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Auszug aus: Klaus Kunze, Mut zur Freiheit, 1998, S. 148 ff.
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  Jedweder, der diese Stimme vernimmt,

Jedweder, der diese Stimme vernimmt,

fasse diesen Entschluß bei sich selbst und für sich selbst,

gleich als ob er allein dasei und alles allein tun müsse.

Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) [1]

Die konkrete Wer­teordnung

Die konkrete Ordnung, nach der wir fra­gen, ist eine menschliche Wer­­te­ord­nung. Das muß keine Über- oder Un­ter­ordnung von Werten sein. In­tel­­lek­tua­li­stisch und idealistisch inspirierte Philo­so­phie hatte sich seit Pla­ton ver­zweifelt abgemüht, so etwas wie ein idea­les Gedan­­ken­­sy­stem ab­strak­ter Werte zu errichten. Dieses Un­ter­fan­gen ist ver­­geblich und sinn­los. In jedem Menschen sind ver­schiedene, ein­ander widersprechende Gefühle­ und Werte der Mög­­lich­kei­t nach ange­legt. Darum kann jede ratio­na­li­sti­sche An-Ord­nung, Über­ord­nung oder Unterordnung ab­strak­ter Werte nur zu einer Ver­kür­zung mensch­­­li­chen Po­ten­tials füh­ren.

"Das Ideal liegt in dem­jeni­gen Men­schen, der das heute ist, was er heute sein soll. Der auf der Hö­­he seiner Aufgabe stehende Mensch ist der Erbe, der In­be­griff, die rei­­fe Frucht alles dessen, was vor ihm war, und darum der Ah­ne, die Wur­­zel der Zukunft, und darum, weil er Erbe und Ahne zu glei­cher Zeit ist, ist er ein Ideal. Ab­strakte Idea­le gibt es nicht." [2] Nicht der Mensch an sich ist das Maß aller Dinge, son­dern jeder einzelne kann sich für das Seine frei entscheiden. Was dezi­sionisti­sche Philosophie vom idealen Sollen schon immer wußte, be­stätigt uns der Kon­stanzer Biologe Markl für das reale Sein: Wir wer­den "allesamt ungleich geboren, was immer uns die politisch kor­rek­te Unkorrektheit darüber anderes sagen will. Die wirklich fun­da­men­tale genetische Botschaft ist jedoch, daß es für die Spezies Mensch wie für jede andere Spezies keine genetisch definierbare Norm oder keinen Idealtyp gibt." [3]  

Es kann darum nicht Aufgabe der Philosophie sein, auf Grundlage eines starren Systems eine ideale Staats- oder Ge­sell­schaftsver­­­fas­sung zu ent­wer­fen. Le­di­glich ethische Hil­fe­st­ellungen mag die Philosophie geben, Werte anbieten und die Be­din­­gungen ihrer konkreten Ver­wend­barkeit erfragen. So wird ein Opti­mum an prakti­schem Nutzen aus der Philosophie ziehen, wer das Wech­selspiel zwischen eman­zi­pa­to­rischen Denkweisen und der Re­kon­­struktion einer neuen, eigenen Ordnung er­kennt. Was zur Be­frei­ung von ei­ner Herrschaft und zur Zerstörung ihrer Werte un­ent­behr­lich ist, erkannte Comte, taugt nicht gleichzeitig für die Er­richtung ei­ner neuen sozialen Ord­nung. Man gibt die alten Prin­zi­pien letzt­lich nur auf, um neue zu bilden. [4]

Vor­sicht ist dabei umso rat­sa­mer, je um­fas­sen­der eine bekämpfte Herr­­schaft die Ge­sell­schaft regiert. Des­car­tes riet einmal einem Freund: "Ich möchte auf alle Fälle, daß Du Deine neu­artigen Ge­dan­ken nicht offen vor­trägst, sondern Dich äu­ßerlich an die alten Prin­zi­pien hältst. Du sollst Dich damit be­gnü­gen, zu den al­ten neue Ar­gu­mente hin­zu­zu­fügen. Dies kann Dir nie­mand übel­neh­men; und die­jenigen, die Deine Ar­gu­men­te ver­ste­hen, wer­den von sich aus darauf schließen kön­nen, was Du ihnen klarmachen woll­test." Daß sein Leser ver­ste­hend mitdenkt und zu­ Ende ­denkt, muß ein Schrei­­­bender vor allem unter to­talitären Herrschaften hoffen. Spä­­­­­tere Ge­ne­ra­tio­nen er­ken­nen die gei­sti­ge Handschrift solcher Zei­ten daran, daß zwi­schen Zei­len mehr steht als in ihnen. Wer sich ge­zwun­­­genermaßen der Spra­che des Geg­ners be­dienen muß, läuft allerdings Ge­fahr, dessen "Denk­in­halte wenigstens zum un­um­gäng­li­chen Be­zugs­punkt eines auf soziale Wirksam­keit ge­rich­­teten Den­kens" zu machen und sich so die Bedin­gungen des Ge­sprächs dik­tie­ren zu lassen. [5]

Jenseits von Transzendenz und Metaphysik fehlt es noch an einer allge­mein ver­ständlichen Begriffssprache. Wenn wir die Urfrage jeder Moralleh­re beantworten müssen, wie sich der Mensch verhalten solle, besteht darum die Gefahr des Miß­verständnisses. Morallehren pflegen deren Inhalt durch einen einfachen Trick zu erzeugen: Sie gehen still­schweigend vom erwünsch­ten Wert aus. Um diesen basteln sie das passende Weltbild eines Seins, aus dem das gewünschte Sollen ab­­ge­leitet werden kann. Dieses fiktive Sein ist, je nach Zeit­ge­schmack, Gott oder die Natur. Jedenfalls aber muß das gewünschte Sol­len dem Wesen des Gott ebenbildlichen Menschen oder der mensch­lichen Na­tur entsprechen. Sie projizieren also in das Wesen Gottes oder der Natur des Menschen jeweils, was zur gewünschten Moral führt. Erst ma­chen sie das Sollen zum Sein, um aus diesem Sein das gebote­ne Sollen wieder abzuleiten. Diesen logischen Fehler kön­nen wir nur ver­meiden, wenn wir darauf verzichten, die von uns an­genomme­ne Natur des Menschen zur Sollensregel zu machen. Das können nur konsequent ange­wandter Nominalismus und Dezisio­nismus lei­sten.

Wenn wir so etwas wie eine Moral nicht aus einer metaphysischen Natur des Menschen ableiten können und jedes kategorische Sollen mit Schopen­hauer als theologisch ablehnen, bleibt nur der Rückgriff auf die empirische Natur des Men­schen: nämlich die rein deskriptive Frage, wie Moral sich bil­det, was ihr Inhalt ist und auf welchen mensch­lichen Eigenheiten sie beruht. Jeder mag sich dann für oder gegen sie entscheiden. Schopenhauer fährt über die empirisch festge­stellten morali­schen Handlungen fort: "Diese sind sodann als ein ge­gebenes Phänomen zu betrach­ten, welches wir richtig zu erklären, d.h. auf seine wahren Gründe zurückzuführen, mithin die jedenfalls eigen­tümliche Triebfeder nachzuweisen haben, welche den Menschen zu Handlun­gen dieser von jeder andern spezifisch verschiedenen Art be­wegt. Diese Triebfeder, nebst der Empfänglichkeit für sie, wird der letzte Grund der Mo­ralität und die Kenntnis derselben das Fundament der Moral sein." [6]

Diese Triebfedern sind der Freiheitsdrang des Menschen und seine Ge­mein­­schaftsbezogenheit, oder mit den Worten Schopenhauers : sein Egois­mus und seine Menschenliebe. Wir nehmen diese Eigenschaften als Fakten zur Kenntnis, ohne den An­spruch zu er­he­ben, alle Men­schen sollten frei­heitsliebend und sollten ge­mein­­­schafts­lie­­­bend sein. Wir stellen nur lapidar fest: Diese Ge­fühle sind vor­­han­de­ne, aber wi­der­­­sprüc­h­liche Grund­mög­lich­kei­ten mensch­­­­lichen Seins. Wenn wir sie für uns für nütz­lich halten, nennen wir sie unsere Tu­genden. Als ein Sollen empfehlen wir sie nur in aller dies­sei­ti­gen Be­scheiden­heit, und nur unseren Freunden. Sie sind somit keine metaphysischen Werte im Sinne überkommener Mo­ral, sondern sozial er­­­wünschte Ver­hal­tens­­weisen.

Es kommt auf unsere Entscheidung an: Wer die mensch­­­li­che Gemeinschaft wil­­lentlich ak­zep­tiert, in die er un­­wil­lent­lich hinein­geboren wurde, wird bestimmte Tugenden als Pflichten ge­gen­­über dieser so­zialen Gemein­­schaft für notwendig an­er­kennen müs­sen. "Daran hat er ein egoisti­sches Interesse", meldet sich unser Nützlichkeits­sinn. Wir müssen darum ein "Sy­stem von öf­­fent­lichen und privaten Ge­wohn­­heiten einzurichten" su­chen, die "ge­eig­net sind, das Gefühl für die so­ziale Gemeinschaft zu ent­­­wic­keln." Sol­che Konven­tionen wol­len aber keine Offen­barungen sein, son­dern blei­ben sich ihrer Relati­vi­tät stets bewußt. [7] Comte meinte mit der­ar­ti­gen Systemen kon­ven­tio­­neller Ge­wohn­hei­­ten die traditio­nell über­lie­fer­ten, konkreten ge­sell­schaftli­chen Ord­nun­­gen in ihrer hi­sto­rischen Man­nigfaltigkeit. Die­se beruhen auf so­zia­len Institutionen wie der Fami­lie, die für ihren Be­­stand wie­der Wert­setzungen und die all­ge­meine An­erken­nung ihres Wer­tes als Norm erfordern. Kraft Ent­schei­dung werden die Insti­tu­ti­on und ihr im­ma­nenter Wert zum Nor­malfall er­klärt. Solches no­mi­na­listische Den­ken in kon­kre­ten, nicht uni­ver­sa­lier­ten Ordnungen [8] ist also bei nä­he­rer Be­trach­tung ein de­zi­sio­ni­sti­sches mit nur se­kun­dä­rer norma­tiver Kom­ponente.

Die Kardinaltugenden

Die beiden Grundmöglichkeiten, wie wir uns Mitmenschen ge­gen­über in ange­borener Weise verhalten können, sind das sogenannte freundlich-affiliative und das aggressiv-agonale Verhalten. [9] Wie die Stachelschweine in Schopenhauers lusti­gem Bilde mö­gen unsere Ah­nen frierend in einer Höhle gesessen und sich aneinan­dergekuschelt ha­ben, bis sie sich auf die Nerven gingen und Abstand hielten - der Sta­cheln wegen. Distanz oder Annäherung: zwischen diesen beiden Po­­len spielt sich soziales Verhalten ab. Das Agonale, Widerstreitende schafft einzelgängerische Distanz und strebt nach - im Ernstfall auch ge­walt­sa­mer - Dominanz.

Das affiliative, also das lie­­bevolle, "mit­mensch­liche" Ver­halten dagegen hat seine stam­mes­­­ge­schicht­li­chen Wur­zeln im Brut­­pflege­trieb. Sein sozialer Ort ist die Familie, und darum ist sein spe­­zi­fi­sches Ethos das familiäre. Hier liegt die Wurzel aller Be­reit­schaft zur Selbstaufopferung für einen "Näch­­sten". Die Fa­mi­lien­bin­dung erfordert den Verzicht auf indivi­du­el­­le Freiheit. Es setzt weit­ge­hen­de materielle Gleich­­heit vor­aus: Nie­mand am Tisch darf hungrig blei­ben. Min­destens innerhalb der en­gen Fa­­mi­lien­bin­dung sind wir Men­­­schen "von Natur aus auch freund­­li­che, ge­sel­li­ge Wesen." Der Mensch entwic­kelt im ver­­trauten Klein­­­ver­­band je­ne Wert­hal­tun­gen, die es ihm "schließ­lich er­­lau­ben, selbst in ihm frem­den Per­sonen Brü­­der und Schwestern zu se­hen. Letzt­lich ba­­siert das Staatsethos auf ei­ner Er­wei­terung des bio­­logisch be­­­grün­de­­ten Familien- und Sip­pen­ethos. ... Die Fähigkeit zum en­ga­gie­r­­ten Ein­­satz für die größere Grup­­­pe setzt die Fä­higkeit zu Liebe und Ver­trau­­­en voraus, und beide sind familia­res Erbe. Ver­küm­mert die­se Ba­sis, dann läßt sich auch kein Sinn für die größere Ge­mein­schaft ent­wickeln." [10] Die ideellen Grund­lagen des demo­kra­ti­schen Ge­­dan­kens und der Gleich­heits­for­de­rung bauten sich um die wirk­li­che Urzelle mensch­licher Ge­mein­schafts­bildung auf: Wie in einer ein­zi­gen, gro­ßen Familie sollen alle gleich satt und glücklich sein.

Beide Geschlechter, Männer und Frauen, verhalten sich je nach Situation entwe­der agonal oder affiliativ. Vorwiegend jedoch begegnet der Mann der Welt agonal, nämlich - mit den Worten der Linguistin Tannen - wie einem "Wettkampf, bei dem es um die Bewahrung von Unabhängigkeit und die Vermeidung von Niederlagen geht." [11] In einer solchen Welt sind Gespräche "Verhandlungen, bei denen man die Oberhand gewinnen und behalten will und sich gegen andere vertei­digt, die einen herabsetzen und herumschubsen wollen." - Frauen dagegen nähern sich der Welt "als Individuum in einem Netzwerk zwi­schen­mensch­licher Beziehungen", in der "Gespräche Ver­hand­lungen über Nähe" sind, "bei denen man Bestätigung und Un­terstützung geben und erhalten möchte und Über­einstimmung erzielen will. Man will sich davor schützen, von anderen weg­gestoßen zu werden. So gesehen ist das Leben eine Gemeinschaft, ein Kampf um die Bewahrung der Intimität und die Ver­meidung von Isolation." Die typisch weibliche Sehnsucht nach Nähe, Intimität und Gemeinschaft bietet vorwiegend familiäre, affiliative Strategien auf; die männ­liche Auffassung von Sieg und Dominanz faßt die Welt als Leistungs­hierarchie auf und begegnet jedem Konkurrenten agonal.

Um die beiden menschlichen Grundmöglichkeiten: die agonale und die affi­lia­ti­ve, ranken sich alle politischen Theorien. Die üblich ge­wor­de­ne Gleich­setzung der Phänomene Demokratie und Liberalis­mus ver­sperrt die Sicht dar­auf, daß sie ant­agonistischen Grundgedan­ken ent­springen. Es be­steht ein in der Tiefe unüberwind­licher Gegen­satz [12] zwischen liberalem Einzelmensch-Be­wußtsein und demokrati­schem Gedankengut. Gedanklich sauber her­aus­prä­pa­riert läßt der Ge­gen­satz sich folgerichtig ableiten aus den beiden Grund­mög­lichkei­ten so­zia­ler Distanz oder An­näherung: Das agonale Hand­lungs­mu­ster sieht den Menschen in Auseinan­derset­zung gegen andere. Seine Liebe ist Eigenliebe. Es setzt den konkreten einzelnen ab­solut und mißt ihm po­ten­tiell un­endlichen Persön­lich­keitswert zu. Es erlaubt dem In­di­vi­du­um, sich ge­gen ande­re durch­zu­setzen. Ob diese anderen eine Mehr­heit bil­den, spielt keine Rol­le. Es hält darum Abstand vom anderen und betrach­tet ihn als potentiellen Geg­ner. Wer diese innere Haltung ein­nimmt, ge­langt zum Egois­mus, Anar­chis­mus oder - wenn Be­sit­zen­de so denken - zum Li­be­ra­­lismus. Seine Ideal­vorstellung ist die in­di­vidualistische Distanz zu den als unge­liebte Masse emp­fun­denen Mit­­menschen. Er sucht daher vor­nehmlich die persönliche Freiheit. Die­se findet er zum Beispiel im liberalen Rechts­staat. Die­ser darf nur noch privaten Be­dürfnissen einer absoluten Gesell­schaft dienen.

Es kann aber nicht alles menschliche Handeln auf persönliches In­teresse zurück­geführt werden. Es gibt auch uninteressierte, rein wohl­wol­lende Nei­gungen: [13] Das affiliative Handlungsmuster sieht den Men­schen in friedli­chem Miteinander mit anderen. Seine Liebe ist Näch­­stenliebe. Es setzt das Miteinander absolut und mißt der Ge­mein­­schaft potentiell unendlichen Wert bei. Es fordert vom Indi­vi­du­um, sich mit ande­ren freundlich zu arrangieren. Im Zweifel hat es sich in die Anschau­ungen und Belange der Mehrheit ein­zufügen. Es läßt die Menschen sich annähern und be­trachtet sie als poten­tielle Fa­mi­li­en­angehörige. Wer diese innere Haltung ein­nimmt, gelangt ge­fühls­­mäßig zur Vater­landsliebe oder gar zur allumfassenden Mensch­heits­­lie­be; politisch zur Demokratie. Sein Ideal bildet das völ­lige Aufgehen des In­divi­duums im Kollektiv geliebter Mit­­­men­schen und deren um­fassende Über­einstim­mung. Er sucht da­her vor­nehm­lich die Gleich­heit im Kollektiv. Diese findet er in de­mo­kra­­ti­schen, sozia­listischen und organischen Staats­ideen. Sie kulmi­nie­ren im absoluten Staat, der rudimentäre Reste gesell­schaftlichen Le­bens nur noch als die­nende Rädchen im Getriebe duldet. -

Will man agonale Distanz und zugleich familiäre Nähe zu Prin­zi­pien in­ner­halb einer Gruppe machen, widersprechen sie ein­an­der. Da­ge­gen können sich diese Grundgefühle im Widerstreit ver­schiedener Grup­pen mächtig verbinden. Es wird dann die Ag­gres­sion nach außen ge­­wandt und die liebe­volle Verbundenheit nach in­nen. "Kampf ist der Mo­­ment," gibt offenherzig ein Anarchist zu, "in dem der ein­zelne Mensch zum ersten Mal das Gefühl der ge­mein­sa­men Stärke spürt." [14] Die antiken Griechen ließen im Heer be­vorzugt nahe Ver­wand­­te Seite an Seite kämpfen. So schaukelten sich die familiäre Be­reit­­schaft zur eigenen Aufopferung und das agonale Po­tential zu ei­nem Rauschgefühl von Verbundenheit und Macht hoch. In­nerhalb ein- und derselben Gruppe wird eine auf Menschen und ihre Be­dürf­nis­se zugeschnit­tene Gesell­schaftsordnung beide Grund­mög­lichkeiten - Di­stanz und Zu­wen­dung - ermöglichen müssen. Ih­nen entsprechen als Fundamental­werte einer freiheitlichen und so­zial­­­be­zogenen Ord­nung die Geistes­freiheit und als ihr ge­dank­licher Ge­gen­pol die Ge­mein­schaftsliebe. Sie müs­sen im Gleichge­wicht ge­halten werden. Wenn wir sie nicht durch eine dritte, bewußte Wert­setzung mit­ein­an­der verbinden, werden sie sich nie vertragen. Wegen der zwi­schen den Kardinaltu­gen­den beste­hen­­den natürlichen Spannung be­dürfen sie als dritter Kar­dinaltugend des­sen, was die Römer virtus und ihre Nach­kommen virtù nennen: Es ist das spezi­fisch auf die Mitwirkung am Staats­we­sen gerichtete re­publikanische Ethos. Wenn wir unter un­se­rem Guten den Inbegriff der für den Men­schen als so­zia­les Wesen er­forderlichen Tu­genden verstehen und un­ter unserem Bö­sen deren Ge­genteil, dann ist das Bö­se die Ver­nei­nung der Wil­lens­freiheit schlecht­hin, der Gemein­schafts­lie­be schlechthin und die Ver­wei­ge­rung der tätigen Verant­wort­lich­keit für das Ge­mein­we­sen. In­be­griff des Guten ist hingegen eine Hal­tung, die sich frei für den Be­stand des Vol­kes entscheidet und eine po­litische Ordnung mit­ge­stal­tet, welche sich an die Freiheit des ein­zel­nen rück­bindet.

Die Idee einer Verbindung für Kardinaltugenden gehaltener empi­risch vorgefun­dener "Werte" ist keineswegs neu. Schon Comte unter­schied eine individuelle Moral von der häuslichen und der so­zi­a­len und brachte die erste mit der Erhaltung des ein­zelnen in Ver­bin­dung. Die zweite, in der Familie verwurzelte, strebe nach einem "Über­­ge­wicht des Mitgefühls über den Ego­ismus". Die letzte ha­be im­mer die Ge­samtheit im Auge, "so daß sich alle Kraft unserer Na­tur nach deren Ge­setzen für das gemeinsame Ziel vereinen läßt." [15] Der indivi­dua­li­sti­sche Antrieb strebt zur völli­gen Freiheit und zur Macht. Die Fa­mi­lien­liebe erweitert sich auf Liebe zum eigenen Volk; sie ist aber wie je­de Liebe blind. Erst die staats­bil­den­de bür­ger­li­che Tu­gend führt zur Idee der Gemeinsamkeit von Werk und Ver­ant­wortung. Die­se ant­ago­­nisti­schen Werte können nur von Fall zu Fall ge­gen­ein­an­der ab­ge­wo­gen und zweckge­richtet ver­wen­det wer­den. Eibl-Ei­bes­feldt ord­net die Tugenden nach ihrer Funktion in die ago­­na­len, die af­fi­lia­ti­ven und "schließ­lich die zivilisie­renden Tu­genden der Selbst­be­herr­schung und Mä­ßigung." [16] Als drittes sittliches Gut schlecht­­hin ne­ben der Freiheit des einzelnen und der über­in­di­vi­du­el­len Ge­mein­schaft sah auch Rad­bruch "die Ge­meinschaft kul­tu­rel­ler Wert­schöp­fung" an, die er sich "in Form ei­ner Bauhütte" vor­stell­te, "in der die Bau­leute nicht un­mit­tel­­bar von Mensch zu Mensch, son­­­dern mittelbar durch ihr ge­­mein­sa­mes Werk ver­bunden sind." [17] Ein sol­ches Werk, eine im­­­mer­­­­wäh­ren­de Aufgabe zur tä­tigen Verbin­dung von Men­schen ist auch das politisch verfaßte Staats­­wesen. Wer an seiner Frei­­­­heit hängt, wird sich we­­der für die li­be­­­ra­le Ver­ab­so­lu­tie­rung des In­­­­­di­vi­duums, noch für ei­ne kol­lek­ti­vi­sti­sche Ver­ab­so­lu­tie­rung ent­schei­­­­­den. Er wird viel­­mehr die­se Werte in ih­rem Zusam­men­wir­­ken den Inhalt des Rechts gestal­ten lassen. [18] Die­­­ses si­chert die auf das Ge­­mein­we­sen ge­­richtete re­­pu­bli­kanische Tu­­gend. Sie ver­bindet die Men­schen und ih­ren Ei­gen­sinn als Bürger in ihrem ge­meinsamen Werk: dem frei­heit­li­chen Staa­te.

Nächstes Kapitel:
Die Geistesfreiheit

 

 



[1] Fichte, Reden an die deutsche Nation, 14. Rede, S.249.

[2] De Lagarde, Deutsches Wesen, S.99.

[3] Hubert Markl (Präsident der Max-Planck-Gesellschaft), Evolutionäre Per­spek­tive der Medizin, FAZ 3.1.1996, S.N1.

[4] Comte, Die Soziologie, S.47 f. bzw. 46, "Kritik der Kritik".

[5] Kondylis, Die Aufklärung, S.236.

[6] Schopenhauer, Über das Fundament der Moral, in: Ethik, § 13, S.221.

[7] Vgl. Comte, Die Soziologie, S.426 f., 428

[8] Carl Schmitt, Über die drei Arten rechtswissenschaftlichen Denkens, S.10 f.

[9] Eibl-Eibesfeldt, Der Mensch, das riskierte Wesen, S.98 ff.

[10] Eibl-Eibesfeldt, Der Mensch, das riskierte Wesen, S.122 f.

[11] Deborah Tannen, Du kannst mich einfach nicht verstehen, München 1991, S.20 (Die Autorin ist Professorin an der Georgtown Universität).

[12] Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage, S.23.

[13] Comte, Die Soziologie, S.309, 120 "Selbst- und Nächstenliebe".

[14] Was ist eigentlich Anarchie? Karin Kramer Verlag Berlin, 1986,S.26.

[15] Comte, Die Soziologie, "Soziale Statik", S.136.

[16] Eibl-Eibesfeldt, Der Mensch, das riskierte Wesen, S.178.

[17] Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie, GRGA, Bd.3, S.145.

[18] Kaufmann, Grundprobleme der Rechtsphilosophie, S.155.