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Auszug aus: Klaus Kunze, Mut zur Freiheit, 1998, S.64 1998
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durch freie Wertsetzung
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  DIE GÖTTER BLEIBEN IN IHREN GRÄBERN

Die Götter bleiben in ihren Gräbern

Wenn sich Gläubige verschiedener Weltanschauungen mit ihren "Göt­­tern" und de­ren Gesetzen wapp­­nen, empfinden sie jeden Angriff auf diese Götter als Angriff auf ihre eigene Identität. Gläubige Herzen ver­­mö­gen das nicht zu ertra­gen. Sie dul­den keine Göt­ter neben ih­ren ei­­ge­nen. Wehe, wenn Norma­tivisten aneinander gera­ten! Die Vor­stel­lung eines Dauerkonfliktes [1] zwi­schen wi­der­strei­ten­den Prin­zi­pien gru­­selt sie, so daß sie stöhnen: "Die rein sub­jek­tive Frei­heit der Wert­set­­zung führt aber zu ei­nem ewi­­gen Kampf der Werte und der Welt­an­­schauungen, einem Krieg al­ler mit allen, ei­nem ewi­gen bellum omni­um contra omnes, im Ver­gleich zu dem das alte bel­lum om­nium con­­tra omnes und sogar der mör­­derische Na­tur­zu­stand der Staats­phi­lo­­so­­phie des Thomas Hobbes wah­re Idyllen sind. Die al­ten Götter ent­­stei­gen ihren Gräbern und kämp­fen ihren Kampf wei­ter, aber entzau­­bert und ... mit neuen Kampf­mitteln. ... Was für den einen der Teu­­fel ist, wird für den an­de­ren der Gott. 'Und so geht es durch alle Ord­­nungen des Lebens hin­durch ... und zwar für alle Zeit.' Mit solchen ergreifen­den Worten Max We­bers könnte man vie­le Sei­ten fül­len." [2]

Jedem Gläubigen ist die Vorstellung ein Greu­el, sein Gott könn­te gleich­­be­rech­tigte Götter neben sich dulden oder müßte gar mit feind­li­chen Göt­tern kämpfen. Er möchte die Welt aus einem Prinzip er­klä­­ren und nicht aus einan­der widerstreiten­den. Der Katholik Donoso ver­­­weist die Ko­exi­stenz mehrerer gegen­sätzlicher Ord­nungs­prin­zipien ins Ab­sur­de, "weil zwei Göt­ter, die sich wider­sprechen, und zwei We­­sen, die ein­an­­der abstoßen, durch die Natur der Dinge verur­teilt sind zu einem ewi­­gen Kampf." Das Böse ist darum nicht wirklich: Es ist nur mangelndes Gutes. Wenn beide auf essen­tielle Weise exi­stie­­ren würden, könnte kein Prinzip das andere besiegen, und "aus der Un­mög­lich­­keit des Sie­­ges, des objekti­ven Zieles des Kamp­fes," fol­gen die Un­möglichkeit und der Wider­sinn des Kampfs überhaupt. [3]

In­des­sen entsteigen dem skeptischen Dezi­sionisten eben keine Göt­­ter ih­ren Grä­bern. Sein nüch­­terner Blick erkennt hinter jeder Ideo­­­lo­gie stets die­jenigen Men­schen, die sich der Vorstellung kämp­fen­­der Göt­­ter zu ihrem Nut­zen be­die­nen. Nie wird er wäh­nen, man brau­­­che nur ein Eigenschafts­wort oder Verb zu sub­stan­ti­vie­ren, und so entstünde flugs aus schwarz "die Schwär­ze" oder aus laufen "der Lauf" als ein rea­les Ding. Gerade so gehen aber viele Nor­ma­tivisten ins­­geheim vor­: Sie hypo­sta­sier­en das miß­­­brauch­te Wort: machen es also zu einer Wesenheit, die ihr Welt­bild re­giert. Tat­sächlich gibt es aber nicht die Schwärze, es gibt nur schwar­ze Dinge; es gibt nicht den Lauf, es gibt nur Men­schen oder Tiere, die laufen; es gibt nicht die Liebe und den Frieden, son­dern nur liebende Menschen und Men­schen, die gerade nicht ge­gen­ein­an­der kämpfen. Schon 1540 hatte Lo­renzo Valla durch eine solche Sprach­kritik das ari­stotelische System der Kategorien und damit das Rück­grat der scho­la­stischen Me­ta­physik gebrochen. [4] Damit hat er bis heu­te allen seriö­sen An­sätzen den Boden entzo­gen, Ideologien auf Sprech­blasen zu gründen. Ab­strak­te Be­grif­fe exi­stie­ren nur in un­seren Köp­­fen. [5] Ockham präg­te den als "Ra­sier­mes­ser" be­zeichneten Satz, man sol­le die An­zahl der für wirk­lich ge­­hal­te­nen Phä­nomene nicht ohne Not­­wen­dig­keit ver­grö­ßern, al­so nicht Be­grif­fe für außerhalb un­seres Denkens wirk­liche Ge­bil­de hal­ten.

Dagegen glauben Ideologen, Moralisten, Fromme und andere Nor­­men­diener, ih­re Ideen und Begriffe gäbe es nicht bloß in ihrem Kopf, sondern auch außerhalb. In ih­rem Licht er­­schei­nen bestimmte menschliche Ver­hal­tens­weisen als tu­gend­­haft und rich­tig, andere als Untugenden oder Sünden. Alle Ideen, die er sprachlich zu ei­nem Substantiv aufblä­hen konnte, hielt Platon für wirkliche We­­­sen­heiten. Auch die Scho­lastik verteidigte ihre vom Men­schen un­ab­hän­­gige Existenz. Im mit­telalterli­chen Uni­versalienstreit be­zog sie mit die­sem neuplatonischen Ideenrealismus Position gegen Ock­hams No­­mi­­na­lis­mus. Den In­be­griff der nor­mativen Bestand­teile ihrer Ord­nung nannte sie ihr Gu­tes, und den In­begriff des ihr Wider­spre­chen­den ihr Bö­ses. Weil die­ses Gu­te und Böse aber nichts als sub­stan­ti­ier­te Ad­jek­­ti­ve auf hoher Ab­strak­tions­ebene sind, findet sie der Nor­men­­diener nur in seinem Kopf vor. Trotzdem glaubt er heftig daran, sie seien nicht bloß für ihn wirk­lich vorhan­den. Dieser Glau­­be an die reale We­sen­heit blo­ßer Eigenschaften, ist sein un­trüg­li­ches Er­ken­nungs­zeichen. Der Idealismus ist die er­kennt­ni­s­theo­­­re­ti­sche Grundlage des Nor­mativi­sten. Er ist von sei­ner Idee be­gei­stert, weil er an transzendente Geister glaubt, an Ideen, Ideale, Ideo­lo­gien und an­dere Spukgebilde. Er denkt sich wahl­weise einen gan­zen Himmel von ih­nen, angeführt vom großen Geist sei­nes Got­tes, oder eine Mut­ter Natur, deren göttli­che Seele alles Irdische er­füllt.

Dagegen wendet der Dezisionist erkenntnistheoretisch den No­mi­na­lis­mus Ock­hams : Bloßen Eigenschaften spricht er keine eigene Sub­­­stanz zu, kei­ne seinsmäßige Existenz. Je mehr Realität oder Sein ein Ding hat, de­sto mehr Attri­bute kom­men ihm zu. Folglich hat die blo­ße Eigen­schaft für sich die ge­ring­ste Rea­li­tät. [6] Bloße Eigen­schaf­ten nicht, wie die Me­taphysiker, für sub­stan­tiel­le Dinge zu hal­­ten, ist die Lei­stung ei­­ner no­mi­nali­sti­schen Denk­tra­di­tion. Sie be­gann im 14.Jahrhundert mit Ock­ham, setz­te sich mit der humani­stischen Sprach­­­kri­­tik fort und wur­de auch von Hob­bes [7] und Spino­za zu­grun­de ge­legt. Aufklärer wie La Mettrie wandten sie kon­sequent an. Spä­te­stens mit Comte fand sie ihren konsequenten Ab­schluß. Sie sieht Be­griffe wie den des Gu­­ten oder den der Eh­re als bloß kon­ven­tio­nelle Na­­men für Ei­gen­schaf­­ten, Gefühle oder Ver­­hal­tens­weisen an. Viele ha­ben den Weg zu­rück gesucht. Sie ver­strickten sich alle in gei­stigen Ge­­­­fäng­nis­sen und ideo­logischen Fes­seln. Heute ist es nicht die Bläue des Him­­mels oder die Gü­te Gottes, son­­dern et­wa die Hu­manität, die für eine Rea­li­tät ge­hal­ten wird statt für eine Eigen­schaft. Eine Ei­gen­schaft für eine reale Sa­che zu hal­ten, wird ge­fähr­lich, wenn man auf sie als Wert eine Ideo­lo­gie baut und kon­­krete Ver­haltensan­wei­sun­gen an seine Mit­men­schen von ihr ab­lei­tet.

Damit kein Mißverständnis aufkommt: Daß es nicht die Liebe als abstrakte We­sen­heit gibt, heißt natürlich nicht, daß nicht ein Mensch den ande­ren hef­tig lieben kann; und daß es die Gerechtigkeit nicht gibt, hindert nie­manden an einem von ihm für ge­recht gehaltenen Ur­teil. Die Liebe wie alle anderen sub­stantivier­ten Um­schrei­bungen von Ge­fühlen bleibt aber unbe­dingt angewie­sen auf je­man­den, der sie emp­findet, wie die Gerechtigkeit auf jemanden, der ein Wert­urteil fällt. Natürlich gibt es Ideen tat­sächlich. Nur: wo befinden sie sich, und wer erzeugt sie? Idealisten wie Platon sehen sie an einem "Ort jen­­seits des Himmels", der Nominalist bloß im Kopf: Ohne Erzeu­ger, oh­­ne einen Kopf, der sie sich denkt, en­det das Sein aller dieser schö­nen Worte wie das Licht, wenn die Glüh­birne ka­putt geht. Es gibt kei­nen Geist und keine Gei­ster, son­dern nur Men­schen, die fühlen und denken. Wenn wir abstrakte Ideen wertschätzen, sind sie zwar als un­sere Werte wirk­lich vor­han­den, aber eben nur in uns. Sie sind exi­sten­tiell von uns ab­hän­gig, und da­rum sollen wir sie be­herr­­schen und benutzen und nicht zu ihren Die­nern werden. Wer um das Gute ei­nen Heiligen­schein malt und sich da­vorkniet, hat das eben­so­­wenig be­griffen wie der Verlierer ei­nes Prozesses, der im Ge­richts­flur die Figur der Justitia verflucht, weil sie verbun­dene Augen hat.

Wer wie Ockham Begriffe als bloße gedankliche Ab­strak­­tions­lei­stun­gen erkennt, benutzt Prinzipien pragmatisch, wie sie sich ihm eben anbieten. Er käme aber nie­mals auf die Idee, etwa für eine abstrak­te "gute Sache" zu ster­ben. Men­schen schreiben Ideen auf ihre Fah­­nen, und mit den sie tragen­den Menschen kann man diese Ideen über­­winden. In der konkreten Wirk­lich­keit des politi­schen Seins, formu­lierte Schmitt, kämp­­­­­fen keine abstrakten Ord­nun­gen und Normen­rei­hen, son­dern im­mer nur konkrete Menschen oder Ver­bän­de gegen an­dere. "Das Le­ben kämpft nicht mit dem Tod und der Geist nicht mit der Geistlo­sig­keit. Geist kämpft ge­gen Geist, Leben gegen Le­ben." [8] Es gibt kei­ne Werte außer in unse­ren Köp­fen, und es kämpfen auch keine Wer­te gegeneinander, son­dern es kämp­fen nur konkrete Men­­schen im Na­­men von Werten ge­gen­ein­an­der. [9] Darum ist der Dezi­sio­nist rea­li­stisch und prag­mati­sch.

Wenn er sich einer Ideo­logie be­dient und ge­zielt-pathe­tisch seine Göt­ter und Wer­te be­schwört, behält er stets die re­­ser­vatio men­ta­lis, die ihn im letz­­ten Win­kel seines Hin­ter­­stüb­­chens lei­se über sich selbst la­chen läßt, wenn seine Fahnen flie­gen. Der Nor­men­­be­nut­zer kann sich die di­stanzierte Selbst­ironie er­lau­­ben, zu der un­­fä­hig ist, wer vor sei­nen selbst­­ge­schaf­fenen Göttern und ihren Geboten auf den Knien her­um­rut­scht. Er weiß um die aus sei­­ner ei­ge­­nen Frei­heit hervor­ge­hen­de wahr­heitsbil­dende Kraft: Seine Wahr­­heits­­fin­dung ist immer be­wußte Wahr­­heits­er­fin­dung. "Jedes Ur­teil," das er über ein Objekt fällt, er­kennt er als "Geschöpf seines Wil­lens", an das er sich nicht ver­liert. Er bleibt der Schöp­fer, der Ur­tei­len­­de, der stets von neu­em schafft. [10] So formuliert Safranski im Sinne Stir­ners: "Dieses Den­­­ken kommt aus der Er­fah­rung der Frei­heit. Sie kann uns darüber be­lehren, daß wir zwar Wahr­hei­­ten brau­chen, aber auch das richtige Ver­­hältnis zu die­sen Wahr­hei­ten finden müs­sen. Wir be­­nö­ti­gen Souve­r­ä­ni­tät, die zur Ironie und Selbst­­distanz be­fähigt." Wer das vergißt, wird zum Die­­ner und ei­fern­­den Pro­phe­ten seiner Wahr­heit. Er verliert seine Frei­­heit ge­gen­über den ei­genen Ge­stal­tungen und Erfin­dun­gen. [11]

 

Fortsetzendes Kapitel: Determinismus und teleologisches Denken



[1] Habermas, Faktizität und Geltung, S.91.

[2] Carl Schmitt, Die Tyrannei der Werte, S.54.

[3] Donoso Cortés, Essay, S.83.

[4] L. Valla, Opera, Basel 1540, hier nach Kondylis, Metaphysikkritik,  S.66.

[5] Ockham: "in mente", Summa logicae, I Sent.d.27, q.3, hier zit. nach Kondylis, Metaphysikkritik, S.43.

[6] Spinoza, Ethik, I. Teil, Definitionen; IV.Teil, Vorrede = S.189.

[7] Hobbes, Vom Körper, I.Teil, 3.Kapitel, Ziff.3 ff.

[8] Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, S.72, 95.

[9] Kondylis, Macht und Entscheidung, S.75,85, Schmitt, Der Begriff d. P., S.95.

[10] Stirner, Der Einzige, S.378.

[11] Safranski, Wieviel Wahrheit braucht der Mensch? S.202, 189, 199.