Wenn er außerhalb seiner Grenzen keinen Feind hätte,
so würde er ihn im Innern finden.
Dies scheint das unvermeidliche
Schicksal
aller größeren Freistaaten zu sein.
Niccolò Machiavelli
[1]
Der
Liberalismus wird weltanschaulich totalitär. Wir brauchen eine Aufklärung,
die uns über die erste und ihr mißratenes liberales Kind aufklärt
und ins postideologische Zeitalter führt. Vorläufig herrscht die
institutionalisierte Toleranz so intolerant wie jede hypertrophierte
Moral, hinter der mit unermüdlichem Eifer das Richtschwert wandelt.
Heute wird medial hingerichtet, nicht mehr körperlich. Die Stelle
inquisitorischer Instrumente wie der kirchlichen Disziplin und der Exkommunikation nehmen heute der moralische
Terror und der soziale Boykott ein.
[2]
Die besondere Gefährlichkeit des
Parteienstaates beruht auf seiner ideologischen Homogenität
und dem von Parteien über die Medien ausgeübten Gesinnungsdruck.
Nach Kelsen
möchte die liberale Demokratie gern "der Ausdruck eines
politischen Relativismus und einer wunder- und dogmenbefreiten,
auf den menschlichen Verstand und den Zweifel der Kritik gegründeten
Wissenschaftlichkeit"
[3]
sein. In einem säkularisierten,
weltanschaulich neutralen Staat dürfte es liberaler Ansicht
nach keine freiheitliche demokratische Staatsreligion geben.
[4]
Es gibt sie dennoch.
Seinem
Selbstbild und seiner aufklärerischen Eigenrechtfertigung
nach soll der Liberalismus seinen Bürgern angeblich ein nie gekanntes
Maß an Geistesfreiheit ermöglichen. Der demokratische Liberalismus
sieht sich mit seiner Eigenrechtfertigung im entschiedenen
Gegensatz zur "totalitären Diktatur", welche "die
Rechtfertigung der richtigen Politik durch Rückgriff auf erste,
wahre Prinzipien" will. Er möchte die "Dogmatisierung
des politischen Irrtums" verhindern
[5]
und lehnt offiziell "eine positive,
inhaltliche Normierung und Festschreibung des sozialen Lebens
nach vorgefaßten
...
Postulaten" ab. Die liberale Selbsteinschätzung als kritisch,
rationalistisch und aufgeklärt ist aber brüchig. Ihr Dilemma
besteht darin, daß der Liberale gegenüber konkurrierenden Ideologen
wehrlos dastünde, wenn er ihnen, getreu seiner Selbstrechtfertigung,
nur liberal gegenübertreten und sich selbst kritisch-rationalistisch
betrachten würde. Tatsächlich sieht er alle anderen Weltanschauungen
mit kritisch-rationalistischen, aufgeklärten Augen, nur sich selbst
nicht. "Dies fing in der Nachkriegszeit mit Poppers
Theoremen an, die die Relativität menschlichen Wissens in dem Maße
betonen, wie dies in der Polemik gegen die Totalitätsansprüche
des Marxismus-Leninismus nötig erschien - wobei Motor der Polemik
ein unerschütterliches Glaubensbekenntnis zu den westlichen
Werten war."
[6]
Wie
jedes Herrschaftssystem würde der Liberalismus untergehen, wenn
er die geistigen Grundlagen seiner Macht nicht mit Gesinnungsdruck
verteidigen, würde, wo sie angegriffen werden. Die weltliche Macht
über die Menschen behält man nur durch die spirituelle Kontrolle
über ihren Glauben. Trotz liberal-aufklärerischer Attitüde
muß auch der Liberalismus an sich selbst glauben, weil sich die liberale
Ratio nicht mit sich selbst begründen kann. Darum muß er mit seinen
eigenen Prämissen brechen und sich mit quasi-religiöser Inbrunst
verteidigen, sobald er grundsätzlich in Frage gestellt wird.
Diese Prämissen bilden heute mit humanitaristischen Moralforderungen
ein Amalgam, eine zäh-klebrige Masse unreflektierter Versatzstücke
aus dem Glauben an das Gute im Menschen, anti-staatlichen Affekten
und anti-autoritären Ressentiments. Überdies ist der Liberalismus
in Deutschland eine Liebesehe eingegangen mit dem Betroffenheitskult
und einer Vergangenheitsbewältigung, deren moralisierende Imperative
seiner senilen Leere eine neue Seele einbliesen.
Liberalismus
und Sozialismus sind Kinder der Aufklärung. Deren Dilemma besteht
darin, daß sie den Menschen von Vorurteilen und der auf ihnen beruhenden
Herrschaft befreien wollte. Das kritische Hinterfragen von Wert-Vorurteilen
geht aber Hand in Hand mit einer allgemeinen Relativierung, die
am Ende das Befreiungspathos selbst verschlingen muß. So steht der
Aufgeklärte schließlich vor der Frage, auf Grund welcher Werte
er eigentlich aufgeklärt sein soll und wo er bei allem Aufgeklärtsein
noch die Letztrechtfertigung für tugendhaftes Handeln herleiten
soll. Der Zwiespalt der liberalen Spielart der Aufklärung besteht
also darin, daß sie gern freiheitlich und pluralistisch sein möchte,
"liberal" eben, so daß moralische oder religiöse Dogmen
quer zu ihrer kritisch-rationalistischen Eigenrechtfertigung
zu liegen scheinen; daß die Einlösung ihres Pluralismusversprechens
aber zu ihrer faktischen Selbstaufgabe führen würde.
An
dieser Wegscheide kann der aufgeklärte Liberale drei Wege einschlagen:
Der logisch sauberste weist auf die Vollendung der Aufklärung im Nihilismus
und führt alle Werte, einschließlich der eigenen, auf bloße Konvention
zurück. Den zweiten hatte der bürgerliche Liberalismus eingeschlagen.
Er bestand - typisch liberal - im Ausweichen vor der Entscheidung:
Von seinen monarchischen, sozialistischen und anderen unreinen Geistern
suchte man den Menschen zu befreien, bürdete ihm zugleich aber einen
Sack liberaler Moralbegriffe auf. Der dritte Weg stand unter demokratischem
Vorzeichen. Er hob die Aufklärung kurzerhand wieder auf, indem er
seine Werte für heilig und ewig erklärte und sie damit zum Gegenstand
religiöser Verehrung machte. Als zentraler Wertbegriff trat der Mensch
an die Stelle Gottes, und zwar nicht irgendein wirklicher Einzelmensch
oder viele bestimmte Einzelmenschen, sondern eine abstrakte Idee
vom Wert des Menschen an sich.
"Weil
diese zur Menschlichkeit vollendete Sittlichkeit mit der Religion, aus der sie geschichtlich
hervorgegangen, sich völlig auseinandergesetzt hat," formulierte
Stirner
, "so hinderte sie nichts, auf eigene Hand Religion zu werden."
Dazu komme es, wenn dem Menschen der Mensch das höchste Wesen sei:
"Hat man da nicht wieder den Pfaffen? Wer ist sein Gott? Der Mensch? Was ist das Göttliche? Das Menschliche!" Am Ende des
Zeitalters der Massendemokratie hat der Liberalismus seine politischen
Gegner aus dem Feld geschlagen. Nachdem er keine Gegner mehr hat,
sondern nur noch Untertanen, mußte er zu seiner Selbstbehauptung Religion werden. "Diese Religion
soll jetzt" - 1844 - "zur allgemein üblichen erhoben
...
werden. Man kann sie die Staatsreligion, die Religion des 'freien
Staates' nennen," für welche er "von jedem der Seinigen"
zu "fordern nicht nur berechtigt, sondern genötigt ist."
[7]
Weil der Humanitarismus zur Religion
geworden ist, gibt er sich nicht damit zufrieden, uns ein gesetzestreues
Verhalten aufzuerlegen. Er versucht uns vorschreiben, wen wir lieben
müssen und wen wir nicht hassen dürfen.
Parallel
zu eben diesem humanitaristischen Moralkodex erhob ein wütender Fundamentalismus
das Grundgesetz in den Rang einer heiligen Offenbarung. Der "liberal-konstitutionelle
Verfassungs-Normativismus" folgte aus dem liberalen Gesetzesdenken
des 19. Jahrhunderts, das die Herrschaft des rex
durch die des lex ersetzen wollte.
[8]
"Von Erdenballast entlastet,
kann der Verfassungspatriotismus," mit den Worten Isensees,
"alle irdischen Unterscheidungen zwischen Völkern und
Staaten hinter sich lassen, aufsteigen zur Höhe der reinen Normen
und weiter zu den Ideen von diesen Normen." Tendenziell wachse die Neigung, "aus dem
Grundgesetz, seiner Selbstbescheidung zum Trotz, ganzheitliche
Programme für Kultur, Wirtschaft, Erziehung, Moral abzuleiten,
seine demokratischen, sozialen und grundrechtlichen Normen
religiös zu überhöhen und die Verfassung als säkulares Glaubensbekenntnis
zu deuten."
[9]
Es ist sinnlos, gegen diesen Brei
aus inquisitorisch guter Gesinnung zu argumentieren. Fanatiker können allenfalls
bekehrt, nie aber überzeugt werden.
[10]
Wie
sich der real existierende Liberalismus aus dem ihm eigentlich verhaßten
Arsenal seiner ideologischen Gegner bewaffnet, zeigt sich bereits
in seinem äußeren Alltag. Die Hypertrophie seiner verabsolutierten
Moral hat sakrale Formen angenommen. "Es gibt heute",
sagte Pareto
, "eine humanitäre Religion, die den Gedankenausdruck
der Menschen reguliert, und wenn sich zufällig einer dem entzieht,
dann erscheint er als Ungeheuer, wie jemand im Mittelalter als Ungeheuer
erschienen wäre, der die Göttlichkeit Jesu geleugnet hätte."
[11]
Politische Reden werden "wie
ein moralisch-rhetorisches Hochamt begangen", in dem "die
Liturgie vom guten Menschen zelebriert wird"
[12]
Nicht zufällig entfernt sich der deutsche
Alltag seit einigen Jahren wieder von jener nüchternen Nachkriegszeit.
Damals hatten die vom NS-System noch wirklich Betroffenen von
Pathos und Aufmärschen, Fahnen, Schwüren, Hymnen und Fackelzügen
die Nase voll. Die nachgeborenen Betroffenen ahmen in steigendem
Maße wieder die äußeren Formen religiöser Kulthandlungen nach,
wie sich auch bereits die Aufmärsche und Feierstunden der Nationalsozialisten
und der Kommunisten bewußt der äußeren Formen religiöser Kulthandlungen
bedient hatten. So ist es kein Zufall, wenn wir evangelische Pastoren
an der Spitze von Lichterketten marschieren sehen. Diese gehören
zur Familie der Fackelzüge und Bußprozessionen und gehen letztlich
auf vorchristlich-archaische Kulthandlungen zurück. Es ist
auch kein Zufall, wenn CDU-Strategen die "Stigmatisierung"
politischer Gegner anstreben. In diesen Zusammenhang gehören
die gebetsmühlenartig wiederholten Betroffenheitslitaneien
ebenso wie der gesellschaftliche Bann für Ungläubige.
Jede
Herrschaftsrechtfertigung ist eben in ihrem Kern Religion. "Alle
prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte
theologische Begriffe," denn jede große politische Frage birgt
eine große theologische Frage in sich.
[13]
Daher ist jedes System nur im Kern
seiner metaphysischen Letztrechtfertigung erfolgreich angreifbar.
Diese wird es diese mit quasireligiöser Inbrunst verteidigen
und dabei mit den Waffen der Ketzerverfolgung zurückschlagen
müssen, oder es wird untergehen. Es genügt nicht, die Handlungen
des Abweichlers zu verbieten. Auf Dauer läßt sich ein System
nur verteidigen, wenn es alle Taten und die Gesinnung desjenigen
verflucht, der es abschaffen will. Der Humanitarismus ist die Zivilreligion
des Liberalismus. Der angeblich aufgeklärte, säkularisierte
Deutsche des ausgehenden 20. Jahrhunderts entpuppte sich als ebenso
anfällig für das Pathos der heute dominanten humanitaristischen
Zivilreligion wie sein mittelalterlicher Vorfahre für die
christliche Religion.
Jedes
Zeitalter hat seine eigenen Mythen. Heute erfüllt der Glaube,
daß alle Gewalt vom Volk komme, eine ähnliche Funktion wie früher
der Glaube, alle obrigkeitliche Gewalt komme von Gott.
[14]
Nun kann man das
Volk an sich weder nach seinem Generalwillen fragen, noch kann es unmittelbar das Zepter ergreifen. Seine
nominelle Herrschaftsmacht über den einzelnen können seine Gläubigen
nur begründen, indem sie es als transzendente Wesenheit einstufen,
und zwar als "höheres Wesen als ein Einzelner", und indem
sie einen "gleich dem Menschen oder Menschengeiste in den Einzelnen
spukenden Geist" orten: den Volksgeist.
[15]
Von seinen Gnaden regiert man heute,
und so sprach Robert Michels
1911 treffend vom Gott der Demokratie.
[16]
Zu den Dogmen der humanitaristischen
Zivilreligion gehören neben der Souveränität des transzendent
aufgefaßten Volkes ein metaphysisches Verständnis der Menschenrechte
und ähnliche Gedankenkonstrukte. Sie werden von ihren Gläubigen
mit derselben Wut verteidigt, über die Voltaire
im März 1737 an Friedrich schrieb: "Alle Theologen aller
Länder [sind] Leute, die von heiligen Schimären trunken sind, [und]
ähneln jenen Kardinälen, die Galilei
verdammten..." So zeigt sich heute der theologische Kern
der humanitaristischen Menschenrechts- und Demokratietheorie,
der alle Säkularisierungen überstanden hat.
[17]
Demokratie, Humanität und Betroffenheit
werden heute nicht rational benutzt, sondern ideologisiert und
wie eine säkularisierte Theologie gepredigt.
Mit
welchen Begleiterscheinungen so etwas vonstatten zu gehen pflegt,
hatte Friedrich
der Große am 4.11.1736 an Voltaire formuliert: "Was die Theologen
angeht, so scheint es, als ähnelten sie sich alle im allgemeinen,
gleich welcher Religion oder Nation sie angehören; stets ist es
ihr Bestreben, sich über die Gewissen eine despotische Autorität
anzumaßen." 230 Jahre nachdem Friedrich das schrieb, folgte
auf die skeptische Nachkriegsgeneration wieder eine theologisierende:
Wo moralische Hypotheken und Schuldvorwürfe das Gewissen überlasteten, wurde sie das Gewissen, um Gewissen nicht
mehr haben zu müssen; sie
entkam dem Tribunal, indem sie es wurde.
[18]
Sie verteidigt ihr philiströses
Moralin mit derselben Inbrunst wie die Gläubigen aller Zeiten
ihre jeweiligen Götter. Friedrich
hatte sie in einem Brief an Voltaire am 6.7.1737 so charakterisiert:
"In Deutschland fehlt es nicht an abergläubischen Leuten,
auch nicht an von Vorurteilen beherrschten und bösartigen Fanatikern,
die umso unverbesserlicher sind, als ihnen ihre tumbe Unwissenheit
den Gebrauch der Vernunft verbietet. Es steht fest, daß man im
Dunstkreis solcher Untertanen vorsichtig sein muß. Selbst der
ehrenhafteste Mensch ist verschrien, wenn er als Mann ohne Religion
gilt. Religion ist der Fetisch der Völker. Wer auch immer mit profaner
Hand an sie rührt, er zieht Haß und Abscheu auf sich."
[19]
Wer
einen Gott braucht, braucht auch einen Teufel. Wie die Hohepriester
aller Religionen Sündenböcke suchen, benötigt der liberale Staat
den seinen. Wer mit profaner Hand an die vergötterte Demokratie
rührt oder sie gar anzweifelt, stößt sich selbst aus der Gemeinschaft
der Guten so sicher aus wie jeder Ketzer in irgend einem Zeitalter.
Wer das nicht glaubt, kann ja einmal öffentlich bekennen, kein Demokrat
oder nicht betroffen zu sein, und warten, was dann passiert: Er
zieht unweigerlich die soziale Reaktion des Mobbing auf sich:
die Gruppenhatz. Ein rigider moralisierender Kollektivismus läßt
ihn schnell erfahren, was das Wort Sündenbock eigentlich bedeutet
und was es heute heißt, einer zu sein: Wie in allen Zeiten der Sündenbock
rituell geschlachtet wurde, um symbolisch die Sünden der Gemeinschaft
der Rechtgläubigen auf sich zu ziehen und jene zu erlösen, fühlt
sich der moderne Betroffene gleich besser, wenn in einer Talkschau,
der Mitternachtsmette der liberalen Diskursgesellschaft, mit
gehörig betroffener Miene der Neonazi beschworen, verdammt und
ausgetrieben wurde. Oh Herr, ich danke dir, daß ich nicht so scheußlich
bin wie jener! In Sodom und Gomorrha soll es leider keinen Gerechten
mehr gegeben haben. Im Liberalismus gibt es nur Gerechte: Pharisäer
- Selbstgerechte - sagte man früher. - Die totale Moralisierung
des öffentlichen Lebens nimmt uns ins Gebet, um uns nie wieder daraus
zu entlassen. Sie gängelt uns mit angeblichen Sünden unserer Großväter
und trichtert ihr Gegengift bis zum Erbrechen den Enkeln ein, ohne
zu merken, daß ihr Patient schon lange tot ist. Der moralische Bewältigungsrausch
sucht sich seine Opfer, und wo keine leibhaftigen Bösewichter mehr
aufzutreiben sind, muß er seine Wut in sinnlosem Leerlauf an Unschuldigen
abarbeiten.
So
kommt es zu dem von Marquard
als Übertribunalisierung bezeichneten Phänomen: Während
der sündige Christ noch auf göttliche Gnade hoffen durfte, wird
der säkularisierte Sünder zum "absoluten Angeklagten"
vor einem moralischen "Dauertribunal, dessen Ankläger und
Richter der Mensch selber ist" und "unter absoluten Rechtfertigungsdruck,
unter absoluten Legitimationszwang gerät." Das hält nur ein
Gemütsathlet oder Zyniker auf Dauer durch. Wer dagegen für moralische
Vorwürfe empfindlich ist, weil er bei aller Skepsis sein moralisches
Gesetz in sich fühlt, muß irgendwann - wie von ihm verlangt -
in die Knie gehen oder mit Ekel und Abscheu den Moralkomplex insgesamt
über Bord werfen. Der "totale Rechtfertigungsdruck" ist
nach Marquard "menschlich unaushaltbar und unlebbar." Die
absolute Moral läßt nicht mit sich verhandeln und antichambrieren.
Sie ist insbesondere taub gegenüber einer Zahlenmystik, mit der
mancher meint, metaphysisch begründete und darum eben doch kollektiv
gemeinte Schuldvorwürfe herunterrechnen oder aufrechnen zu können.
Ihrerseits mythische Zahlen kann man aber nicht mathematisch herunterrechnen.
Die Moralinkröte können wir darum nur insgesamt schlucken oder
ausspucken, denn selbst kleinste Häppchen wirken so giftig wie
das ganze Biest. Die "Hypertrophie des Legitimationszwangs"
läßt uns nur den "Ausbruch in die Unbelangbarkeit"
der totalen Individualität:
[20]
Dieser Rückzug vor der absoluten
Moral auf uns selbst führt zum konsequenten Nominalismus und
Dezisionismus. Dieser schafft sich seine eigene Moral neu und
macht sich somit unangreifbar, oder er verläßt völlig das moralische
Kampfgebiet, weil er auf ihm nicht siegen kann. "Unbelangbar"
ist er auf jedem Gebiet seiner Wahl, wenn es nur moralisch neutral
ist. "Es gehört zur Dialektik einer solchen Entwicklung, daß
man gerade durch die Verlagerung des Zentralgebiets stets ein
neues Kampfgebiet schafft."
[21]
Als Rückzugsfelder bieten sich an
das Ästhetische
[22]
, das in der Nachkriegszeit bevorzugte Ökonomische oder das Politische.
-
Jede
Theorie, welche die einfachen, aber unangenehmen Wahrheiten durchschaut
und die kommunikativen Spinnweben zerreißt, "ohne dies mit der
Verheißung der Emanzipation zu verkuppeln, wird von Habermas
und seinen Anhängern nicht als hinzunehmende geistige Konkurrenz
betrachtet, sondern als bösartiger Feind aufs äußerste bekämpft.
...
Der schwärzeste aller Teufel heißt im Zweifelsfalle: Carl Schmitt."
[23]
Der wußte schon 1932, "daß die
Menschen im allgemeinen, wenigstens so lange es ihnen erträglich
oder sogar gut geht, die Illusion einer ungefährdeten Ruhe lieben
und 'Schwarzseher' nicht dulden. Den politischen Gegnern einer klaren
politischen Theorie wird es deshalb nicht schwer, die klare Erkenntnis
und Beschreibung politischer Phänomene und Wahrheiten im Namen irgendeines
autonomen Sachgebiets als unmoralisch, unökonomisch, unwissenschaftlich
und vor allem - denn darauf kommt es politisch an, als bekämpfenswerte
Teufelei hors-la-loi zu erklären."
[24]
Die absolute Moral duldet neben
sich kein autonomes, noch nicht moralindurchtränktes Sachgebiet.
Alles nicht Moralische erklärt sie für "böse, ebenso dann, wenn es falsch, wie auch dann, wenn es" aus
moralischer Sicht überflüssig oder gar kontraproduktiv ist. Denn
was nicht für die moralische "Kritik ist, ist gegen die Kritik
und also Sünde. So werden bei diesem bacchantischen Taumel, an dem
kein Glied nicht trunken sein darf, gerade jene exkommuniziert, die
nüchtern bleiben."
[25]
Der
Liberalismus mußte zwangsläufig totalitär werden, sobald eine wachsende
und nicht mehr ohne weiteres beherrschbare Zahl seiner Untertanen
mit ihren Interessen in Konflikt zu den Interessen derjenigen
kam, welche durch den liberalen Status quo bevorzugt werden. Die
liberale Auffassung vom Staat als großem Betrieb führt zur Öffnung
der Grenzen und zur Privatisierung wichtiger Lebensbereiche wie
demjenigen der öffentlichen Sicherheit. Sie widerspricht aber den
Bedürfnissen vieler Bürger. Die Beispiele ließen sich beliebig
vermehren. Dem Pochen von immer mehr Bürgern auf gegen den Liberalismus
gerichteten persönlichen und nationalen Interessen kann dieser
nur noch damit begegnen, daß er es als ketzerisch brandmarkt, seine
Abweichler stigmatisiert oder als Neonazis dämonisiert. Der Kultus
der Staatsreligion Liberalismus mit seinen von Pastoren angeführten
Lichterketten und Betroffenheitsriten, seinen Tabuzonen und
Exorzismen wird sich allerdings nur halten können, wenn es dem
Liberalismus gelingt, die Anzahl seiner Gegner rechtzeitig durch
Masseneinwanderung in die Minderheit zu drängen und weiterhin sozial
und politisch auszuschalten.
Gegenwärtig
ist kein Ende in Sicht. Die Tabuwaffe und mit ihr die tabuisierten
Ideologeme werden gnadenlos mißbraucht. Ilmar Tammelo
stellte bedauernd fest, sogar ihre bloße Erwähnung rufe Feindseligkeit
hervor.
[26]
Eines der heikelsten Probleme sei
das der ethnischen Unversehrtheit: "Tabuartige Haltungen sind
verbunden sowohl mit der Forderung nach ethnischer Trennung als
auch mit dem angeblich aus der Idee der Menschenwürde stammenden
Gebot, daß diese Trennung zu verurteilen sei. So prallen hier antagonistische
Tabus aufeinander. Für die Philosophie steht nicht von vornherein
fest, welcher Forderung vom Gerechtigkeitsstandpunkt aus stattzugeben
sei. Sowohl die Einheit als auch die Gliederung und Vielfalt der
Menschen sind Werte." Nicht nur bei diesem Wertestreit entsteigen
Götter ihren Gräbern, wenn man Werte transzendiert und mit Tabus umgibt.
Weitere Tabus seien die bei der Sterbehilfe fragliche Heiligkeit des
Menschenlebens und die Demokratie. Über diese, "die Gerechtigkeit
zutiefst berührenden Probleme ist sehr schwer, ja gefährlich zu
sprechen, weil man auf diese Weise auf zähe Vorurteile prallt."
Jede
Herrschaftsideologie umgibt ihre Arcana mit Tabus. Deren Funktion
besteht darin, den Beherrschten eine Ethik zu verordnen, unter deren
Geltung nicht nur die Herrschenden weiter herrschen und die Beherrschten
weiter beherrscht bleiben, sondern sich darüber hinaus des Beherrschtwerdens
erfreuen und es als ethisch anstößig empfinden, überhaupt die Frage
nach der Legitimation der Herrschaft aufzuwerfen oder gar gegen
sie anzukämpfen. Dem juristischen Verbot des weiteren Kampfes um
die Macht folgt das moralische: Der Unterlegene soll mit der Moral
des Siegers dessen Status quo akzeptieren und eine Wiederaufnahme
des Kampfes noch nicht einmal mehr denken dürfen. Der endgültigen
Durchsetzung der etablierten Macht folgt die Moralisierung des
Politischen. Dem Unterlegenen wird eingeredet, daß es moralisch
böse und ethisch anstößig sei, um Macht zu kämpfen, ja daß es überhaupt
keine existentielle Feindschaft gibt, die das Kämpfen lohnen würde.
Das Friedlichkeitsgebot ist die Waffe des Siegers, und die Wiederaufnahme
des Kampfes wird zum Gedankenverbrechen; schließlich zum Tabu.
Dieses kann unter den Bedingungen des Medienstaates errichtet,
durchgesetzt und instrumentalisiert werden.
Wie
gezielt ein Altlinker die Tabuwaffe zu führen weiß, schildert Schrenck-Notzing:
"Unbefangen schildert Adler,
wie er dann an der FU in Berlin beim SDS lernte, die Waffe selbst
zu verwenden: 'Ich konnte es genießen, wenn ich sah, wie ganz normale
liberale Leute in einer Diskussion den Kürzeren zogen, wenn jemand
das Wort faschistisch gebrauchte, evtl. verstärkt durch die Andeutung der KZs mit
entsprechendem Tabu-Gesichtsausdruck, drohend ernst, Stirn
in Falten, Augen ins Unendliche ... Wem dies noch zu abstrakt war,
dem wurden die Gaskammern vor Augen geführt, womit jeder sehen
konnte, wohin das führte, wenn man so dachte.' Das Wort Tabu-Gesichtsausdruck ist kein Zufall:
Meinhard Adler ist in der Tat der Ansicht, daß es beim Bewältigungs-Ritus
um ein methodisches Aufrichten von Tabus geht. Die 'angebliche Tabubefreiung in unserer Gesellschaft'
ist für ihn bloße Rhetorik: 'Es hat lediglich eine Tabugebietsverschiebung
stattgefunden. War es früher bei Ächtung verboten, die Kraft der
Erektion und der Sinnlichkeit öffentlich nachzuempfinden, so
ist es heute bei gleicher Ächtung verboten, die faszinative Kraft
von Ordnung, Autorität und Kampf zu empfinden.' "
[27]
Die
innere Logik des Liberalismus vollendet sich, wo die Betroffenheit
zum Geschäft wird und hauptberufliche Prediger des Bewältigungskultes
ihre Pfründe daraus ziehen. Als die Moral in Person und darum moralisch
unangreifbar sind sie in jedem öffentlich-rechtlichen Sender die
heimlichen Herrscher, die Seele des Betriebs. Die geschicktesten
Berufsbewältiger wie die einst als Edith Rohs geborene evangelische
Berlinerin schlüpfen sogar durch Namensänderung in die Opferrolle,
so daß sie als "Lea Rosh"
NDR-Intendantin werden durfte. Während man im Dritten Reich Ahnenforschung
zur Auffindung der arischen Großmutter betrieb, erklärte sie stolz:
"Rosh ist mein Mädchenname. Richtig ist, daß ein Großelternteil
jüdischen Glaubens war. Insofern mußte ich keine jüdische Identität
annehmen."
[28]
So erweist sich die liberale Zivilreligion
als rundherum einträglich und nützlich, jedenfalls für ihre Diener:
"Ohne Zweifel wird man die Religion für die beste halten, die
ihre Diener am meisten mit Reichtum und Ehren überhäuft hat und
die mit den wirksamsten Mitteln ausgestattet ist, ihre Schafe zu
scheren und doch in Gehorsam zu halten."
[29]