Meinungsfreiheit in
Deutschland
© Klaus Kunze, Vortrag vor der Gesellschaft für freie Publizistik, 1996
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I. Meinungsfreiheit als Wesensmerkmal
liberaler Ideologie
Zweifellos ist die Macht, seine Meinung frei aussprechen zu
dürfen, jedem angenehm, der sie hat. In vorideologischen Zeiten hat
es als legitimes Mittel des Machtkampfes gegolten, seinem Gegner
den Mund verbieten zu können. Seit etwa 200 Jahren wurde dagegen als
universales Recht jedes Menschen proklamiert, seine Meinung sagen zu
dürfen. Die Meinungsfreiheit jedes Menschen - nicht etwa nur die
eigene - wurde zu etwas Absolutem und Heiligen erhoben, zu einem sogenannten
unveräußerlichen Recht. Die geistesgeschichtlichen
Wurzeln dieser Entwicklung finden wir im Glauben der Aufklärung
des 18. Jahrhunderts an die Rationalität. Man sah die Vernunft
als Wesenskern jedes Menschen an.
A. Meinungsfreiheit als Funktionsvoraussetzung
Die Aufklärung verpönte den Glauben an
feststehende Glaubenslehren und ewige transzendente Tugenden als
Unvernunft. Allgemeingültige ethische Werte, glaubte Kant, könne
man nur auffinden durch Anwendung einer prozeduralen Methode: Man
müsse im Einzelfall immer wieder alle Gesichtspunkte berücksichtigen
und vernünftig fragen, ob die sich aus einer Handlung ergebende allgemeine
Maxime als Gesetz für alle Menschen tauge. Der Kosmos sei nämlich
vernünftig geordnet, und bei richtiger Anwendung der Vernunft könne
man im Einzelfall das moralisch Richtige erzeugen. Diese
Überlegung ist Ursprung aller heute herrschenden prozeduralistischen
Werte-, Rechts- und Gerechtigkeitstheorien. Wie die
Alchimisten mindere Stoffe im Reagenzglas durch die richtige Prozedur
zu Gold machen wollten, obwohl sie vorher keines hineingelegt hatten,
so möchte Kant durch richtige Gedankenprozeduren moralisch allgemeingültige
Normen herstellen. Seine Moral quillt aus dem Nichts durch einen Prozeß
des reinen Nachdenkens.
Der Liberalismus des 19.Jahrhunderts ersetzte den einsam
im Studierstübchen seinen kategorischen Imperativ
ausbrütenden Einzelnen durch eine ganze Gesellschaft von Diskutanten:
Das Allgemeingültige, glaubten auch die Liberalen, lasse sich durch ein
richtig angewandtes Verfahren finden. Nur: Es sei die Diskussion, der
immerwährende Diskurs. Wenn es überhaupt so etwas wie
Wahrheit gebe, könne sie sich nur aus der Quintessenz aller
vernünftigen Argumente ergeben, die von allen Diskutanten in die Wagschale
geworfen seien. Hier gewinnt die Prozedur selbst den entscheidenden
Eigenwert: Um keinen Preis darf der Diskussionsprozeß abgeschnitten
werden, sonst könnte ja ein Vernunftsgrund unausgesprochen bleiben.
Habermas nennt das beifällig die
"Idee eines unendlichen Argumentationsprozesses,
der einem Limes zustrebt", gerade als nähere sich eine
Kette von Argumenten wie eine gerade Linie einem idealen Grenzwert.
Daß darin der endgültige Verzicht auf ein definitives Resultat liegt, nimmt der Liberale gern in Kauf.
Der Gedanke, auch nur ein einziger Mensch könnte der
Möglichkeit beraubt werden, seine Meinung zu äußern,
versetzt ihn in eine Art "unerklärlicher Unruhe, weil er sich
sagt, daß dieser womöglich der Wahrheit am nächsten
gekommen wäre." Das Bedürfnis nach Pluralität
der Meinungen ist für den philosophischen
Liberalismus konstitutiv. Er läßt die verschiedenen
Ansichten nicht nur zu, seine Toleranz ist nicht Selbstzweck,
sondern Grundvoraussetzung für das Funktionieren einer als
immerwährender Prozeß verstandenen
Wahrheitsfindung, ja: Wahrheitserfindung. So fordert Habermas, die politischen Verfahrensbedingungen
müßten idealerweise sicherstellen, "daß alle zur Zeit themenspezifisch
verfügbaren relevanten Gründe und Informationen
vollständig zum Zuge kommen." "Redefreiheit, Preßfreiheit,
Versammlungsfreiheit, Diskussionsfreiheit sind
also nicht nur nützliche und zweckmäßige
Dinge, sondern eigentlich Lebensfragen des Liberalismus."
Dies bestätigt die Wertordnungslehre des Bundesverfassungsgerichts:
"Die Meinungsfreiheit", blickte erst jüngst der Verfassungsrichter
Grimm zurück, "bezieht
ihren Sinn nicht allein aus der Sicherung einer staatsfreien Privatsphäre,
sondern ist zugleich Voraussetzung einer demokratischen
Staatsordnung. ... Der in der amerikanischen Diskussion bis heute
anhaltende Streit, ob die verfassungsrechtliche Garantie der Meinungsfreiheit
ihren Grund in (individueller) self-determination
oder (kollektivem) self-government habe,
ist hier von Anfang an zugunsten einer Doppelbegründung
gelöst worden." Das liberale Staatsverständnis -
dieses meint Grimm mit "demokratischer Staatsordnung" - benötigt
die Meinungsfreiheit also tatsächlich immer in doppelter Weise: Sie
hat einen inhaltlichen Selbstzweck zugunsten des autonomen
Individuums und auch einen funktionalen Zweck: Wo der "Prozeßcharakter
von Kommunikation" nicht durch Meinungsfreiheit gesichert
ist, fehlt die Ausbalancierung der Meinungen, und damit fällt die tragende
Begründung des Liberalismus in sich zusammen.
Es kann hier dahinstehen, ob diese theoretisch tragende Begründung
auch praktisch trägt. Wilhelm Hennis nannte sie ein wirres
Gedankengebräu unserer Urgroßväter, das
sich inzwischen verbraucht habe. Festhalten müssen wir nur, daß
der Liberalismus mit seiner politischen Form: dem Parlamentarismus,
seinem eigenen Selbstverständnis nach nicht funktionieren
kann, wo nicht Meinungsfreiheit umfassend garantiert ist.
Für dogmatische Liberale gilt es daher die Meinungsfreiheit
universal zu installieren mit dem Ziel, das Ende der Geschichte in einer
weltweiten Kommunikationsgemeinschaft herbeizuführen, in
der die verschiedenen Überzeugungen sich zum Wohle aller
vernünftig ausbalancieren.
Der Selbstwiderspruch des Liberalismus besteht darin,
daß er einerseits aus ideologischen Gründen eine
Vielfalt von Meinungen benötigt; andererseits seine eigene Weltdeutung:
nur Meinungsvielfalt führe zur Wahrheit, notfalls durchsetzen
muß wie alle anderen auch: durchsetzen nämlich gegen seine Feinde,
die nur ihre eigene Meinung gelten lassen möchten. Das liberale Dilemma
besteht heute in diesem Spagat: Einerseits möchte er, daß
alles gesagt werden darf, andererseits muß er dann erlauben, daß
Linke nach Tabus und Zensur gegen Rechts rufen oder Moslems gegen Schriftsteller
wie Salman Rushdie. Verteidigt der Liberale die Meinungsfreiheit
Rechter, die er doch überhaupt nicht liebt, dann sieht er sich selbst
moralkeulenschwingenden Angriffen ausgesetzt. In dieser doppelten
Frontstellung weichen seit Jahren die liberalen Grundüberzeugungen auf. Es
rächt sich die Paradoxie, die in der unerfüllbaren liberalen
Forderung liegt, alle Ansichten hätten das Recht auf Gehör. Sie
besteht darin, daß der Liberalismus auch die Freiheit verteidigen
muß, seine eigene Abschaffung zu fordern.
B. Meinungsfreiheit als Ausfluß der
Menschenwürde
Der inhaltliche Selbstzweck der Meinungsfreiheit beruht auf
einem Verständnis vom Menschen als tendenziell unendlichem Wert an sich.
Seine Würde erfordert es nach dieser Lehre, ihm keine
Meinungsäußerung zu verbieten. Diese Lehre und ihr Verständnis
von Menschenwürde ist untrennbar verbunden mit dem christlichen Glauben,
der Mensch sei gottesebenbildlich, und zwar mit einer seit dem Ende des 18.
Jahrhunderts im protestantischen Raum entstandenen Variante des
Christentums.
Wo andere Ideologien herrschen, fehlen die tragenden Axiome
für so verstandene Meinungsfreiheit. So versteht es sich von selbst,
daß eine Lehre wie die marxististische keine Freiheit der Meinung kennt:
Der Marxismus etwa sieht weder den Menschen als gottebenbildlich an,
sondern als ein rein materielles Ding. Deshalb gibt es etwa heute in China
keine Meinungsfreiheit.
C. Abenddämmerung des Liberalismus
Wie sehr sich die liberalen Glaubenssätze wirklich
verbraucht haben, weiß jeder, der heute in Deutschland nonkonforme Ansichten
äußern möchte. Da ist vielfach nichts mehr zu spüren von
Voltaires Maxime: Er könne die Ansichten seiner Gegner noch so sehr hassen;
kämpfen würde er aber dafür, daß man sie äußern
dürfe. Immer weniger Etablierte entziehen sich noch dem Würgegriff
von Tabuisierung, politischer Korrektheit und Sprachregelungen,
die Boykottdrohungen nach sich ziehen können, Existenzvernichtungen
oder gar Angriffe auf Hab und Gut oder Leib und Leben. Es ist ein überhaupt
nicht mehr liberaler Zeitgeist, der unliebsame Meinungsäußerungen
durch Zensur und Tabus bis hin zur Strafverfolgung, wo möglich, unterbinden
möchte.
Die Pointe dabei ist: Die da überhaupt nicht liberal
sind, sondern ihre Macht gezielt zur Unterdrückung gegnerischer
Meinung einsetzen, sind ideologische Linke, und ihre Gegner sind meist
ebensolche Rechte, die ihrerseits auch kein bißchen liberal sind. Es
läge nun eine Inkonsequenz darin, über mangelnde Liberalität
seiner Gegner zu jammern, wenn man selbst nicht liberal ist. Nicht
liberale Rechte, die meisten also, sollten darum ehrlicherweise zugeben:
Die andern sind nun einmal zur Zeit stärker. Ideen sind Waffen im Kampf um
Einfluß und Interessen. Jeder, der sich nachhaltig durchsetzen will,
muß seine Weltdeutung zur effektiv herrschenden Lehre machen.
Die Rechte darf das legitimerweise ebenso versuchen wie die Linke.
Die ideologische Strahlkraft der Meinungsfreiheit nimmt ab,
weil ihre geistigen tragenden Voraussetzungen nicht mehr allgemeingültig
sind. Nur noch religiöse Minderheiten glauben an einen Gott, der den
Menschen nach seinem Ebenbilde geschaffen und, und damit an einen Menschen,
dessen Würde unabdingbar die Meinungsfreiheit fordert. Es nimmt die Zahl
derer zu, die an nichts glauben, aber auch die Zahl derer, die Ideologien mit
absolutem Wahrheitsanspruch anhängen. Gegenüber dem Anspruch auf
das absolute Rechthaben gibt es keinen Schutz für den, der etwas
Unwahres öffentlich meinen möchte.
In der unserer Rechtsordnung zugrunde liegenden Meinung,
unser Parlamentarismus sei eine Demokratie, findet die Meinungsfreiheit einen
letzten starken Anhalt: Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
muß sich der Wille des Volkes "demokratisch" von
unten nach oben bilden und darf darum keinesfalls von Staats wegen
beeinflußt werden. Darum ist dem Staat verboten, Meinungen zu
unterdrücken. Das genügt aber heute nicht mehr: Liberalen Forderungen
wie der nach Freiheit der Meinung vor staatlicher Zensur ist die "Geschäftsgrundlage"
entzogen worden, seit die Gesellschaft den Staat zu ihrer
Agentur gemacht und sich einverleibt hat.
II. Meinungsfreiheit und Normativismus
Winfried Knörzer hat kürzlich am Beispiel des
Faschismus und des Nationalsozialismus deutlich gemacht, daß es zwei Grundeinstellungen zum
Gegner gibt: Der Faschist habe einen Feind nötig, an dem er sich
messen kann. Er sei damit das Gegenteil des Nationalsozialisten, der
die Geschichte zum Stillstand bringen wollte durch Ausrottung seiner
Feinde. Ein Gradmesser für diese verschiedenartige Einstellung
zum Gegner ist es, wie einer mit dessen Meinungsfreiheit umgeht. Hier
zeigt sich exemplarisch der Unterschied zwischen normativ aufgeladenen und
normativ gleichgültigen Weltbildern:
A. Normative Weltanschauungen
Auf der einen Seite stehen alle weltanschaulichen
Lehren, die für sich allein normative Richtigkeit und metaphysische
Wahrheit beanspruchen. In ihren Augen ist jede abweichende Lehre
eine Ketzerei, Häresie, Lüge, Hetze, Rattenfängerei oder
schlimmeres. Für sie gilt der Satz Donosos: Der Irrtum hat kein
Recht, zu existieren, und die Wahrheit kenne nur ich allein. So gibt
es kein Recht auf Meinungsfreiheit des Ungläubigen für die
Propheten von Erlösungsreligionen und Sozialutopien, aber auch nicht
für Ideologen etwa marxistischer und nationalsozialistischer
Herkunft.
Hierher gehört aber auch die auf dem Vormarsch
befindliche Spielart des Liberalismus, der inklusive Liberalismus. Er
ist ein dogmatischer Liberalismus, der zum Bewußtsein seiner
selbst gekommen ist. Er hat erkannt, daß ein konsequent toleranter
Liberalismus sich durch die bekannte Paradoxie in seinen Konsequenzen
aufhebt. Er verharrt nicht in der defensiven Haltung des Toleranten, der
sich beim Intolerantsein ertappt fühlt. Offensiv verkündet
er diejenigen Wertsetzungen als Glaubenswahrheiten, deren
er zu seiner Selbsterhaltung bedarf. Zu diesen funktional
benötigten Wertsetzungen zählen zu allererst die
Pluralität im allgemeinen und die garantierte Möglichkeit, verschiedene
Meinungen zu haben, verschiedenen Glauben zu praktizieren und
völlig unterschiedliche Lebensentwürfe zu praktizieren im besonderen.
Für normative Weltanschauungen kann es nur eine
Wahrheit geben: Pluralität der Meinungen kann dann nur bedeuten,
Irrtümer ohne Existenzwert in den Plural zu setzen. Der Liberalismus
meint, nicht zu den normativen Anschauungen zu zählen, eben weil er die
Pluralität liebt. Er hält unumstößlich für wahr,
daß es unumstößliche Wahrheiten nicht gibt und darum jede
Meinung ihren Wert hat. Die Pluralität selbst garantiere den richtigen Weg
zur Wahrheit. Er fordert darum: Keine Freiheit den Feinden der Freiheit, und er
meint damit: Nur wer selbst zur Pluralität bereit ist, dürfe in den
vollen Genuß der pluralen Vielfalt kommen.
Jeder Glaube an die metaphysische Wahrheit des eigenen
normativen Lebensentwurfs macht intolerant gegen die Meinungsäußerungen
anderer. Intolerant ist darum selbst, wer fordert:
Keine Toleranz für die Feinde der Toleranz.
B. Die dezisionistische Anschauung
Die entgegengesetzte Ansicht zum Gegner und seiner Handlungs-
und Meinungsfreiheit manifestiert sich in Worten wie Ernst Jüngers: "Nicht wofür wir
kämpfen ist das Wesentliche, sondern wie wir kämpfen."
Solches Denken benötigt den Feind geradezu existentiell, um mit
ihm zu einer Einheit besonderer Art zu verschmelzen.
Es "bejaht sich selbst und den Feind" und "lebt im Ganzen
und in den Teilen zugleich." Daß der Feind seine Meinung
äußert, sieht dieses Denken als sein natürliches Recht an,
denn es kämpft um seine geistige Existenz jeder, wenn er seine Weltanschauung
propagiert, für seine Götter missioniert und anderen die
eigene Weltsicht aufnötigen möchte.
Meinungen und Ideen sind Waffen im Existenzkampf, in dem
jeder die eigenen führt und dem Gegner die seinen zu entwinden sucht.
Der Dezisionist hält es für legitim, wenn jeder Kombattant auch seine
eigene Weltanschauung ins Feld führt. Knörzer hat darum Recht,
wenn er den Faschismus auf der einen Seite sieht, den Nationalsozialismus
aber auf der anderen, auf die, wie wir hier ergänzen dürfen, jeder
weltanschauliche, ideologische oder religiöse Fanatismus
gehört, sei er etwa ein christlicher Fanatismus, ein
marxistischer oder ein liberaler Fanatismus.
III. Meinungsfreiheit als Wesensmerkmal der
freiheitlichen demokratischen Grundordnung
Das Grundgesetz fordert die Meinungsfreiheit in Art.5 Abs.I
als nicht änderbares Verfassungsmerkmal. Kommunikationsfreiheit in
politischen Dingen ist für die freiheitliche demokratische
Staatsordnung aus den oben geschilderten geistesgeschichtlichen
Gründen "schlechthin konstituierend". Als Wesensmerkmal der freiheitlichen
demokratischen Grundordnung darf die Meinungsfreiheit nicht abgeschafft
werden. Wer dies unternähme, wäre ein Verfassungsfeind.
A. Meinungsfreiheit nach Art.5 GG
Indessen ist nicht jedwede Äußerung eine von
Art.5 GG geschützte Meinungsäußerung. Wer
behauptet: "Die Sonne dreht sich um die Erde", darf das zwar glauben.
Nur steht ihm dabei nicht die Freiheit der Meinungsäußerung zur
Seite. Art.5 GG schützt nur meinendes Dafürhalten und Wertungen.
Tatsachenbehauptungen können nur richtig oder falsch sein,
worüber man im Zweifel Beweis erheben könnte. Wer eine Tatsache
behauptet, die nachweislich nicht wahr ist, steht darum nicht unter
dem Schutze der Meinungsfreiheit.
Die Richtigkeit von Meinungen im juristischen
Sinne kann man prinzipiell nicht beweisen, weil sie immer subjektiv und
relativ auf den Äußernden bezogen sind. Für echte Meinungsäußerungen
aber gilt: Das Verbreitung von Meinungen und Werturteilen ist erlaubt, ob
diese auch wertvoll oder wertlos sind, richtig oder falsch, emotional oder
rational, scharf oder übersteigert.
B. Die verfassungsmäßigen Schranken
der Meinungsfreiheit
Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit steht gemäß
Art.5 Abs.II GG unter der Schranke der allgemeinen Gesetze und dem gesetzlichen
Schutz der persönlichen Ehre. Das sind Gesetze, deren Zielrichtung
nicht darin liegt, Meinungsäußerungen einschränken zu
wollen, und die für alle gelten. Ihrerseits müssen solche
Gesetze aber immer im Lichte der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts
auf Meinungsfreiheit so ausgelegt werden, daß der Kernbereich dieses
Rechts gewahrt bleibt.
C. Meinungsfreiheit im Lichte der
Rechtsprechung des BVerfG
Um die Meinungsfreiheit möglichst umfassend zu
gewährleisten, hat das BVerfG eine Reihe von Zweifelsfragen generell
zu ihren Gunsten beantwortet.
1. Auslegung bei mehreren
Deutungsmöglichkeiten
Vielfach lassen Äußerungen mehrere Deutungen zu,
von denen eine strafbar wäre und eine straflos. Einen Verfassungsverstoß
stellt es nach der Auffassung des BVerfG dar, wenn die Gerichte einer
Äußerung unter mehreren objektiv möglichen Deutungen diejenige
geben, die zu einer Verurteilung führt, ohne die anderen unter Angabe
überzeugender Gründe auszuschließen. Dieser Grundsatz
kam etwa bei der Entscheidung über das Tucholsky-Zitat zum Tragen,
Soldaten seien Mörder. Man könnte das auch so auffassen, es
seien keine bestimmten Soldaten gemeint, etwa keine der Bundeswehr.
2. Gemisch von Meinung und Tatsache
Wenn eine Meinungsäußerung in
Tatsachenbehauptungen dermaßen eingebettet ist, daß sie von ihnen
abhängt, läßt das BVerfG zweifelhafte Behauptungen durchgehen,
wenn ihr Verbot die Meinungsäußerung unmöglich machen
würde. Vielfach steckt in Äußerungen nämlich beides
zugleich, Meinung und Tatsachenbehauptung, etwa: ein Arzt erteile wucherische
Rechnungen. Eine Mischung von Tatsachenbehauptung und Meinung sieht das
BVerfG im Zweifel als erlaubte Meinungsäußerung an.
Diese Rechtsprechung führt etwa zu dem absurden Ergebnis,
daß jemand einer Zeitung untersagen darf, er habe zu Ostern
weiße Schnürsenkel getragen, nicht aber, er sei ein Faschist. Jemand
sei ein Dieb, ist eine nachprüfungsfähige Tatsachenbehautpung.
Ist sie falsch, kann gegen sie geklagt werden. Unter Berücksichtigung
der Rechtsprechung des BVerfG tut eine Zeitung gut daran, statt dessen zu
schreiben: Er sei ein Gauner. Darin liegt ein nicht angreifbares Werturteil.
So gelangt die Rechtsprechung zu einer ganz unangebrachten
Besserstellung dessen, der unsachlich polemisiert, statt sich auf das Risiko
nachprüfungsfähiger Tatsachenbehauptungen einzulassen.
Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
hat den Ehrenschutz gegen Rufschädigungen nach Beobachtung des
ehemaligen Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts, Prof.
Horst Sendler, abgeschafft. Unter Berufung auf die freie Meinungsäußerung
siegen heute meistens die beklagten Beleidiger in Gerichtsprozessen der
beleidigten Opfer. Sendler bringt das ganze Dilemma Beleidigter
auf den Nenner: "Die Rechtsprechung des BVerfG bietet ... hilfreiche Hinweise,
Invektiven mit einem Rest von Zweideutigkeit so zu formulieren, daß sie
für jeden Kenner eindeutig diffamieren, aber liebevollen
Interpreten - so auch dem BVerfG - die Chance lassen, dem Schmäh
dank seiner zweideutigen Eindeutigkeit eine eindeutige Zweideutigkeit
zu unterschieben."
3. Im Zweifel für die freie Rede
Insbesondere in öffentlich interessierenden Fragen
spricht das BVerfG sich in Zweifelsfällen immer für die
Zulässigkeit der freien Rede aus. Wenn es noch irgendeine noch so
abwegige Möglichkeit gibt, eine Beleidigung als politische Meinungsäußerung
auszulegen, läßt sie das BVerfG durchgehen. So macht sich wegen
Beleidigung strafbar, wer seinen Thekennachbarn mit "Nazi"
anbrüllt, weil der ihm ein Bier über die Hose geschüttet
hat. Klug beraten wäre der Gießer freilich, vor Gericht zu erklären,
der Begossene hätte ihm gerade erzählt gehabt, die Bundeswehr
fände er dufte. Wenn das "Nazi" nämlich möglicherweise ein Produkt
meinenden Nachdenkens war, ist
es erlaubt.
D. Keine Meinungsfreiheit für
Beleidigungen
1. Strafbarkeit nach § 185 ff. StGB
a) Kein
Grundrechtsschutz für Beleidigungen
Wer einen anderen als Hornochsen bezeichnet, will nach Auffassung
der Rechtsordnung nur schmähen und äußert nicht ernstlich
eine Meinung. Er macht sich strafbar nach § 185 StGB. Als Faustregel
gilt: Es beleidigt, wer den anderen bloß kränken und in seiner
Persönlichkeit treffen will.
Im Einzelfall gerät der Rechtsprechung die Abgrenzung
solcher Formalbeleidigungen und Schmähungen von
straflosen Meinungsäußerungen zum Glücksspiel.
So soll die Bezeichnung anderer als "braune Ratten"
nach dem LG Paderborn eine erlaubte Meinungsäußerung sein. "Rotlackierter
Nazi" hält dagegen für eine Beleidigung das LG Wiesbaden. Die Unitarier darf man nach Meinung des
OLG Hamburg als "Nazi-Sekte" bezeichnen. Aber einen "Altkommunisten im
Geiste des Massenmörders Stalin" darf man einen
anderen nicht straflos nennen, urteilte das AG Weinheim.
Dem Verteidigungsminister darf man nachsagen, er begehe durch
Entsendung von Soldaten ins Ausland eine Beihilfe zum Völkermord. Auch darf man Soldaten im allgemeinen
als Mörder bezeichnen.
Eine Strafe wegen Beleidigung wegen Beleidigung verhängte
hingegen das AG Mannheim wegen eines Briefes: Eines Staatsanwalt
habe Gestapo-Methoden angewandt. Das BVerfG hat eine ähnliche
Entscheidung aufgehoben, nachdem rechtmäßig handelnden Beamten
vorgeworfen worden war, sie wendeten Gestapo-Methoden an. Das Amtsgericht Aachen hielt es noch für erlaubt, den
Düsseldorfer Innenminister Schnoor unter Berufung auf die
Wortherkunft und den Brockhaus als Terroristen zu bezeichnen,
weil er Angst und Schrecken verbreite. Das LG Aachen hob das Urteil auf und verurteilte.
Generell neigen Gerichte zu engherziger Auslegung, wenn Behördenvertreter
kritisiert werden: Ein Oberstaatsanwalt gebe eine nationalsozialistische
Weltanschauung in erschütternder Deutlichkeit zu erkennen,
durfte auch ein medienbekannter Münchener Rechtsanwalt nicht
sagen.
Man darf hingegen Polizeibeamte als abkassierende Bullen
bezeichnen, wenn nicht auszuschließen ist, daß dies nicht den
einschreitenden Beamten persönlich galt, sondern der Polizei im
allgemeinen.
Nach Ansicht des BVerfG soll jeder Zweifelsfall zugunsten
der Meinungsfreiheit gelöst werden. "Im Zusammenhang mit
Wahlkämpfen verstärkt sich diese Regel zur" von Kriele so genannten "Supervermutungsformel",
wonach gegen "das Äußern einer Meinung nur in
äußersten Fällen eingeschritten werden darf." Dabei wird das Gericht häufig der
persönlichen Ehre nicht gerecht, die als Ausfluß der Menschenwürde
gleichen Verfassungsrang besitzt.
b) Speziell:
Beleidigung von Juden
Der BGH sieht es in ständiger Rechtsprechung als
Beleidigung an, die Verfolgung und Ausrottung von Juden im 3. Reich zu
leugnen. "Die historische Tatsache," so wörtlich der BGH,
"daß Menschen nach den
Abstammungskriterien der sog. Nürnberger Gesetze ausgesondert
und mit dem Ziel der Ausrottung ihrer Individualität beraubt wurden,
weist den ... Juden ein besonderes personales
Verhältnis zu ihren Mitbürgern zu. ... Es gehört zu ihrem personalen
Selbstverständnis, als zugehörig zu einer durch das Schicksal
herausgehobenen Personengruppe begriffen zu werden, der
gegenüber eine besondere moralische Verantwortung aller
anderen besteht."
Das BVerfG sieht diese Judikatur im Einklang mit dem Recht
auf Meinungsfreiheit. Es erklärte dazu:
"Bei der untersagten
Äußerung, daß es im Dritten Reich keine Judenverfolgung gegeben
habe, handelt es sich um eine Tatsachenbehauptung, die nach
ungezählten Augenzeugenberichten und Dokumenten, den
Feststellungen der Gerichte in zahlreichen Strafverfahren
und den Erkenntnissen der Geschichtswissenschaft erwiesen unwahr ist. ... Wer diese Vorgänge zu leugnen versucht,
spricht jedem einzelnen von ihnen die persönliche Geltung ab."
Insbesondere sieht es der BGH als strafbare Beleidigung an,
die Judenverfolgung als jüdische Erfindung zu
bezeichnen zu dem Zweck, Wiedergutmachungszahlungen zu empfangen oder die
Deutschen erpreßbar zu halten.
2. Strafbarkeit nach § 130 StGB
"Die Bundesrepublik" befindet sich nach
Feststellung des Speyerer Verfassungsrechtlers Quaritsch "seit ihrer
Entstehung im ideologischen Kriegszustand mit dem Dritten Reich." Die
Verfolgten-Perspektive sei zugleich ihre offizielle Auffassung. Aus ihr beurteilen ihre Rechtsordnung
und Justiz, was normativ und faktisch im historischen Rückblick als wahr
und falsch zu gelten hat. Darum steht von vornherein unter prinzipiellem
Verdacht einer versuchten Mohrenwäsche, wer historische Faktenbehauptungen
korrigieren möchte. Zu offensichtlich hängt die Richtigkeit
moralischer Wertungen von der Wahrheit der Fakten ab, auf die sie sich
gründet.
Darum hat der Bundesgesetzgeber jüngst unter Strafdrohung
gestellt jeden Versuch, die Taten der Nationalsozialisten zu
verharmlosen, wobei der Begriff der Verharmlosung die gewünschte
Dehnbarkeit besitzt. Wie weit diese jüngsten Gesetzesänderungen
das gewünschte Ziel erreichen, läßt sich noch nicht absehen.
E.
Wahrheit oder Unwahrheit?
1. Lügen sind nicht schutzwürdig
Eine falsche Tatsachenbehauptung, so erklären
übereinstimmend das Bundesverfassungsgericht, der BGH
und die Instanzgerichte, ist nicht schützenswert. Eine Lüge ist
bewußt wahrheitswidrige Behauptung einer Tatsache. Unwahrheiten
vermögen zur Meinungsbildung nichts beizutragen. Darum steht die
Falschbehauptung nicht unter dem Schutz der Meinungsfreiheit. Wer ein Ereignis oder ein
anderes Faktum als tatsächlich behauptet, obwohl er selbst es
für unwahr hält, der lügt. In diesem einfachen Grundtatbestand
ist der Rechtsprechung voll zuzustimmen. Mit Meinungsfreiheit
hat dieser Fall auch nichts zu tun.
Theoretisch ist auch nicht bestreitbar, daß
eine Faktenbehauptung, die nicht stimmt, keinen Wert hat. Wer sie
aufstellt, obwohl er ihre Unwahrheit kennt, verdient nicht den Schutz der Meinungsfreiheit.
Eine Lüge ist keine Meinung, sondern eine bewußte Täuschung
über Fakten. In der Praxis fangen die Pobleme leider hier erst an. Sie
knüpfen sich an die Fragen: Woher weiß denn die Rechtsprechung
im Einzelfall, was Wahrheit ist und was Unwahrheit? Wer schützt uns vor
einer Rechtsprechung, die uns als unwahr verbieten will, was doch wahr ist? Ist
nicht in Zweifelsfällen das beliebige Für-wahr-Halten selbst schon
ein schützenswertes Recht? Eine Meinung zu bilden, hängt
gewöhnlich von Vorkenntnissen über Fakten ab. Kann man die
Meinungsfreiheit überhaupt schützen, ohne zugleich die
Freiheit des einzelnen zu respektieren, für wahr zu halten, was er will?
Darf jemand bestraft werden unter dem Vorwurf der Lüge, obwohl
er selbst fest an die seine Wahrheit glaubt?
2. Kein Rechtsschutz für Unwahrheiten
Woher also weiß die Justiz im Einzelfall, ob eine
Behauptung eine bewußte Unwahrheit ist? Wieviel tatsächlich
Unwahres hören und lesen wir nicht tagein, tagaus, und die es reden
und schreiben, glauben es selbst? Hier bleibt der Rechtsprechung praktisch
kein anderer Weg als derjenige einer Beweisaufnahme. Durch Zeugen und
andere Beweismittel kann es versuchen, die Wahrheit oder Unwahrheit
aufzuklären. Wenn in der Zeitung XY eine Falschmeldung über den
Bürger Z gestanden hat, nützt es ihr überhaupt nichts, wenn der
Reporter gutgläubig auf ein ihm aufgetischtes Märchen
hereingefallen ist. Das Zivilgericht wird ihn und die Zeitung auf Klage
des Z verurteilen, die falsche Behauptung künftig nicht mehr
aufzustellen. In Zivilprozessen ist es allein Sache der Streithähne,
dem Gericht Beweise für ihre widerstreitenden Behauptungen
anzubieten. Hier streitet Bürger gegen Bürger, etwa um das
Recht des einen, in seiner Zeitung etwas über den anderen
behaupten zu dürfen.
Im Grundsatz ebenso funktioniert ein Strafprozeß: Nur
steht hier nicht Bürger gegen Bürger, sondern Staatsanwalt gegen
Bürger. Wenn ein Staatsanwalt dem Angeklagten eine strafbare
Falschbehauptung vorwirft, einen Meineid etwa, dann muß der Staatsanwalt
den vollgültigen Beweis dafür liefern. Niemand darf wegen einer Aussage
vor Gericht verurteilt werden, deren Unwahrheit nicht feststeht.
Zu den Erkenntnisquellen des Gerichts zählen dabei die
in der Strafprozeßordnung zugelassenen Beweismittel.
Keines Beweises bedürfen offenkundige Tatsachen. Wenn der
Trickdieb bestreitet, die Oma am Bahnhof von Coburg bestohlen zu haben,
weil es in Coburg gar keinen Bahnhof gäbe, bedarf es vor einem Coburger
Gericht keiner Beweisaufnahme, daß dies nicht stimmt. Auf
solche für die anwesenden Richter aufgrund persönlichen Erlebens
bekannten Fakten sollte sich die Offenkundigkeitsregel beschränken.
3. Keine "Wahrheit" ideologischer
Prinzipien
Weltanschauliche Annahmen, metaphysische und esoterische
Überzeugungen oder religiöse Dogmen sind an die Person dessen
gekoppelt, der sie äußert. Sie existieren nur in seinem Kopf. Im
Rahmen eines Vortrags über Meinungsfreiheit kann ich nicht weiter vertiefen,
daß der Kosmos ideeller Güter nur in uns existiert. Für unsere Überlegungen genügt:
Wertüberzeugungen, Jenseitsideen, ideologische Axiome und dergleichen mehr
sind keine beweisbaren Fakten. Sie genießen darum den vollen Schutz der
Meinungsfreiheit.
Das ist für jeden von hohem praktischen Wert, der
grundsätzlich anderer Ansicht als der jeweilige Zeitgeist samt
Staatsschutz und Justiz. Er darf dann nicht belangt werden für seine
Ideen, auch wenn diese als ketzerisch oder subversiv gelten. Der Freiraum
dessen, was als Glaubensüberzeugung justizfrei zu bleiben hat, muß
im Zweifel groß sein. Dem Abweichler droht sonst eine Justiz, die ihm als
falsche Tatsachenbehauptung, also als Lüge, verbietet, was er
doch von Herzen glaubt. Jede Ideologie möchte sich der Herrschaft und der
Justiz bemächtigen und ihre Lehre als beweisbares Faktum ausgeben, dem gegenüber
eine abweichende Meinung nur Lüge sein kann.
Aus Sicht einer Doktrin, also einer kohärenten
Werteordnung, erscheint jede ihr entsprechende Aussage als wahr
und jede ihr widersprechende als falsch. Wie sehr das für jede Herrschaftsideologie
gilt, schilderte Donoso plastisch anhand der katholischen:
"Die Freiheit in der Wahrheit ist
ihr heilig, die im Irrtum ist ihr ebenso verabscheuungswürdig
wie der Irrtum selbst; in ihren Augen ist der Irrtum ohne Rechte geboren
und lebt ohne Rechte, und dies ist der Grund, weshalb sie ihm nachspürt,
ihn verfolgt bis in die geheimsten Schlupfwinkel des menschlichen
Geistes; weshalb sie ihn auszurotten sucht. Und diese ewige Illegitimität,
diese ewige Nacktheit und Blöße des Irrtums ist sowohl ein
religiöses als auch ein politisches Dogma. Zu allen Zeiten
haben es alle irdischen Gewalten verkündet: Alle irdischen
Gewalten haben das Prinzip, auf dem sie beruhen, der Diskussion
entzogen; alle haben das diesem Prinzip entgegenstehende
Prinzip Irrtum genannt und haben es jeder Legitimität und jeden
Rechtes entkleidet."
Auch im freiesten Land, das es je auf deutschem Boden gab,
gibt es herrschende Doktrinen, die von ihren beamteten Beschützern
wie Wahrheiten hochgehalten werden. Ihr Gegenteil gilt als bar jeder
Legitimität und jeden Rechts. Ich übe keine besondere Kritik,
wenn ich das ganz ungerührt feststelle. Es ist bloß eine heute
verbreitete Illusion, unser Land und unsere Zeit machten eine Ausnahme von dem,
was immer galt und gilt. Wer aber die heiligsten Illusionen der herrschenden
Mehrheit nicht teilt, ist klug, für einen weiten Geltungsbereich der
Meinungsfreiheit zu kämpfen.
4. Keine "Wahrheit" von
Interpretationen
Nicht nur abstrakte ideologische Prinzipien entziehen sich
dem Tatsachenbeweis und dürfen als Meinungen frei geäußert
werden. Dasselbe muß gelten für die interpretierende
Verknüpfung und Auswahl von Fakten zu einem Gesamtbild. Insbesondere
meinungsfrei bleiben müssen darum Geschichtsinterpretationen und
-bewertungen. Dagegen neigt jede herrschende Macht dazu, sich ein
Geschichtsbild zurechtzumachen, das ihre Herrschaft legitimiert, und
dieses Geschichtsbild als Faktum auszugeben.
So brüstete sich der Marxismus, eine Wissenschaft mit
beweisbaren Tatsachen zu sein. Eine Justiz, die ihm das abnehmen würde,
müßte jeden ohne Rücksicht auf Meinungsfreiheit wegen
unwahrer Tatsachenbehauptungen verurteilen, der etwa die marxistische Doktrin
bestreitet, nach der die Historie eine Geschichte von Klassenkämpfen sei.
Es ist aber eine Frage der Bewertung, ob man etwa die Pariser Kommune als einen
Klassenkampf betrachtet, ob die eigene Epoche goldenen Zeiten entgegengeht
und ob der jeweilige Vorgänger der jeweiligen Machthaber ein
verbrecherisches Regime geführt habe. Es ist eine positivistische
Illusion, man könne historische Ereignisse als Fakten festschreiben wie
Lottozahlen und Abweichungen vom verordneten Geschichtsbild als
Lüge bestrafen. In seiner Dankrede für den Preis des Historischen
Kollegs in München führte Johannes Fried im vergangenen Jahr aus:
"Reine Sachdarstellung, purer
Tatsachenbericht sind schlechthin unmöglich. Als phantasiebedingtes
Sprachgebilde ist Geschichte widersprüchlichem Verstehen ausgeliefert,
durch Scheinobjektivität manipulierbar, geradezu verfälschbar, auch
als 'Lüge' diffamierbar."
Insbesondere die Richtigkeit historischer Sammelbegriffe wie
Kreuzzüge, deutsche Revolution 1848 - War sie eine? -,
Gründerzeit ist immer auch eine Meinungssache. So darf man aus Sicht der
westlichen Wertegemeinschaft bedauern, daß Napoleon bei Waterloo
unterlag, und man mag diesen Krieg nicht als Befreiungskrieg verstehen, sondern
als Rückfall in Deutschtümelei. Man darf straffrei meinen: Er
gab gar keinen Befreiungskrieg! Man muß auch meinen dürfen: Es gab
gar keine Oktoberrevolution, sie war nämlich ein Putsch; es gab keine
Novemberverbrecher, sie waren nämlich Helden; es gab keine Goldenen
Zwanziger, die waren nämlich ein endloses soziales Elend; es gab nicht, es
gab nicht... Mit Recht fuhr Fried mit den Worten fort:
"Das ist das Paradox der Geschichte: Der Historiker wird
zum sprachlichen Schöpfer der Welten, die er erforscht. Wo ist dann
Wahrheit? Was aber von der Sprache gilt, gilt noch mehr von der gedanklichen
Auffassung vergangenen Geschehens, den Sozialtheorien und
Erklärungsmodellen."
5. Meinungen, die auf Tatsachenannahmen
beruhen
Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beabsichtigt
tendenziell einen vollkommenen Schutz der Freiheit, sich eine Meinung
zu bilden. Niemand kann sich eine Meinung bilden, bevor er sich über
Fakten informiert hat. Niemand aber kann sich umfassend über alle
Fakten informieren. Die Meinungsfreiheit erfordert darum den Schutz,
bestimmte Tatsachen zu erfahren, zu glauben, zu gewichten, zu werten und der
eigenen Meinungsbildung zugrunde zu legen. Wenn eine geäußerte
Meinung mit einer angenommenen Tatsache so unzertrennlich verquickt ist,
daß man das eine nicht vom anderen trennen kann, nimmt die in der Meinung
enthaltene Tatsachenannahme als Voraussetzung der Meinungsbildung am
Schutz der Meinungsfreiheit teil.
6. Resumee
Einerseits fordert die Rechtsprechung des BVerfG eine
möglichst geringe Einschränkung der Meinungsfreiheit in
politischen Fragen, denn die Demokratie könne Schaden nehmen, wenn bei nur
begrenzter Meinungsfreiheit von der Rechtsprechung eine
"einschüchternde Wirkung" bzw. ein "abschreckender
Effekt" ausgehe. Es dürfe nicht zu
Verhältnissen kommen, erklärte der Verfassungsrichter Grimm, in denen
aus Furcht vor Strafe auch zulässige Kritik unterbleibe. Andererseits gibt es gerade auch im
rechten publizistischen Spektrum eine ständige Gratwanderung zwischen noch
eben erlaubten Andeutungen und schon verbotenen Äußerungen, die
von den äußernden Personen selbst als Tatsachenbehauptung und
Meinungsäußerung gleichermaßen verstanden werden und an
deren faktische Richtigkeit sie fest glauben. Diese Diskrepanz führt
dazu, daß so mancher verständnislos davor steht, daß man
straffrei Soldaten als Mörder bezeichnen darf, aber nicht straffrei
Angehörige eines nicht seßhaften Volksstammes südindischer
Herkunft unter pauschalen Verdacht stellen darf, ihren Lebensunterhalt
vorwiegend durch Diebstähle zu sichern. Die Liste ließe sich beliebig
verlängern.
IV. Faktische Grenzen der Meinungsfreiheit
durch Meinungsmonopole
A. Keine Meinungsermöglichungsfreiheit
Unsere Überlegungen zum Problemfeld der
Meinungsfreiheit in Deutschland müßten unvollständig
bleiben ohne eine Antwort auf die Frage: Wo bleibt bei aller Meinungsfreiheit
für talkschauende Ehrabschneider und linksradikale Volkpädagogen eigentlich
die Meinung der sogenannten schweigenden Mehrheit im Lande? Die Mehrheit
ist zum medialen Schweigen verurteilt, weil sie keinen Zugang zu den
Fernsehstudios und Redaktionen hat. Sie bleibt darum an den Stammtisch
verbannt. Ob und wie der einzelne sich innergesellschaftlich
überhaupt artikulieren kann, überläßt die liberale
Rechtsordnung dem freien Spiel der Kräfte. Keinem Sprecher gibt sie ein
einklagbares Recht auf Zuhörer. Darum artikuliert sich im
Liberalismus eben ein jeder, so gut er es vermag. Das freie Spiel der Kräfte
teilt die Gesellschaft in eine kleine Minderheit hinter den Mikrophonen
der Massenmedien und in die große Mehrheit der ewigen
Zuhörer in der ersten Reihe und auf den hinteren Bänken.
Der Grund dafür ist einfach: Seine Meinung kann nur
derjenige vervielfältigen, der die Macht über die technischen
Massenmedien unserer Zeit hat. Meinungsfreiheit ist bloß eine Freiheit
von etwas, und zwar rechtlich die Freiheit von staatlicher Zensur. Wer frei von
etwas ist, frei von einem Zwang oder einer Unterdrückung etwa, hat dadurch
noch gar nichts. Freiheit ist immer ein Negativum. Sie schenkt nichts, sie
befreit nur von etwas.
Unter modernen Bedingungen kann aber durch
Meinungsäußerung nur der gesellschaftlichen Einfluß
ausüben, der mehr hat ein dieses Negativum: Er benötigt positiv die
Macht, im Massenmedium zu Wort zu kommen. Mit dieser Macht geht es ihm aber,
wie es dem Poeten in Schillers Gedicht mit allen irdischen Gütern geht:
"Was tun, spricht Zeus, die Welt es weggegeben!" So sind wir am Ende
unserer Überlegungen wieder an ihrem Ausgangspunkt angelangt und
stellen fest: Seine Meinung frei äußern zu können, bleibt
eine Machtfrage.
Sie frei äußern zu dürfen, ist - liberaler
Ideologie zufolge - eine Rechtsfrage. Im Liberalismus bedient die
Gesellschaft sich des Staates. Sie macht sich seine Entscheidungsmacht
zunutze. Auf der Grundlage liberaler Ideologie enthält sich der liberale
Staat weitestmöglich eigener Eingriffe in die Meinungsfreiheit seiner
Bürger und trifft eine gesetzliche Grundentscheidung des Inhalts: Jeder
darf seine Meinung äußern, wenn und soweit es in seiner Macht steht.
Wie weit diese reicht, bleibt dem freien Machtspiel der gesellschaftlichen
Kräfte überlassen.
Der Staat gewährleistet also nur die Meinungsfreiheit
von staatlichem Eingriff. Wie die anderen Grundrechte auch ist die
Meinungsfreiheit konzipiert als Abwehrrecht gegen staatliche
Verbote. Aufgrund Art.5 GG wird die Macht des Staates begrenzt, Meinungsäußerungen
zu verbieten. Ein natürliches Recht, seine Meinung zu sagen, wird dabei
vorausgesetzt. Für die praktische Fähigkeit, dieses Recht innergesellschaftlich
effektiv zur Geltung zu bringen, interessiert sich die Rechtsordnung
nicht.
B. Die Meinungsingenieure
Das freie Spiel der Kräfte brachte Medien in die
Hände von bloßen Geschäftemachern, aber auch von
Ideologen, Volkspädagogen und Meinungsingenieuren. Man kann heute das
geistige, politische religiöse und moralische
Klima eines Landes vom grünen Tisch aus planen und danach
fabrizieren. Martin Kriele, Professor für
öffentliches Recht in Köln, geht hart mit ihrer Macht und der
hilflosen Rechtsprechung ins Gericht:
"Die Medien rufen 'Pressefreiheit!', auch wo diese gar
nicht in Frage gestellt ist, sondern lediglich dem Ehrenschutz abgewogen
werden soll. Sie rufen 'Demokratie!', auch wo diese gar nicht auf dem Spiel
steht und meinen ihre Privilegien. ... Je hemmungsloser die Angriffe
auf die persönliche Ehre geführt werden dürfen, desto
mächtiger werden diejenigen, die über die Instrumente des Rufmords
verfügen. Je mächtiger sie werden, desto mehr Angst
flößen sie ein und desto mehr Lohn verspricht es zugleich,
ihnen zu Diensten zu sein und ihren Wünschen entgegenzukommen.
Was sie in erster Linie wünschen, ist: Macht und noch mehr Macht. Sie
haben z.B. die Macht, einen Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten
scheitern oder passieren zu lassen."
Sie benutzen ihre Macht in zunehmendem Maße für
eine Art ideologisches Blockwarttum: Wer gegen ihre Sprachregelungen
verstößt, fällt dem Verdikt moralischer und politischer
Inkorrektheit anheim. Während sich der Staat jeder Einflußnahme auf
die Meinungsfreiheit enthält, funktionieren die gesellschaftlichen
Mechanismen der moralischen Selbstzensur immer erbarmungsloser. Ihre einschüchternde Wirkung besteht zum einen
in der Schere im Gehirn: Jeder weiß, was er bei Meidung
gesellschaftlicher Acht nicht sagen darf. Spricht er es doch aus, schützt
ihn keine Justiz vor den Folterinstrumenten jener medialen Hetze, die
ihn ungestraft schmähen darf, solange sie für diese Schmähungen
nur auf sachbezogene Anknüpfungspunkte verweisen kann. Walter Schmitt
Glaeser formulierte über solche erlaubten Ehrenkränkungen
jüngst:
"Es handelt sich dabei zwar nicht
um staatliche, sondern um gesellschaftliche Sanktionen, die aber nicht
weniger gewichtig und verletzend sein können, vor allem, wenn es sich um
Rufmord handelt, der praktisch den bürgerlichen Tod bedeuten kann.
Aber auch wenn es nicht soweit kommt, sind vornehmlich die Medien durchaus
in der Lage, die mittelalterliche Folter mit andern Instrumenten
wieder aufleben zu lassen; jedenfalls ihre Prangerwirkung ist
unbestritten."
So gilt es mit den Worten Steffen Heitmanns Abschied zu
nehmen von Illusionen über die Reichweite der Meinungsfreiheit:
"...Wir aus der DDR waren besonders
auch wegen der garantierten Meinungsfreiheit mit einer großen
Hoffnung und - wie sich jetzt zeigt - Illusion in die freiheitliche,
demokratische Grundordnung eingetreten. Ich mußte erleben,
daß es bei drei Vierteln der Medien eine Art von gut
funktionierender Zensur gibt, die mit der in der DDR in gewisser Weise
vergleichbar ist. Nur geschieht sie heute in aller Öffentlichkeit,
durch Abstimmungen untereinander, durch indirekten Druck gegen
Leute, die aus dem Schema ausbrechen."
"Die Situation ist unerträglich,"
resümiert der Bayreuther Verfassungsrechtler Schmitt Glaeser. Er beklagt
eine "unerträgliche Rohheit des Umgangs miteinander, vor allem in der
politischen Auseinandersetzung, und die immer stärker um sich greifende
Unsitte, Meinungsverschiedenheiten nicht mehr mit Argumenten, sondern
mit Angriffen gegen Personen auszutragen, wobei oft auch
Familienangehörige des politischen Gegners nicht verschont
werden." Kommunikationsfreiheit in
politicis bleibe denen vorbehalten, "die ihre Meinung ohne
Rücksicht auf andere, mit Verleumdung des politischen Gegners und im Wege
des Rufmords, durchsetzen. Ein geistiger Meinungskampf, wie ihn das Grundgesetz
vorsieht und Art.5 GG schützen soll, wird unter diesen Umständen
nicht mehr stattfinden können."
Heute muß der Bereich dessen, was ungestraft gesagt
werden darf, durch Gegenmacht gegen die mediale Großinquisition
täglich bewahrt und vergrößert werden. Die Chancen liegen
in der grundgesetzlich garantierten Meinungsfreiheit in Verbindung mit
neuen technischen Möglichkeiten, seine Meinung zu vervielfältigen und
zu verbreiten und Medienmonopole durch Nutzung moderner Techniken umgehen.