Klaus Kunze
- Publizierte Zeitungsartikel (Auswahl) -
 

Kon­zeption und Realität der Ge­waltenteilung

(Publikation: Staatsbriefe 11/1993)

 

Mit den Klagen zum Bundesverfas­sungs­gericht gegen den Vertrag von Maastricht ist auch das Verfassungs­prin­zip der Ge­waltentei­lung wieder in das Blickfeld der Öffentlichkeit gera­ten. Im Mai 1993 fragte das ARD-Fern­sehen den Außen­mini­ster Kinkel (FDP), es lasse sich doch mit der Ge­waltenteilung nicht vereinba­ren, wenn Euro-Ge­setze von Re­gie­rungs­beamten in Brüssel gemacht würden? Die in der Frage steckende Be­hauptung blieb unwidersprochen.

 

Weniger offenkundig als in Brüssel ist die Zu­sammenballung von Regie­rungs- und Ge­setzge­bungszuständig­keit in den­selben Hän­den in Deutsch­land. Zwar war die Idee einer Gewal­tentei­lung weder von ihren Erfindern noch von der spä­teren Staatsrechts­lehre je als lupen­rein durch­zuhal­tendes Ideal gedacht ge­wesen, son­dern nur als eines von mehre­ren Prinzi­pien für ei­nen sinn­vollen Staatsaufbau, die sich teils gegenseitig wi­dersprechen und da­her immer nur ge­gen­einander ab­gewo­gen, nie aber ein­schränkungslos ver­wirk­licht wer­den können. Aber heute ist die Ursprungs­idee der Gewaltentei­lung in Deutschland so ver­fälscht, ver­fremdet und durch die Wirkkräfte des Partei­enstaats außer Kraft gesetzt, daß der Be­griff ehrli­cherweise keine An­wendung auf das Bonner Sy­stem fin­den sollte.

I . Idee und Grundkonzeption

Gewöhnlich wird zur Begründung der Ge­wal­tenteilungslehre ein ziemlich bana­ler Satz ange­führt, für den man meistens den engli­schen Staats­philoso­phen John Locke zitiert: Es wäre ge­fähr­lich, wenn die Behörde, welche die Gesetze erläßt, sie auch selbst aus­führt. Das wäre eine zu große Versu­chung für die menschliche Machtgier. Des­halb darf weder der Fürst als Haupt der Exekutive noch das Parla­ment als Gesetzgebungsorgan alle staat­li­che Macht in sich verei­nigen. Viel­mehr müssen die staatlichen Be­fugnisse durch ein ge­setzliches Verfas­sungswerk auf un­ter­schiedliche Organe verteilt wer­den. Wo dage­gen die Machtbe­fugnisse nicht durch Verfas­sungsgesetz aufgeteilt, son­dern in einer Hand vereint sind, liegt eine Dik­tatur vor.

 

Gegen eine Diktatur sind gewöhn­lich am ent­schiedensten jeweils diejeni­gen, die von der Machtausübung aus­geschlos­sen sind. Sobald sie selbst an ihr teilha­ben, finden sie weniger daran auszuset­zen. Da die mögliche Teilhabe an der Macht aber ein wesentliches Moment der mensch­li­chen Grundbe­dürfnisse nach Freiheit und Domi­nanz ist, wird ein Volk, das es sich in einer histori­schen Situation leisten kann, immer ein System wählen, in dem es nicht einer einzi­gen, unum­schränkten Macht unterworfen ist.

 

Daher bevorzugte schon die römi­sche Re­publik in Friedenszeiten statt eines Dikta­tors lieber zwei sich gegen­seitig mäßi­gende Kon­suln als Regie­rung sowie Volksversammlung und Senat für die Ge­setzgebung. Ein Dikta­tor wurde nur in Zeiten schwerer Not und höch­stens für sechs Monate er­nannt. Mit dem En­de des Mittelalters nahm man im Europa der Renaissance dieses Grundkonzept ge­danklich wie­der auf, nachdem das mit­telalterli­che Lehnswesen durch den zur Absolutheit nei­genden Fürstenstaat abge­löst wor­den war. John Locke lebte 1632-17o4 und berücksich­tigte vor allem hi­stori­sche Erfahrungen aus der Zeit des Langen Parlaments und ih­res Ge­gen­sat­zes zwi­schen Krone und Parlament. Er unterschied die gesetzgebende Ge­walt, al­so die mit der Aufstel­lung all­gemeiner Regeln betraute, von der exe­kuti­ven und der födera­tiven Gewalt. Letztere befaßt sich mit den auswärti­gen Angelegenhei­ten und der Sicher­heit des Lan­des. Die Gesetzgebung wollte Locke zwischen dem Parlament und dem König im Par­lament aufgeteilt wissen, wie es dem überliefer­ten engli­schen Verfassungs­recht gemäß war. Die exe­kutive und die föde­rative Ge­walt schrieb er einzig dem Kö­nig und sei­nem Rat zu.

 

Wesentlich für Locke ist also die Tren­nung zwischen der Gesetzgebung und der ausfüh­renden Gewalt, weil die Frei­heit leide, wenn die Gesetze von demsel­ben Menschen ge­schaffen und an­ge­wandt würden. Wo immer diese beiden Gewal­ten vereint seien, konnte es nach bald über­einstim­mender Mei­nung des 17. und 18.Jahrhunderts keine Freiheit geben. Charles-Louis de Montes­quieu (1689-1755) entwickelte diese Lehre weiter zu der Gewal­tentei­lungslehre in ihrer heute be­kannten Form, indem er die Lockesche exeku­tive und föderative Gewalt zu einer neue Exekutive zu­sammenfaßte, der Le­gislative gegenüber­stehen ließ und den Dreiklang durch eine un­abhängige Recht­sprechung wieder herstellte.

 

Heute ist von Montesquieus Lehren vor­nehm­lich der Grundgedanke an­wend­bar ge­blieben: Die Idee, dem Bürger mög­lichst viel Sicherheit zu ge­ben, in­dem die Staatsbefug­nisse auf verschie­dene Häup­ter verteilt wer­den. Sobald in ein und der­sel­ben Person oder Beamten­schaft die le­gislative Be­fugnis mit der exekuti­ven ver­bunden wird, gibt es keine Frei­heit. Zum Verständnis der Funktion der Ge­wal­tenteilung muß zwischen die­sem Grundge­danken und seiner damals zeit­gemä­ßen praktischen Anwendung unter­schieden werden. Zum einen wa­ren die Aufgaben des Staates damals wesent­lich andere. Von einer so umfas­send in alle Lebensbe­reiche hinein­re­gierenden Ver­waltung wie heute konnte damals keine Rede sein.

 

Vor allem aber gab es im 18. Jahr­hundert an­dere gesellschaftliche Macht­faktoren als heute. Während heute machtvoll or­ganisierte Interes­sen­grup­pen, Parteien und Massenme­dien den Ton an­geben, hatte Montes­quieu als Mächtige den Kö­nig, den Adel und das Bür­gertum vorge­fun­den. Diesen Gruppen ver­suchte er die ein­zelnen staatlichen Machtbe­fug­nisse zu­zuordnen, die soge­nannten Ge­wal­ten: Adel und Bürgertum sollten, in Vertre­tungskörperschaften or­ganisiert, ge­mein­sam die Gesetze ma­chen, gegen die der König nur ein Ein­spruchsrecht hatte. Die Rich­ter sollten jährlich aus der Menge des Volkes aus­gesucht wer­den.

 

Weil die gesellschaftliche Realität und ih­re Akteure sich grundlegend ge­wandelt haben, kön­nen Montesquieus Zuordnun­gen der Be­fugnisse zu be­stimmten Grup­pen nicht mehr so funk­tionie­ren. Seine Grundidee kann daher heute nur sinnge­mäß auf die Machtfak­to­ren der heutigen Ge­sellschaft ange­wandt werden.

 

Der gedankliche Kern der Trennung von Be­fugnissen und der Aufteilung der Macht drückt sich in Inkompatibili­täten aus, das heißt dem Ver­bot, nach dem ein und dieselbe Person nicht gleichzeitig zwei verschiedene Gewal­ten innehaben oder an ihnen teilhaben darf. Das ent­spricht voll der heute gängigen Staats- und Verfassungslehre und ist im Grund­gesetz, auf einzelne Personen be­zogen, verwirklicht. So ist bekannt, daß es ge­setzli­che Verbote der gleichzeitigen Zu­gehörigkeit zu mehre­ren Gewalten gibt. Montesquieu hatte das Verbot aber aus­drücklich weiter ge­faßt und auch mit der Freiheit für unvereinbar erklärt, wenn ver­schiedene Einzelper­sonen aus "derselben Beam­ten­schaft" mehrere Ge­walten inne hät­ten. Mit Be­dacht hatte er jede der Staatsfunktionen einer be­stimm­ten, in sich als weitgehend homogen vor­ge­stellten gesell­schaftlichen Gruppe zu­geordnet, bei­spielswei­se die Gese­tzge­bung derjenigen Kammer, die aus dem Bürgertum hervorgegangen war und ei­ner anderen aus dem Adel. Keiner dieser Grup­pen gehörte der König als Haupt der Exekutive persönlich an. Montesquieu hätte sich nicht einfal­len lassen, Perso­nen aus ein und derselben Grup­pe, etwa dem Adel, gleichzeitig die Exekutive und die Mitwirkung an der Gesetzgebung an­zu­ver­trauen. Er be­tont mehrfach, daß nicht nur ei­ne Einzelper­son keinesfalls Einfluß auf mehr als eine Staatsgewalt gleichzei­tig haben darf, son­dern daß auch ein und dieselbe Personengruppe ("Beamten­schaft") nicht mehrere Staats­befug­nisse besetzen dürfe: "Alles wäre verloren, wenn ein und derselbe Mann bzw. die gleiche Kör­perschaft ent­weder der Mäch­tigen oder der Adli­gen oder des Volkes alle drei Macht­vorkom­men aus­übte".

 

Als negatives Beispiel schildert Mon­tes­quieu die Situation in den ita­lieni­schen Re­publiken sei­ner Zeit: "Die glei­che Be­amten­schaft hat als Aus­füh­rer der Ge­setze alle die Befugnisse, die sie sich als Gesetzgeber selbst verlie­hen hat. Sie ver­mag den Staat durch ih­ren Willen zu ver­hee­ren. Da sie auch noch die richter­liche Gewalt innehat, vermag sie jeden Bürger durch ihre Son­derbeschlüsse zu­grun­de­zurichten. Alle Befugnisse bilden hier ei­ne ein­zige. Obwohl hier keine äu­ßere Pracht ei­nen despotischen Herrscher ver­rät, bekommt man ihn auf Schritt und Tritt zu spüren."

 

Dieser Zustand herrscht heute auch in Deutschland und ist eine der beiden ent­schei­den­den Einbruchstellen des Partei­enstaats in die ge­waltenteilende Verfas­sungsordnung, die deshalb, je­denfalls im klassischen Sinne, nicht mehr funk­tio­niert. Dem englischen Vorbild folgend sind die gesetzgebende Gewalt und die Spitze der Exeku­tive in Bund und Län­dern nämlich in dop­pel­ter Weise mitein­ander ver­schmolzen:

 

1. Nach Art.63 und 67 GG wird der Kanzler vom Bundestag gewählt und kann von ihm jeder­zeit durch einen an­de­ren ersetzt werden. Durch diesen Zu­stand ist die Bundes­regierung (Art.62 GG) technisch auf die Funkti­on eines Parla­ments­ausschusses be­schränkt. Da auch der Kanzler selbst - nicht zwangs­läufig rechtlich, aber prak­tisch - Par­la­ments­mitglied ist, rechtfertigt sich für dieses Regierungs­system der Begriff Parla­ments­re­gie­rung. Sie widerspricht der Lehre von der Ge­waltenteilung.

 

2. Zum zweiten sind Exekutive und Le­gis­lative dadurch machtmäßig ver­bun­den, daß sie beide unter dem be­herr­schenden Einfluß einer Partei oder Par­tei­enkoali­tion stehen und keine selb­ständi­gen Ent­schlüsse zu fassen pflegen. Regie­rung und Bundestag werden heute fak­tisch aus der Partei­zentrale der Mehr­heitspar­tei oder der Koalitions­runde fern­gelenkt, was jede Gewal­tenteilung zur bloßen Fiktion wer­den läßt. Durch die verbin­dende Klammer der Mehrheits­par­tei(en) ver­schwindet zwi­schen den Ge­wal­ten je­nes Span­nungsverhält­nis, das für das Funk­tionieren der Gewalten­tei­lung grundle­gend und unverzichtbar ist. "Wenn sich in der politischen Wirk­lich­keit ei­nes Staates nicht mehr wie bei Montesquieu Legis­lative und Exe­kutive als mit­einander echt konkur­rie­rende Ge­walten gegen­überste­hen, son­dern einer­seits ein Kong­lomerat aus Regierung und parla­mentari­scher Mehrheit und anderer­seits die Op­posi­tion als parlamen­tarische Minderheit, die zu­dem durch das Mehr­heitsprinzip jederzeit über­stimmt werden kann, kann von einer Gewaltentei­lung ver­nünftiger­weise nicht mehr die Rede sein." (Roman Herzog)

 

Das Grundgesetz kennt keine Vor­keh­run­gen dagegen, daß ein und die­selbe Partei die Gesetze macht, anwen­det und noch aus ihren Reihen Richter bestimmt, die über die Ausle­gung des Ge­setzes zu wa­chen haben. Es ist ge­genüber der Exi­stenz politischer Par­teien fast blind, und in Ausnutzung dieses blinden Flecks konn­ten diese die Macht über Exeku­tive und Legislative voll­ständig und über die Rechtspre­chung im aus­schlaggebenden Teil­be­reich der Verfassungs­ge­richtsbar­keit und der oberen Gerichte usurpieren. Das GG nennt die Parteien nur neben­bei in Art.21, nach dem sie an der po­liti­schen Willensbil­dung mitwirken sollen. Die Schöpfer der Ver­fassung hielten es für ausreichend, die drei Staatsgewalten in­sti­tutionell für von­einander unabhän­gig zu erklä­ren. Es soll keine Gewalt der an­de­ren Anwei­sun­gen geben können. Die Fülle der Macht soll auf verschie­dene Ämter und Institutionen verteilt und ein System der "checks and balances" ge­schaffen werden. Die Fülle verschiedener Ämter soll die Amtsträger in ihrer Machtent­faltung hemmen und gegen­sei­tig ausba­lancieren. Das für eine ausrei­chende Sicherung gegen Machtzusam­menbal­lun­gen anzusehen, ist aber naiv, weil es die parteili­chen, ämterübergrei­fenden Macht­struk­turen igno­riert und je­den Partei­gän­ger im Amte als bloßen Ein­zelkämpfer an­sieht.

 

Schon Montesquieu hatte dieses Kon­zept als unzureichend mit den Worten verwor­fen:" Die Ämterfülle mindert das Ämter­wesen manchmal. Nicht immer verfolgen alle Adli­gen dieselben Pläne. Gegensätz­liche Tribu­nale, die einander ein­schrän­ken, bilden sich. Auf solche Weise hat in Venedig der große Rat die Legislation in­ne, der Pregadi die Durch­führung, die Vierzig die Ge­richtsbe­fug­nis. Das Übel besteht aber darin, daß diese unterschied­lichen Tribunale durch Beamte aus der glei­chen Körperschaft gebildet werden. So entsteht kaum etwas anderes dar­aus, als die eine gleiche Be­fugnis."

 

In Deutschland besteht heute das­selbe Übel: Alle Gewalten sind von Mitglie­dern derselben Parteien besetzt. Und das in Deutschland nach engli­schem Vorbild einge­führte System der Parla­mentsregie­rung ver­wirft Montes­quieu mit den eben­so deutlichen Wor­ten: "Es gäbe keine Freiheit mehr, wenn es keinen Monar­chen gäbe und die exekutive Befugnis ei­ner bestimm­ten, aus der le­gislati­ven Kör­perschaft ausgesuchten Personen­zahl an­vertraut wäre, denn diese bei­den Befug­nisse wären somit vereint. Dieselben Per­so­nen hät­ten an der einen und der ande­ren manchmal teil - und somit könnten sie immer daran teil­haben." Genau die­ser Zustand kenn­zeichnet die Ver­fas­sungssituation des Grundgesetzes. Es gibt hier schon seit November 1918 keine in­stitutionell un­abhängige Regie­rungsge­walt mehr: Die Regierung ist eben nur ein Parla­mentsausschuß und kann von Bun­destag je­derzeit abge­wählt werden.

 

Die Rechtfertigungsversuche der Dogma­ti­ker des Grundgesetzes laufen auf zwei Haupt­argu­men­te gegen den Befund hin­aus, nach­dem es Ge­walten­tei­lung im ei­gentlichen Sinn in Deutsch­land heute nicht gibt: Zum ei­nen werde die geballte Macht des rela­tiven Abso­lu­tismus, der durch die un­umschränkte Herr­schaft der Parla­mentsmajori­tät (auf Dauer ei­ner Legis­latur­periode) geschaf­fen wird, da­durch gemildert, daß es zwei Parteien ge­be, die sich in der Herr­schaft regelmäßig ablösten. Zum anderen ge­währleiste der Föderalismus eine gänz­lich neue Art ver­tikaler Gewaltentei­lung.

 

Das Argument mit den einander ablö­sen­den Parteien mag vielleicht im Eng­land ver­gangener Jahrhunderte funktio­ni­ert haben; heute durchdrin­gen Massen­par­tei­en alle Le­bensbereiche, ohne unter­schiedliche gesell­schaftspo­litische Kon­zep­tionen zu haben. Sie sehen einander zum Ver­wech­seln ähn­lich, wollen aber gemeinsam jede in­haltli­che Alter­native vom Zugang zur Macht ausschlie­ßen. Überdies hat seit Bestehen der Bundesre­pu­blik noch nicht ein einziges Mal das Volk in ei­ner Bundestagswahl einen Re­gie­rungswech­sel erreicht, weil ungeach­tet der Stärke der beiden Großpar­teien stets die FDP als Mehr­heitsbeschaffer den Ausschlag für oder gegen einen Re­gie­rungswech­sel gab. Das Argument der Machtminderung durch zwei aus­balan­cier­te Parteien zieht also nicht. Auch das Argu­ment, der Föderalismus schaffe eine Macht­aufgliederung neuer Art, ersetzt nicht die Notwendigkeit der klassischen Gewaltentei­lung. Die Über­macht der Großstrukturen po­liti­scher Massenpartei­en bricht sich kei­nes­wegs an Länder­gren­zen.

 

Das entscheidende Versagen des Grund­ge­setzes liegt darin, daß es eine reine Parteien­parla­ments-Herrschaft er­richtet und den Par­lamentsparteien den unum­schränkten Zugriff auf alle Gewal­ten er­möglicht, weil es ihn nicht verbie­tet. So entstand das Gegenteil von einer Gewal­tenteilung: Eine Ge­waltenverfil­zung nämlich. Die Ge­waltentei­lung ist hier und heute kein echtes politisches Machtvertei­lungs­prinzip mehr, sondern sie ist zu ei­ner rei­nen Zuständigkeitsauf­teilung von Gremien verkommen, die al­lesamt in den Händen der­selben "Beamtenschaft" (Montesquieu) bzw. Parteien lie­gen.

 

II. Die Gewaltenteilung zur Tren­nung von Staat und Gesellschaft als Vorbedin­gung menschli­cher Freiheit


Man kann den verfassungstheoreti­schen Ge­gensatz von Exekutive und Le­gislative ge­sell­schaftstheoretisch zu­rück­führen auf den ihm kor­respondie­renden Gegensatz von Staat und Ge­sell­schaft. Je­der Herr­schaftsordnung liegt die Unter­scheidung zwischen Herrschen­den und Be­herrsch­ten zu­grunde. Die Be­herrsch­ten sind das Staats­volk, und wenn ich es als Objekt des Regierens zu seinem regie­ren­den Subjekt in Beziehung setze, kann ich es sinnvollerweise auch als "Gesellschaft" in Beziehung auf die Staatsgewalt be­zeich­nen. Tatsächlich entspricht der Kö­nig als Regie­render nach Montes­quieus Lehre dem Staat, wohingegen Bürgertum und Adel, heute ge­mein­sam "Volk", Ob­jekt der Regie­rung sind und die "Gesellschaft" bilden, die der staat­li­chen Regie­rungsge­walt ge­genüber­steht, im Parlament vertre­ten ist und sich dort au­tonom ihre Rechts­regeln setzt.

 

Dem Staat die Rolle des Regierens und der Ge­sellschaft die der autonomen Rechtsetzung zu­zu­ordnen, Staat und Ge­sellschaft damit als funktio­nal ge­walten­teilend zu trennen, ist die Gretchen­frage heutiger Staatswissen­schaft. Gewaltentei­lung bedeutet in diesem Zusam­men­hang, den exe­kuti­ven Teil der (theoretisch als umfassend vorge­stellten) Staatsgewalt dem "Staat" als solchem und den legisla­ti­ven Teil der "Gesellschaft" zuzuwei­sen und diese somit vom Staat sowohl zur Wah­rung ihrer Freiheit abzugrenzen als auch funktio­nell zu integrieren. So gese­hen liegt der Gewalten­tei­lungslehre Mon­tesquieus faktisch die Tren­nung von "Staat" und "Gesellschaft" zugrun­de. Wo beide ununterscheidbar inein­ander verwoben sind, gibt es auch keine Gewal­ten­teilung; und umge­kehrt läßt die Ver­einigung der Gewalten in der Hand ei­nes einzelnen oder einer Partei oder eines Machtkartells zwangsläufig Staat und Ge­sell­schaft ineinan­der übergehen. Damit ist aber eine Grundbe­dingung menschli­cher Freiheit beseitigt: näm­lich der neu­tra­le Staat als Schutzmacht der in­ner­ge­sellschaftlich Schwachen ge­gen die Star­ken, als Hüter der Menschen­rechte gegen Pressionsver­suche wohlor­gani­sier­ter Macht­gruppen und als Wah­rer des Rechtsfriedens gegen Faustrecht und Fehdewesen.

 

Das Mittelalter hatte eine Trennung von Staat und Gesellschaft nicht ge­kannt: In der eigen­tümli­chen Form des Lehns­staats, des sog. Feudalis­mus, war alles "Gesellschaft". Zwischen König und Va­sall, Vasall und Un­terva­sall bis hin zum frönenden Bauern wa­ren alle Rechtsver­hältnisse rein perso­naler Natur und ende­ten mit dem Tode ihrer Träger. Die Lehn­spyramide war ein Rechts­ge­füge, das auf Verpflich­tungen zwischen Perso­nen be­ruhte. Ein "Staat" war nicht vorgesehen. Nach der Krönung eines Königs in Deutschland hatten die Reichsstädte nichts eiligeres zu tun, als diesem seine persönliche Bestätigung ihrer Rechte und Freihei­ten abzubitten. Was gingen ihn auch die Versprechun­gen seines Vorgän­gers an? Ein Staat als überpersönliche Rechtsfigur im heutigen, abstrakten Sinne existierte so nicht.

 

Für jeden einzelnen hatte das die prakti­sche Konsequenz, daß er in einen hierar­chischen Ge­sell­schaftsaufbau streng ein­gebunden blieb. Im Normal­fall hatte er keine Chance, seinem Ge­burts­stand zu entkommen. Niemand schützte den frö­nenden Bauern vor der Will­kür seines Grund­herrn, und wer gegen die Über­macht eines anderen Schutz benö­tigte, konnte den nur in ei­gener Kraft finden oder sich einer mächtigen Gruppe an­schlie­ßen, die ihn schützen sollte. So schloß man sich zu sozialen Verbänden zusammen und wurde Bürger einer Stadt, Kaufmann in einer Gilde oder auch Räu­ber in ei­ner Bande. In diesen gesell­schaftlichen Teilgruppen fand der ein­zel­ne Schutz, aber um den Preis der Unter­ordnung. Freiheit im Sinne der heutigen Grund­rechte, Bürgerrechte oder die Si­cher­heit einer privaten Existenz in unse­rem Sinne gab es nicht.

 

Die Neuentdeckung des Staates im Sinne der antiken Res publica war die Leistung der Renais­sance. Dieser wurde als vom persönli­chen Herr­scher unab­hängig und immerwäh­rend vorge­stellt. Er bildete eine abstrakte, weil nicht kör­per­lich sichtbare Rechtsper­son, modern ge­spro­chen: eine juristi­sche Person. Als sol­che verkörperte er allen einzelnen ge­gen­über das Recht der Gesamtheit. Er forder­te jedem Bürger die Loyalität und den Ge­hor­sam ab, die ein jeder der Ge­mein­schaft aller schuldet. Ohne diese Loyalität kann das Ge­mein­wesen nie­mandem Schutz nach innen und außen verschaf­fen.

 

Der neuartige Schutz nach innen war vor al­lem gegen die feudalen Macht­gruppen not­wendig: Unter dem Schutz des Staates eman­zipierte sich der "Staatsbürger", ein neuzeitli­ches Phäno­men, von den alten Gilden, Zünf­ten, Grundherren, Pa­triziern, Konfessi­onsge­meinschaften und was es an Machtträ­gern noch alles gab. Er er­langte ein nie ge­kanntes Maß an per­sön­licher "Bürgerfreiheit". In dem Wort von den Staatsbürgerrechten wird dieser Zu­sam­menhang deut­lich. Es galten nicht mehr die Regeln des Fehdedschungels, das Faust­recht des gesellschaftlich Stär­keren, sondern die Gesetze des Staates als über den Par­teiun­gen ste­hender neutraler Ge­walt, die tenden­ziell jedem gleiches Recht zu schaffen suchte. Daher war die Staatsmacht kon­zeptionell den Macht­in­teressen der gesellschaftlich Etablier­ten entgegengesetzt. Die Geschichte der Neu­zeit kann so verstanden wer­den als fort­wäh­rendes Ringen gesell­schaftli­cher Gruppen um die Vormacht und die Er­oberung der Schalt­hebel des Staates, um ihn für ihre Par­tei­zwecke einspannen und gegen innergesell­schaft­liche Kon­kurren­ten mißbrauchen zu können. So wider­sprach es dem Zweck des "Staats" und dem Konzept seiner Ausgleichs­funktion zwischen den Parteiinteressen, wenn er zunächst noch unter ein­seitiger Domin­anz des Adels blieb und wenn seine Äm­ter später zur begehrten Beute wechseln­der an­derer Gruppen und Par­teien wur­den.

 

Die Oberhoheit des Staats gegenü­ber den Machtgelüsten gesellschaftlich Mächtiger und damit die Grundbedin­gung menschli­cher Frei­heit zu wahren, erfordert ein ständiges Ringen um die nötige Neutrali­tät, zu der nur fähig ist, wer keiner der Parteiungen selbst an­ge­hört. In Stern­stunden staatlicher Tä­tig­keit des 19.Jahrhunderts soll die­ses Ideal der Le­gende nach fast ver­wirk­licht wor­den sein. Es war die hohe Zeit bürgerli­chen Selbst­bewußtseins unter dem Dach mon­archi­scher Staatsauffas­sung. Der Staat hatte seine sinnfällige Ver­körpe­rung im König­tum gefunden, und die Ge­sellschaft die ihre im Parla­ment. Die Regie­rung des Königs war an die Ge­setze gebun­den, die sich die Gesellschaft frei gegeben hatte; so die Idee. Die ge­waltenteilen­de Ver­fas­sung wies die regie­rende Staatsbefugnis dem König und die gesetzge­bende der im Parlament reprä­sentierten Gesell­schaft zu.

 

Beide, Staat und Gesellschaft bzw. König und Parlament bzw. Exekutive und Legis­la­tive blie­ben einander funk­tional zuge­ordnet und daher zur Ko­ope­ration verur­teilt. Die ein­seitige Domi­n­anz der einen oder der anderen Kraft wurde zwar nicht zielgerichtet durch ei­nen weisen Ver­fas­sungsge­setz­geber vermie­den, konnte sich aber fak­tisch nicht einstellen, weil beide Gewal­ten ein Macht­gleichge­wicht bil­de­ten. Freilich hätte jede Gewalt gern die andere domi­niert, wie beim preußi­schen Ver­fas­sungskonflikt deutlich wurde. Erst 1918 kam der entschei­dende Wen­de­punkt, der Sünden­fall der deut­schen Verfassungsge­schichte: Am 28.Oktober trat ein Reichs­ge­setz auf Druck der im Parlament ver­sammel­ten Parteienvertreter in Kraft, durch das Reichs­kanzler und -regierung ih­rer Ver­ant­wortung gegenüber dem Souve­rän ent­hoben und dem Parla­ment un­terworfen wurden. Bis heute un­terlie­gen Kanzler und Regierung der jeder­zei­tigen Disposi­tion der jeweiligen in­ner­ge­sellschaftli­chen Majorität bzw. sind mit de­ren Par­teivorsit­zendem iden­tisch.

 

Daß es kurz danach zu einer Ab­dan­kung des Kaisers und damit zu ei­nem nominel­len System­wechsel kam, verzerrt die Op­tik und verdeckt die Sicht auf den viel wesentlicheren Ein­schnitt in das Ver­fas­sungssystem, durch den nunmehr die Regie­rung un­ter die Fuchtel des Par­la­ments kam und damit der Staat durch die gesellschaft­liche Majori­tät erobert wurde. Ob das Ober­haupt der Regie­rungsge­walt ein Kaiser oder ein gewähl­ter Präsi­dent ist, berührt nur die Frage der demokrati­schen oder monarchischen me­taphysi­schen Legiti­mation seiner Herr­schaft, und so wirkt sich ein Wech­sel von der konsti­tutionellen Monar­chie zur Re­publik für den Bürger praktisch weni­ger aus als die fakti­sche Verein­nahmung der Regie­rungsgewalt durch gesell­schaftliche Par­tikularkräfte.

 

Alle diese Parteien und Gruppen hat­ten mit dem Staat als neutraler Macht nichts im Sinn und trachteten nur da­nach, ihn von innen zu erobern. Einer Partei gelang das 1933, und auf dem Partei­tag "Triumph des Willens" konnte ihr Führer sa­gen: Nicht der Staat macht unsere Par­tei, nein, wir schaffen uns un­seren Staat! - Sinnfälli­ger kann die Er­obe­rung des Staats durch eine innerge­sell­schaftli­che Gruppe nicht werden, und mit dem Schutz jedes einzelnen vor jed­weder Willkür als der eigentlichen Auf­gabe des Staates war es na­türlich vorbei. Vielmehr herrschte jetzt Parteiwill­kür. Für das SED-System gilt muta­tis mut­andis das­selbe: Es gab zwar noch eine funktionale Auf­teilung der Staatsge­walt auf beson­dere Organe der Recht­spre­chung, der Ge­set­z­gebung und der Ver­waltung. Über al­len stand jedoch der Wille der Partei bzw. ih­res Füh­rers oder Politbüros. Die Ge­sell­schaft hatte sich totalitär formiert, und ei­nen ihr neutral gegen­überstehenden Staat gab es nicht mehr.

 

Heute ist es nicht, wie im 3. Reich und in der DDR, eine totalitäre Ein­heits­partei, die den Staat unter ihre Fuchtel gebracht hat. Heute ist dassel­be durch ein Kartell liberaler Parteien gesche­hen, die einander zum Ver­wech­seln ähnlich se­hen und kon­zeptionell übereinstimmen. Ihre Strategie war seit Be­ginn der Bun­desre­publik vor­ge­zeichnet und fand ihren juri­stischen Nieder­schlag im Bon­ner Grund­gesetz. Sie lief auf eine vollstän­dige Er­obe­rung des Staates durch die Ge­sell­schaft hin­aus, und zwar durch die Gesell­schaft in Ge­stalt der sich formie­renden Bonner Partei­en. Den Staat be­kamen sie durch die Macht­losigkeit des nominellen Staats­oberhauptes in die Hand, des Bun­desprä­si­denten. Diesem wurde durch seine dop­pelt indi­rekte Wahl die de­mo­kratische Legitimation entzo­gen, die der Reichs­präsident noch gehabt hatte, und ver­fas­sungsmäßige Macht hat er konse­quen­ter­weise nicht. Der Kanzler müßte der Idee der Gewal­ten­teilung nach ei­gentlich das Gemein­wohl vertreten, also eine Regie­rung für alle darstellen, doch pflegt er Vorsit­zen­der der Mehrheitspar­tei zu sein. Er müßte als Regie­render des Staates des­sen Oberhaupt verant­wortlich sein, dem Bundespräsi­denten, doch ist er tatsäch­lich nur der Gesellschaft ver­pflich­tet, nicht dagegen dem Staat, den er doch regieren soll. Namentlich ist er abhängig von der Parlamentsmehrheit, und diese ist nur ei­ne for­mierte gesell­schaftliche Teil­gruppe, eine Partei.

 

Wenn aber eine solche Teilgruppe, ei­ne Partei, den Staat usurpiert, zer­stört sie die Grundlage sei­ner Macht­legitimation: die über alle Staatsange­hörigen ausge­übte Staatsge­walt findet ihre innere Rechtfer­tigung nämlich darin, daß dieser Staat tat­sächlich allen Bür­gern Schutz und Rechtsfrieden nach innen und außen ge­währleistet. Identifiziert sich aber ei­ne Teilgruppe oder Partei einseitig mit dem Staat und erobert seine Schaltstellen, so grenzt sie damit die anderen Gruppen oder Min­derheiten aus und definiert sie als nicht zum Staat gehörende Feinde: als Ketzer oder Staatsfeinde, als Volks­schäd­linge, Klassen- oder Verfassungs­feinde. So steht dann eine parteigelenk­te Polizei mit in den Hosenta­schen ver­gra­benen Händen da­bei, wenn ran­da­lie­rende Polit­gewalttäter den Par­teitag einer der Regie­rung unbequemen Op­positi­onspar­tei zu­sammenprügeln. Noch einfacher ist es für die Regie­rungspartei, auf die bloße Dro­hung gewalttätiger Banden hin die Ver­an­staltung der Oppositionspartei po­lizei­lich als Risiko für die öf­fentliche Si­cher­heit zu verbieten.

 

Wo der Staat aber von einer for­mier­ten ge­sell­schaftlichen Gruppe er­obert ist und den anderen Gruppen den inneren Frie­den verwei­gert, entfällt für diese je­der rechtfertigende Grund, sich einer sol­chen parteiischen Staats­räson zu beugen und ihrerseits den inneren Frieden zu hal­ten. Der Staat kann da­her seine ord­nungs­stif­tende und befrie­dende Funktion nur aus­füllen, wenn er tatsächlich neutral und nicht von Par­teigängern von innen heraus er­obert ist.

 

Die Entwicklung der vergangenen Jahre brachte den Bürgern in Deutsch­land da­her kein Mehr an Frei­heit, als Li­berale den Staat zuneh­mend demontier­ten. "In dem Maß, wie das Indivi­duum sich gegen den Staat aus­spie­len ließ, ...geriet es unter die Herr­schaft der Ver­bände, die seinen Spiel­raum sehr viel en­ger zogen, und zerfiel vor dem Druck ei­nes neuen Ver­bands­kollektivismus, dem es sich fügte, weil der einzelne Mensch in der Gesell­schaft nicht ohne Schutz existieren kann." So näherte sich unse­re Ver­fas­sungswirklich­keit wieder ihrem mittelal­terlichen Ausgangs­punkt an und wurde von Scheuch treffend als feudales Po­sten­verteilungssystem be­zeich­net.

 

III. Die Gewaltenteilung als Pro­blem der de­mokratischen Repräsentati­on


Ohne institutionelle Trennung von Exe­ku­tive und Legislative funktioniert auch jener friedliche Interessenaus­gleich nicht, auf den die Bonner Theo­rie so stolz ist. Ihre liberalen Verfech­ter hal­ten alle In­teressenkonflikte für innergesell­schaft­lich und sehen im Grundge­setz ihre Vor­stel­lungen ver­wirklicht, diese Kon­flikte um­fassend mit dem Mittel der de­mokrati­schen Repräsentation auszu­tra­gen und so zu zähmen.

 

Dieses Konfliktregulierungsmodell er­reicht sein Ziel aber nur, wenn wirk­lich alle relevan­ten Inter­essen reprä­sentiert sind. Das ist aber nur bei einer Gewalten­teilung im oben darge­stellten Sinne mög­lich: Jeder einzelne und jede Gruppe hat Sonderin­teressen, die sich ihrer Natur nach gegen das Son­derin­teresse anderer oder auch aller anderen rich­ten. So haben die Autofahrer Inter­essen, die de­nen der Fußgän­ger wider­streiten. Der in­nergesell­schaftliche Ausgleich aller sol­cher Inter­essen soll im Par­lament nach dem Mehr­heits­prinzip stattfin­den.

 

Jeder einzelne ist aber nicht nur Ein­zel­ner und nicht nur Teil einer Son­derin­ter­essen­gruppe, son­dern auch Teil des Ge­samten. In­soweit richtet sich sein In­ter­esse am Wohler­gehen des Ganzen da­ge­gen, daß irgendwelche Sonderinteres­sen den Be­stand des Ganzen ge­fährden. Des­halb hat auch der Autofahrer ein ge­gen sein Interesse an viel Stra­ßenbau und bil­ligem Fahren gerichtetes allgemei­nes In­ter­esse als Bürger des Ganzen, daß die Be­gleit­er­scheinungen des Autofahrens nicht gemein­schädliche ökologische Aus­maße annehmen. Die­ser Fundamental­konflikt steckt in jedem einzelnen von uns: Was mir persönlich unmit­telbar nützt, aber auf Kosten aller anderen geht, setzt mich ei­nem inneren Interes­senge­gensatz aus: Die eigen­nützige, aber ge­mein­schädliche Handlung ver­lockt, weil mir ihr Nutzerfolg voll zu­gute kommt, wäh­rend mich der Scha­den nur zu einem Bruchteil trifft. Ein politisches System tendiert aber zur Selbst­zerstörung, wenn es ausschließ­lich den Ego­ismus der je­weiligen Mehrheitspartei zum Maß­stab staatli­cher Entscheidungen macht und die Regierung des Ganzen dem mächtig­sten seiner Teile überläßt. So sind heute in Deutschland die innergesell­schaftli­chen Son­derinteressen wohlor­ganisiert und in Parla­menten repräsen­tiert.

 

Dagegen fehlt es völlig an der er­for­derli­chen und leicht möglichen Re­prä­sen­tation des Interesses Aller am Bestand und der Integrität des Ganzen. Wenn in jedem Bürger sein Ei­geninter­esse und sein In­teresse am Bestand des Ganzen wider­strei­ten, müssen auch auf staatli­cher Ebene diese fun­damentalen Interes­sen gegensätzlich und gewalten­teilend ge­trennt repräsentiert sein: In seiner Er­schei­nungsform als bürgerli­che Gesell­schaft mit pluralen Interes­sen muß das Volk in seinem Par­lament durch abge­ordnete Vertreter prä­sent sein; als Gan­zes aber in einer vom Volk direkt ge­wähl­ten, parteiunabhän­gigen Einzel­per­sönlichkeit, die als z.B. Präsident den Staat verkörpert und die Belange des Gemeinwohls ver­tritt. Die ganze Mi­sere der jetzigen Ver­fas­sung beruht wesent­lich darauf, daß ei­ne wir­kungsvolle Ver­tretung des Ganzen völ­lig fehlt und alle Gewalten in den Hän­den der jeweili­gen Mehrheitspar­tei(en) gebündelt sind.

 

Der Gegensatz zwischen Sonderin­ter­esse und Gemeinwohl entspricht auf sy­stema­ti­scher Ebene ganz dem von Ge­sell­schaft und Staat und auf insti­tu­tionel­ler Ebene dem von Legislative und Exe­ku­tive. Das gegenwärtige Sy­stem der Regie­rung des Ganzen durch ei­nen von der Majoritäts­fraktion ab­hängigen Kanzler, der zu­gleich Spit­zen­funktionär der Mehr­heits­partei ist, hebt die Gewal­tenteilung auf und führt unmittelbar zu allen dar­ge­stell­ten Übelständen: der Ein­schmelzung des Staatlichen in die Ge­sellschaft und seine Un­ter­ordnung unter eine Teil­gruppe, die Gefähr­dung der in­dividuel­len Freiheit durch das In­einande­rüber­ge­hen staatli­cher und parteilicher Funktionen, das die privaten, partei­poli­tikfer­nen Frei­räume zu­sammen­schmel­zen ließ, und schließlich zu ei­nem de­mokratischen Re­prä­sentati­ons­defizit.

 

IV. Thesen und Konsequenzen


Es ergeben sich daraus und aus ge­ge­nüber dem Gesichtspunkt der Gewal­ten­teilung noch weiterführenden Überle­gun­gen folgende zu­sam­menge­faßte Thesen und praktische Forde­run­gen für eine de­mo­kratische Verfas­sungsre­form:

 

Die freiheitliche demokratische Grund­ord­nung ist in Kernbereichen ih­rer Funk­tion ge­stört und muß durch institu­tionelle Reformen wieder zur Geltung gebracht werden. Die Altpar­teien haben das im Grundgesetz zur Gewaltenteilung vorge­se­hene, ausba­lancierte System wechsel­seitiger Machthemmungen und Kompe­tenzzu­weisungen dadurch überla­gert, daß sie alle staatlichen Funk­tionen zu­neh­mend mit ihren Parteigängern be­set­zen. So haben sie ein Postenvertei­lungskartell gebil­det, in dem kleine Par­teioligar­chien nach den feudalistischen Regeln gegen­seitiger Treue und Vorteil­nahme eine ge­schlossene Gesell­schaft bil­den, die nur noch ihren eigenen Ge­set­zen gehorcht.

 

Es kann keine Gewaltenteilung in ei­nem Sy­stem geben, in dem der Bun­des­tag formell die Ge­setze beschließt, die Bun­desverfas­sungsrichter bestimmt und über den jederzeit von seinem Ver­trauen ab­hängigen Kanzler die Regie­rung führt, zumal die Abgeordneten in Parteihierar­chien ein­gebunden und faktisch von Ent­scheidungen ihrer Parteispitzen ab­hängig sind. Die Ko­alitionsrunde hat sich als ei­gentliches Macht- und Entschei­dungs­zen­trum herausgebildet, das in der Ver­fas­sung überhaupt nicht vorgesehen ist.

 

Diese Usurpierung des Staates und seiner Insti­tutionen durch die Parteien hat die erfor­derliche Ausgewogenheit zwi­schen Allge­meinwohl und Gruppen­inter­essen tiefgreifend gestört. Die Ge­sell­schaft hat in Gestalt von Parteien und Einflußlob­bies den Staat erobert und in­teressenge­bundene Umvertei­lungspoli­tik zum allei­nigen Maßstab ge­macht. Da­durch ist ein strukturelles Repräsentati­onsdefizit ent­standen: Je­der Bürger hat besondere in­ner­gesell­schaftliche Eigen­in­teressen; er hat aber auch als Teil des Ganzen spezi­fisch gegen je­des Partikula­rinteresse ge­rich­tetes Interessen an der In­tegrität des Ganzen.

 

Während die innergesellschaftlichen Son­derin­teressen im pluralistisch zu­sam­men­ge­setzten Bun­destag vertreten sind, wird das Fundamentalinter­esse aller Bür­ger in ihrer Ge­samtheit nir­gends in­sti­tu­tionell vertreten, son­dern in der Per­son des Bun­despräsidenten nur symboli­siert. Dieser muß als Staatsorgan de­mo­kratisch legi­timiert werden, das Volk als Ganzes zu vertre­ten und, von der Legis­lative un­ab­hän­gig, für die Regierung ver­ant­wort­lich sein.

 

Eine Grundgesetzreform erfordert da­her min­destens:

1. Direktwahl des Bundespräsiden­ten durch das Volk. Er darf nur dem Volk insge­samt und keiner Gruppe oder Partei verant­wortlich sein.

2. Einsetzung des Bundeskanzlers durch den Bundespräsidenten. Der Kanzler bil­det die Regie­rung und ist nur dem Bun­despräsi­denten verant­wortlich.

3. Die Trennung von Staat und Ge­sell­schaft ist eine Vorbedingung indivi­dueller Freiheit. Während die innerge­sell­schaftli­chen Interessen durch die Partei­en im Ge­setze ge­benden Parla­ment reprä­sentiert sind, muß die regie­rende Staats­gewalt parteifrei bleiben. Die gleichzei­tige Mit­gliedschaft in ei­ner Partei und die Zuge­hörigkeit zur rechtsprechenden oder zur regierenden Gewalt ist daher von Verfas­sungs we­gen als inkompatibel ver­boten.

4. Die Richter der Bundesgerichte und obersten Landesgerichte werden ge­wählt von einer unter Rechtsaufsicht des Bun­despräsi­denten stehenden Kommis­sion, die aus Ver­tretern der Richter­schaft, des Bundesjustiz­mini­steriums der juristischen Hochschulleh­rer­schaft be­steht und die nach fachli­cher Qualifi­ka­tion entscheidet.

5. Jede Staatsfinanzierung politi­scher Par­teien und anderer gesell­schaftlicher Gruppen und jede steuerli­che Begünsti­gung von Partei­spenden sind von Verfas­sungs wegen zu ver­bie­ten.

6. Inhaber staatlicher Ämter und Mitglie­der von Vertretungskörper­schaf­ten dürfen nicht zu­gleich Auf­sichtsräte oder Vor­standsmitglie­der in der privaten Wirt­schaft oder staatlicher oder kommu­naler Eigenbetriebe sein. Die Versorgung aus­gedienter Mandats­träger mit solchen Po­sten unter Ver­stoß gegen das Lei­stungs­prinzip des Art.33 GG ist als Un­treue nach § 266 StGB straf­rechtlich zu ver­fol­gen.

7. Wenn 1O% der Abstimmungsbe­rech­tig­ten es verlangen, sind sowohl über Einzel­maßnahmen der Regierung als auch über Ge­setze innerhalb von sechs Wochen Volksent­scheide herbei­zuführen. Diese sind in allen Fragen außerhalb des Steuer- und Abgaben­rechts zulässig und stehen in ihrer Verbind­lichkeit über par­lamentarisch beschlosse­nen Gesetzen. Die Souve­ränität des Volkes um­faßt das Recht zu Verfassungsänderungen.

8. Soweit sich der Bund oder die Län­der an Rundfunk und Fernsehen beteili­gen oder dieses betreiben, muß eine aus­gewo­gene Be­richterstat­tung gewährlei­stet sein. Die Mitar­beiter sol­cher staatli­cher Medi­en dürfen nicht Mitglieder ei­ner Par­tei sein. Annahme von Geschen­ken oder geld­werten Vor­teilen durch Medi­enmit­ar­beiter ist wie bei Staatsdie­nern unter Strafe zu stel­len. Die In­ten­danten der Medienanstal­ten werden von einem Ver­tre­tungs­gremium gewählt, in welches zu 3O% gewählte Mitarbeiter der Medi­enan­stalt ent­sandt werden und zu 7O% ge­wählte Interes­senvertreter der Gebüh­ren­zahler. Das Gremi­um steht unter der Rechts­aufsicht des Bun­desprä­sidenten.

9. Demokratische Herrschaft setzt ei­nen souve­ränen Demos voraus, also ein Volk mündiger Staatsbürger. Jede Ent­mündi­gung durch Abgabe von Souve­rä­nitäts­rechten an demokratisch nicht legitimierte Hoheitsträger außer­halb der deutschen Staatsgewalt wäre ein Ver­stoß gegen das Demokra­tieprinzip. Be­strebun­gen, die darauf gerichtet sind, die demo­kratische Selbst­herr­schaft und Selbstbe­stim­mung des deutschen Volkes zu besei­ti­gen und ganz oder teilweise durch eine Fremdherrschaft zu ersetzen, sind als verfas­sungsfeindlich zu verbieten.