Klaus Kunze
- Publizierte Zeitungsartikel (Auswahl) -

Steckt das Examen im Zell­kern?

Theorienstreit und Politik

von Klaus Kunze

 

(Publikation: Student Dezember 1979)

 

Ist in jedem von uns der künftige Werdegang in Sachen Bildung schon in die Wiege gelegt, oder ist allein das Kindheits-Milieu aus­schlaggebend? Auf diese über­spitzte Formulierung könnte man einen Gelehrtenstreit bringen, der unter den Schlagworten "Milieu­theorie" bzw. "Vererbungstheorie" ganze Disziplinen miteinander verfeindet hat. Edward O. Wilson, Zoologie-Professor an der Harvard-Universität, treibt den Streit mit seinen Thesen zur "Sozial­biologie" auf die Spitze: Er lehrt, daß selbst das menschliche Sozialverhalten in entschei­dendem Maße erheblich festgelegt ist.

 

Längst ist das 19. Jahrhundert vorbei, das Charles Darwins im Kern heute unbestrittene Evolutionstheorie und die Mendel'schen Ge­setze mit sich brachte. Damals schnitt der Zoologe August Weißmann noch 1592 Tieren über 22 Generationen die Schwänze ab, um zu beweisen, daß erwor­bene körperliche Merkmale sich nicht vererben. Heute ist das Zusammenwirken von Mutation und Selektion auf die Entwicklungsgeschichte des Lebens in jedem Schulbuch nachzulesen. Jene empörte englische Lady ist ausge­storben, die in den entsetzten Ausruf verfiel: "Vom Af­fen abstammen? - Niemals!" Weit weniger augenfällig und noch heute umstritten ist aber die Frage, wie weit auch die geistigen Fähig­keiten den Gesetzen der Vererbung unter­liegen, von der Intelligenz bis zum Sozialverhal­ten. Dabei half wenig, daß die stammesgeschichtlichen Gemeinsamkeiten von Tieren und Mensch von so bedeuten­den Gelehrten wie Nobelpreisträger Konrad Lorenz, von Eibl-Eibesfeldt, Portmann, Ardrey oder Jensen durch vergleichende Verhaltensforschung festgestellt wurden. Berührten ihre Erkenntnisse so gefühlsbefrachtete Fragen wie das Instinktverhalten des Menschen, seine Religion, Intelligenz und verschiedenartige Begabung, so meldete sich prompt die Urenkelin jener engli­schen Lady (eine sehr emanzipierte junge Dame) zu Wort: "Der Mensch soll Instinkte haben wie ein Tier? - Entsetzlich! Unter­schiede zwischen Mann und Frau? Das darf nicht sein! Rassenunterschiede? Wie faschistisch!"

 

Diese Geisteshaltung war und ist typisch besonders für diejenige Gattung Mensch, die aus ideologisch-weltanschaulichen Gründen an ganz bestimmten Ergebnissen der Forschung interessiert ist. Dies gilt für die Kaste der Gesellschaftsingenieure, die sich einen durch "niedere" Instinkte und jedwede Unterschiedlichkeit unbefleckten Menschentypus zwecks Errichtung eines herrschaftslosen Paradieszu­standes wünschen. Dies gilt aber auch für jene Eiferer traditionell-religiöser Überlieferung, die der Entstehung des Men­schen noch heute eine Sonderstellung gegenüber der Entwicklung der übrigen belebten Natur ein­räumen möchten. Insbesondere in den Gesellschaftswissenschaften machte man sich im Zuge solcher Wünsche ein häufig rosarot gefärb­tes Bild vom Men­schen als einem gleich geborenen, nur durch den Sündenfall zivilisatorischen Milieus in die Hölle der "Herrschaft des Menschen über den Menschen" gefallenen Wesen, das es schleunigst zu emanzipie­ren gilt.

 

So stehen sich vielfach die Gesell­schaftswissenschaften Soziologie, Politologie, aber auch Theologie, auf der einen Seite sowie die Naturwissenschaften vom Menschen Verhaltensforschung, Genetik, Ökologie u. a. unversöhnlich gegenüber. Der Zwist erfaßt schon die jeweilige Methodik: Während Gesellschaftswissenschaftler von vergleichenden Rückschlüssen zwi­schen Mensch und Tier nichts halten, werfen Verhaltensforscher jenen vor, ihre Sozialforschung unterstelle nicht selten schon durch ih­re Fragestellung das erst noch zu Beweisende. Nichts er­scheint daher dringender als eine verstärkte interdisziplinäre Zusammenarbeit, die sich auch nicht scheut, ihre eigenen Methoden und Prämissen kritisch zu hinterfragen.

 

Als gesichert kann indessen gel­ten, daß die Umwelt auf jedes her­anwachsende Lebewesen insofern Einfluß ausübt, als es sowohl förderliche Umweltbedingungen gibt, in denen es sich entfalten kann, als auch ein schlechtes Mi­lieu, in dem vor­handene Begabun­gen verkümmern oder wün­schenswertes Sozialverhalten un­terdrückt wird. Grundsätzlich un­bestritten ist an­de­rerseits wohl auch, daß selbst beste Förderung des Individuums keine Fähigkeiten wecken kann, die es erblich­biologisch nicht hat. Im weiten Feld zwi­schen diesen Polen aber tobt ein Streit, der die Themen "Gesamtschule oder ge­gliedertes Schulwesen", Rassenintegration durch "busing" in den USA und "Sozialisation als Erziehungsziel" ebenso erfaßt wie Fragen der Lohngleichheit von Mann und Frau. Die Tagespolemik wird um so er­bitterter geführt, als ernstzunehmende ideologische Konse­quenzen im Hintergrund stehen und die Verfechter der einen An­sicht häufig von den Forschungsergebnissen der Gegenmeinung noch nichts gehört haben und sie auch gar nicht hören wollen.

 

Ins Wespennest dieser Auseinanderset­zung stach Prof. Wilson von der Harvard-Universität mit seinen Büchern "Socio­biology" (1974) und "On Humane Nature" (1978). Er will die Forschungser­gebnisse von Ethologie, Ökologie und Genetik zusammenfassen, "um allgemeine Prinzipien hinsichtlich der biologischen Eigen­schaften ganzer Gesellschaf­ten zu gewin­nen". Die Leistungsfähigkeit seines soziobiologischen Ansatzes sucht er anhand ausführlicher Erörterungen zu den Bereichen Aggression, Sexualität, Religion und Altruismus unter Beweis zu stellen. "Der Mensch als solcher hat die ganze Anatomie und Physiologie der Säugetiere geerbt und zeigt auch Reste älteren Sozialverhaltens." Dieses Sozialverhalten sei nicht dispositiv, vielmehr prämiere die Selektion altruisti­sches Verhalten der Artgenossen untereinander. Eine Gemeinschaft "eigennütziger" und "unkooperativer" Individuen sei gegen­über anderen Lebensformen im Nachteil und zu Aussterben verurteilt. Dies sei die biologische Wurzel der zwischenmenschlichen Moral, die somit nichts transzendentes ist, sondern ein der Arterhaltung dienender Mechanismus. Die wichtigste Komponente unseres gesellschaftlichen Lebens sie der Zu­sammenschluß von Perso­nen, die "hauptsächlich an ihrer Fortpflanzung, ihrem Wohlergehen und dem Überleben ihrer unmittelbaren Verwandtschaft interessiert sind".

 

So weitgehende Thesen findet freilich selbst bei vielen Etholo­gen-Kollegen Wilsons keinen un­ge­teil­ten Beifall. Wil­son sei zwar eine unbestrittene Kapazität auf dem Gebiet der Insektenforschung, seine Schlüsse von Termitenstaa­ten auf den Menschen seien jedoch vorei­lig. Der Neurobiologe Gunther Stent von der Berkeley-Universität betonte anläßlich der Dahlem-Kon­ferenz im Dezember 1977: "Sobald der Mensch sozio­biologi­sch erklärt werden könnte, würde er auf­hören, Mensch zu sein; dann wäre er nur noch Homo sapiens, die Superaus­gabe eines Tieres." So ist es in der Tat, doch sollte dies kein Grund sein, ver­trau­ten Vorstellungen zu­liebe im Schneckenhaus des An­thro­po­zentrismus zu verharren, sondern in der vorgegebenen Richtung weiter­zuforschen.

 

So lenkte Wilson die Aufmerk­samkeit auf einen bisher wenig be­achteten anthropo­logischen Denk­satz, der zwar keine Aus­schließ­lichkeit beanspruchen kann, neben den bisherigen Forschungsme­tho­den aber sicherlich seine Berechti­gung hat. Letzt­lich wird das Phä­nomen Mensch weder allein gene­tisch noch allein moralisch zu er­klä­ren sein. Mag sein, daß eine Men­schengruppe "Selektionsvorteile" genießt, wenn sich ihre Mitglieder altruistisch verhalten. Mag sein, daß unsere "Moral" lediglich die idealistische Überhöhung simpler Verhaltens­mechanismen ist, die der Arter­hal­tung nützen. Bei allem darf aber nicht übersehen werden, daß sich die Spezies Mensch in ihrer Ge­schichte stets auch als fähig er­wie­sen hat, sich über Fragen der Nütz­lichkeit hinwegzusetzen und ganz inkonsequent (im Sinne der Arter­haltung) zu handeln. Zwar ist ins­besondere dem technischen In­du­strialis­mus vorzuhalten, daß der Mensch nicht beliebig konditio­nier­bar ist, doch befähigt ihn sein Ver­stand doch, seinen Antreiben zuwi­derzuhandeln und sich selbst und seine Natur bis zu ei­nem ge­wissen Grade zu beherrschen.