bilität und klei­ner Kriege der vergange­nen Jahre" hält Fu­kuyama seine Hypo­these vom En­de der Ge­schichte für gül­tig. Angesichts der nicht zu bestreitenden realen Gegen­wart schiebt er nur sein En­de der Ge­schichte ein wenig in die Zu­kunft: "Kurzfristig wird der größte Teil der Welt auf ge­nau diesel­be Weise funk­tionieren wie im vorigen Jahr­hundert." Mit dem ei­nen vi­sionären Auge sieht Fu­ku­ya­ma die internationa­len Kon­flikte zu­neh­mend nicht militärisch, son­dern wirt­schaft­lich ausgetragen. Das 21. Jahr­hun­dert wer­de von öko­nomischen, nicht mehr von mi­li­tä­rischen Strate­gien ge­prägt wer­den. Mit dem anderen visionä­ren Auge blickt er aber "zu einer Gruppe von Krie­gen, die tat­säch­lich die hart­näckigsten und ge­fährlichsten sein wer­den: jene zwischen den in­du­striel­len Demokratien und der gro­ßen nicht­de­mo­kra­tischen Welt. Die bei­den pro­mi­nen­te­sten Kan­didaten" seien offen­sichtlich Ruß­land und China.

So kommt eine eigenartig schlielende Zu­­kunftsvision zustande, die am Ende of­fen­bar auch Fuku­yama aufgefallen ist. Darum verengt er nunmehr das Ende der Ge­schichte auf "die höch­stentwickel­ten Län­der" und ihr "Modell von Kapi­talis­mus und liberaler Demokratie". In ih­nen hat sich das Ende schon manifestiert, weil die­se durch internationale Organi­sationen und Struk­turen viel­fach vernetzt sind und kei­nen Vorteil aus einem mili­tärischen Ge­gen­ein­ander mehr ziehen. In ih­rem In­nern lau­fen die Interes­sengegen­sätze näm­lich mitt­ler­weile quer durch die Staatsgrenzen: Auf der einen Seite ste­hen die wohl­ge­bil­de­­ten Eli­ten und profitieren von der Han­dels­li­be­ra­lisie­rung, auf der anderen Seite fürchtet die arbeitende Be­völkerung das Lohn­dum­ping als Konse­quenz des glo­balen Marktes.

Der Sinn von Fukuyamas Thesen und sei­ne Leistung besteht darin, die Sub­li­mie­rung des Krieges im ökonomi­schen Wett­be­­werb, also die klassische Strategie der USA, zur globalen Ver­hal­tens­regel des 21. Jahrhunderts zu erklären. Durch­ge­setzt hat sich im Wettbewerb nämlich erst, wer seine Macht normativ begründet und sei­nen Gegner zur Anerkennung derjenigen Nor­men bewegt, deren Gel­tung die Macht weiter stabili­siert. Der Zweck von Fuku­yamas Prophezeiung be­steht darin, daß sie sich selbst erfüllen soll. In einer Welt, die von ausschließlich ökonomischen Gesetzen beherrscht wird, ist der militärische Streit sinnlos und fällt selbstzerstörend auf ihren Urheber zu­rück; ebenso wie umgekehrt in einer von militärischen Gesetzen erfüllten Welt der bloße Händler nach Nachsehen hat und wie in ei­ner von göttlichen Ge­bo­ten er­füllten Welt der Ketzer nichts zu melden hat. Das Ende der Ge­schichte und die Heraufkunft einer "friedlichen" Han­dels­epoche auszurufen bedeutet also nichts anderes, als den Machtanspruch derjeni­gen kon­kreten Menschen und Menschen­grup­pen an­zu­melden, die ihre Stärke und ihren Vorteil in einer Welt­ordnung sehen, die allein unter handels­mäßi­gen Gesetzen steht.

Fukuyamas Vision ist und bleibt Rea­li­tät, wo die Machtträger dieser Welt sich freiwillig oder un­freiwillig an diese Spiel­re­geln halten. Sie müs­sen das nicht gleich aus Furcht vor US-Atom-U-Boo­ten - ein paar Hubschrauber über dem Re­gie­rungs­pa­last einer Bananen­republik genügen ge­wöhn­lich. In fort­geschrittene­ren Ländern ist selbst das nicht nötig: Hier vermag man ein anderes als das Händler­ethos schon gar nicht mehr ohne Gru­seln zu denken. An­ders außerhalb der westlichen Wertschöp­fungsgemein­schaft: Diese eig­net sich of­fenbar hervor­ragend dazu, mit­telfristig den materiellen Wohlstand der westlich gepräg­ten In­dustriestaaten zu si­chern. Unter den Ge­setzen ei­nes globalen Marktes verwan­deln sich die Güter aller Nationen in käuf­liche Waren.

Dadurch könnten sich andere Völker aber ein­mal benachteiligt sehen und die li­bera­len Spielre­geln mit ihrem Aus­schluß kriegerischer Gewalt als benach­teiligend an­sehen. Wir wissen vor allem nicht, wie Menschen in Asien, Afrika und Latein­amerika überhaupt langfristig ihr Inter­esse defi­nieren wer­den. Blutige Er­fah­rungen vom 30jährigen Krieg bis zu den ideologi­schen Ausrot­tungskrie­gen des 20. Jahrhun­derts lassen es dem We­sten tun­lich schei­nen, dieses Interesse auf öko­nomische Fra­gen zu beschränken. Darin liegt eine Wert­ent­scheidung, die philoso­phisch zum Li­be­ra­lismus, wirt­schaftlich zum Kapitalismus und poli­tisch zum Parlamentarismus führt. Es ist aber nicht die einzig mögliche Ent­schei­dung, und öko­no­misch abgehängte Kol­lektive kön­nen durchaus andere ethi­sche Grund­hal­tungen einnehmen. Der is­lami­sche Got­tesstaat, das kommunistische China oder der völkisch defi­nierte Natio­nalstaat sind konkrete andere Optionen. Die Zu­kunft hängt davon ab, in wel­chem Aus­maße sich welches Or­ganisati­ons­mo­dell kollek­tiven Han­delns unter den Be­din­gungen einer ressour­cen­knappen Zehn­mil­li­ar­denwelt als erfolgreich er­wei­sen wird.

Die brisante Zukunftsfrage besteht al­so darin, ob konkrete Kollektive bereit sind, notfalls unter Aufbietung der dazu geeig­ne­ten religiösen, na­tio­nalen oder ideolo­gi­schen Mythologeme, sich als Gottes­staat oder Nation oder Klasse zu defi­nie­ren und in deren Namen zu han­deln, also zu leben und zu sterben. Das wird der Fall sein, wenn und so­weit die­ses oder je­nes Kollek­tiv den Gottesstaat oder die Nation oder die Klasse oder et­was ganz Neues als die beste Organisati­ons­form begreift, ihre In­teressen zur Gel­tung zu bringen und durch­zusetzen.