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Auszug aus: Klaus Kunze, Mut zur Freiheit, 1998, S. 169 ff.
(Zurück zum vorangehenden Unterkapitel: Die Paradoxa des Pluralismus)

  Wenn er außerhalb seiner Grenzen keinen Feind hätte,

Wenn er außerhalb seiner Grenzen keinen Feind hätte,

so würde er ihn im Innern finden.

Dies scheint das unvermeidliche Schicksal

aller größeren Freistaaten zu sein.

Niccolò Machiavelli [1]

Die ideologischen Gezeiten

Der Liberalismus wird weltanschaulich totalitär. Wir brauchen eine Aufklärung, die uns über die erste und ihr mißratenes liberales Kind auf­klärt und ins postideolo­gische Zeitalter führt. Vorläufig herrscht die insti­tutiona­lisierte Toleranz so intole­rant wie jede hyper­tro­phierte Moral, hinter der mit unermüdlichem Eifer das Richt­schwert wandelt. Heute wird medial hinge­richtet, nicht mehr kör­per­lich. Die Stelle in­quisitorischer Instrumente wie der kirchlichen Dis­zi­plin und der Ex­kommunikation nehmen heute der mo­ralische Terror und der soziale Boykott ein. [2] Die besondere Gefähr­lichkeit des Par­tei­en­staates be­ruht auf sei­ner ideologischen Ho­mo­genität und dem von Parteien über die Me­di­en ausgeübten Ge­sin­­nungs­­druck. Nach Kel­­sen möch­te die li­berale De­­­mokratie gern "der Aus­­druck eines po­li­ti­schen Rela­ti­vismus und ei­­ner wunder- und dog­­men­befreiten, auf den mensch­li­chen Ver­stand und den Zweifel der Kritik gegründeten Wis­­sen­schaft­lichkeit" [3] sein. In einem säku­la­ri­­sier­ten, weltan­schau­lich neu­tralen Staat dürfte es li­be­­­raler Ansicht nach keine frei­heit­liche de­­mo­krati­sche Staats­re­ligion ge­­ben. [4] Es gibt sie den­noch.

Die liberale Zivilreligion

Seinem Selbst­bild und seiner auf­klärerischen Ei­gen­recht­­­fer­ti­gung nach soll der Liberalis­mus sei­nen Bürgern an­geb­lich ein nie ge­kann­tes Maß an Gei­stes­frei­heit ermöglichen. Der demokratische Liberalismus sieht sich mit seiner Ei­gen­recht­ferti­gung im ent­­­schie­de­nen Ge­gen­satz zur "totalitären Dik­ta­tur", wel­che "die Recht­­­fer­tigung der richtigen Poli­tik durch Rück­griff auf er­ste, wahre Prin­­zi­pien" will. Er möch­te die "Dog­ma­tisierung des poli­ti­schen Irr­tums" ver­hin­dern [5] und lehnt of­fi­ziell "eine positi­ve, in­halt­liche Nor­­­­mie­rung und Fest­schrei­bung des sozia­len Le­bens nach vor­ge­faß­ten ... Postula­ten" ab. Die li­berale Selbst­ein­schät­zung als kri­tisch, rationa­li­stisch und auf­ge­klärt ist aber brü­chig. Ihr Dilemma be­steht darin, daß der Libera­le gegenü­ber kon­kur­rierenden Ideo­lo­gen wehrlos da­stün­de, wenn er ih­nen, getreu sei­ner Selbst­recht­fer­ti­gung, nur libe­ral ge­genübertreten und sich selbst kri­tisch-ra­tio­na­listisch be­trachten würde. Tatsächlich sieht er alle an­­de­ren Weltan­schauungen mit kritisch-rationalistischen, aufgeklärten Au­gen, nur sich selbst nicht. "Dies fing in der Nachkriegszeit mit Pop­pers Theoremen an, die die Relativität menschli­chen Wissens in dem Maße beto­nen, wie dies in der Polemik gegen die To­ta­li­täts­an­sprü­­che des Mar­xis­mus-Le­ni­nis­mus nötig erschien - wobei Motor der Pole­mik ein uner­schüt­ter­li­ches Glaubensbekennt­nis zu den west­lichen Werten war." [6]

Wie je­des Herr­schafts­system würde der Liberalismus un­ter­ge­hen, wenn er die geistigen Grundlagen seiner Macht nicht mit Ge­sin­nungs­druck ver­tei­di­gen, würde, wo sie angegriffen werden. Die weltli­che Macht über die Men­schen behält man nur durch die spiri­tuelle Kon­trolle über ihren Glau­ben. Trotz liberal-auf­klä­re­ri­scher At­ti­tüde muß auch der Libera­lismus an sich selbst glauben, weil sich die libe­ra­le Ra­tio nicht mit sich selbst be­gründen kann. Darum muß er mit sei­nen ei­genen Prä­missen brechen und sich mit qua­si-reli­giö­ser In­brunst ver­teidi­gen, sobald er grund­sätzlich in Frage ge­­stellt wird. Diese Prä­mis­sen bilden heute mit humanitaristischen Mo­­­ral­for­de­rungen ein Amal­gam, eine zäh-klebrige Masse un­re­flek­tier­­ter Ver­satz­stücke aus dem Glau­ben an das Gute im Menschen, anti-staatli­chen Af­fek­ten und an­ti-au­toritären Res­sen­ti­ments. Überdies ist der Liberalismus in Deutsch­land eine Liebes­ehe eingegangen mit dem Be­trof­fenheitskult und ei­ner Vergangen­heits­bewältigung, deren mo­ra­li­sie­rende Impe­ra­tive seiner seni­len Leere eine neue Seele einbliesen.

Liberalismus und Sozialismus sind Kinder der Aufklärung. Deren Di­lem­ma be­steht darin, daß sie den Menschen von Vorurteilen und der auf ihnen beruhenden Herrschaft befreien wollte. Das kritische Hin­ter­fra­gen von Wert-Vorurteilen geht aber Hand in Hand mit einer allgemeinen Re­la­tivie­rung, die am Ende das Befrei­ungspathos selbst verschlingen muß. So steht der Auf­ge­klär­te schließlich vor der Frage, auf Grund welcher Werte er ei­gent­lich auf­geklärt sein soll und wo er bei al­lem Auf­geklärtsein noch die Letzt­­recht­fertigung für tu­gendhaf­tes Handeln herlei­ten soll. Der Zwie­spalt der liberalen Spielart der Aufklärung be­steht also darin, daß sie gern frei­heitlich und plura­listisch sein möch­te, "liberal" eben, so daß mo­ra­lische oder re­ligiöse Dogmen quer zu ihrer kri­tisch-rationa­li­sti­schen Ei­gen­recht­­ferti­gung zu liegen schei­­nen; daß die Einlösung ihres Plura­lis­mus­­­ver­spre­chens aber zu ihrer fak­tischen Selbst­auf­ga­be füh­ren würde.

An dieser Wegscheide kann der aufgeklärte Liberale drei Wege ein­schla­gen: Der logisch sauberste weist auf die Vollendung der Aufklärung im Nihilismus und führt alle Werte, einschließlich der ei­genen, auf bloße Kon­vention zurück. Den zweiten hatte der bürgerliche Liberalismus einge­schla­gen. Er be­stand - typisch liberal - im Ausweichen vor der Entschei­dung: Von seinen monarchischen, sozialisti­schen und anderen unreinen Geistern suchte man den Menschen zu befreien, bürdete ihm zu­gleich aber ei­nen Sack liberaler Moralbegriffe auf. Der dritte Weg stand unter de­mo­kratischem Vor­zeichen. Er hob die Aufklärung kurzerhand wieder auf, in­dem er seine Werte für heilig und ewig erklärte und sie damit zum Gegen­stand religiöser Verehrung machte. Als zentraler Wertbegriff trat der Mensch an die Stelle Gottes, und zwar nicht irgendein wirklicher Einzel­mensch oder viele bestimmte Einzelmen­schen, sondern eine abstrakte Idee vom Wert des Menschen an sich.

"Weil diese zur Menschlichkeit vollen­dete Sittlichkeit mit der Re­li­gi­on, aus der sie geschichtlich hervorge­gangen, sich völlig aus­ein­an­der­gesetzt hat," formulierte Stirner , "so hinderte sie nichts, auf eigene Hand Religion zu werden." Dazu komme es, wenn dem Menschen der Mensch das höch­ste We­sen sei: "Hat man da nicht wieder den Pfaf­fen? Wer ist sein Gott? Der Mensch? Was ist das Göttliche? Das Mensch­liche!" Am Ende des Zeit­alters der Mas­sendemokratie hat der Li­bera­lismus seine po­liti­schen Gegner aus dem Feld geschlagen. Nach­dem er keine Geg­ner mehr hat, sondern nur noch Untertanen, mußte er zu seiner Selbst­be­haup­tung Religi­on werden. "Diese Reli­gion soll jetzt" - 1844 - "zur allgemein üblichen er­hoben ... werden. Man kann sie die Staatsreligion, die Religion des 'freien Staates' nennen," für welche er "von jedem der Seinigen" zu "fordern nicht nur be­rech­tigt, sondern genötigt ist." [7] Weil der Humanitarismus zur Re­ligion geworden ist, gibt er sich nicht damit zufrieden, uns ein ge­set­zes­treues Verhalten auf­zuerlegen. Er versucht uns vorschreiben, wen wir lie­ben müssen und wen wir nicht hassen dürfen.

Parallel zu eben diesem humanitaristischen Moralkodex erhob ein wü­tender Fundamentalismus das Grundgesetz in den Rang einer hei­li­gen Of­fenbarung. Der "liberal-konstitutionelle Verfassungs-Nor­ma­ti­vismus" folgte aus dem liberalen Ge­setzesdenken des 19. Jahr­hun­derts, das die Herrschaft des rex durch die des lex ersetzen wollte. [8] "Von Er­denbal­last entla­stet, kann der Verfassungs­pa­triotismus," mit den Worten Isensees, "alle ir­di­schen Unter­schei­dun­gen zwi­schen Völ­kern und Staa­ten hinter sich lassen, aufstei­gen zur Höhe der reinen Nor­men und weiter zu den Ideen von diesen Nor­men." Ten­denziell wach­se die Neigung, "aus dem Grund­ge­setz, seiner Selbst­­be­schei­dung zum Trotz, ganz­heitliche Pro­gram­me für Kultur, Wirt­schaft, Er­zie­­hung, Moral abzu­lei­ten, seine de­mokrati­schen, so­zia­len und grund­recht­li­chen Nor­men religiös zu über­hö­hen und die Ver­fassung als sä­ku­lares Glau­bens­be­kenntnis zu deu­ten." [9] Es ist sinnlos, ge­gen die­sen Brei aus inquisitorisch gu­ter Ge­sin­nung zu ar­gu­men­tieren. Fana­­ti­ker kön­nen al­lenfalls bekehrt, nie aber überzeugt werden. [10]

Wie sich der real exi­stie­rende Liberalismus aus dem ihm eigentlich ver­haß­ten Arsenal seiner ideologischen Gegner bewaffnet, zeigt sich bereits in seinem äußeren Alltag. Die Hypertrophie seiner ver­absolu­tierten Moral hat sakrale Formen ange­nommen. "Es gibt heu­te", sagte Pareto , "eine humani­tä­re Religion, die den Ge­dan­ken­aus­­druck der Menschen reguliert, und wenn sich zufällig einer dem ent­­zieht, dann erscheint er als Ungeheuer, wie je­mand im Mittelalter als Un­geheuer erschie­nen wäre, der die Gött­lichkeit Je­su geleugnet hätte." [11] Politi­sche Reden werden "wie ein mo­ra­lisch-rhetori­sches Hochamt began­gen", in dem "die Li­tur­­­gie vom gu­ten Menschen ze­lebriert wird" [12] Nicht zufällig entfernt sich der deut­sche All­tag seit einigen Jahren wieder von jener nüchter­nen Nach­kriegs­zeit. Da­mals hatten die vom NS-Sy­stem noch wirklich Be­trof­fe­­nen von Pa­thos und Auf­mär­schen, Fah­nen, Schwüren, Hymnen und Fac­kel­zü­gen die Nase voll. Die nach­­gebore­nen Be­trof­fe­nen ahmen in stei­gendem Ma­ße wieder die äu­ßeren Formen reli­giö­ser Kult­hand­lungen nach, wie sich auch be­reits die Aufmär­sche und Fei­er­stunden der Na­tio­­nal­so­zia­li­sten und der Kom­­muni­sten bewußt der äuße­ren Formen reli­­giö­ser Kult­hand­lungen be­dient hatten. So ist es kein Zufall, wenn wir evan­ge­li­sche Pastoren an der Spit­ze von Lich­terketten mar­schie­ren se­hen. Die­se gehö­ren zur Familie der Fackel­züge und Buß­pro­zes­sio­­nen und ge­hen letztlich auf vor­christ­lich-ar­cha­ische Kult­hand­lun­gen zu­rück. Es ist auch kein Zu­fall, wenn CDU-Stra­te­gen die "Stig­ma­­ti­sie­rung" po­liti­scher Geg­ner anstreben. In die­sen Zusammenhang ge­­hören die ge­bets­müh­lenartig wie­der­hol­ten Be­­trof­fenheitslita­neien eben­so wie der gesell­schaftliche Bann für Un­gläu­bige.

Jede Herr­schafts­rechtferti­gung ist eben in ih­rem Kern Re­li­gion. "Al­le prä­g­nanten Begrif­fe der mo­dernen Staatslehre sind sä­ku­la­ri­sier­te theo­logi­sche Begrif­fe," denn jede große politische Frage birgt eine große theologi­sche Frage in sich. [13] Da­her ist je­des System nur im Kern sei­ner meta­phy­si­schen Letzt­recht­fer­tigung erfolgreich an­greif­bar. Diese wird es diese mit quasi­re­li­giö­ser In­brunst ver­tei­di­gen und dabei mit den Waf­fen der Ket­zer­ver­fol­gung zu­rück­schla­gen müssen, oder es wird un­ter­ge­hen. Es genügt nicht, die Hand­lun­gen des Ab­weich­lers zu ver­bieten. Auf Dau­er läßt sich ein Sy­stem nur ver­tei­di­gen, wenn es alle Taten und die Gesin­nung des­je­ni­gen ver­flucht, der es abschaffen will. Der Humanitarismus ist die Zivilre­ligion des Li­be­ra­lis­mus. Der an­geblich auf­ge­klär­te, sä­ku­larisierte Deutsche des aus­ge­henden 20. Jahr­hun­derts entpuppte sich als ebenso anfällig für das Pathos der heute dominanten huma­ni­ta­ri­sti­schen Zi­vil­reli­gion wie sein mit­­tel­al­ter­li­cher Vorfahre für die christ­li­che Religion.

Je­des Zeital­ter hat seine eige­nen My­then. Heute er­füllt der Glau­be, daß alle Ge­walt vom Volk kom­me, eine ähnliche Funk­ti­on wie frü­her der Glau­be, alle obrig­­keit­li­che Ge­walt kom­­me von Gott. [14] Nun kann man das Volk an sich weder nach seinem Generalwillen fragen, noch kann es unmit­telbar das Zepter ergreifen. Seine nominelle Herr­schafts­­macht über den einzelnen können seine Gläubigen nur be­grün­den, indem sie es als trans­zendente We­senheit einstufen, und zwar als "hö­heres We­sen als ein Ein­zelner", und in­dem sie einen "gleich dem Men­schen oder Men­schengeiste in den Ein­zel­­nen spukenden Geist" or­ten: den Volksgeist. [15] Von seinen Gnaden regiert man heute, und so sprach Ro­bert Michels 1911 tref­fend vom Gott der De­mo­­kra­tie. [16] Zu den Dogmen der hu­ma­nitaristischen Zi­vilreligion ge­hö­ren neben der Souveräni­tät des transzendent aufgefaßten Vol­kes ein meta­phy­si­­sches Ver­ständnis der Men­­­schenrechte und ähnliche Ge­dan­kenkon­struk­­te. Sie wer­den von ih­ren Gläu­bigen mit dersel­ben Wut ver­tei­digt, über die Voltaire im März 1737 an Fried­rich schrieb: "Alle Theo­­­­lo­gen al­ler Länder [sind] Leu­te, die von heiligen Schimären trun­ken sind, [und] ähneln jenen Kar­dinä­len, die Gali­lei verdamm­ten..." So zeigt sich heute der theo­lo­gi­­sche Kern der hu­ma­ni­ta­ri­sti­schen Men­­­schen­rechts- und De­mo­kra­tie­­theo­rie, der alle Sä­ku­la­ri­sie­run­gen über­­stan­den hat. [17] Demokratie, Hu­manität und Betroffenheit wer­den heute nicht rational be­nutzt, son­dern ideologi­siert und wie eine säku­la­risierte Theologie gepre­digt.

Mit welchen Begleiterscheinungen so etwas vonstatten zu gehen pflegt, hatte Fried­rich der Große am 4.11.1736 an Vol­taire formu­liert: "Was die Theo­logen an­geht, so scheint es, als ähnel­ten sie sich alle im all­ge­mei­nen, gleich welcher Religi­on oder Na­tion sie an­gehö­ren; stets ist es ihr Be­stre­ben, sich über die Gewissen eine des­po­tische Au­to­ri­tät an­zu­ma­ßen." 230 Jahre nachdem Friedrich das schrieb, folg­­te auf die skeptische Nach­kriegs­genera­tion wieder eine theologi­sierende: Wo mo­rali­sche Hypotheken und Schuld­vorwürfe das Ge­wis­sen über­­lasteten, wur­de sie das Gewissen, um Gewissen nicht mehr haben zu müssen; sie entkam dem Tribunal, indem sie es wur­de. [18] Sie ver­tei­­digt ihr philiströses Moralin mit der­sel­ben In­brunst wie die Gläu­bi­gen aller Zei­ten ihre je­wei­ligen Götter. Fried­rich hatte sie in ei­nem Brief an Vol­taire am 6.7.1737 so charakterisiert: "In Deutsch­­land fehlt es nicht an aber­gläu­­bi­schen Leu­ten, auch nicht an von Vor­ur­tei­len be­herrschten und bös­­artigen Fanati­kern, die umso un­­ver­bes­ser­li­cher sind, als ih­nen ihre tumbe Unwissenheit den Ge­brauch der Ver­nunft ver­bie­tet. Es steht fest, daß man im Dunstkreis sol­cher Un­ter­ta­nen vor­sichtig sein muß. Selbst der eh­renhafteste Mensch ist ver­schrien, wenn er als Mann oh­ne Re­ligion gilt. Re­ligion ist der Fe­tisch der Völ­ker. Wer auch immer mit profaner Hand an sie rührt, er zieht Haß und Ab­scheu auf sich." [19]

Wer einen Gott braucht, braucht auch einen Teufel. Wie die Ho­he­prie­ster aller Religionen Sündenböcke suchen, be­nö­tigt der libe­rale Staat den sei­nen. Wer mit pro­faner Hand an die ver­götterte De­mo­kra­tie rührt oder sie gar an­zweifelt, stößt sich selbst aus der Ge­mein­­schaft der Gu­­ten so si­cher aus wie jeder Ketzer in irgend ei­nem Zeit­alter. Wer das nicht glaubt, kann ja ein­mal öffentlich bekennen, kein De­mo­krat oder nicht betrof­fen zu sein, und warten, was dann pas­siert: Er zieht un­­wei­gerlich die soziale Re­aktion des Mob­bing auf sich: die Grup­pen­hatz. Ein rigider mo­ralisierender Kollektivismus läßt ihn schnell er­fahren, was das Wort Sün­den­bock ei­gent­lich be­deu­tet und was es heute heißt, einer zu sein: Wie in al­len Zei­ten der Sün­den­bock rituell ge­schlachtet wurde, um symbo­lisch die Sün­den der Ge­mein­schaft der Recht­gläubigen auf sich zu zie­hen und jene zu er­lösen, fühlt sich der moderne Be­troffene gleich besser, wenn in ei­ner Talk­schau, der Mit­ternachtsmette der li­bera­len Dis­kurs­gesell­schaft, mit gehö­rig be­trof­fener Miene der Neonazi be­schwo­ren, ver­dammt und aus­getrieben wurde. Oh Herr, ich danke dir, daß ich nicht so scheuß­lich bin wie jener! In Sodom und Go­morrha soll es leider kei­nen Ge­rech­ten mehr gegeben haben. Im Li­be­ralismus gibt es nur Ge­­rech­te: Phari­säer - Selbst­gerechte - sagte man früher. - Die totale Moralisie­rung des öffentlichen Lebens nimmt uns ins Ge­bet, um uns nie wieder daraus zu entlassen. Sie gängelt uns mit an­geb­lichen Sün­den unserer Großväter und trichtert ihr Gegengift bis zum Er­bre­chen den Enkeln ein, ohne zu merken, daß ihr Patient schon lange tot ist. Der morali­sche Bewälti­gungsrausch sucht sich seine Opfer, und wo keine leib­haftigen Bösewichter mehr auf­zu­trei­ben sind, muß er seine Wut in sinn­losem Leerlauf an Unschuldigen ab­ar­beiten.

So kommt es zu dem von Marquard als Über­tri­bu­na­li­sie­rung be­zeich­ne­ten Phä­no­men: Während der sündige Christ noch auf gött­liche Gna­de hof­fen dur­fte, wird der säkularisierte Sünder zum "ab­soluten An­ge­klag­­ten" vor ei­nem moralischen "Dauertribunal, des­sen An­klä­ger und Rich­ter der Mensch selber ist" und "unter ab­soluten Recht­­fer­ti­gungs­druck, unter abso­luten Le­gitimationszwang gerät." Das hält nur ein Ge­mütsathlet oder Zy­niker auf Dauer durch. Wer da­ge­gen für mo­ra­li­sche Vorwürfe empfindlich ist, weil er bei aller Skep­sis sein mo­ra­li­sches Ge­­setz in sich fühlt, muß ir­gendwann - wie von ihm ver­langt - in die Knie gehen oder mit Ekel und Abscheu den Mo­ral­kom­plex ins­gesamt über Bord werfen. Der "totale Rechtferti­gungs­druck" ist nach Marquard "menschlich un­aushaltbar und unlebbar." Die ab­so­lute Moral läßt nicht mit sich verhandeln und an­tichambrieren. Sie ist ins­besondere taub gegenüber einer Zah­len­­mystik, mit der mancher meint, me­taphy­sisch begrün­dete und da­rum eben doch kollektiv ge­meinte Schuldvor­würfe her­un­ter­rech­nen oder aufrechnen zu können. Ihrerseits mythische Zahlen kann man aber nicht mathema­tisch herun­terrechnen. Die Moralinkrö­te kön­nen wir darum nur ins­ge­samt schlucken oder ausspucken, denn selbst klein­­­ste Häpp­chen wirken so giftig wie das ganze Biest. Die "Hy­per­tro­phie des Le­­gi­­timations­zwangs" läßt uns nur den "Ausbruch in die Un­be­lang­bar­­keit" der to­ta­len In­dividualität: [20] Dieser Rückzug vor der ab­so­lu­ten Mo­ral auf uns selbst führt zum konse­quenten No­mi­­na­lis­mus und De­­zi­sio­nis­mus. Dieser schafft sich seine eige­ne Moral neu und macht sich somit un­­angreif­bar, oder er verläßt völlig das mo­ra­li­sche Kampf­ge­biet, weil er auf ihm nicht siegen kann. "Un­be­lang­bar" ist er auf je­dem Gebiet sei­ner Wahl, wenn es nur mora­lisch neu­tral ist. "Es ge­hört zur Dia­lektik einer solchen Entwick­lung, daß man ge­rade durch die Ver­la­ge­rung des Zentralgebiets stets ein neues Kampf­gebiet schafft." [21] Als Rück­zugsfelder bieten sich an das Äs­the­tische [22] , das in der Nach­kriegs­zeit bevorzugte Ökonomische oder das Politische. -

Jede Theorie, welche die einfachen, aber unangenehmen Wahrhei­ten durchschaut und die kommunikativen Spinnweben zerreißt, "ohne dies mit der Verheißung der Emanzipation zu verkup­peln, wird von Haber­mas und seinen Anhängern nicht als hinzuneh­mende geistige Konkurrenz be­trach­tet, sondern als bösartiger Feind aufs äußerste bekämpft. ... Der schwärze­ste aller Teufel heißt im Zweifelsfalle: Carl Schmitt." [23] Der wußte schon 1932, "daß die Men­schen im allgemei­nen, wenigstens so lange es ihnen erträglich oder so­gar gut geht, die Illusion einer ungefährdeten Ruhe lieben und 'Schwarz­­seher' nicht dulden. Den politischen Gegnern einer klaren po­liti­schen Theorie wird es deshalb nicht schwer, die klare Erkenntnis und Be­schreibung politischer Phänomene und Wahrheiten im Namen ir­­gendei­nes auto­no­men Sachgebiets als unmoralisch, unökonomisch, un­wissen­schaft­lich und vor allem - denn darauf kommt es politisch an, als bekämp­fenswerte Teufelei hors-la-loi zu erklären." [24] Die ab­so­­lute Moral duldet neben sich kein autonomes, noch nicht mo­ralin­durch­­tränktes Sachgebiet. Alles nicht Moralische erklärt sie für "böse, eben­so dann, wenn es falsch, wie auch dann, wenn es" aus mo­ra­li­scher Sicht über­flüssig oder gar kon­traproduktiv ist. Denn was nicht für die morali­sche "Kritik ist, ist gegen die Kritik und also Sünde. So wer­den bei diesem bacchantischen Taumel, an dem kein Glied nicht trun­ken sein darf, gerade jene exkommuniziert, die nüchtern blei­ben." [25]

Der Liberalismus mußte zwangsläufig totalitär werden, so­bald ei­ne wach­sende und nicht mehr ohne weiteres beherrsch­bare Zahl sei­ner Unterta­nen mit ihren Inter­essen in Konflikt zu den Interessen der­je­ni­gen kam, wel­che durch den liberalen Status quo be­vorzugt wer­den. Die liberale Auffas­sung vom Staat als großem Be­trieb führt zur Öff­nung der Grenzen und zur Priva­tisierung wichtiger Lebensberei­che wie demje­nigen der öffentlichen Si­cher­heit. Sie widerspricht aber den Be­dürfnissen vieler Bür­ger. Die Bei­spiele ließen sich be­liebig ver­meh­ren. Dem Pochen von im­mer mehr Bür­gern auf gegen den Libera­lis­mus gerichteten persönlichen und natio­na­len Interes­sen kann die­ser nur noch damit begegnen, daß er es als ketzerisch brand­markt, seine Ab­­weichler stigmatisiert oder als Neonazis dämonisiert. Der Kultus der Staatsreligion Libe­ralismus mit seinen von Pastoren an­geführten Lich­terket­ten und Betroffen­heitsri­ten, seinen Ta­bu­zo­nen und Exor­zismen wird sich al­ler­dings nur halten können, wenn es dem Libera­lismus gelingt, die Anzahl seiner Geg­ner recht­zei­tig durch Mas­senein­wanderung in die Minderheit zu drängen und wei­terhin sozial und po­li­tisch auszuschal­ten.

Gegenwärtig ist kein Ende in Sicht. Die Tabuwaffe und mit ihr die ta­buisierten Ideologeme werden gnadenlos mißbraucht. Ilmar Tam­melo stellte be­­­­dauernd fest, sogar ihre bloße Erwähnung rufe Feind­seligkeit her­vor. [26] Eines der heikelsten Probleme sei das der ethni­schen Un­ver­sehrtheit: "Tabuartige Haltungen sind ver­bunden sowohl mit der For­de­rung nach ethnischer Trennung als auch mit dem angeb­lich aus der Idee der Men­schenwürde stammenden Gebot, daß diese Trennung zu ver­urteilen sei. So prallen hier antagonistische Tabus aufeinander. Für die Philo­so­phie steht nicht von vornherein fest, wel­cher Forderung vom Gerechtigkeitsstand­punkt aus stattzu­ge­ben sei. Sowohl die Ein­heit als auch die Gliederung und Viel­falt der Men­schen sind Werte." Nicht nur bei diesem Wertestreit entsteigen Götter ihren Gräbern, wenn man Werte transzendiert und mit Tabus um­gibt. Weitere Tabus seien die bei der Sterbehilfe fragliche Heiligkeit des Men­schenlebens und die Demokratie. Über diese, "die Gerechtigkeit zutiefst be­rüh­ren­den Probleme ist sehr schwer, ja ge­fährlich zu spre­chen, weil man auf diese Weise auf zähe Vorurteile prallt."

 Jede Herrschaftsideologie umgibt ihre Arcana mit Tabus. Deren Funkti­on be­steht darin, den Be­herrschten eine Ethik zu verordnen, unter deren Gel­tung nicht nur die Herr­schenden weiter herrschen und die Beherrschten wei­ter beherrscht bleiben, son­dern sich darüber hin­aus des Beherrscht­werdens erfreuen und es als ethisch an­stößig emp­finden, überhaupt die Frage nach der Legiti­mation der Herr­schaft auf­zuwerfen oder gar gegen sie anzukämp­fen. Dem juristischen Verbot des weiteren Kampfes um die Macht folgt das morali­sche: Der Unter­le­gene soll mit der Moral des Siegers dessen Status quo akzeptieren und eine Wieder­aufnahme des Kampfes noch nicht einmal mehr den­ken dürfen. Der end­gültigen Durchsetzung der etablier­ten Macht folgt die Mo­ralisie­rung des Politi­schen. Dem Un­terlegenen wird ein­gere­det, daß es mora­lisch böse und ethisch anstößig sei, um Macht zu kämpfen, ja daß es über­haupt keine exi­stentielle Feind­schaft gibt, die das Kämpfen loh­nen würde. Das Fried­lichkeitsge­bot ist die Waffe des Sie­gers, und die Wie­deraufnahme des Kamp­fes wird zum Ge­dan­ken­ver­brechen; schließlich zum Tabu. Dieses kann unter den Be­din­gun­gen des Medienstaates errichtet, durchgesetzt und in­stru­men­ta­lisiert wer­den.

Wie gezielt ein Altlinker die Tabuwaffe zu führen weiß, schildert Sch­renck-Notzing: "Un­be­fan­gen schi­l­­dert Ad­ler, wie er dann an der FU in Ber­lin beim SDS lernte, die Waf­fe selbst zu verwenden: 'Ich konnte es genießen, wenn ich sah, wie ganz nor­male liberale Leute in ei­ner Diskussion den Kür­ze­ren zo­gen, wenn je­mand das Wort fa­schi­stisch ge­brauchte, evtl. ver­stärkt durch die An­­deu­­tung der KZs mit ent­sprechendem Tabu-Ge­sichts­­aus­­druck, dro­hend ernst, Stirn in Fal­ten, Au­gen ins Un­endliche ... Wem dies noch zu abstrakt war, dem wurden die Gas­kammern vor Au­­gen ge­führt, wo­­mit jeder se­hen konnte, wohin das führ­te, wenn man so dach­te.' Das Wort Tabu-Ge­sichts­aus­druck ist kein Zu­fall: Mein­hard Adler ist in der Tat der An­sicht, daß es beim Be­wäl­ti­gungs-Ri­tus um ein me­thodisches Auf­rich­ten von Ta­bus geht. Die 'an­geb­li­che Tabu­be­freiung in unserer Gesell­schaft' ist für ihn bloße Rhetorik: 'Es hat le­diglich eine Tabu­ge­biets­ver­schie­bung stattgefunden. War es frü­her bei Ächtung verboten, die Kraft der Erektion und der Sinn­lich­keit öf­fentlich nach­zu­emp­fin­den, so ist es heute bei gleicher Ächtung ver­­bo­ten, die faszinative Kraft von Ord­nung, Autorität und Kampf zu emp­finden.' " [27]

Die innere Logik des Liberalismus vollendet sich, wo die Be­trof­fenheit zum Ge­schäft wird und hauptberufliche Prediger des Be­wäl­ti­gungs­kultes ih­re Pfründe dar­aus ziehen. Als die Moral in Person und darum moralisch un­angreifbar sind sie in jedem öffentlich-rechtlichen Sen­der die heimlichen He­rrscher, die Seele des Be­triebs. Die ge­schick­testen Berufsbewältiger wie die einst als Edith Rohs geborene evan­ge­lische Berlinerin schlüpfen sogar durch Namensänderung in die Op­fer­rolle, so daß sie als "Lea Rosh" NDR-Inten­dantin werden durf­te. Während man im Dritten Reich Ahnenforschung zur Auffindung der arischen Großmutter betrieb, erklärte sie stolz: "Rosh ist mein Mädchenname. Richtig ist, daß ein Großelternteil jüdischen Glaubens war. Insofern mußte ich keine jüdische Identität annehmen." [28] So erweist sich die liberale Zivilreligion als rund­herum einträglich und nützlich, jedenfalls für ihre Diener: "Ohne Zweifel wird man die Re­ligion für die beste halten, die ihre Die­ner am meisten mit Reich­tum und Ehren überhäuft hat und die mit den wirk­samsten Mitteln aus­gestattet ist, ihre Schafe zu scheren und doch in Gehorsam zu hal­ten." [29]

Nächstes Kapitel:
Die Humanitätsideologie

 

 



[1] Machiavelli, Discorsi, II. Buch, 19. Kapitel, S.226.

[2] Carl Schmitt, Der Leviathan, S.65.

[3] Kelsen, Arch.f.Soz.-W. 1920, S.84, zit. nach C.Schmitt, Politische Theo­lo­gie, 1934, S.55.

[4] Meier, Parteiverbote und demokratische Republik, S.416.

[5] Dettling, Demokratisierung, S.21, 30.

[6] Kondylis, Ohne Wahrheitsanspruch keine Toleranz, FAZ 21.12.1994.

[7] Stirner, Der Einzige, S.61 f., 192 f.

[8] Carl Schmitt, Über die drei Arten rechtswissenschaftlichen Denkens, S,10,15.

[9] Jos. Isensee, Staatsrepräsentation und Verfassungspatriotismus, Criticón 1992,273.

[10] Hoffer, Der Fanatiker, S.73.

[11] Pareto, Cours de Soc. Gén. § 1172, 1, zit. nach Gehlen, Moral,  S.82.

[12] M.Jeismann, Ende des Hochamts, FAZ 28.5.1994, in An­spie­lung auf Ri­chard von Weizsäckers Reden.

[13] Donoso Cortés, Essay Kap.I; ihm folgend Schmitt, Politische Theo­logie, S.49.

[14] Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage, S.41.

[15] Stirner, Der Einzige, S.45.

[16] Michels, Soziologie des Parteiwesens, S.351.

[17] Enzensberger, Aussichten auf den Bürgerkrieg, S.74.

[18] Marquard, Abschied vom Prinzipiellen, S.12.

[19] Nach Pleschinksi, Voltaire - Friedrich der Große, Aus dem Briefwech­sel.

[20] Marquard, Abschied..., Zitate in diesem Absatz dort S.49, 50, 53.

[21] Carl Schmitt, Das Zeitalter der Neutralisierungen, in: Der Begriff des Politischen, S.79 ff. (89).

[22] Marquard, Abschied vom Prinzipiellen, S.54.

[23] Maschke, Sankt Jürgen und der triumphierende Drache, S.117.

[24] Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, S.65.

[25] Marquard, Abschied vom Prinzipiellen, S.34.

[26] Tammelo, Zensur durch die Toten, S.77 f.

[27] C.v.Schrenck-Notzing, Cri­ticón 1991,207, nach Adler, Vergangenheits­be­wäl­ti­gung, S.23, 37; vgl. die Rezension des Verfassers in Junge Freiheit JF 44/95 v.3.11.1995, S.17.

[28] Leserbrief an die FAZ vom 28.12.1996.

[29] Pufendorf, De statu Imperii Germanici, S.261.