Wenn er außerhalb seiner Grenzen keinen Feind hätte,
  
so würde er ihn im Innern finden.
  
Dies scheint das unvermeidliche
Schicksal 
    
aller größeren Freistaaten zu sein.
  
Niccolò Machiavelli
  
  [1]
          Der 
            Liberalismus wird weltanschaulich totalitär. Wir brauchen eine Aufklärung, 
            die uns über die erste und ihr mißratenes liberales Kind aufklärt 
            und ins postideologische Zeitalter führt. Vorläufig herrscht die 
            institutionalisierte Toleranz so intolerant wie jede hypertrophierte 
            Moral, hinter der mit unermüdlichem Eifer das Richtschwert wandelt. 
            Heute wird medial hingerichtet, nicht mehr körperlich. Die Stelle 
            inquisitorischer Instrumente wie der kirchlichen Disziplin und der Exkommunikation nehmen heute der moralische 
            Terror und der soziale Boykott ein.
            
            
             
            
            [2] 
            
             Die besondere Gefährlichkeit des 
            Parteienstaates beruht auf seiner ideologischen Homogenität 
            und dem von Parteien über die Medien ausgeübten Gesinnungsdruck. 
            Nach Kelsen
            
            
            möchte die liberale Demokratie gern "der Ausdruck eines 
            politischen Relativismus und einer wunder- und dogmenbefreiten, 
            auf den menschlichen Verstand und den Zweifel der Kritik gegründeten 
            Wissenschaftlichkeit" 
            
            [3] 
            
             sein. In einem säkularisierten, 
            weltanschaulich neutralen Staat dürfte es liberaler Ansicht 
            nach keine freiheitliche demokratische Staatsreligion geben.
            
            
             
            
            [4] 
            
             Es gibt sie dennoch. 
          Seinem 
            Selbstbild und seiner aufklärerischen Eigenrechtfertigung 
            nach soll der Liberalismus seinen Bürgern angeblich ein nie gekanntes 
            Maß an Geistesfreiheit ermöglichen. Der demokratische Liberalismus 
            sieht sich mit seiner Eigenrechtfertigung im entschiedenen 
            Gegensatz zur "totalitären Diktatur", welche "die 
            Rechtfertigung der richtigen Politik durch Rückgriff auf erste, 
            wahre Prinzipien" will. Er möchte die "Dogmatisierung 
            des politischen Irrtums" verhindern
            
            
             
            
            [5] 
            
             und lehnt offiziell "eine positive, 
            inhaltliche Normierung und Festschreibung des sozialen Lebens 
            nach vorgefaßten
            
            
            ... 
            
            
            Postulaten" ab. Die liberale Selbsteinschätzung als kritisch, 
            rationalistisch und aufgeklärt ist aber brüchig. Ihr Dilemma 
            besteht darin, daß der Liberale gegenüber konkurrierenden Ideologen 
            wehrlos dastünde, wenn er ihnen, getreu seiner Selbstrechtfertigung, 
            nur liberal gegenübertreten und sich selbst kritisch-rationalistisch 
            betrachten würde. Tatsächlich sieht er alle anderen Weltanschauungen 
            mit kritisch-rationalistischen, aufgeklärten Augen, nur sich selbst 
            nicht. "Dies fing in der Nachkriegszeit mit Poppers
            
            
            Theoremen an, die die Relativität menschlichen Wissens in dem Maße 
            betonen, wie dies in der Polemik gegen die Totalitätsansprüche 
            des Marxismus-Leninismus nötig erschien - wobei Motor der Polemik 
            ein unerschütterliches Glaubensbekenntnis zu den westlichen 
            Werten war." 
            
            [6] 
            
            
          Wie 
            jedes Herrschaftssystem würde der Liberalismus untergehen, wenn 
            er die geistigen Grundlagen seiner Macht nicht mit Gesinnungsdruck 
            verteidigen, würde, wo sie angegriffen werden. Die weltliche Macht 
            über die Menschen behält man nur durch die spirituelle Kontrolle 
            über ihren Glauben. Trotz liberal-aufklärerischer Attitüde 
            muß auch der Liberalismus an sich selbst glauben, weil sich die liberale 
            Ratio nicht mit sich selbst begründen kann. Darum muß er mit seinen 
            eigenen Prämissen brechen und sich mit quasi-religiöser Inbrunst 
            verteidigen, sobald er grundsätzlich in Frage gestellt wird. 
            Diese Prämissen bilden heute mit humanitaristischen Moralforderungen 
            ein Amalgam, eine zäh-klebrige Masse unreflektierter Versatzstücke 
            aus dem Glauben an das Gute im Menschen, anti-staatlichen Affekten 
            und anti-autoritären Ressentiments. Überdies ist der Liberalismus 
            in Deutschland eine Liebesehe eingegangen mit dem Betroffenheitskult 
            und einer Vergangenheitsbewältigung, deren moralisierende Imperative 
            seiner senilen Leere eine neue Seele einbliesen.
          Liberalismus 
            und Sozialismus sind Kinder der Aufklärung. Deren Dilemma besteht 
            darin, daß sie den Menschen von Vorurteilen und der auf ihnen beruhenden 
            Herrschaft befreien wollte. Das kritische Hinterfragen von Wert-Vorurteilen 
            geht aber Hand in Hand mit einer allgemeinen Relativierung, die 
            am Ende das Befreiungspathos selbst verschlingen muß. So steht der 
            Aufgeklärte schließlich vor der Frage, auf Grund welcher Werte 
            er eigentlich aufgeklärt sein soll und wo er bei allem Aufgeklärtsein 
            noch die Letztrechtfertigung für tugendhaftes Handeln herleiten 
            soll. Der Zwiespalt der liberalen Spielart der Aufklärung besteht 
            also darin, daß sie gern freiheitlich und pluralistisch sein möchte, 
            "liberal" eben, so daß moralische oder religiöse Dogmen 
            quer zu ihrer kritisch-rationalistischen Eigenrechtfertigung 
            zu liegen scheinen; daß die Einlösung ihres Pluralismusversprechens 
            aber zu ihrer faktischen Selbstaufgabe führen würde. 
          An 
            dieser Wegscheide kann der aufgeklärte Liberale drei Wege einschlagen: 
            Der logisch sauberste weist auf die Vollendung der Aufklärung im Nihilismus 
            und führt alle Werte, einschließlich der eigenen, auf bloße Konvention 
            zurück. Den zweiten hatte der bürgerliche Liberalismus eingeschlagen. 
            Er bestand - typisch liberal - im Ausweichen vor der Entscheidung: 
            Von seinen monarchischen, sozialistischen und anderen unreinen Geistern 
            suchte man den Menschen zu befreien, bürdete ihm zugleich aber einen 
            Sack liberaler Moralbegriffe auf. Der dritte Weg stand unter demokratischem 
            Vorzeichen. Er hob die Aufklärung kurzerhand wieder auf, indem er 
            seine Werte für heilig und ewig erklärte und sie damit zum Gegenstand 
            religiöser Verehrung machte. Als zentraler Wertbegriff trat der Mensch 
            an die Stelle Gottes, und zwar nicht irgendein wirklicher Einzelmensch 
            oder viele bestimmte Einzelmenschen, sondern eine abstrakte Idee 
            vom Wert des Menschen an sich. 
            
          "Weil 
            diese zur Menschlichkeit vollendete Sittlichkeit mit der Religion, aus der sie geschichtlich 
            hervorgegangen, sich völlig auseinandergesetzt hat," formulierte 
            Stirner
            
            
            , "so hinderte sie nichts, auf eigene Hand Religion zu werden." 
            Dazu komme es, wenn dem Menschen der Mensch das höchste Wesen sei: 
            "Hat man da nicht wieder den Pfaffen? Wer ist sein Gott? Der Mensch? Was ist das Göttliche? Das Menschliche!" Am Ende des 
            Zeitalters der Massendemokratie hat der Liberalismus seine politischen 
            Gegner aus dem Feld geschlagen. Nachdem er keine Gegner mehr hat, 
            sondern nur noch Untertanen, mußte er zu seiner Selbstbehauptung Religion werden. "Diese Religion 
            soll jetzt" - 1844 - "zur allgemein üblichen erhoben
            
            
            ... 
            
            
            werden. Man kann sie die Staatsreligion, die Religion des 'freien 
            Staates' nennen," für welche er "von jedem der Seinigen" 
            zu "fordern nicht nur berechtigt, sondern genötigt ist." 
            
            
             
            
            [7] 
            
             Weil der Humanitarismus zur Religion 
            geworden ist, gibt er sich nicht damit zufrieden, uns ein gesetzestreues 
            Verhalten aufzuerlegen. Er versucht uns vorschreiben, wen wir lieben 
            müssen und wen wir nicht hassen dürfen.
          Parallel 
            zu eben diesem humanitaristischen Moralkodex erhob ein wütender Fundamentalismus 
            das Grundgesetz in den Rang einer heiligen Offenbarung. Der "liberal-konstitutionelle 
            Verfassungs-Normativismus" folgte aus dem liberalen Gesetzesdenken 
            des 19. Jahrhunderts, das die Herrschaft des rex 
            durch die des lex ersetzen wollte. 
            
            
             
            
            [8] 
            
             "Von Erdenballast entlastet, 
            kann der Verfassungspatriotismus," mit den Worten Isensees,
            
            
"alle irdischen Unterscheidungen zwischen Völkern und 
            Staaten hinter sich lassen, aufsteigen zur Höhe der reinen Normen 
            und weiter zu den Ideen von diesen Normen." Tendenziell wachse die Neigung, "aus dem 
            Grundgesetz, seiner Selbstbescheidung zum Trotz, ganzheitliche 
            Programme für Kultur, Wirtschaft, Erziehung, Moral abzuleiten, 
            seine demokratischen, sozialen und grundrechtlichen Normen 
            religiös zu überhöhen und die Verfassung als säkulares Glaubensbekenntnis 
            zu deuten." 
            
            [9] 
            
             Es ist sinnlos, gegen diesen Brei 
            aus inquisitorisch guter Gesinnung zu argumentieren. Fanatiker können allenfalls 
            bekehrt, nie aber überzeugt werden.
            
            
             
            
            [10] 
            
            
          Wie 
            sich der real existierende Liberalismus aus dem ihm eigentlich verhaßten 
            Arsenal seiner ideologischen Gegner bewaffnet, zeigt sich bereits 
            in seinem äußeren Alltag. Die Hypertrophie seiner verabsolutierten 
            Moral hat sakrale Formen angenommen. "Es gibt heute", 
            sagte Pareto
            
            
            , "eine humanitäre Religion, die den Gedankenausdruck 
            der Menschen reguliert, und wenn sich zufällig einer dem entzieht, 
            dann erscheint er als Ungeheuer, wie jemand im Mittelalter als Ungeheuer 
            erschienen wäre, der die Göttlichkeit Jesu geleugnet hätte." 
            
            [11] 
            
             Politische Reden werden "wie 
            ein moralisch-rhetorisches Hochamt begangen", in dem "die 
            Liturgie vom guten Menschen zelebriert wird" 
            
            
             
            
            [12] 
            
             Nicht zufällig entfernt sich der deutsche 
            Alltag seit einigen Jahren wieder von jener nüchternen Nachkriegszeit. 
            Damals hatten die vom NS-System noch wirklich Betroffenen von 
            Pathos und Aufmärschen, Fahnen, Schwüren, Hymnen und Fackelzügen 
            die Nase voll. Die nachgeborenen Betroffenen ahmen in steigendem 
            Maße wieder die äußeren Formen religiöser Kulthandlungen nach, 
            wie sich auch bereits die Aufmärsche und Feierstunden der Nationalsozialisten 
            und der Kommunisten bewußt der äußeren Formen religiöser Kulthandlungen 
            bedient hatten. So ist es kein Zufall, wenn wir evangelische Pastoren 
            an der Spitze von Lichterketten marschieren sehen. Diese gehören 
            zur Familie der Fackelzüge und Bußprozessionen und gehen letztlich 
            auf vorchristlich-archaische Kulthandlungen zurück. Es ist 
            auch kein Zufall, wenn CDU-Strategen die "Stigmatisierung" 
            politischer Gegner anstreben. In diesen Zusammenhang gehören 
            die gebetsmühlenartig wiederholten Betroffenheitslitaneien 
            ebenso wie der gesellschaftliche Bann für Ungläubige. 
          Jede 
            Herrschaftsrechtfertigung ist eben in ihrem Kern Religion. "Alle 
            prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte 
            theologische Begriffe," denn jede große politische Frage birgt 
            eine große theologische Frage in sich.
            
            
             
            
            [13] 
            
             Daher ist jedes System nur im Kern 
            seiner metaphysischen Letztrechtfertigung erfolgreich angreifbar. 
            Diese wird es diese mit quasireligiöser Inbrunst verteidigen 
            und dabei mit den Waffen der Ketzerverfolgung zurückschlagen 
            müssen, oder es wird untergehen. Es genügt nicht, die Handlungen 
            des Abweichlers zu verbieten. Auf Dauer läßt sich ein System 
            nur verteidigen, wenn es alle Taten und die Gesinnung desjenigen 
            verflucht, der es abschaffen will. Der Humanitarismus ist die Zivilreligion 
            des Liberalismus. Der angeblich aufgeklärte, säkularisierte 
            Deutsche des ausgehenden 20. Jahrhunderts entpuppte sich als ebenso 
            anfällig für das Pathos der heute dominanten humanitaristischen 
            Zivilreligion wie sein mittelalterlicher Vorfahre für die 
            christliche Religion. 
          Jedes 
            Zeitalter hat seine eigenen Mythen. Heute erfüllt der Glaube, 
            daß alle Gewalt vom Volk komme, eine ähnliche Funktion wie früher 
            der Glaube, alle obrigkeitliche Gewalt komme von Gott. 
            
            [14] 
            
             Nun kann man das 
            Volk an sich weder nach seinem Generalwillen            fragen, noch kann es unmittelbar das Zepter ergreifen. Seine 
            nominelle Herrschaftsmacht über den einzelnen können seine Gläubigen 
            nur begründen, indem sie es als transzendente Wesenheit einstufen, 
            und zwar als "höheres Wesen als ein Einzelner", und indem 
            sie einen "gleich dem Menschen oder Menschengeiste in den Einzelnen 
            spukenden Geist" orten: den Volksgeist.
            
            
             
            
            [15] 
            
             Von seinen Gnaden regiert man heute, 
            und so sprach Robert Michels
            
            
            1911 treffend vom Gott der Demokratie. 
            
            [16] 
            
             Zu den Dogmen der humanitaristischen 
            Zivilreligion gehören neben der Souveränität des transzendent 
            aufgefaßten Volkes ein metaphysisches Verständnis der Menschenrechte 
            und ähnliche Gedankenkonstrukte. Sie werden von ihren Gläubigen 
            mit derselben Wut verteidigt, über die Voltaire
            
            
            im März 1737 an Friedrich schrieb: "Alle Theologen aller 
            Länder [sind] Leute, die von heiligen Schimären trunken sind, [und] 
            ähneln jenen Kardinälen, die Galilei
            
            
            verdammten..." So zeigt sich heute der theologische Kern 
            der humanitaristischen Menschenrechts- und Demokratietheorie, 
            der alle Säkularisierungen überstanden hat.
            
            
             
            
            [17] 
            
             Demokratie, Humanität und Betroffenheit 
            werden heute nicht rational benutzt, sondern ideologisiert und 
            wie eine säkularisierte Theologie gepredigt. 
          Mit 
            welchen Begleiterscheinungen so etwas vonstatten zu gehen pflegt, 
            hatte Friedrich
            
            
            der Große am 4.11.1736 an Voltaire formuliert: "Was die Theologen 
            angeht, so scheint es, als ähnelten sie sich alle im allgemeinen, 
            gleich welcher Religion oder Nation sie angehören; stets ist es 
            ihr Bestreben, sich über die Gewissen eine despotische Autorität 
            anzumaßen." 230 Jahre nachdem Friedrich das schrieb, folgte 
            auf die skeptische Nachkriegsgeneration wieder eine theologisierende: 
            Wo moralische Hypotheken und Schuldvorwürfe das Gewissen überlasteten, wurde sie das Gewissen, um Gewissen nicht 
            mehr haben zu müssen; sie 
            entkam dem Tribunal, indem sie es wurde.
            
            
             
            
            [18] 
            
             Sie verteidigt ihr philiströses 
            Moralin mit derselben Inbrunst wie die Gläubigen aller Zeiten 
            ihre jeweiligen Götter. Friedrich
            
            
            hatte sie in einem Brief an Voltaire am 6.7.1737 so charakterisiert: 
            "In Deutschland fehlt es nicht an abergläubischen Leuten, 
            auch nicht an von Vorurteilen beherrschten und bösartigen Fanatikern, 
            die umso unverbesserlicher sind, als ihnen ihre tumbe Unwissenheit 
            den Gebrauch der Vernunft verbietet. Es steht fest, daß man im 
            Dunstkreis solcher Untertanen vorsichtig sein muß. Selbst der 
            ehrenhafteste Mensch ist verschrien, wenn er als Mann ohne Religion 
            gilt. Religion ist der Fetisch der Völker. Wer auch immer mit profaner 
            Hand an sie rührt, er zieht Haß und Abscheu auf sich." 
            
            [19] 
            
             
          Wer 
            einen Gott braucht, braucht auch einen Teufel. Wie die Hohepriester 
            aller Religionen Sündenböcke suchen, benötigt der liberale Staat 
            den seinen. Wer mit profaner Hand an die vergötterte Demokratie 
            rührt oder sie gar anzweifelt, stößt sich selbst aus der Gemeinschaft 
            der Guten so sicher aus wie jeder Ketzer in irgend einem Zeitalter. 
            Wer das nicht glaubt, kann ja einmal öffentlich bekennen, kein Demokrat 
            oder nicht betroffen zu sein, und warten, was dann passiert: Er 
            zieht unweigerlich die soziale Reaktion des Mobbing auf sich: 
            die Gruppenhatz. Ein rigider moralisierender Kollektivismus läßt 
            ihn schnell erfahren, was das Wort Sündenbock eigentlich bedeutet 
            und was es heute heißt, einer zu sein: Wie in allen Zeiten der Sündenbock 
            rituell geschlachtet wurde, um symbolisch die Sünden der Gemeinschaft 
            der Rechtgläubigen auf sich zu ziehen und jene zu erlösen, fühlt 
            sich der moderne Betroffene gleich besser, wenn in einer Talkschau, 
            der Mitternachtsmette der liberalen Diskursgesellschaft, mit 
            gehörig betroffener Miene der Neonazi beschworen, verdammt und 
            ausgetrieben wurde. Oh Herr, ich danke dir, daß ich nicht so scheußlich 
            bin wie jener! In Sodom und Gomorrha soll es leider keinen Gerechten 
            mehr gegeben haben. Im Liberalismus gibt es nur Gerechte: Pharisäer 
            - Selbstgerechte - sagte man früher. - Die totale Moralisierung 
            des öffentlichen Lebens nimmt uns ins Gebet, um uns nie wieder daraus 
            zu entlassen. Sie gängelt uns mit angeblichen Sünden unserer Großväter 
            und trichtert ihr Gegengift bis zum Erbrechen den Enkeln ein, ohne 
            zu merken, daß ihr Patient schon lange tot ist. Der moralische Bewältigungsrausch 
            sucht sich seine Opfer, und wo keine leibhaftigen Bösewichter mehr 
            aufzutreiben sind, muß er seine Wut in sinnlosem Leerlauf an Unschuldigen 
            abarbeiten. 
          So 
            kommt es zu dem von Marquard 
                
                
                als Übertribunalisierung bezeichneten Phänomen: Während 
            der sündige Christ noch auf göttliche Gnade hoffen durfte, wird 
            der säkularisierte Sünder zum "absoluten Angeklagten" 
            vor einem moralischen "Dauertribunal, dessen Ankläger und 
            Richter der Mensch selber ist" und "unter absoluten Rechtfertigungsdruck, 
            unter absoluten Legitimationszwang gerät." Das hält nur ein 
            Gemütsathlet oder Zyniker auf Dauer durch. Wer dagegen für moralische 
            Vorwürfe empfindlich ist, weil er bei aller Skepsis sein moralisches 
            Gesetz in sich fühlt, muß irgendwann - wie von ihm verlangt - 
            in die Knie gehen oder mit Ekel und Abscheu den Moralkomplex insgesamt 
            über Bord werfen. Der "totale Rechtfertigungsdruck" ist 
            nach Marquard "menschlich unaushaltbar und unlebbar." Die 
            absolute Moral läßt nicht mit sich verhandeln und antichambrieren. 
            Sie ist insbesondere taub gegenüber einer Zahlenmystik, mit der 
            mancher meint, metaphysisch begründete und darum eben doch kollektiv 
            gemeinte Schuldvorwürfe herunterrechnen oder aufrechnen zu können. 
            Ihrerseits mythische Zahlen kann man aber nicht mathematisch herunterrechnen. 
            Die Moralinkröte können wir darum nur insgesamt schlucken oder 
            ausspucken, denn selbst kleinste Häppchen wirken so giftig wie 
            das ganze Biest. Die "Hypertrophie des Legitimationszwangs" 
            läßt uns nur den "Ausbruch in die Unbelangbarkeit" 
            der totalen Individualität: 
            
            [20] 
            
             Dieser Rückzug vor der absoluten 
            Moral auf uns selbst führt zum konsequenten Nominalismus und 
            Dezisionismus. Dieser schafft sich seine eigene Moral neu und 
            macht sich somit unangreifbar, oder er verläßt völlig das moralische 
            Kampfgebiet, weil er auf ihm nicht siegen kann. "Unbelangbar" 
            ist er auf jedem Gebiet seiner Wahl, wenn es nur moralisch neutral 
            ist. "Es gehört zur Dialektik einer solchen Entwicklung, daß 
            man gerade durch die Verlagerung des Zentralgebiets stets ein 
            neues Kampfgebiet schafft." 
            
            
             
            
            [21] 
            
             Als Rückzugsfelder bieten sich an 
            das Ästhetische 
            
            [22] 
            
             
            
            
            , das in der Nachkriegszeit bevorzugte Ökonomische oder das Politische. 
            -
          Jede 
            Theorie, welche die einfachen, aber unangenehmen Wahrheiten durchschaut 
            und die kommunikativen Spinnweben zerreißt, "ohne dies mit der 
            Verheißung der Emanzipation zu verkuppeln, wird von Habermas
            
            
            und seinen Anhängern nicht als hinzunehmende geistige Konkurrenz 
            betrachtet, sondern als bösartiger Feind aufs äußerste bekämpft.
            
            
            ... 
            
            
            Der schwärzeste aller Teufel heißt im Zweifelsfalle: Carl Schmitt." 
            
            
            
            
             
            
            [23] 
            
             Der wußte schon 1932, "daß die 
            Menschen im allgemeinen, wenigstens so lange es ihnen erträglich 
            oder sogar gut geht, die Illusion einer ungefährdeten Ruhe lieben 
            und 'Schwarzseher' nicht dulden. Den politischen Gegnern einer klaren 
            politischen Theorie wird es deshalb nicht schwer, die klare Erkenntnis 
            und Beschreibung politischer Phänomene und Wahrheiten im Namen irgendeines 
            autonomen Sachgebiets als unmoralisch, unökonomisch, unwissenschaftlich 
            und vor allem - denn darauf kommt es politisch an, als bekämpfenswerte 
            Teufelei hors-la-loi zu erklären." 
            
            
             
            
            [24] 
            
             Die absolute Moral duldet neben 
            sich kein autonomes, noch nicht moralindurchtränktes Sachgebiet. 
            Alles nicht Moralische erklärt sie für "böse, ebenso dann, wenn es falsch, wie auch dann, wenn es" aus 
            moralischer Sicht überflüssig oder gar kontraproduktiv ist. Denn 
            was nicht für die moralische "Kritik ist, ist gegen die Kritik 
            und also Sünde. So werden bei diesem bacchantischen Taumel, an dem 
            kein Glied nicht trunken sein darf, gerade jene exkommuniziert, die 
            nüchtern bleiben." 
            
            
             
            
            [25] 
            
            
          Der 
            Liberalismus mußte zwangsläufig totalitär werden, sobald eine wachsende 
            und nicht mehr ohne weiteres beherrschbare Zahl seiner Untertanen 
            mit ihren Interessen in Konflikt zu den Interessen derjenigen 
            kam, welche durch den liberalen Status quo bevorzugt werden. Die 
            liberale Auffassung vom Staat als großem Betrieb führt zur Öffnung 
            der Grenzen und zur Privatisierung wichtiger Lebensbereiche wie 
            demjenigen der öffentlichen Sicherheit. Sie widerspricht aber den 
            Bedürfnissen vieler Bürger. Die Beispiele ließen sich beliebig 
            vermehren. Dem Pochen von immer mehr Bürgern auf gegen den Liberalismus 
            gerichteten persönlichen und nationalen Interessen kann dieser 
            nur noch damit begegnen, daß er es als ketzerisch brandmarkt, seine 
            Abweichler stigmatisiert oder als Neonazis dämonisiert. Der Kultus 
            der Staatsreligion Liberalismus mit seinen von Pastoren angeführten 
            Lichterketten und Betroffenheitsriten, seinen Tabuzonen und 
            Exorzismen wird sich allerdings nur halten können, wenn es dem 
            Liberalismus gelingt, die Anzahl seiner Gegner rechtzeitig durch 
            Masseneinwanderung in die Minderheit zu drängen und weiterhin sozial 
            und politisch auszuschalten.
          Gegenwärtig 
            ist kein Ende in Sicht. Die Tabuwaffe und mit ihr die tabuisierten
            
            
            Ideologeme werden gnadenlos mißbraucht. Ilmar Tammelo
            
            
            stellte bedauernd fest, sogar ihre bloße Erwähnung rufe Feindseligkeit 
            hervor. 
            
            [26] 
            
             Eines der heikelsten Probleme sei 
            das der ethnischen Unversehrtheit: "Tabuartige Haltungen sind 
            verbunden sowohl mit der Forderung nach ethnischer Trennung als 
            auch mit dem angeblich aus der Idee der Menschenwürde stammenden 
            Gebot, daß diese Trennung zu verurteilen sei. So prallen hier antagonistische 
            Tabus aufeinander. Für die Philosophie steht nicht von vornherein 
            fest, welcher Forderung vom Gerechtigkeitsstandpunkt aus stattzugeben 
            sei. Sowohl die Einheit als auch die Gliederung und Vielfalt der 
            Menschen sind Werte." Nicht nur bei diesem Wertestreit entsteigen 
            Götter ihren Gräbern, wenn man Werte transzendiert und mit Tabus umgibt. 
            Weitere Tabus seien die bei der Sterbehilfe fragliche Heiligkeit des 
            Menschenlebens und die Demokratie. Über diese, "die Gerechtigkeit 
            zutiefst berührenden Probleme ist sehr schwer, ja gefährlich zu 
            sprechen, weil man auf diese Weise auf zähe Vorurteile prallt."
           Jede 
            Herrschaftsideologie umgibt ihre Arcana mit Tabus. Deren Funktion 
            besteht darin, den Beherrschten eine Ethik zu verordnen, unter deren 
            Geltung nicht nur die Herrschenden weiter herrschen und die Beherrschten 
            weiter beherrscht bleiben, sondern sich darüber hinaus des Beherrschtwerdens 
            erfreuen und es als ethisch anstößig empfinden, überhaupt die Frage 
            nach der Legitimation der Herrschaft aufzuwerfen oder gar gegen 
            sie anzukämpfen. Dem juristischen Verbot des weiteren Kampfes um 
            die Macht folgt das moralische: Der Unterlegene soll mit der Moral 
            des Siegers dessen Status quo akzeptieren und eine Wiederaufnahme 
            des Kampfes noch nicht einmal mehr denken dürfen. Der endgültigen 
            Durchsetzung der etablierten Macht folgt die Moralisierung des 
            Politischen. Dem Unterlegenen wird eingeredet, daß es moralisch 
            böse und ethisch anstößig sei, um Macht zu kämpfen, ja daß es überhaupt 
            keine existentielle Feindschaft gibt, die das Kämpfen lohnen würde. 
            Das Friedlichkeitsgebot ist die Waffe des Siegers, und die Wiederaufnahme 
            des Kampfes wird zum Gedankenverbrechen; schließlich zum Tabu. 
            Dieses kann unter den Bedingungen des Medienstaates errichtet, 
            durchgesetzt und instrumentalisiert werden.
          Wie 
            gezielt ein Altlinker die Tabuwaffe zu führen weiß, schildert Schrenck-Notzing:
            
            
            
            
"Unbefangen schildert Adler,
            
            wie er dann an der FU in Berlin beim SDS lernte, die Waffe selbst 
            zu verwenden: 'Ich konnte es genießen, wenn ich sah, wie ganz normale 
            liberale Leute in einer Diskussion den Kürzeren zogen, wenn jemand 
            das Wort faschistisch gebrauchte, evtl. verstärkt durch die Andeutung der KZs mit 
            entsprechendem Tabu-Gesichtsausdruck, drohend ernst, Stirn 
            in Falten, Augen ins Unendliche ... Wem dies noch zu abstrakt war, 
            dem wurden die Gaskammern vor Augen geführt, womit jeder sehen 
            konnte, wohin das führte, wenn man so dachte.' Das Wort Tabu-Gesichtsausdruck ist kein Zufall: 
            Meinhard Adler ist in der Tat der Ansicht, daß es beim Bewältigungs-Ritus 
            um ein methodisches Aufrichten von            Tabus geht. Die 'angebliche Tabubefreiung in unserer Gesellschaft' 
            ist für ihn bloße Rhetorik: 'Es hat lediglich eine Tabugebietsverschiebung 
            stattgefunden. War es früher bei Ächtung verboten, die Kraft der 
            Erektion und der Sinnlichkeit öffentlich nachzuempfinden, so 
            ist es heute bei gleicher Ächtung verboten, die faszinative Kraft 
            von Ordnung, Autorität und Kampf zu empfinden.' " 
            
            [27] 
            
            
          Die 
            innere Logik des Liberalismus vollendet sich, wo die Betroffenheit 
            zum Geschäft wird und hauptberufliche Prediger des Bewältigungskultes 
            ihre Pfründe daraus ziehen. Als die Moral in Person und darum moralisch 
            unangreifbar sind sie in jedem öffentlich-rechtlichen Sender die 
            heimlichen Herrscher, die Seele des Betriebs. Die geschicktesten 
            Berufsbewältiger wie die einst als Edith Rohs geborene evangelische 
            Berlinerin schlüpfen sogar durch Namensänderung in die Opferrolle, 
            so daß sie als "Lea Rosh" 
            
            
            NDR-Intendantin werden durfte. Während man im Dritten Reich Ahnenforschung 
            zur Auffindung der arischen Großmutter betrieb, erklärte sie stolz: 
            "Rosh ist mein Mädchenname. Richtig ist, daß ein Großelternteil 
            jüdischen Glaubens war. Insofern mußte ich keine jüdische Identität 
            annehmen." 
            
            [28] 
            
             So erweist sich die liberale Zivilreligion 
            als rundherum einträglich und nützlich, jedenfalls für ihre Diener: 
            "Ohne Zweifel wird man die Religion für die beste halten, die 
            ihre Diener am meisten mit Reichtum und Ehren überhäuft hat und 
            die mit den wirksamsten Mitteln ausgestattet ist, ihre Schafe zu 
            scheren und doch in Gehorsam zu halten." 
            
            
             
            
            [29]