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Auszug aus: Klaus Kunze, Mut zur Freiheit, 1998, S. 199 ff.
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Die Geistesfreiheit

In konkreten Ordnungen zu denken, heißt nicht, nach Be­lie­ben heu­te De­zi­sio­nist und morgen Normativist zu sein. Nie­mand kann ab­wech­selnd etwas Trans­zendentes heute wirklich glau­ben, ein paar Tage spä­­­ter aber nicht mehr. Oder doch? Wer an seine letzte Wahr­­heit wirklich glaubt, muß zwangsläufig nach ihr handeln. Oder doch nicht? Safranski möchte diesem Kon­se­quenz­ge­bot entkommen: Le­­bens­­tugend sei es, zwischen dem Denkba­ren der eigenen Hirn­­­ge­spin­­ste und dem zwischen­menschlich Lebbaren zu trennen. Er sagt mit Spi­­­noza : "Nur wenn ich nicht alles tun darf, kann ich alles den­ken." Die gro­ßen Sinnentwürfe: die Volksseele, das Klassen­bewußt­sein, den objektiven Geist, das Gesetz der Geschichte - alles das möch­te Sa­franski zur kulturellen Pri­vatsache und damit harmlos machen. Eine ab­­ge­ma­gerte Politik solle sich dar­auf beschränken, die Be­din­­gun­gen für ein friedliches Zusam­men­lebens zu stiften. [1]

Einen solchen Seelenspagat kann aber kein einzelner in sich durch­hal­ten. Der wirkliche Glaube an eine übergreifende transzendente Ord­­­nung ist es, der dem Normativisten erst Sinn und Halt schenkt. Er muß nach dem nor­mativen Ge­setz handeln, nach dem er an­getreten ist. Wer die Welt durch die Brille der Trans­zen­denz sieht, kann sich  immer nur nach deren Gesetzen in ihr orien­tie­ren. Sein Kon­se­quenz­ge­bot, for­mu­liert auch Safranski, will das Denkbare und das Lebbare in eine wi­der­spruchs­freie Einheit überführen: "Das Denken solle im Han­deln auf­gehen, fordern die Konsequenzler, »konsequent sein und nach der er­kann­ten Wahrheit le­ben.«" Es sind aber alle Normativisten solche Kon­se­quenzler! Sie können und wer­den nie dul­den, ihre tief­sten, Identität stif­ten­den Wahrheiten im Alltag der de­zi­sio­ni­sti­schen Be­­lie­big­keit zu opfern. Wer das normativ Denkbare vom praktisch Leb­­ba­ren trennen möchte, erliegt einer Illu­sion: Noch nicht einmal ein Phi­­lo­soph kann im Alltag anders handeln als inner­halb des eigenen nor­mativen Weltbildes. Es werden sich auch niemals die­­je­ni­gen Füh­rer und Ver­führer den normativen Glauben ihrer Anhänger ma­dig ma­chen las­sen, die ihre Macht auf deren gläubigen Fanatis­mus stüt­zen. Die Bin­dung an das Nor­mative und die Freiheit der Dezision lassen sich nicht im phi­­lo­so­phi­­schen Reagenzglas mischen oder in der so­zia­­len Wirk­­lich­keit tren­­nen. Beide Grundhaltungen sind immer in er­ster Linie si­tua­tions­be­ding­te Denk­strategi­en in der polemischen Aus­­ein­an­der­­­set­zung. Sie sind Waffen und wer­den so benutzt.

Nur die bewußte Dezision macht frei: Vom Glauben als Er­kennt­nis­mo­dus muß sich prin­­zipiell lösen, wer frei entscheiden will. Wenn er sich für die An­wen­­dung einer kon­kre­ten Norm entscheidet, benutzt er sie eben­so, wie wenn er sich nor­ma­tive Werte vorstellt und an­wen­det. Wer eine idealistische Prä­mis­se bloß anwendet, ist kein Nor­men­die­­ner. Der Be­­nutzer einer Ideolo­gie glaubt nicht im metaphysi­schen Sin­­­ne an sei­ne Werte, er handelt nur im täg­li­chen Leben so, als ob sie exi­­stie­ren wür­den. "Wenn die Fahne fliegt," be­lä­chelte einst Konrad Lo­­renz nach einem ukrainischen Sprich­wort den Nor­ma­ti­vi­sten, "ist der Ver­­­stand in der Trompete." Der Verstand des Dezi­sionisten ist nie in der Trom­pe­te. Unter den Be­dingungen nachmetaphysis­chen Den­kens las­­sen sich die Fragen der Wer­teexistenz und der Norm­set­zung nicht mehr mit dem Kin­der­glau­ben an irgendwelche Götter, ob­jektive Ideen, in­tui­tive Ge­wiß­hei­ten, Erlösungshoffnungen und Ideo­­­­lo­gien beant­wor­ten. Kind­liche Gemüter glau­ben, alle diese schö­nen Spielzeuge unseres Denkens flögen uns von einem trans­­zen­den­ten Draußen zu, nach Platon von irgendwo über dem Himmel; so wie Kin­der früher meinten, der Klapper­storch hätte sie aus einem Teich ge­­fischt und sei mit ihnen angeflogen ge­kommen. Doch die Wahrheit ist noch viel wunderbarer: Sie sind alle aus uns heraus geboren, die Kin­der und die Ideen. Wenn Schiller sei­nem Poeten aus dem Mun­de des Zeus noch die Hoff­nung zurufen ließ: "Willst Du in mei­nem Him­mel mit mir le­ben, so oft du kommst, er wird dir offen sein!", bleibt der Ideen­­­­him­mel uns ver­schlossen. Wir erkennen mit Ros­cellin , daß alle die schö­nen Be­grif­fe nichts sind als ein Hauch un­se­rer Stimme. Die Ehre, mahnten schon die Athener die Melier, ist bloß ein Wort. Und seit Ock­ham hat sich die Einsicht syste­ma­tisiert, daß man die als exi­­sten­­­te We­sen­hei­ten be­trachteten Dinge nicht ohne Not vermehren soll, wenn sie bloß in un­serer Vorstellung existie­ren.

Offensichtlich sind wir aber im sozialen Leben darauf angewiesen, unse­re Vor­stellungen wirkungsmächtig zu formulieren. Unser Gel­­­­­­tungs­anspruch beruht gera­dezu darauf, daß andere glauben, was wir uns vorstellen. Wenn wir uns nicht in die Klause des Philosophen zu­rück­ziehen und, wie Kondy­lis, rein deskriptiven Genüs­sen hinge­ben möch­ten, müssen wir unsere Gel­tungsansprüche formulieren, tran­s­zen­dieren und sie gegenüber unserer Um­welt als etwas wirklich Vor­han­denes und Heiliges ausgeben, sonst wird sich niemand nach ihnen rich­ten. Kondylis hat for­muliert: Es muß der idealen Norm zu dienen vor­­geben, wer real herrschen will. Tat­sächlich sind unsere Vor­stel­lungen soziologische Rea­li­tä­ten, nicht aber on­to­lo­gi­sche. Wie schon Ma­­chia­velli be­merkt hat­te, muß man Gesetze aber im Na­men Got­tes vor­­­­tra­gen, wenn man mehr als äußeren Gehorsam er­wartet. Das prak­ti­­­sche Pr­o­blem be­steht aller­dings darin, daß es eine all­gemeine Vor­stel­­­lung über ei­nen be­stimmten Gott im heutigen Glau­bens­pluralismus nicht mehr gibt. Unseren Gel­tungsanspruch einem Gott in den Mund le­­gen, wie Ma­chiavelli empfoh­len hat, scheitert am Un­glauben unserer Mit­­men­schen.

Der Theologie geht es heute wie dem Liberalismus und Sozialis­mus. Diese stimmen Rohrmoser zufolge im Kern in ihren Ziel­set­zun­gen überein: Wie alle Ideologien hätten sie mit quasi religiösen Ver­hei­ßungen ope­riert. Sie könnten darum nur durch eine andere re­li­giö­se oder quasi religiöse Kraft überwunden werden, also einem neuen Nor­mativismus. - Ohne sich mit of­fenbaren Ne­ben­säch­lichkeiten wie der Frage nach der wirklichen Existenz Gottes aufzuhalten, emp­fiehlt Rohr­moser als Rettungsring die Zwei-Reiche-Lehre Luthers , ohne die wir im An­schluß an Nietz­sche in eine Art Neuhei­dentum zu­rück­­fallen wür­­den. [2] - Luthers Lehre entlastet uns zwar von der Zumutung staat­­­­lich ver­­ord­ne­ter Glaubenslehren, indem sie das Religiöse vom Po­­li­ti­schen strikt schei­det. Ihre nominalistische Metaphysik gründet auf ei­nem fide­isti­schen De­zi­­sionismus: Gottes Wille ist unergründlich. Sub­jek­tiv ist darum un­ser nor­ma­tives Gewissen; eine objektive göttli­che Seins­ordnung vermögen wir nicht zu erkennen. Damit wird die Zwei-Reiche-Lehre aber untauglich für das po­­le­mi­sche Be­dürf­nis, Macht­an­sprü­­che normativ vorzu­tragen und auf eine ob­jek­tive Ord­nung zu po­chen, die hienieden durchzuset­zen sei. Gerade dar­­um war sie ja ver­drängt und von jener fröm­meln­den Va­ri­an­te des Libe­ra­lis­mus er­setzt wor­den, die heute jenen uner­träg­lichen öf­fentlichen Ge­wis­sens­druck aus­übt.

Vor allem aber fehlt es fehlt es an der Haupt­vor­­aus­set­zung des Lu­the­­ra­nismus: Wer glaubt schon wirk­lich noch an hei­­­lige Drei‑, Zwei- oder Einfal­tig­kei­ten als Stifter von mo­­ralischen Ge­­bo­ten? Frei­heit von Indoktri­nierung bringt von selbst mit sich, daß Men­­schen an alle mög­lichen verschiedenen Werte zu glau­­ben be­gin­nen. Die in man­chen frü­heren Zeiten bestehende gei­sti­ge Einheit un­se­res Vol­kes hat sich völ­lig auf­gelöst. Das "lebendige, hei­lende, be­frei­ende Wort Got­tes" predigt Rohr­moser, "fließt aus der Ga­be des Hei­ligen Gei­­stes." Doch fordert er im selben Atem­zug: Wir dürf­ten bloß nicht zu Fun­­da­men­ta­­­li­sten werden! Für unsere jetzige junge Generation sind sol­che my­sti­schen For­mu­lierun­gen so unverständlich, als kämen sie von ei­nem an­­de­­ren Stern. Sollen wir sie wirklich reli­giös in­dok­tri­nie­ren wie ihre Ur­­ur­­groß­­el­tern, die, nach Stir­ners For­mu­­lie­rung, von ih­rem Jesulein nicht lassen konn­ten? Ja doch, be­stätigt wieder Rohr­mo­ser, sonst kä­men in ein paar Jah­ren die Mul­lahs und würden uns er­folgreich mis­sio­nieren. Die Zu­­kunft der Welt werde jenen Mächten gehören, die von ihrer Wahr­heit am über­zeug­testen sind und am konse­quente­sten für sie ein­ste­hen.

Da­mit wendet er Comtes Dreistadiengesetz wieder ins Gegenteil, der im theolo­gischen und im metaphysischen Zeitalter nur dunkles Ver­­­gan­genes ge­sehen und ei­ne leuchtende positivistische Zukunft pro­­­phe­zeit hatte. Stirner hätte darauf geant­wortet: So laßt uns selbst Ge­­­gen­stand unserer Wahr­­heit sein; laßt uns an uns glau­ben und mit ve­r­ein­ten Kräften tun, was uns gefällt. Wer mit zwanzig nicht an Geist­ideale glaubt, hat ja angeblich kein Herz; wer mit vierzig noch an sol­che Ge­spenster glaubt, keinen Verstand. Mit sechzig sollte man aber begrif­fen haben: Ein Zwanzig­jähriger hat ein Be­dürfnis nach herz­­­­­haf­tem Idealismus und ein Vierzigjähriger nach verständi­gem Rea­­­­lismus. Ei­ne soziale Vormachtstellung im Weltmaßstab wird die de­­­zisionisti­sche Haltung ohnehin nicht erringen kön­­nen. Bisher galt aus psy­­cho­lo­gisch und sozial nachvollziehbaren Grün­­den die Vor­herr­schaft von Nor­mativismen. Nur sie können ihren An­­hängern das Ge­fühl der Ge­bor­gen­heit und des Aufgehens in einem um­­fassenden Hei­li­­­gen oder Über­individuel­len geben, ohne das viele Men­schen nicht le­ben kön­nen; aber bitte: ohne mich!

Letztlich wollen Rohrmoser, Marquard , Gehlen, Safranski und vie­le an­dere dasselbe wie lange vor ihnen schon Hobbes: Sie suchen den Men­schen zu ent­­lasten von jenen unerträglichen Glau­bens­zu­mu­tun­gen, die uns im­mer in einer bestimmten Lage die Luft zum gei­sti­gen Atmen ab­schnü­ren: In al­lem Normativen ist die Ten­denz zu jener To­ta­lität angelegt, die es zum Ab­soluten machen möchte und jede Frei­heit zum An­ders­denken bedrängt. Weil es alle Lebensbereiche zu durch­­dringen sucht, müs­sen immer wieder mora­linfreie Räume ge­öff­net werden. Gegen die nor­mative Einheit von Staat und Gesell­schaft zieht Rohrmoser der Religion eine Gren­ze durch die Zwei-Rei­che-Leh­re. Diese billigt dem Kai­ser zu, was des Kaisers ist, und läßt dem einzelnen im übri­gen das Pri­vatvergnügen seines ei­ge­nen Weges zu Gott. Überschreite Reli­gion diese Grenze, komme es zu Intoleranz, reli­giösem Wahn und Fa­na­tis­mus. [3] Diesen bekämpfte auch Hobbes durch Tren­nung des äu­ße­ren Handelns vom inneren Glauben: Der Staat ent­schei­det nur den of­fi­­ziel­len Kultus, den öf­fent­lich geltenden Glauben. Mehr kann er nicht ver­langen: Das Nicht-Glau­­ben ist zwar eine Leug­nung des als göttlich Fest­ge­setzten, nicht aber seine Über­tretung. [4]

Wer bescheiden ist, dem mag es zu seiner seelischen Entlastung ge­nügen, im stillen Kämmerlein seinem eigenen Gotte zu huldigen. Un­­terdessen wer­den seine Kinder in staatlichen Schulen mit Ge­schich­ten vollgepfropft, nach deren Moral der Vater ein Tyrann ist und Opa sowieso ein Verbrecher war. Warum also bescheiden sein? Die von Rohrmoser geforderte Trennung von Politik und Religion ist eine Il­lusion: Zurückgedrängt wurde die Religion seit Luther nur schein­bar, nämlich in ih­rer doktrinär-theologischen Variante. Die Idee einer von allen normativen Gehalten freien Politik wäre ihrerseits eine Uto­pie. Wer mit Hobbes den Rückzug in die pri­vate Glau­bens­inner­lich­­keit vorschlägt oder mit Safranski Politik zum "Geschäft der Frie­dens­stif­tung im Felde der kombattanten Wahrheiten" machen möchte, über­läßt das Feld seinen Gegnern. Glaube nicht, mahnen wir erneut mit Donoso , Staat oder Politik könnten jemals neutral sein. Ob man seine Normen nur benutzt oder an sie glaubt: Safranskis "Politik der Frie­densstiftung ohne Sinnstif­tungsambitionen" ist sowenig eine nor­men­lose Politik wie irgend eine ande­re. Oder ist das Ideal eines Frie­dens zwischen kombattanten Wahrheiten vielleicht kein normatives Ideal? Auch dem Frieden sollten wir nicht dienen, sondern ihn gut nutzen. Er wird unser Friede sein: der noch zu schaffende Zustand, den zu erhalten sich lohnen wird. Wir werden ihn hüten, weil er die Entscheidungen verfestigen wird, die wir selbst getroffen ha­ben. -

Anders sucht Habermas das normative Dilemma zu umgehen. Er verklei­det seine Wert­­set­zungen als intuitive Gewißheiten, um ihren will­­­kür­lich ge­setz­ten Charakter nicht so offensichtlich werden zu las­sen. Zwingend für an­de­re ist die­ser Weg aber auch nicht, denn wer teilt schon die in­tu­i­tiven Ge­wiß­hei­­ten eines Jürgen Habermas? Auch wir können uns nicht dar­auf ver­las­sen, nur diejenigen zu erreichen, die so­wieso schon das­selbe für wert­voll halten wie wir. Es gilt also, aus Sicht eines mut­maß­lich für Mehr­heiten unmittelbar evi­denten Zentralwertes zu ar­gu­men­tieren und von einem sol­chen Zentralwert ab­zuleiten, was wir letzt­lich errei­chen wollen. Einen sol­chen vor­find­ba­ren Zen­tralwert gibt es. Es han­delt sich um den des Ei­gen­in­ter­es­ses, also des zen­tra­len Ideo­logems des Liberalismus. Die Wirkungs­kraft liberaler Vor­stel­lun­gen zeigt sich heute darin, daß auch über die Grenzen ei­gentlich libe­ralen Den­­kens hinaus dieser Topos unhinter­fragte Wertschät­zung ge­nießt. Oh­ne ihn etwa metaphysisch auf seinen Gehalt abklopfen zu müs­sen, können wir ihn je­den­falls be­nutzen: Aus ihm können wir alle von uns gewünschten Folgen ablei­ten, wenn wir ihn gedanklich mit un­serem ei­genen Axiom zur Deckung brin­gen: der Wertschät­zung unserer eigenen Existenz. Daß jeder an seinem Leben ein un­mit­telbares Inter­esse hat, so daß beide Topoi sich in ihrer An­wen­­­dung dec­ken, ist allen evident, die nicht be­reits an einen anderen Zen­­tral­wert wie das Eingehen ins himmlische Para­dies glauben. Sol­che Gläubigen sind für unsere dies­seitige Wert­setzung un­erreich­bar, doch für alle, die am Le­ben hängen und kein Jenseits kennen, kö­nnen wir eine brauchbare Wert­set­zung vornehmen und alles weitere im Lichte die­ses Zentralwer­tes betrach­ten: unseres persönlichen Ein­zel­lebens, nicht etwa eines Lebens an sich.

Der entscheidende Unterschied zu allen transzendenten Wertset­zungen besteht in diesem scheinbar kleinen Unterschied: Ein Leben an sich gibt es nicht und könnte daher nur eine metaphysische Vorstel­lung sein. Unser in­dividuelles Leben hingegen hat physischen, exi­sten­tiellen Wert für uns. Der Schritt vom Abstrakten zum Kon­kreten: von der Fiktion eines Leben an sich zu unserem eigenen Leben, ist der nö­ti­ge Schritt vom Jenseits ins Diesseits, von der Metaphysik zur Phy­sik. Platoniker ha­ben uns lange genug mit Jen­seitsvor­stel­lungen um­garnt. Wir sollten uns endlich vorbehaltlos dem Dies­seits stellen, in dem wir - auch von Metaphysikern nicht be­stritten - tat­säch­lich leben. In Beziehung auf unser individuelles Leben sind Wel­tanschauun­gen nicht prak­tisch gleich nützlich. Nicht jede vermag uns als Exi­sten­zen, in­di­vi­duell und kollektiv, langfristig zu erhalten.

Ei­ne Ethik der völ­li­gen Be­­liebig­keit, Bin­dungs­lo­sig­keit und Un­be­züg­­lich­­keit führt uns ins Chaos, zur Auflösung unse­rer sozialen Struk­­tu­ren - denk­mög­lich, aber doch unserem Selbst­erhaltungs­trieb wi­­der­spre­chend. Mit einer fun­da­mentalistisch moralisierenden Ethik da­gegen kann es uns nach dem Sprichwort geschehen: "Edel geht die Welt zu­grunde." Wir sollten uns daran nicht beteiligen, sondern mit dem Rea­li­sten Machia­velli "der Wirklichkeit der Dinge nachgehen und nicht den bloßen Vorstellungen über sie. ... Es liegt eine so gro­ße Ent­fer­nung zwi­sch­en dem Leben, wie es ist, und dem Le­ben, wie es sein sollte, daß der­jenige, welcher das, was ge­schieht, unbeachtet läßt zu­gunsten des­sen, was geschehen sollte, dadurch eher sei­nen Un­ter­gang als seine Erhal­tung betreibt. Denn ein Mensch, der sich in je­der Hin­sicht zum Guten bekennen will, muß zugrunde gehen inmitten so viel anderer, die nicht gut sind." [5]

Um den Akt der Dezision vorneh­men und uns für eine bestimmte nütz­li­che Ord­nung entscheiden zu können, muß­ten wir uns zunächst bewußt wer­den, daß es da überhaupt etwas zu ent­scheiden gibt. Wer in fremd­bestimm­ten Normenkäfigen hockt, muß die Zelle erst öffnen und für einen Augen­blick das Tal des Nihilismus durchschrei­ten: den Großen Mittag Nietzsches. Laßt uns nicht länger an eine Hölle glau­ben, in der unsere Großvä­ter schmo­ren. Befreien wir sie daraus, in­dem wir nicht mehr an das sie begründende Gut und Böse glauben! Ohne die be­frei­ende Tat der völligen Zerstörung al­ler fremdbestim­men­den Normen kön­nen wir kei­nen neuen Anfang machen. Für einen Au­­gen­blick öff­net sich uns so der Vor­hang der Er­kennt­nis, daß alle Ethik eben nur Menschen­werk und Sa­che frei­er, interessenbedingter Ent­­schei­dung ist. Paradoxerwei­se müssen wir ihn lei­der schnell wie­der schließen: Auch die freie Ent­schei­dung für ei­ne Ethik der Ord­nung ist keine Sa­che für Mehr­heiten. Die Masse muß an die ge­mein­schafts­bil­denden Tu­genden glau­ben, als seien diese im me­ta­phy­si­schen Sinne real. Skepsis ist nicht die Vorhalle der Resignation, son­dern der Vorbote des Kampfes und somit einer neuen siegreichen Ge­wiß­heit. [6] Gewiß können wir uns aber nur unserer selbst sein.

Nächstes Kapitel:
Die Gemeinschaftsbindung

 

 



[1] Safranski, Wieviel Wahrheit braucht der Mensch? S.200 ff.

[2] Rohrmoser, Der Ernstfall, S.19, 420.

[3] Rohrmoser, Der Ernstfall, S.532.

[4] Hobbes, Leviathan, 2.Teil, 26. Kap., S.240.

[5] Machiavelli, Der Fürst, S.119.

[6] Kondylis, Die Aufklärung, S.128. Die neue, siegreiche Gewißheit sieht auch Evola (Revolte.., a.a.O. S.373) auf den Zerfall der alten heraufkommen: "Die immer raschere Beschleunigung von allem, was fällt, bringt es mit sich, daß die Phase des Individualismus und des Rationalismus überholt wird und darauf irrationale und elementare Kräfte mit einer entsprechenden Mystik folgen."