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Auszug aus: Klaus Kunze, Mut zur Freiheit, 1998, S.64 1998
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TOLERANZ DURCH FREIE WERTSETZUNG

Toleranz durch freie Wertsetzung

Daß es im Weltall nichts und niemanden gibt, der uns Sinn und Zweck un­se­res Da­seins vor­schreibt und damit Ord­nung setzt, ist für den ei­nen uner­träg­lich; für den an­de­ren aber Grund­be­dingung sei­ner Frei­­heit. Wer sich für einen Ord­nungsentwurf ent­scheidet und sein Leben unter das eigene Ge­setz stellt, ist sich der Sub­jektivität seiner Wahr­heit und der Relativität sei­ner Ordnungs­ent­schei­dung bewußt. Sie be­ruht nur auf seinem Willen, denn eine Norm als Richtschnur mensch­lichen Han­delns exi­stiert logi­scherweise nur entweder "in uns selbst oder aber außerhalb unser. Würde man sie in uns finden, so könnte sie nichts anders sein als entweder die Ein­sicht und das Gewis­sen oder aber unser Wille selbst." [1]

Für den frei Entscheidenden hat seine normative Ordnung ihren Sinn nur für ihn allein. Aufdringliches Eifern ist ihm darum fremd. Er schart keine Jünger um sich. An­dersgläubige sieht er als Neu­trale, Freunde oder Fein­de an, je nach Lage der Dinge, nie­mals aber als Verbre­cher, Ket­zer oder zu ver­nich­tende Vertreter eines unwahren oder gar bö­sen Ord­nungs­prinzips. Das macht ihn me­taphysisch to­le­rant: Sein Welt­bild kennt keine Hölle, er braucht kei­nen Gott und kei­­nen Teu­fel. Er ist der ei­gentliche Auto­nome: der sich selbst  (áõôüò) Ge­setz (íüìïò) -Ge­­bende. Führt ein Normen­die­ner die Fahne seiner Göt­ter mit ins Feld und be­schwört seine ewi­gen und heiligen Werte, lä­chelt der Nor­men­benutzer nur milde und er­kennt in jenen Göttern die Ge­sichtszüge des Norma­tivisten wie­der. Wer ihn hinter seinem Gott oder seiner Ideolo­gie getarnt bekämpft, ist sein Gegner. Nie aber hält er den Gott oder die Ideologie für den eigentli­chen Feind. Der Gott des Nor­ma­ti­vi­sten ist ein ei­fer­süch­tiger Gott und duldet keine anderen Götter ne­ben sich. Der Gott des Dezi­sionisten sagt dagegen: "Siehe, ich bin dein Gott, den du dir nach deinem Bilde ge­schaffen hast. Du darfst dir ru­hig noch meh­rere von uns ma­chen!"

In jedem Normativismus steckt ein meta­phy­sischer Wahr­­heits­be­griff, der ihn von Anfang an intolerant macht. Das gilt auch für die­je­­ni­­gen normati­visti­schen Ver­fechter des To­le­ranz­­prin­zips, die offen un­­ter dem Paradoxon antre­ten: "Keine To­le­ranz für die Feinde der To­­­leranz." Wer so denkt, han­delt be­reits into­lerant. Die zur Norm trans­­­zendierte Toleranz hebt sich selbst logisch auf. "Wer sich selbst im Be­sitze un­umstößlicher Wahrheiten wähnt, kann dem Andersden­ken­den nicht mit To­leranz be­gegnen." [2] Das gilt auch für den, der es un­umstößlich für wahr hält, daß alle to­le­rant sein sol­len. Überdies ver­­schlei­ert der vorder­gründig tolerant klin­­gende Spruch "Keine To­le­­ranz für die Feinde der Toleranz", daß hin­­ter ihm im­mer konkre­te Wert­­entschei­dungen des Inhalts stehen: wel­che in­haltlich kon­kur­rie­ren­den Wert­haltungen nämlich noch toleriert wer­den sollen und wel­che nicht mehr.

Der Normenbenutzer ist gegen Andersdenkende normativ gleich­gül­tig und in­so­fern tole­rant. Diese Toleranz ist ihm aber wiederum gleich­gültig: Er muß sie nicht zum normativen Prinzip erheben. Auch er­streckt sie sich nur auf Normen, nicht auf die Menschen, die sich ih­rer bedienen. Wird der De­zisio­nist angegriffen - offen oder ideo­lo­gisch verbrämt - dann wird er sich nach Kräften wehren. Keine vor­ge­kaute Norm hin­dert ihn an der freien Wahl seiner Waffen, denn ge­gen sich selbst ist er ja auch to­le­rant und kennt hinsichtlich der Mittel zu sei­ner Selbst­be­haup­­tung kei­ne Vorurteile. Er kann daher in der Wahl sei­­ner nor­ma­tiven Waffen flexibel sein. Tole­rant ist der Nor­­men­be­nut­zer eben immer nur metaphysisch. Er läßt jeden glau­ben, was er will, aber nicht tun, was er will. Verstößt die Hand­lung ei­nes anderen ge­gen die In­­ter­es­sen des Dezisionisten, sieht der De­zi­sio­nist je nach La­ge der Din­ge für Tole­ranz keinen Anlaß. Sein Credo ist das des Ver­­ant­­wor­tungs­ethikers und nicht das des Ge­sinnungs­ethi­kers. Der "eine sagt: Laß gesche­hen was da will, wenn du nur nicht Schuld daran trägst, denn die ist Sünde vor Gott;" der andere aber: "Sei schul­dig, so­viel du willst, und trage die Schuld in Ehren, nur sor­ge, daß das Gute ge­sche­he!" [3] Was je­mand dem Ver­ant­wor­tungs­ethi­ker tat­säch­lich antut, ent­scheidet, nicht aber, warum er es tut. Ent­­schlos­­sen­heit zum exi­­stentiellen Kampf auf der ei­nen - Gleich­gül­tig­­keit gegen­über dem Glauben des Gegners auf der anderen, das ist auch die Hand­schrift des Dezisio­nisten.

Für ihn beschränkt Feindschaft sich auf den existentiellen Fall. Exi­sten­ti­elle Feind­schaft und meta­phy­sische Toleranz sind Schwe­stern. Jede Meta­ph­ysik erhebt den An­spruch alleiniger Letzt­gel­tung. Für ihr Ord­nungsden­ken muß der Un­gläubige immer ein Ket­zer, Verbrecher und Bösewicht sein. Wer weiß, viel­leicht gar ist er überhaupt kein Mensch? "Ein unveränderli­cher Zug im mensch­li­chen Geist," belehrt uns ein Metaphysiker, "ist der meta­phy­sische Trieb: der Drang ins Reich des Über­sinnlichen. Er ist der We­­sens­punkt allen Men­schen­tums." [4] - Schlechte Aussichten also für Dies­­seitsfreunde und An­dersgläubige! Geht ihnen nämlich das wahre Men­schen­tum ab, muß man sie in letzter Konse­quenz be­kehren oder darf sie ausrotten. Demgegenüber er­kennt die bloß exi­sten­tielle Feind­­­schaft vollkommen an, daß der Feind nor­ma­tiv eben­­bür­tig und gleich­berechtigt ist: Feind ist dann, wer mich exi­­sten­tiell negiert und be­kämpft, nicht, wer nur meinen welt­an­schau­li­chen Lebens­ent­wurf nicht teilt. Mein Feind ist also, wer mich töten oder an mei­ner von mir gewähl­ten Lebensform hindern will. Wenn über­haupt, be­­steht die ganze Me­taphysik des De­zi­sio­nisten in der Behaup­tung sei­­nes freien Willens als zentralem Wert. Er ist im Kern Selbsterhal­tungs­­wille: Die Fort­exi­stenz des freien Wil­lens wollen und die ei­gene Exi­­stenz wollen ist ein und dasselbe. Wer mich am Leben nach mei­nem Willen hin­dert, ist Feind im exi­sten­tiel­len, also ganz und gar diesseitigen Sin­ne.

Der wirkliche Feind muß daher, mit den be­­rühmten Worten Schmitts, weder häß­lich noch böse sein. [5] Es gibt keinen Grund, jeman­­den als böse zu bekämp­fen. Ge­gen­sätze wie Gut und Böse bilden notwendige Be­stand­teile fester Welt­bil­­der, kön­nen aber immer nur in einer be­stimmten Per­spektive, näm­lich der des er­leben­den Subjekts, als sol­che gesehen werden. [6] Das Bil­­den von Gegen­satz­paaren ist nichts als eine "Denkform, die wie die Nei­gung zu einheit­li­chen Erklä­rungs­prin­­zipi­en dem Menschen of­fen­­­­bar ange­bo­­ren ist und ge­wis­­ser­maßen ein Ge­gen­ge­wicht gegen sie bil­­­det." [7] Der Normen­be­nut­zer erkennt nicht nur, daß "Gut und Böse antithetische Be­stand­teile des­selben Welt­bil­des aus­­machen, das heißt nur in einer be­stimm­ten welt­an­­schaulichen Per­­spek­tive als solche angesehen wer­den." [8] Er wird schon miß­trau­isch, wenn ihm ein Ge­gen­satz­paar auf­ge­nö­tigt wird, und sucht nach der dahinter stehen­den Me­ta­physik: "Der Grund­­glau­be der Me­ta­phy­si­­ker ist der Glaube an die Gegensätze der Wer­te. ... Man darf näm­lich zweifeln, er­stens, ob es Gegen­sätze über­­­haupt gibt, und zwei­tens, ob jene volks­tümli­chen Wert­schät­zun­gen und Wert-Ge­gen­sätze, auf wel­­che die Meta­physiker ihre Siegel ge­­drückt ha­ben, nicht viel­leicht nur Vordergrunds-Schät­zun­gen sind, nur vorläufige Per­­spektiven, viel­­­leicht noch dazu aus ei­nem Winkel her­­aus, viel­leicht von unten hin­auf, Frosch­perspekti­ven gleich­sam." [9]  

 

  fortsetzendes Unterkapitel: Die Götter bleiben in ihren Gräbern



[1] Heineccius, Elementa juris, Buch I, Kap.III, § 61, S.58.

[2] Backes / Jesse, Politischer Extremismus, S.173.

[3] Hartmann, Ethik, S.820.

[4] E.J.Jung, Herrschaft, S.28.

[5] Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, S.26 f.

[6] Kondylis, Macht und Entscheidung, S.23.

[7] Lorenz, Die Rückseite des Spiegels, S.63, 238.

[8] Kondylis, Macht und Entscheidung, S.23.

[9] Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr.2.