ABSCHIED
VON DER INSEL SUMATRA
(Publikation: Junge Freiheit 31/1996)
Die Geräuschkulisse
war überwältigend. Der nächtliche Urwald zirpte, keckerte, dröhnte
und blökte wie ein Affenhaus im Zoo. In stockfinsterer Nacht bei
gegen 30º Wärme und 80% Luftfeuchte bauten wir die Lichtfanganlage
auf: Eine 500-Watt-Quecksilber-Dampflampe, umgeben von einer Art
Zeltviereck, nach vorn offen und überdacht von einer Plastikplane.
Leise begann es zu regnen. Schon flogen die ersten Nachtfalter
an: gewaltige Schwärmer (Sphingidae) mit 15 cm Flügelspannweite
und ebenso langem Saugrüssel. Der Urwald auf Sumatra gibt uns
seine Abschiedsvorstellung. Es gilt die Schmetterlinge der 2000
km langen Insel nahe dem Äquator wenigstens zu dokumentieren,
bevor der Urwald vollständig gerodet ist.
Unser Gastgeber Eduard
Diehl hat sich dieser Aufgabe seit Jahrzehnten verschrieben. Mit
dem Göttinger Professor für Zahnmedizin Lutz Kobes gibt er die
Buchreihe HETEROCERA SUMATRANA heraus und hat selbst den Band
über die Familie der Sphingidae verfaßt. Auf Sumatra leben noch
121 der rund 1000 bekannten Schwärmerarten. Weltweit bearbeiten
verschiedene Autoren die Bände über die anderen Falterfamilien
der Tropeninsel. Große und auffällige Schmetterlinge sind weitgehend
bekannt, aber die Erforschung ihrer Larvalstadien und aller ökologischen
Zusammenhänge steckt oft noch in den Kinderschuhen. - "Das ist
etwas Neues!" ruft Diehl plötzlich entzückt. Behutsam nimmt er
einen etwa 5mm messenden Kleinschmetterling von der grell beleuchteten
Leinwand ab. Was da kreucht und fleucht, kennt Diehl auswendig.
Diese Art aber ist noch unbekannt. Später werden wir den Winzling
in einem Holzkästchen als Handgepäck mit nach Deutschland nehmen,
wo Entomologen begierig auf die Ausbeute warten. Was jetzt nicht
bald entomologisch beschrieben und veröffentlicht wird, dürfte
in den nächsten Jahren aussterben und für alle Zeiten unbekannt
bleiben. Genau genommen dürften wir hier weder Schmetterlinge
fangen, noch sie nach Deutschland mitnehmen. Der einzelne Falter
unter Zigtausenden, die in dieser Nacht anfliegen, steht rechtlich
unter Schutz, nicht aber der ganze Wald. Dieser schrumpft von
Tag zu Tag. Es ist, als würde der Gesetzgeber das Fischen weniger
Tiere aus einem randvollen Teich verbieten, während er selbst
das Wasser abläßt. Während wir Stunde um Stunde Zigtausende kleinster,
aber auch riesiger Falter sichten, drehen unsere Gespräche sich
um den Wald. Sein Buch hat Diehl "den sterbenden Urwäldern, die
mir viele glückliche Stunden bescherten, in ewiger Dankbarkeit
gewidmet." Tagein, tagaus rollen Transporter mit gefällten Bäumen
aus dem Wald. Doch dieser würde nachwachsen, erklärt uns Diehl,
wenn nicht jede Rodung sofort besetzt würde von landsuchenden
Kleinbauern. Die stehen gebliebenen dünneren Bäume werden zu Brennholz
gemacht, der Rest abgebrannt. Dann werden Reisfelder angelegt,
oder es wird Maniok, Kakao oder Gummi angebaut. Aufkäufer fahren
selbst in die entlegensten Gebiete.
Das Gros der indonesischen
Bevölkerung ist bettelarm, und ihre Not kennt kein Gebot. Als
Diehl vor 35 Jahren als Arzt ins Land kam, war Medan eine kleine
Siedlung. Heute zählt es 2 Millionen Einwohner, ganz Indonesien
etwa 180 Mio. Genaue Zahlen kennt niemand. In jedem Hinterzimmer
aber haust eine ganze Familie, und vor jeder der ärmlichen Hütten
auf dem Lande sehen wir ein halbes Dutzend halbnackte Kinder
unter 10 Jahren im Dreck spielen. Die Bevölkerungszahl wächst
ungebremst. Der Tropenurwald weicht allerorten neuen Ansiedlungen.
Das Kulturland hat überall seinen Herrn, aber wer in den herrenlosen
Wald hineinsiedelt, hat keine behördlichen Regeln zu befolgen.
Am nächsten Tag fahren wir in ein Naturschutzgebiet. Dort ist
jeder menschliche Eingriff verboten, übersetzt man uns von durchgerosteten
Hinweisschildern. Dahinter wohnt der staatlich angestellte Wächter
in einer rohen Holzhütte, die für einen deutschen Hühnerstall
wohl noch eben langen würde. Sein Gehalt allein reicht für Hühner
nicht. Er hat ein paar Morgen Urwald umgelegt, um Nutzpflanzen
anzubauen. Oder sollte er lieber hungern? Auch unser Trinkgeld
nimmt der Wächter gern. Wir dürfen jetzt im Naturschutzgebiet
machen, was wir wollen. Damit sind wir nicht allein: Das ferne
Geräusch von Motorsägen bleibt uns treu. Gegen Mittag kommt aus
Medan eine Kolonne von etwa 200 Sonntags-Ausflüglern mit Bussen
und Pkw mitten ins Naturschutzgebiet. Unter 60 Meter hohen Urwaldriesen
erdröhnt Popmusik. Jeder wirft seine Dosen und Plastikmüll weg,
wo er geht und steht. Eine Müllabfuhr gibt es hier nicht. Auf
einer Fläche von rund 400 m² türmt sich eine bis zu einem halben
Meter hohe Abfallhalde. Wenn ein Indonesier "sauber" fegt, erzählt
uns Diehl, fegt er die Blätter weg und läßt Papier und Dosen liegen:
Nur das Natürliche gilt ihm als Abfall, alles Künstliche nimmt
er als Müll gar nicht wahr. Die Gunst des offiziellen Naturwächters
war für uns billig. Hohe Regierungsvertreter sind etwas teurer.
Vom kleinen Forstbeamten bis zum Minister verdienen alle am sterbenden
Wald: niemand, der da nicht die Hand aufhält. Wenn ein internationaler
Konzern mal eben ein paar zigtausend Quadratkilometer abholzen,
die Stämme verkaufen und Plantagen anlegen will, ist das nur eine
Frage des Preises. Die Indonesier, erfahren wir, sind waldfeindlich.
Im Wald wohnen böse Geister, vor allem in großen Bäumen.
Unser
Gastgeber muß es wissen, er kennt sich aus: 79 Jahre ist er jetzt;
seine einheimische Frau 32, und der jüngste Sohn 5. Der Chirurg
Diehl besitzt inzwischen eine Privatklinik und hat die indonesische
Staatsangehörigkeit angenommen. Heimweh? Bei tropischer Hitze,
im dampfenden Urwald zwischen flatternden Nachtfaltern, ist der
sportlich-drahtige Insektenforscher in seinem Element, da ist
nichts, was er entbehrt. Meistens hat er Gesellschaft aus der
Heimat: Ein paar Seiten vor unserer Eintragung hat sich Ernst
Jünger in Diehls Gästebuch verewigt. Wer mehr über seinen Besuch
bei Diehl erfahren möchte, lese "Zweimal Halley" von Jünger. Überall wo
Falter fliegen, ist ein Entomologe zuhause. In jeder Fangnacht aber
stimmen wir an, was auch immer das deutsche Volksliedgut zu bieten
hat. Es ist unser Grabgesang für unseren geliebten Urwald.
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Dr. Eduard Diehl im Urwald beim Lichtfang - Foto K.Kunze 6.7.1996
Dr. Eduard Diehl, Siantar 9.7.1996,
Foto: Klaus Kunze
Megacorma obliqua et allii - Foto: Klaus Kunze 10.7.1996
Das Staunen - Foto: Klaus Kunze 9.7.1996
Auf dem Weg zum verwüsteten Planeten
Indonesien Holzweg bei Tinggi Raya, 10.7.1996
Foto: Klaus Kunze
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