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Klaus Kunze

Der totale Parteienstaat

 

- Abschied vom idealen Staat:

Der Weg aus der Krise des deutschen Parteiensystems -

 

 

Uslar 1998

                                       

HeiKun - Verlag

 

Titelaufnahme

 

Klaus Kunze

Der totale Parteienstaat

- Abschied vom idealen Staat - Der Weg aus der Krise des deutschen Parteiensystems

(1. Auflage 1994 ISBN 3-924329-9)

2. neu bearbeitete Auflage 1998 ISBN 3-933334-01-2

 

 

 

Gedruckt in Deutschland, Eigendruck

 

 


Inhaltsverzeichnis

Der totale Parteienstaat

Für eine gute Sace unterzugehen,

ist viel hüb<er,

al+ mit einer <lecten zu prosperieren.

Ern# Ludwig von Gerlac (1795-1877)

 

 

 

Der Bonner "Idealstaat"

Die Suche nach der idealen Staatsform ist so alt wie die Ge­schich­te abend­ländi­schen Den­kens. Platon bescherte uns nicht nur die Su­che nach dem sagenhaften At­lantis, son­dern auch die nach der ebenso sa­­gen­umwobe­nen idealen Herrschaft. Mit dem Dies­seits hat­te es der alte Philosoph nicht so sehr. Viel lieber versetzte er sich in Gedanken in ei­ne Höhle und wähn­te, das Reich seiner Gedan­ken: jenseitige "Din­­ge hinter den Din­gen", seien realer als die hand­greifli­che Wirk­lich­­keit; sie gingen den Ge­genständen voraus, so wie die Din­ge in der Höh­le ein Stück wirklicher sind als ihre Schatten­bil­der an den Wän­den. Von dieser Ide­en­gläubigkeit hat unser Den­ken sich bis heute nicht er­holt. Wie die Vi­sion ei­nes Atlantis die Phanta­sien be­flügelte, ent­zün­dete die Vorstel­lung einer ideali­sierten Ideen­welt die Herzen un­zähliger Generatio­nen. Ihr ent­stammt auch die Vi­sion ei­ner irdi­schen Welt voll­komme­ner Ge­rech­tigkeit als Ab­bild je­ner Vorstellung von ei­ner himm­li­schen Sphä­re, re­giert vom göttli­chen "Guten an sich".

Offiziell wähnte die Bonner Republik sich diesem Staatsideal so nah wie kein historisches Vorbild: der freieste Staat unserer Geschichte! Dagegen steht die Auf­fas­sung, eine idea­le Staats­­­form gebe es nicht. Jedes Sy­stem müsse sich immer neu be­wäh­ren und da­durch legi­timie­ren, was es für ein konkretes Volk in einer ge­ge­be­nen hi­stori­schen Si­tuation lei­ste. Die erste An­sicht wird ent­schie­den von dem Teil des poli­ti­schen Spek­trums und der ver­öf­fent­lich­­­ten Meinung vertre­ten, der sei­nen Vorteil aus dem Status quo zieht: Das ist vor allem das mul­ti­na­tio­nal organi­sierte Un­ter­­­neh­mer­tum mit seinem par­la­men­ta­ri­schen Arm, der FDP, es ist der ra­di­kal­li­be­rale Flügel der CDU, und es sind alle je­ne, die zwar keine Mei­nung ha­ben, aber etab­liert sind im Parteiensy­stem, der Wirt­schaft, den Ge­werkschaften oder den Medien und des­halb am Fort­beste­hen dieser Macht­strukturen ein konserva­to­risches In­ter­esse ha­ben.

Wir kritischen anderen, die wir von dieser selbsternannten Mitte als Stö­ren­friede ab­ge­stempelt wer­den, sehen das alles nicht in so ro­si­gem Licht. Wir ken­nen natür­lich aus der Schulzeit jene rüh­ren­de Ge­schich­­te, nach der wir im freie­sten Staat le­ben, den es je auf deut­schem Bo­den gab; daß un­sere Verfas­sung eine Würde habe, daß wir sie lieben und als gute Ver­fas­sungs­patrioten ­stolz auf sie sein sollen. Im Fernse­hen und bei jenen sal­bungs­vollen Weih­nachts- und Neu­jahrsan­sprachen wird diese Erinne­rung im­mer wie­der auf­gefri­scht. Es ist wie mit Kind­heitserinne­rungen an die Kon­fir­man­den­zeit: Wir kön­nen alles noch aus­wendig, nur ist uns der Glaube an die al­ten Sprüche ab­han­den ge­kom­men. Wie viele Kir­chensteuerzahler regel­mäßig ein­mal im Jahr zur Kir­che ge­hen, so ge­hen etwa 7O% der Zahler weltli­cher Steu­ern ge­wohn­heits­mäßig zu Wahlen. Doch der Glau­be ist sel­ten ge­wor­den, da­durch etwas ändern zu können, mit sei­nen Fun­da­men­tal­in­teres­sen reprä­sen­tiert zu sein oder gar an der Herrschaft kon­kret teil­zuhaben. Mit die­sem Ge­fühl der Ohn­macht nimmt die so­ge­nannte Partei­enverdros­sen­heit ge­setzmä­ßig zu.

Nachdenkliche Bürger hatten schon lange bemerkt, daß die in Bonn so genannte De­mo­kratie zwar wörtlich übersetzt Volks­herr­schaft heißt, aber keine Herrschaft des Vol­kes über sich selbst ist, son­dern die von Parteien und Inter­es­sen­verbänden über das Volk. Das Volk herrscht nur der Idee nach, aber nicht in der Wirklichkeit. Dem­gegenüber hatte sich der demo­krati­sche My­thos immer von der Er­inne­rung an gol­dene demokratische Zeit­alter ge­nährt: dem der Athener Polis, des Things, also der germani­schen Volks­ver­samm­lung, die un­ter einer mächtigen Linde zu­sammentrat und in der freie Männer ein frei­es Wort führ­ten, sich selbst Gesetze gaben und nie­man­dem un­ter­tan wa­ren. Im Gedenken an den Rüt­lischwur und in Schwei­zer For­men di­rek­ter Volks­herr­schaft ist dieses Idealbild noch le­ben­dig.

Nach der de­mo­krati­schen Grundidee sollte das Volk über sich selbst herr­schen, was ge­­danklich voraus­setzt, daß die be­feh­lenden und die ge­hor­chen­den Per­­sonen identisch sind: [1]  Das Volk würde nach dieser Vorstellung tat­säch­lich in seiner Ge­samtheit die Regierungsgewalt über sich selbst ausüben. [2]  Das kann es aber nur, indem es sich zu fest­ge­setz­ter Zeit an einem Ort ver­sammelt und über die An­ge­le­gen­heiten des Staates be­schließt; an­­ders kann sein Wille nicht ermittelt werden. [3]  In der Monar­chie hin­ge­­gen herrscht ei­ner über das Volk, in der Ari­sto­­kratie seine Besten und in der Oligar­chie we­ni­ge.

Mit der Rea­li­sierbar­keit dieser de­mo­kra­ti­schen Idee als Re­gie­rungs­form sieht es schlecht aus: Daß alle Bürger gleichzeitig und anteilig persönlich Herr­schafts­macht aus­üben und ihr zu­gleich als Regierte unter­worfen sind, ist im Mas­sen­zeital­ter praktisch und theo­retisch irreal und daher ei­ne nicht einlösbare Uto­pie. [4]  Ohne Über- und Unter­ordnung läßt sich über­haupt keine Staats­ord­nung errichten. Da nicht wirk­lich Alle al­les ent­schei­den kön­nen, läßt sich eine Regie­rungs­form nicht an­ders als durch Füh­rung oder Herr­schaft ein­zel­ner Per­so­nen oder ein­zel­ner Grup­pen denken. Auch die Bun­des­re­pu­blik ist keine "herr­schafts­freie Ge­sell­schaft", son­dern gründet sich auf die Herr­schaft der Parteien durch den Bun­des­ta­g. Ro­bert Mi­chels for­mu­lierte tref­fend, daß die Or­gani­sa­tion die Mut­ter der Herr­schaft der Ge­wähl­ten über die Wäh­ler ist. Die "Un­gläu­bi­gen an den Gott der De­mo­kra­tie" werden nicht mü­de, dar­auf hin­zu­wei­sen, daß auch unter de­mo­kra­ti­schen Ver­hält­nis­­sen nur We­nige wirk­li­che Macht ausüben. [5]  "Daß das Volk in py­ra­mi­­den­för­mi­gem Aufbau sich selbst regiere", be­zeichnete Edgar Ju­lius Jung 1930 tref­fend als "ein wit­zi­ges Mär­chen." [6]  Viele west­li­che De­mo­­kra­tien sind der Re­gie­rungsform nach Par­lamen­taris­men, in denen nach ei­nem aus­ge­klü­gel­ten Aus­zähl­ver­fah­ren Re­prä­sen­tanten ge­wählt wer­­den, die über die Re­präsen­tierten herr­schen, aber kei­nes­falls Staa­ten, in de­nen das Volk per­sönlich über sich selbst herrscht oder gar herr­­schafts­­freie Gesellschaften. Die Macht geht nur vom Volk aus und damit von ihm weg. Die Herr­schen­den neh­men für sich in An­spruch, im Sinne des Vol­kes zu ent­schei­den; ge­wiß aber wird über und kei­nes­wegs durch das Volk ge­herrscht.

Mit Demokratie im ursprünglichen Sinne hat die par­la­men­ta­ri­sche Regie­rungs­form also nichts zu tun. Wer den Parlamentarismus "Demokratie" nennt, verwechselt die Staatsform mit der Regierungsform und mit der weltanschauli­che Rechtfertigung der Staatsgewalt: Staatsformen gibt es zwei, nämlich Mon­archie oder Republik. Die innere Rechtfertigung der Republik gründet auf den Glauben das Volk und seine Souveränität über sich selbst. Damit über die Regierungsform der Republik aber noch nichts gesagt: Auch ein Monarch kann sich einer Parlamentsregierung bedienen, während eine Republik ebenso von einem Einzelnen regiert werden kann wie von einer Ratsversammlung oder - in einer kleinen Stadtrepublik etwa - vom Volk selbst, das sich dann eben für alle Entscheidungen versammeln und abstimmen muß. Nur diese letzte Regierungs­form ist die eigentlich demokratische. Für eine Zukunft, in der jeder Bürger seinen Computeranschluß zum Staat besitzen könnte, können wir uns vor­stellen, vom Wohnzimmer aus mitzuent­scheiden: nicht nur alle paar Jahre über unsere Vertreter, sondern wann immer eine Mehrheit der Bürger das will. Die Utopie der Demokratie als Regierungs­form ist heute schon technisch denk­bar.

We­sent­li­che Merk­ma­le unserer heutigen, auf dem Re­prä­sen­ta­tions­prin­zip beru­henden Ver­fas­sungs­ordnung sind mit dem rein de­mo­kra­ti­schen Grund­kon­zept un­ver­ein­bar wie die Ge­wal­tentei­lung [7]  und das Selbst­ver­ständ­nis als blo­ßes Kon­flikt­re­gu­lie­rungs­system zum all­sei­ti­gen In­ter­es­sen­aus­gleich. Den Par­la­men­­ta­ris­mus als Demokra­tie zu bezeichnen hielten unsere Altvorderen für un­denkbar. Demokra­tie und Reprä­sentation schließen sich begrifflich aus. Für Rous­seau war der de­mokrati­sche Ge­mein­wille schlecht­hin un­ver­tret­bar. Das Volk kön­ne überhaupt nicht reprä­sen­tiert wer­den. [8]  Nach Ro­bert Michels ist die Idee von der Ver­tret­bar­keit der Volks­in­ter­es­sen eine durch ei­nen falschen Licht­ef­fekt her­vor­ge­rufene Wahn­idee. [9]  Mon­tes­quieu hatte die Staats­form, in der das Volk die ober­ste Ge­walt hat, kor­rekt Re­publik ge­nannt und nicht De­mo­kratie. Daß De­­mo­­kra­tie und re­prä­sen­tie­ren­de Re­pu­blik Ge­gen­sät­ze sind, wußten Kant und die amerikanischen Ver­fas­sungs­vä­ter. [10]  Auch 1968 ver­miß­ten viele in der Republik die Demokratie: Sie träum­ten den Traum von der Auf­he­bung al­ler Herr­schaft des Men­schen über den Men­schen in der an­deren Re­pu­blik, ohne das Problem zu lösen, wie im Zeit­alter der Mil­lio­nen­mas­sen je­der ein­zel­ne per­sön­lich Herr­schafts­­macht mit aus­üben soll.

Die zeitgenössischen Staatsrechtler leugnen das nicht. Heute ist un­bestritten, daß das Volk sich nur durch Repräsentation arti­ku­lie­ren kann, so daß es jeden­falls eine andere Verwirklichungsform für so etwas ähnliches wie Demo­kratie nicht gibt. Ob diese Reprä­sentati­on dann als Regierungsform oder, als "Lebensform einer plurali­sti­schen Zi­vil­ge­sell­­schaft" [11] , noch "D­emo­kratie" zu nennen ist, ist eine reine Eti­ket­ten­­fra­ge. Im phi­losophischen, histori­schen und staats­recht­li­chen Sinne ist sie es nicht. Nach Hans Herbert von Ar­nim liegt "das Grund­­übel un­se­rer De­mokratie ... darin, daß sie keine ist." Neu­er­dings spricht er sogar of­fen von einer "Pseudo­de­mo­kra­tie". [12]  Weil aber das Volk nun ein­mal an den Gott der Demokratie glaubt, ret­tet man ihn mit einem se­man­­tischen Trick: So be­zeich­net Ro­man Her­zog den Parla­men­taris­mus ein­fach als "offene De­mo­kra­tie", wo­hin­ge­gen er die ei­gent­liche De­­mokra­tie im Sin­ne ih­rer früh­neu­­zeit­li­chen Theo­reti­ker wie Pu­fen­dorf und Prot­ago­nisten wie Rous­seau mit dem Bann­­wort "totalitäre" De­mo­kra­tie in den Orkus ver­bannt. [13]  So kann man das ei­gene System wei­­ter un­ter der ge­weih­ten Fahne De­mo­kra­tie segeln las­sen, oh­ne - ein­­ge­stande­nermaßen - ei­ne sol­che zu ha­ben, und wenn je­mand keck zu fra­gen wagt, wo denn die Identität von Herr­­schern und Be­herrsch­ten und damit die er­hoffte Auf­he­bung der Herr­­schaft des Men­schen über den Men­schen blei­be, kann man ihm ein­fach ant­wor­ten: So wört­lich sei das mit der De­mo­kratie ja nicht ge­meint ge­wesen!

Die absolute De­mokratie muß sich in Herzogs Grund­gesetz­kom­men­tar über­dies den berechtigten und entlarvenden Zu­satz "to­talitär" ge­fallen lassen: Die buch­stäbli­che Herr­schaft des Volks über sich selbst, mag sie auch uto­pisch sein, würde näm­lich je­den­falls eine ge­wis­se Ho­mo­genität des Vol­kes und sei­nes Wil­lens vor­aus­setzen, was zwangs­läu­fig die­jenigen zu Feinden des "wah­ren Volks­willens" stem­pelt, die abwei­chender Mei­nung sind. Ein ein­heit­li­cher Volks­wil­le wird von de­mo­kra­ti­schen Theo­re­ti­kern wie Rous­seau seit der Auf­klä­rung über­ein­stim­mend fin­giert, weil das Ge­dan­ken­konstrukt der Herr­schaft des Volks ins­ge­samt als Re­gie­rungs­sub­jekt anders gar nicht denk­mög­lich ist. Von ihm führt ei­ne direkte ge­dank­liche Ah­nen­rei­he selbst­be­ru­fe­ner Interpreten des Volkswillens über Ro­be­spier­re, Marx und Le­nin zu Stalin und seinen To­des­la­gern. Alle forder­ten die fik­ti­ve de­mo­kra­tische Ho­mo­ge­ni­­tät praktisch ein und voll­streckten den von ih­nen erkannten, wahren Wil­len des Volks als sei­ne Avant­garde. Der Jako­bi­nis­mus des rich­tigen Be­wußt­seins und sein ein­ge­bilde­ter Ein­klang mit einem Wil­len des Vol­kes eig­nen sich vor­züg­lich zur Le­giti­ma­tion gewalt­sa­mer Ho­mo­ge­ni­sie­rung und damit Li­quidie­rung alles dem wah­ren Volks­wil­len Ent­ge­gen­ste­hen­den und Ab­wei­chen­den, wes­­­halb Herzog die abso­lute De­mo­kratie mit ehr­li­chem Ab­scheu und flinkem Eti­ket­ten­wech­sel über­haupt nicht mehr mit dem edlen Aus­druck De­mo­kratie be­zeich­nen möch­te. [14]  Wie man heute das ursprüng­liche, identi­täre Demokratiekonzept auch nennen mag: Ihm wohnt eine die Frei­heit gefährdendes Tendenz inne, und es muß notwendig in eine jakobinische Diktatur münden. [15]  

Der eigentliche demokratische Gedanke ist höchst feind­se­lig ge­gen jeden ge­rich­tet, der anderer als der Mei­nung "des Volks" ist. Aus der de­mo­­kra­tischen Grund­idee folgt, daß "das" Volk mit sich selbst als Sub­jekt politischen Han­delns iden­tisch ist, was ge­dank­­lich eine Wil­lens­über­ein­stim­mung aller vor­aus­setzt, die nur fiktiv sein kann. Oh­ne eine innere Homo­genität des Volks als Sub­jekt die­ses Willens ist sie nicht denkbar. Ihre Vor­stel­lung führt zum Dogma des ein­mü­ti­gen Volks­­wil­lens, der volonté gé­né­rale. Aus ihm leitet Rous­seau die demo­­­krati­sche Identität von Re­gie­renden und Re­gierten ab. [16]  In der De­mo­­kra­tie gibt es daher nur die Gleichheit der Glei­chen, die mit dem Volks­­wil­­len über­ein­stim­­men, und es gilt nur der Wille derer, die zu diesen Glei­chen ge­hö­ren. [17]  Be­merkt der ein­zelne nach einer Ab­stim­mung, daß er an­ders als die Mehr­heit ge­stimmt hat, so hat er sich - Rousse­au zufolge - über den wirklichen Inhalt des Ge­meinwillens eben ge­täuscht; und weil, wie Rousseau aus­drücklich fort­fährt, dieser Ge­ne­ralwillen der wahren Freiheit entspricht, war der Über­stimmte nicht frei. [18]  Die­sem demo­krati­schen Denkan­satz ist der Ge­dan­ke ge­gen den Staat ge­richteter Abwehr-, Bür­ger- oder Men­schen­rechte völ­lig fremd; Min­derheiten­schutz ist nicht vorge­sehen. Ei­nem gegen den General­wil­len ge­rich­­teten Handeln ei­ner Min­derheit würde jede innere Legi­timation feh­len. [19]  -

Auch das Bundesverfassungsgericht spricht vom Bonner par­la­men­ta­ri­schen Sy­stem be­kannt­lich nicht als von ei­ner De­mo­kra­tie, weil der in dem Wort stec­kende utopi­sche An­spruch eben nicht ein­lös­bar ist, son­dern als von ei­ner frei­heit­lichen demo­kra­ti­schen Grund­ord­nung, die es aus­drücklich eine "Herr­schafts­ord­nung" nennt, in der das de­mo­kratische Ele­ment nur als Ad­jektiv unter meh­reren er­scheint und durch "demokratische" Wahlen zu recht­fer­tigen ist, wo­mit all­ge­mei­ne und gleiche Wahlen gemeint sind; so­wie durch die Sou­ve­rä­ni­tät des Vol­kes. Diese allein recht­fer­tigt das Prädikat demokratisch. Schon Bodin hat­te sehr scharfsinnig un­ter­schie­den zwischen der Staatsform und der Regierungsform: Die eine fragt nur nach dem Träger der Sou­ve­rä­ni­tät, die andere nach der Regie­rungs­weise. Beides hat mit­ein­ander nicht not­wendig zu tun und ist dar­um belie­big kom­bi­nier­bar. [20]  So bleibt das Volk Träger der Staatsgewalt und bleibt die Staats­form eine Demokratie auch dann, wenn das Volk sich einen König wählt, also der monarchischen Regierungs­form bedient.

Das spe­zi­fisch De­mokratische unserer Staatsform liegt darin, daß nicht ein Kö­nig, son­dern das Volk berechtigt ist, die konstituierende Ge­­­walt auszu­üben. [21]  Des­halb liegt unserer par­la­men­ta­ri­schen Re­pu­blik die Demokratie als Staatsform zu­grunde. Ihre Verfassung recht­fer­tigt sich aus der still­schwei­­gen­den tätigen Zustim­mung des Volkes zu ihren In­sti­tu­tio­nen und Ver­fah­renswei­sen: Die Mehrheit der Bür­ger bekun­det diese Zu­­stim­­mung an Wahltagen, in­dem sie den die Ver­fassung stützenden Par­tei­en ihre Stimme gibt. Dagegen wendet das Grundgesetz nicht die demokratische Re­gierungsform an. Wie wir gesehen hat­ten, ist das gegenwärtig technisch undurchführ­bar. Deutsch­land ist heu­te der Re­gie­rungs­form nach ein de­­mo­kra­ti­scher Par­la­­­men­ta­ris­mus, nicht aber eine par­­la­men­tarische De­mo­kra­tie. Für sein Verständnis ist uner­läßlich, die demokrati­schen und die liberalen Ele­­mente ausein­anderzuhalten. De­mo­kratisch ist die Staatsform, libe­ral ist dagegen die Re­gierungs­form der par­la­mentari­schen Stell­ver­tre­ter­herrschaft, und liberal ist das rechts­staat­li­che Ele­ment.

Noch vor einigen Jahren war die Bonner Staatsdoktrin be­schei­den. Zu ihrer Recht­fertigung berief sie sich gern auf einen Churchill zu­ge­schrie­benen Satz, nach dem die parla­men­ta­ri­sche Re­gie­rungs­form zwar ei­ne denkbar schlechte sei - in­dessen sei auch ge­rade keine bes­sere zur Hand. Heute ist von solcher Be­schei­den­heit nichts mehr zu spü­ren. Je of­fen­sichtli­cher die Mängel des Sy­stems [22]  werden, je mehr Bür­ger sich von den Par­teien ab­wen­den, desto im­per­ti­nenter sti­li­sie­ren diese sich hoch zu alleinigen Ver­tre­tern der rei­nen de­mo­kra­ti­schen Lehre. Es greift ein Zungen­schlag um sich, nach dem die Wür­de der De­mokratie verteidigt werden oder be­freun­de­ten Demo­kra­ti­en ge­hol­fen wer­den muß. Die­sem Ver­fas­sungs­pa­triotismus ste­hen nicht mehr Men­schen im Vor­der­grund, die allein ei­ne Würde ha­ben kön­nen, sondern ein Sy­stem. Er ist dem­zufolge nicht primär hu­man, son­dern ideologisch. Das Nach­bar­volk, die le­bendigen Men­schen, ge­ra­ten aus dem Blick­feld. Ähn­lich­keiten der innenpoliti­schen Spiel­regeln sind Grund genug für Mil­lio­nenzah­lungen. Nicht Litau­ern oder Kroa­ten sollen wir nach dieser Meinung hel­fen, nein: Jungen De­mo­kra­tien sollen wir un­ter die Arme grei­fen, so wie früher im Ost­block welt­weit der So­zia­lismus wechsel­seitig ge­stärkt wurde.

Die Gretchenfrage ist immer die, ob ein System von Verfassungs­re­geln und Rechtsnormen dem Menschen - welchen Menschen? - die­nen soll oder der Mensch ei­nem System. "Der Maßstab des Rechts ist nicht der absolute der Wahrheit, [...] son­dern der relative des Zwecks." [23]  Re­gel­sy­steme haben keine Würde, son­dern nur ei­ne dem Men­schen die­nende Auf­gabe. Ihr Zweck ist es, den Men­schen, die sich ihrer be­dienen, größtmöglichen Vor­teil zu ermögli­chen. Da­her muß jede Staats- und Regie­rungsform sich immer wie­der neu für die­jeni­gen Men­schen be­wäh­ren, die sich ihrer in einer kon­kre­ten hi­stori­schen Lage be­dienen. Keine normative Regel kann sich an sich selbst legitimieren. [24]  Sie beruht ausschließlich auf dem existentiellen Willen des­sen, der sie zu sei­nem Nutzen erläßt.

Gesetzes- und Verfassungssysteme sind nicht ver­kör­per­te religiöse oder sittli­che Ideale, sondern je nach Bedarf wech­selnde Ein­rich­tun­gen zur Errei­chung irdischer Zwecke. [25]  Al­lein diese zweck­bezogene Be­­­trach­tung politischer Ord­nungs­vor­­stel­­lun­gen er­öff­net den nüch­ter­nen Blick auf die Dop­pel­funk­t­ion jeder Sy­stem­bil­dung: Je nach inne­rem Zustand eines Staats­we­sens vermag dieses bei äu­­ße­ren Gefähr­dun­­gen größere oder ge­rin­ge­re Ge­genkräfte zu mo­bi­lisi­eren. Man kann politische Ord­nungs­sy­ste­me aber nicht nur un­ter dem Ge­sichts­punkt be­trach­ten, daß ein Volk ins­gesamt sich ei­nes Systems von Rechts­regeln zur Si­che­rung seiner in­ne­ren Wohlfahrt und äu­ße­ren Si­cher­heit bedient. Auch inner­halb des Vol­kes gibt es In­ter­es­sen­grup­pen, die zur Ab­si­­cherung ihrer in­ner­ge­sell­schaft­li­chen Macht ein "System" er­rich­ten und ver­teidi­gen. [26]  Zum System in die­sem Sinne ge­hören ne­ben dem rein fakti­schen Herr­schafts­in­stru­men­ta­rium alle kon­kreten Ge­set­zes- und Ver­fas­sungs­be­stim­mun­gen, de­ren sich die Grup­pe zur Er­hal­tung ih­rer Macht be­dient.

Schon in ih­rem gei­sti­gen Vorfeld be­nö­ti­gen die­se mensch­li­chen Regel­werke eine tie­fere meta­physische Recht­fer­ti­gung, die sich im Fun­­dus der Gei­stesge­schichte für je­de be­liebige Herr­schaft un­schwer fin­­den läßt. Das "belebende Prinzip jeder Regie­rung", ihre "Grund­la­ge" und ihr "Widerhalt", ist der feste Glaube der Regierten an ein "Gan­zes von anerkannten Dok­trinen." [27]  Jede Welt­an­schau­ung ist in ihrem funk­­tiona­len Kern Herr­schafts­ideologie und kann daher nur ver­­stan­den wer­den, wenn sie in ih­rer konkreten hi­sto­ri­­schen Lage, [28]  und je­de ein­zelne po­li­ti­sche Be­griff­lichkeit, wenn sie in ihrer si­tua­ti­ons­­be­ding­ten po­le­mi­schen Funk­tion erfaßt wird. [29]  "Da kei­­ne zeit­ge­nös­si­sche Par­tei oh­ne ein Sy­stem von phi­lo­sophi­schen oder spe­ku­lati­ven Grund­sät­zen, die sie an ihre poli­ti­schen und prak­ti­schen an­schließt, aus­kommt, so fin­den wir, daß jede die­ser Parteien, in die die Na­tion ge­spal­ten ist, ein solches Lehr­ge­bäu­de errichtet hat, um ihre Ab­­sich­ten und Hand­lun­gen ab­zu­schir­men." [30]  "Jedes po­li­ti­sche System braucht seine Sy­stem­ideologie, um da­mit die be­ste­hen­de Form der Herr­schaft und der Macht­ausübung zu legi­ti­mie­ren." [31]  Das gilt für alle Gesell­schafts­for­mationen. Das viel­fach proklamierte Ende der Ideo­­lo­gien ist blo­ßer Bestandteil ihres ei­genen ideolo­gischen Selbst­­ver­­ständ­nisses. [32]

Die Requisitenkammern menschlicher Phantasie bersten von Glau­bens­leh­ren und hoch­tönenden Worthülsen, die sich, wenn sie nicht schon eigens zur Stabi­lisierung der Herr­schaft konkreter Menschen er­sonnen wurden, doch be­stens dazu eignen. Kluge Gesetzgeber las­sen nicht nur die guten Gründe ihres Werkes für sich spre­chen, son­dern nehmen zur Gottheit ihre Zuflucht, weil ihre Gesetze dann leich­ter an­ge­nommen werden. [33]  So herr­schen unter Be­ru­fung auf gött­li­ches oder Na­tur­recht be­quem dieje­nigen, die jeweils die De­fi­ni­tions­­macht be­sit­zen, welche kon­kre­ten Forderungen der angebe­tete Gott an die Be­herrsch­ten richtet oder welchen kon­kre­ten Inhalt das Na­­­tur­­recht angeb­lich hat. [34]  Die normativisti­sche Fiktion läßt ihren In­ter­­pre­ten getarnt im Hintergrund und soll seine Macht über die­je­ni­gen rechtfertigen, die an seine Normen glauben. Der Glau­be an ewi­ge Göt­­ter hat den Angebeteten selbst nur Psal­men­schall und Op­fer­rauch ge­bracht; den Managern ihres Kul­tes aber ge­wöhn­lich so­ziale Pri­vi­le­gien und eine sta­bi­le Herr­schaft. Selbst im Kul­tus der Gleichheit - dem So­zia­lismus - wa­ren bekanntlich die Funk­tio­nä­re "glei­cher" als die an­de­ren.

Nach dem Verfall der ge­schlosse­nen ideo­lo­gi­schen und re­ligi­ösen Welt­bil­der set­zen wir jedem Pochen auf an­geb­lich hö­he­res Recht oder auf eine me­ta­physi­sche Ge­rech­tigkeit die soziologische Frage ent­ge­gen: Wem kon­kret nützt ein Recht? Ernst von Hippel seufzte darüber re­sig­nie­rend: Nach Ver­lo­rengehen der "hö­heren Rechts­stufen" des gött­li­chen und des Na­tur­rechts sei "end­lich nur noch der Rechts­be­griff als leere Form und Tar­nung blo­ßer In­teressen wie poli­ti­scher Macht üb­rig" ge­blie­ben. [35]  In ei­ner Welt, in der keine Ordnung über dem Staat für die fried­liche Aus­tra­gung unter­schied­li­cher Vor­stel­lun­gen von Moral oder der Natur des Menschen die Ga­ran­tie über­nimmt, hat es keinen Sinn, sich auf Na­tur­recht zu beru­fen. So ist es ei­ne ty­pi­sche Leerformel, wenn Thomas von Aquin als Grundgebot des Na­tur­­rechts be­zeich­net: "Das Gute ist zu tun und ihm nach­zufolgen, und das Böse ist zu mei­­den." [36]  Nie­mand wird da wi­der­spre­chen, doch be­stimmt jeder das Gute nach sei­nen eigenen Zielen und Mög­lichkei­ten, [37]  also letztlich danach, was ihm angenehm ist, und das Böse als das, was ihm widerstrebt, [38]  so daß die allge­meine Akzeptanz eines amorphen Guten den Streit nicht ent­scheiden kann. Auch ei­ne kon­krete "hö­he­re" Ge­rech­tig­keit "an sich" kön­­nen wir nicht fin­den, ohne das for­ma­le Ge­rech­tig­keits­prin­zip - nämlich Glei­ches gleich zu be­handeln - mit unserer ganz per­sön­li­chen Welt­­an­schau­ung zu kom­bi­nieren: Kraft de­ren be­stim­men wir, wel­che konkre­ten Kri­te­rien bei­spiels­weise für ei­ne Gleich- oder Un­gleich­be­hand­lung aus­schlag­ge­bend sein sol­len. [39]  Die­se Kri­terien pflegt jeder inter­esse­ge­leitet aus­zu­wäh­len und hält ge­wöhn­lich die­je­ni­gen Ge­sichts­­punkte oder ab­strak­ten Werte für aus­schlag­ge­bend für die Fra­ge, ob zweierlei gleich sei, die gerade ihm nützen. Die Fragen nach der Natur des Menschen, den konkreten Kriterien der Ge­rech­tig­keit und den moralischen Idealen lassen sich nur durch willkürliche Ent­scheidung be­antworten, welche die ideellen Achsen der höchst­per­sönlichen Weltsicht festlegt. [40]  

Mit der Be­to­nung der Zweck­haf­tig­­keit des Rechts neh­men wir in der Neu­zeit die schon von Thrasymachos ins Feld geführ­te Beob­ach­tung auf, nach der "jeg­liche Re­gierung die Gesetze nach dem gibt, was ihr vor­teil­haft ist: die De­mokra­tie de­mokra­ti­sche, die Tyrannei ty­ran­ni­sche und die an­de­ren ebenso. Und indem sie so ge­setz­ge­ben, zeigen sie also, daß dieses ihr In­teresse (óýìöåñïí) Recht (äßêáéïí [41] ) zu sein habe für die Re­gier­ten. Und den die­ses Über­tre­ten­den stra­fen sie als außer­halb des Ge­set­zes Stehenden und un­recht Han­delnden." In allen Staa­ten werde zum Recht ge­macht, was der be­ste­henden Regie­rung nütze. [42]  "Sie sollten nicht ar­cha­ische und über­holte Rechts­vor­stel­lun­gen des Aure­lius Augu­sti­nus oder des hei­ligen Augustin aus 'De Civi­tate Dei' zitie­ren," emp­fahl da­her ein Richter am Bun­des­ge­richts­hof bitter bedau­ernd: "Recht hat mit Mo­ral nichts zu tun. Recht ist das, was durch­zu­set­zen man die politi­sche Macht hat und was dem Vol­ke nützt, wobei der Nutzen des Volkes von denen be­stimmt wird, die die Macht ha­ben." [43]  Offenherzig erklärte die Ge­meinsame Verfas­­sungskommission des 12.Bundestages in ihrem Be­richt vom 5.November 1993: "Probleme der Verfassung und der Ver­fas­­sungsreform sind letztlich politische Macht­fragen." [44]

Wer sich beherrscht fühlt und sich befreien möchte, muß das Wech­selspiel zwi­schen faktischer Herrschaftsmacht und über­wöl­ben­der Herrschaftsideologie ebenso durchschauen wie jeder, der selbst gern herrschen möchte. Herrschen bedeutet, die Spielregeln des Zu­sam­menlebens so zu setzen, daß die anderen zu tun haben, was die ei­nen wollen. Solange die "herrschaftslose" Gesellschaft ei­ne Utopie ist und wir alle diesen Gesetzmäßigkeiten unterworfen sind, mag sich je­der frei aussuchen, ob er lie­ber Hammer oder Am­boß sein möchte. Herr­schafts­ideologien sind abstrakte Ideen­ge­bäu­de und vermitteln Ak­zep­tanz von Herr­schaft: Solange die einen tat­sächlich an sie glau­ben, gehorchen sie "frei­willig" den anderen. So gehorchen Mon­ar­chi­sten im Glauben an das Kö­nigtum dem Mon­archen, Marxisten im Glauben an den Diamat oder den Fort­schritt ihrem Par­tei­se­kre­tär, Muslime im Glau­ben an Allahs Willen dem Imam und Demokra­ten im Glauben an die Demokratie den Bun­des­tags­ab­ge­ord­neten, ihren Ge­setzen und den politischen Ent­schei­dun­gen ih­res Kanzlers. Es ge­hört zu den erfolgrei­chen Herr­schafts­tech­niken, den Beherrschten das glückliche Gefühl zu schen­ken, ihr Gehorsam die­ne Gott oder stehe wenigsten mit einem uni­versalen Gesetz in Ein­klang, zum Bei­spiel der Humanität, dem Welt­frieden, dem hi­sto­rischen Sieg des Sozia­lismus oder der De­mo­kratie. Darum pfleg­te man früher von Got­tes Gnaden und heute im Namen des Vol­kes zu herr­schen. "Je para­diesi­scher das vor­ge­gaukelte Trug­bild, um so schmerz­loser die see­li­sche Ver­skla­vung." [45]  Es waren und sind die glück­lichen Skla­ven der Frei­heit größ­ter Feind. Die mei­sten Men­schen wollen aus in­ne­rem Be­dürfnis ein­fach glau­ben und lassen sich willig indoktrinieren, weil sie stets auf der Suche nach sinnstiftenden Angebo­ten sind und diese aus sich selbst heraus selten entwic­keln können. Wer aber selbst sitt­lich be­grün­det frei ent­schei­den will, darf an keine anbefohlenen me­ta­phy­si­schen Normen glauben. Wer an das wirkliche Walten ihm vor­ge­schriebener me­ta­phy­­sischer Normen glaubt, aufgrund deren alle Menschen in eine über­­sinnliche morali­sche Ordnung gestellt sind und diese zu ver­wirk­li­chen ha­ben, lie­fert sich denjenigen aus, die sich auf sie berufen und zu ihrem Nut­zen konkrete Verhal­tens­anweisungen auf sie stützen. 

Der Preis für das Er­ken­nen dieser Zusammenhänge ist manchem zu hoch: "Eine Zerstörung je­der übergreifenden Idee, jeder ge­schichts­­trans­zen­denten Norm," seufzt der Liberale Christian Graf von Krockow, "die Zerstörung al­ler naturrechtlichen Uni­versalismen kann fol­ge­rich­tig nur zu einer Re­duk­tion aller politischen und staats­theo­re­ti­schen Prob­leme auf die 'Macht der Tatsachen' bzw. die tatsächliche Macht füh­ren." [46]  Wie Adam und Eva vom Baume der Erkenntnis aßen und sa­hen, daß sie nackt waren, läßt das Durch­schau­en aller "na­tur­recht­li­chen Uni­ver­sa­lis­men" deren Apo­stel in ihrer Macht­aus­übung nackt da­stehen, ihrer Herr­schafts­ideo­logie entklei­det nämlich. Nicht jeder verträgt den Verlust des trü­gerischen schönen Scheins und beginnt beim Erkennen seines Nackt­seins zu frösteln. So muß un­ser nüchterner Blick auf die kon­kre­te Funktion allen Rechtes als von Menschen über Menschen ge­setz­tes Recht alle die­je­ni­gen un­be­frie­digt lassen, die nicht die Funk­tion jeder Idee als Waffe im Vor­der­grund se­hen, sondern aus dem Elfenbein­turm eso­terischer Mo­ral- oder Got­ter­kenntnis her argumentieren. Ihr Reich ist nicht von die­ser Welt, und un­se­re Überlegungen sind un­fruchtbar für sie. Wir dage­gen fra­gen bewußt nicht nach der Faktizität einer me­ta­phy­si­schen Letzt­recht­ferti­gung des Rechts, son­dern be­schränken uns prag­ma­ti­sch dar­auf, die Anmaßung der Bonner Politiker­kaste zu durch­schau­en: Sie ver­lan­gen uns mit der Herr­schaft ihres Rechts gleich auch die An­er­kennung ih­rer Moral ab und grün­den dar­auf den An­spruch, an ih­rem Recht dürfe in Ewig­keit nie­mals gerüttelt wer­den. Neugierig wa­gen wir kri­tisch zu hinterfragen: Warum eigent­lich? Mit welcher hö­he­ren Wei­he aus dem Ar­senal der Herr­schafts­ideo­lo­gien ha­ben sie sich ver­se­hen? Und vor allem: Wem nützt ihre Herr­schaft? 

Ihr um­fassendes me­ta­phy­si­sches Rechtfertigungssystem ist der Li­be­ra­lis­mus. [47]  Sein po­liti­sches Ordnungssystem ist der Par­la­men­ta­ris­mus: heute ein "wirres Ge­dankenge­bräu unserer Urgroßväter", das sich "inzwischen ver­braucht" hat. [48] Er tritt uns in Deutsch­land heute in Ge­stalt eines umfassenden Par­teien­staa­tes ge­gen­­über. Beide, die me­­ta­­­phy­sische Legi­timierung als Li­bera­lismus und ihre politi­sche Ord­nungs­­form Parla­men­ta­ris­mus, dienen letzt­lich der Auf­recht­er­hal­tung eines be­stimm­ten Status quo, in dem sich die faktische Macht­po­si­tion der­jenigen nor­ma­tiv aus­prägt [49] und sta­bilisiert, die ih­ren öko­nomi­schen Vor­teil aus einer Wirt­schafts­verfas­sung zie­hen, [50]  in der ein freies Spiel der Kräfte wei­test­möglich ist. Für diese Wirt­schaftsform hat sich die Be­zeichnung Kapitalis­mus ein­ge­bür­gert. Wir wer­den uns die Frage stellen müs­sen, ob diese Erschei­nung: die Do­mi­nanz des unmittelbar nur dem Einzelnen Nützli­chen ohne primäre Rück­­sicht auf das Ganze, diese Ge­mein­schaft schließlich zerstört und da­mit auch dem egoistischen Einzelnen die Grundlage seiner Exi­stenz ent­zieht.

Von Der Parteiendemokratie zum Parteienstaat

Während in Bonn am Rhein eine Verfassungskommission aus Par­tei­en­ver­tre­tern der Fas­sade des Grundgesetzes Verzierun­gen und Er­kerchen an­flickte, wankte bereits das ganze auf Treib­sand errich­tete Ge­bäude. Unge­achtet der immer bedroh­li­cher wer­den­den exi­stentiel­len Sor­gen und Probleme der einfa­chen Menschen des Vol­kes befas­sen die Bun­destagspar­teien sich nur noch mit ih­ren in­ternen Rivalitä­ten und der Si­che­rung ihrer Macht. Sie spie­len nach ei­nem Wort Ar­min Mohlers die "Beste aller Wel­ten", und ih­re Hof­journalisten sit­zen im Par­kett und klat­schen dazu Bei­fall. Die Zu­stim­mung der Re­gierten zu den herr­schen­den Politi­kern aber schwin­det, und mit ihr schwin­det die Zu­stim­mung zu den von ihnen installierten Spielre­geln, jenem Re­prä­sen­tati­ons­sy­stem, auf­grund dessen die einen oben und die ande­ren un­ten blei­ben. Mit dem Be­kannt­werden sy­stem­kri­ti­scher Untersu­chungen und Schluß­folge­­rungen arti­ku­liert sich das Unbeha­gen selbst in ho­hen Re­gie­rungs­krei­sen des Bonner Estab­lish­ments, und hinter vor­gehaltener Hand raunt man sich in den Amtsstu­ben der Mini­ste­ri­albürokratie zu, daß es so nicht wei­ter­ge­hen kann.

Der real existierende Parlamentarismus ist auch an der not­wen­di­gen Bil­dung ei­ner qua­li­fi­zier­ten politischen Elite ge­schei­tert. Das dem An­spru­che nach de­mokrati­sche Sy­stem ist zu einem par­tei­übergrei­fenden Kar­tell zur Posten­ver­tei­lung auf Dauer ent­ar­tet, in dem zwangsläufig die größten Op­por­tunisten nach oben ge­spült werden. Die Partei­en ha­ben ein olig­ar­chi­sches Feudalsy­stem gebil­det. Damit ver­wirklich­ten sich exempla­risch die von Ro­bert Michels schon 1911 er­kannten Ge­setz­mäßig­keiten von Par­tei­organi­sa­tio­nen und die 1923 von Carl Schmitt geübte grund­sätz­liche Kritik am Par­lamentaris­mus. Der Parteienstaat setzte die frei­heitliche demokrati­sche Grundord­nung im Sin­ne des Bun­des­ver­fassungsgerichts außer Kraft und ist nicht mehr in deren Sinne de­mokra­tisch. Er besitzt keine Lö­sungs­kompetenz für die exi­sten­tiellen Fragen des Gemein­wohls, weil er Eigensucht, Oppor­tu­nis­mus und Korruption zu Prin­zipien er­ho­ben hat.

Der soziologische Befund

Für die westlichen Bundesländer hatten Soziologen schon vor der Wie­der­ver­ei­ni­gung ein zen­trales Einflußnetzwerk von nicht ganz 600 Personen fest­ge­stellt. 40% da­von sind Poli­ti­ker, 12% Mini­ste­rialbü­ro­kraten, 8% Ge­werk­schaft­ler, 8% vertreten Wirt­schaftsver­bände, und 8% sind Unterneh­mer. [51]  Es herrscht der Trend zum Be­rufs­po­li­ti­ker vor. Am wei­testen ist die Wil­lens­bil­dung in der Poli­tik miteinan­der ver­netzt. Durch viel­fache Äm­ter­häufung und Cli­quenbil­dung übt die­ser Ein­flußzir­kel eine zen­trale Wir­kung aus. [52]  "Als neue Obrig­keit wickelt der innere Kreis dieses politischen Hoch­adels al­le Staats­ge­schäfte unter sei­nes­glei­chen ab. Von den Ge­folgschaften wird be­din­gungs­lose Treue ver­langt, wofür diese dann allerlei Brosa­men er­hal­ten." [53]  "Zwi­schenparteilich entsteht" so "eine Gruppe von Ein­ge­weih­ten, die nur noch Scheinge­fechte gegeneinander liefern, um das Herz des Wäh­lers zu erfreuen. In Wahrheit sind sie sehr einig, und nur manch­mal fechten sie stille, aber erbitterte Kämpfe aus um den Anteil an der gro­ßen Futterkrippe, die Macht heißt." [54]

In der bloßen Existenz politischer Eliten liegt nicht das Pro­blem. Nach je­der Staats­um­wäl­zung und Verdrängung einer alten Elite von der Macht pflegt sich als­bald eine "neue Ari­stokra­tie" auf­zu­schwin­gen und die Rolle der alten zu be­setzen. [55]  Ro­bert Mi­chels fand das "Eherne Gesetz der Oli­garchie", nach dem in jedem Herr­schaftssy­stem nur we­nige wirkli­che Macht aus­üben. [56]  Man hat er­rechnet, daß die An­zahl der Ari­sto­kraten im za­ristischen Rußland, der aus­schlag­geben­den Lobby­isten in den USA und der No­men­kla­tura in der So­wjet­union mit 4%-6% der Bevöl­ke­rung immer annä­hernd gleich ist. [57]  Zentrales Problem ist aber, durch wel­ches Aus­le­se­prinzip welche Art von Menschen Zu­gang zur Funktionselite be­kommt und dadurch an der tatsächli­chen Aus­übung der Herr­schaft Teil hat. Daß in der heuti­gen Bundesrepublik die Art der Aus­wahl von Be­rufs­poli­ti­kern und ih­re Karriere die ent­schei­dende Schwach­stelle des poli­tischen Sy­stems ist, sieht der Kölner So­zio­loge Erwin Scheuch als nicht kon­trovers an. [58]  Die Per­so­nal­aus­wahl werde durch das Instru­ment der Wahl­li­ste bestimmt, und hier do­mi­nie­ren Ein­fluß­cliquen und Seil­schaften. Für den Be­rufs­po­litiker wird der Kampf um seine Wie­der­auf­stel­lung zur per­sön­li­chen Exi­stenzfrage, [59]  und darum wird er gna­den­los ge­führt. [60]  Nach de Jouvenels bekanntem Scherzwort braucht man, nach­dem man einmal Abgeordneter ge­worden ist, nur noch eine Sorge zu ha­ben, nämlich Abgeordneter zu bleiben. [61]  Hat der Ab­ge­ordnete ei­nen Listenplatz von seiner Partei Gnaden in der Ta­sche, ist die Wie­der­wahl meist nur noch Form­sa­che. Was das Volk von ihm hält, kann ihm gleichgültig sein. Das Ri­siko des Man­dats­ver­lusts durch eine Wahl ist mit 2%-3%, im Extrem­fall 5% der Ab­ge­ord­ne­ten au­ßeror­dent­lich gering. [62]  

Die Eigenabsicherung auf einem sicheren Listenplatz wird nach zwei Rich­tun­gen durch­ge­führt. Nach innen richtet der Berufs­po­li­tiker seine Loyali­tät auf seine Seil­schaft, al­len­falls auf seine Par­tei aus: Ganze Per­sonal­pakete werden in kleinem Kreis in­for­mell ab­ge­spro­chen und die Cli­quen­mit­glieder dar­auf fest­ge­legt, sich ge­genseitig zu wählen. Nach außen wird die Wahl je­des Dritten ver­hindert. So be­richtet Scheuch [63]  von schriftli­chen Ver­trägen ein­zelner Seil­schaf­ten in­nerhalb der Kölner CDU-Ratsfraktion mit kon­kur­rie­ren­den Seil­schaf­ten über die Auftei­lung aller erreich­baren Mandate. Kon­kur­ren­­ten wer­den aus­geboo­tet oder nach Abspra­che mit lu­krati­ven Po­sten versorgt, um sie ru­hig­zu­stel­len. [64]  Die Auf­stel­lung von Alter­nativ­kan­di­da­ten wird mög­lichst durch Sat­zungs­tricks verhindert, wie beim Ur­teil des Han­seati­schen Staatsge­richts­hofs vom 4.5.1993 für Un­recht er­kannt, als eine Ham­burger Bür­gerschafts­wahl wegen unde­mo­krati­scher Me­tho­den bei der Kan­didaten­aufstellung der CDU für ungül­tig erklärt wurde.

Auf Bundesebene und in einer Anzahl größerer Städte haben sol­che Seil­schaf­ten sich be­reits zu voll ausgebildeten Feu­dalsy­ste­men fortent­wickelt. [65]  Grund­legend für jedes Feu­dal­system ist der Tausch von Treue ge­gen Privile­gien. Wer auch nur einmal aus­schert, wird ver­sto­ßen. [66]  Wer aber mit­spielt und sich der Cli­quen­rä­son beugt, darf mit sei­ner Wiederauf­stel­lung rech­nen, denn die Clique benötigt ihn als Bau­stein ihrer Ein­fluß­zo­ne ebenso, wie er auf sie zu sei­ner per­sön­­li­chen Existenz­absiche­rung ange­wie­sen ist. Die Kleinstrukturen der Cliquen und Seilschaften [67]  setzen sich in grö­ße­rem Zu­sam­men­hang auf Bundes-, Landes- und Kom­mu­nal­ebe­ne fort. Die Parteien ha­ben Quasi-Kar­tel­le gebil­det und die Ver­sor­gungs­posten des staat­li­chen und halb­staatli­chen Be­reichs wie eine Beute­masse [68]  unter sich auf­ge­teilt. "Solche Quasi-Kartelle, die von den Betrof­fenen oft als Beleg für die »Einigkeit der Demokraten« verharm­lost werden, schalten den politischen Wettbewerb aus und entmachten den Wähler: Welche Partei auch immer er wählt, alle sind in das Kartell eingebun­den." [69]

Sie greifen direkt über so­genannte Wahl­kampf­ko­sten­er­stat­tun­gen und an­de­re unmit­tel­bare Zuwendun­gen in Hö­he von mehr als 1 Mil­liar­de DM jähr­lich in den gefüllten Steuer­topf [70]  und er­zie­len damit 60% ihrer Ein­künfte. Die Ge­setze, die ih­nen das er­lau­ben, ha­ben sie im Bundes­tag selbst beschlos­sen und repro­du­zie­ren den sie um­hül­len­den Nährspeck ständig selbst wie eine Spin­ner­raupe ih­ren Ko­kon. Die Parteien haben sich als "Absahner die Gesetze der­art hin­ge­­bo­gen, daß sie ihr Trei­ben vor aller Öffentlichkeit fortsetzen kön­nen. Wenn ein Skan­dal wie die Süßmuth­sche Dienst­wa­genaf­färe ruch­­bar wird, än­dert man ein­fach die Rechts­la­ge, nach der Frau Süß­muth ihrem Gat­ten nun­mehr ganz le­gal ihren Dienst­wa­gen über­las­sen darf. [71]  Rechnet man zu ihrer Beu­temasse noch die staat­liche Finan­zie­­­rung ihrer Par­tei­stif­tun­gen mit jährlich 500 Mio. DM, die Frak­ti­ons­­zu­schüs­se mit 100 Mio. DM und sämtli­che Dienst­bezüge der un­ter Verstoß gegen das Lei­stungsprin­zip (Art.33 GG) Pro­te­gier­ten hin­­zu, steigt sie ins Uner­meßli­che. [72]

Diese Dienstbezüge sind der wichtigste Gegenstand persönli­cher Vor­teil­nahme. Durch Zugriff auf die Besetzung lukrati­ver Posten ha­ben die Par­teien sich die Res­source "Pri­vilegien" unbe­schränkt ver­fügbar gemacht, um sich der Treue ihrer Günst­linge zu ver­si­chern. Im kom­munalen Bereich füh­ren die mei­sten Gemein­den ih­re Dienstlei­stungs­un­ter­neh­men privatrechtlich, blei­ben aber im Be­sitz der Kapi­talmehr­hei­ten und behalten damit den maß­gebli­chen Einfluß bei der Besetzung der Aufsichts­räte und an­derer Po­sten. Die Parteien versor­gen mit die­sen lukrativen Positionen ihre Stadt­ver­ordne­ten, die mit den ge­zahl­ten Spit­zenverdiensten ihr Ein­kommen ergän­zen. [73]  Noch wichti­ger sind die Auf­sichts­rats­po­sten nach Aufgabe eines politischen Amtes zur "End­la­ge­rung" [74]  ab­gehalf­terter Polit­rentner. So wech­selte der Vor­stands­po­sten bei den Kölner Ver­kehrsbetrieben, do­tiert mit 250.-350.000 DM jährlich, zwi­schen SPD- und CDU-Fraktions­vor­sitzen­den eben­so, wie die Groß­auf­träge zum An­strei­chen der Köl­ner Rhein­­brücken und die anwaltli­chen Man­date für die Rechts­ver­tre­tung der Stadt im Wechsel CDU- und SPD-Rats­her­ren zu­gute kom­men. Ein wei­te­res "Endlager" für ausgediente Partei­funk­tio­nä­re fand der SPIE­GEL [75]  in der Bun­des­zentrale für po­li­ti­sche Bil­dung.

Die Parteien haben den Zugriff auf die öffentlichen Ämter in kaum vor­stell­ba­rem Maße mono­polisiert. [76]  Sie erweitern den zu ihrer Beu­temasse ge­hören­den Kreis sy­ste­matisch [77] . Selbst Be­hör­den wer­den wie Tendenzbetriebe be­han­delt. [78]  Die Partei­en ge­ben sich neuerdings keinerlei Mühe mehr, dies zu bemänteln: Nach dem Tode des We­ser-Ems-Re­gierungspräsidenten verkündete Uwe-Karsten Heye als Spre­cher der nie­dersächsischen Landesregierung verblüf­fend offen, als Nach­folger komme der partei­lose Oldenburger Vize­präsident nicht in Fra­ge, weil es ihm an der "nötigen Farben­nähe" zur SPD-Lan­des­re­gie­rung fehle, was selbst das SPD-nahe Göttin­ger Tageblatt zu dem Ein­geständnis veranlaßte: "Jetzt ist es amtlich. In Niedersachsen gilt das Prin­zip der Parteibuchwirtschaft." [79]  Durch unver­hoh­lene Ämter­pa­­tro­nage und Partei­buchwirt­schaft [80]  fest in ihrer Hand sind der Rund­­funk, die kom­mu­nale Selbstverwal­tung, Schulen, Uni­versitäten, Bahn, Post und Sparkassen. [81]  Ferner soll auch der vor­politische Raum mit Wohl­fahrts-, Bauern- und Vertriebe­nen­ver­bänden par­tei­po­liti­scher Unterwanderung aus­ge­setzt sein. [82]  Ihr Ein­fluß hat sich quasi fett­fleckartig über alle staatlichen Insti­tu­tio­nen ausgebreitet. [83]  Selbst wohl­wollende Au­toren spre­chen von einer "Kolonialisierung" aller ge­­sell­schaft­li­chen Lebens­bereiche durch den Partei­enstaat. [84]  Den Begriff to­ta­ler Partei­enstaat [85]  formulierte Carl Schmitt ange­sichts der­selben Pro­ble­matik immerhin schon 1932 [86] ; und von Arnim nennt ihn neuerdings den "ab­so­luten Par­teienstaat". [87]  

Wie drückte es Scheuch so schön aus: "Es organisiert sich ein par­tei­übergrei­fen­des Kar­tell zur Postenverteilung auf Dauer." [88]  Es nutzt alle "Möglichkeiten, welche den Parteien zur Belohnung ihrer Ge­treuen gegeben sind. Man geht deshalb dazu über, auch die hö­he­ren Beamtenstellen zu parlamentarisieren und auf Grund stiller Han­dels­geschäfte zwischen den Parteien zu besetzen." [89]  Das Sy­stem der Macht­übernahme durch Cliquen ist nach Scheuch außer Kon­trolle. Es ist nur noch auf sich selbst bezo­gen, oder, wie es in der Soziologie heißt: selbst­re­fe­re­ntiell. [90]  In der Sy­stem­theorie nach Niklas Luh­mann be­deu­tet das, daß es nur noch auf Ver­änderun­gen im eigenen Sy­stem rea­giert. Die Po­litik in der Bundesrepu­blik ist selbst­re­fe­ren­tiell als Koa­lition von be­am­te­ten Politikern und politi­sier­ten Be­amten, um­ge­ben von Jour­na­listen des öf­fent­lich-rechtli­chen Rund­funks. Derar­tige Systeme ha­ben die Tendenz, sich zu­neh­mend zu verselb­stän­digen - hier gegen­über dem Gesamt­system "Ge­sellschaft". [91]  Damit ist aber der Eli­ten­plura­lismus und damit eine tragende Säule der Selbst­recht­fer­tigung des Sy­stems außer Kraft ge­setzt. Sie lautet, daß die "De­mo­kratie" in­sti­tutio­nell und tat­säch­lich offen und durchlässig für kon­kur­­rierende Eliten sein muß. Heute da­gegen glei­chen die Füh­rungs­gre­mien der Bun­des­tags­parteien ge­schlosse­nen Ge­sell­schaften, [92]  in die Zutritt nur dem­je­nigen gestattet wird, der den Insidern aus Grün­den der in­ter­nen Räson ge­nehm ist. [93]  Die Auswahl des ge­samten po­li­ti­schen Per­sonals ist in ihre Hände übergegan­gen. [94]  Die Führungsper­sonen spielen eine so entscheidende Rolle dabei, daß Wahlen nur ein legi­timierendes Mo­ment in einem umfassenden Pro­zeß der Koopta­tion und Selbst­re­kru­tierung der Füh­rungsgruppen darstellen. [95]  "Das wesentliche der oli­­gar­chi­schen Herrschaft ist ... der Fortbestand ei­ner gewissen Welt­­an­schau­­­ung und einer gewissen Lebens­weise. ... Eine herr­schen­­­de Grup­­pe ist so lange eine herr­schende Gruppe, wie sie ihre Nach­folger be­stimmen kann. Der Partei geht es nicht darum, ewig ihr Blut, son­dern sich selbst ewig zu behaupten." [96]

Die traditionellen Volksparteien haben durch ihre oligarchischen Bin­nen­struktu­ren nicht nur den Kontakt zur Gesellschaft in weiten Tei­len verlo­ren. [97]  Ihre Füh­rungseli­ten orientieren sich auch in­ner­par­tei­lich nicht an den Bedürf­nissen und In­teressen der schwei­gen­den Mehr­heit der Mitglieder, son­dern, z.B. in der SPD, "weit­ge­hend an den po­litischen Präferenzen der aktiven Minderhei­ten, die das Par­tei­leben bestimmen. Sie vergeben Delegierten- und Vor­stands­po­sten; ih­re Zu­stim­mung ist für die Erlan­gung von Kan­di­daturen für öffentliche Ämter unabdingbar [...] Damit aber birgt die - aus Sicht der Partei­eli­ten durchaus rationale - Orien­tie­rung der politischen Eliten der SPD an die­ser engagierten Min­der­heit der Parteiaktivisten stets die Gefahr, pro­gram­ma­tisch und ideo­lo­gisch an den Bedürfnissen und Interes­sen der schweigen­den Mehr­heit der Par­tei­mit­glie­der und erst recht der Wähler vor­bei­zu­den­ken und im politischen Ab­seits zu landen." [98]  Die­ses Fehlan­pas­sungs­syn­drom führt dazu, daß die Probleme der einfa­chen Men­schen bei den fehlangepaß­ten Parteieliten ganz unten auf der Ta­ges­ord­nung stehen. [99]

Scheuch befürchtet, daß es zu einem Kartell der großen Par­teien auf Dauer kom­men wird, [100]  und fordert daher: "Das Sy­stem selbst, die Vorherr­schaft von Cliquen auf der Ebene der Krei­se, der Un­ter­be­zirke bzw. Bezirke, ist auf Bun­des­ebene zu be­seiti­gen". [101]  Er for­dert ei­ne ra­sche Ergän­zung des jetzigen Füh­rungspersonals durch fach­lich qua­lifi­zierte Personen, [102]  sonst werde sich der Quali­tätsver­fall be­schleu­ni­gen. [103]  - Doch Systeme, deren ein­ziges for­ma­les Kri­te­rium für die Qua­lifi­kation von Kandidat­en darin be­steht, mehr­heits­fähig zu sein, haben eine eingebaute Tendenz zur Mit­tel­mä­ßig­keit. [104]  Da die haupt­sächli­chen Kriterien der politi­schen Kandida­ten­aus­wahl und Se­lektion nur die Cli­quen­loyalität und -­kon­for­mi­tät sind, kann das Sy­stem nur massenhaft Expo­nen­ten her­vor­brin­gen, die sich durch Kon­formität, Cliquen­geist und die Be­reit­schaft aus­zeich­nen, Treu­e gegen Vorteile zu ge­ben und zu neh­men. Par­teiaktivisten, denen es noch um die Sa­­che selbst geht, stö­ren [105]  und bleiben chancen­los. Amtsinhaber sperren sich gegen eine Zu­fuhr von In­telligenz, Fach­wissen und Un­abhän­gigkeit von au­ßen. Nachwuchsför­de­rung wird hin­tertrieben, weil gute Leute als Kon­kur­renten die eigene Exi­stenz ge­fähr­den könn­­ten. [106]  Jede Oli­gar­chie ist ih­rem ei­genen Nachwuchs ge­gen­über arg­wöh­nisch. Sie wit­tert in ihm Nachfolger bei Lebzei­ten. [107]

Rückgrate sind vor Betreten des politischen Parketts an der Gar­de­robe ab­zu­ge­ben. Die Zöglin­ge dieses Systems sitzen fest im Sat­tel. Sie können und wer­den die sie be­günsti­gen­den System­re­geln nicht än­dern. Darum ist das Sy­stem nach Ansicht des So­zio­lo­gen Scheuch aus sich selbst heraus re­for­munfä­hig. Es ge­horcht eben nur noch sei­nen ei­genen Ge­setzen. Scheuch sieht keine Chan­cen, daß "diese Ma­fia-Strukturen" aus den Parteien selbst heraus be­sei­tigt werden könn­ten. [108]  Wie die böse Tat, die im­mer nur Böses ge­biert, bringt das Sy­stem vorwiegend cha­rakter­losen und me­dio­kren Par­teinach­wuchs nach oben und stabili­siert sich so fort­wäh­rend selbst. "Nur wer den klassenspezifischen Polits­prech inklusive sämtlicher Ta­bus und ritueller Verbeugungen beziehungweise Abscheubezeugungen beherrscht, wird zum Klub zugelassen." [109]

Die Dogmen des liberalen Parteienstaates

Wenn die Studie Scheuchs auch bei ihren Auftraggebern in der Düs­sel­dor­fer CDU wie eine kalte Dusche gewirkt hatte - die Aus­lie­ferung wurde zunächst ge­stoppt, die Stu­die dann "zurück­ge­zo­gen" und dem Autor mit Ver­leum­dungs­anzeigen und Par­teiaus­schluß­ver­fahren ge­droht - sind ihre Er­kenntnisse doch keineswegs neu. Sie be­stätigen al­lenfalls aufs neue em­pi­risch, was an grund­sätz­licher Kri­tik am libe­ralen Par­lamen­taris­mus seit Jahr­zehnten vor­liegt. Nur weil man glaubte, in der besten aller Welten zu leben und mit dem Bonner Sy­stem den ganz großen Wurf gemacht und den Gipfel deutscher Verfas­sungs­mäßigkeit er­klommen zu ha­ben, ver­pön­te und ver­drängte man Carl Schmitt. Die­ser hatte schon 1923 erkannt: "In man­chen Staaten hat es der Parla­men­ta­rismus schon dahin gebracht, daß sich alle öf­fentli­chen Angele­gen­­hei­ten in Beute- und Kom­promißobjekte von Parteien und Ge­folg­schaf­ten ver­wandeln und die Politik, weit da­von entfernt, die An­ge­le­gen­heit einer Elite zu sein, zu dem ziemlich verachte­ten Ge­schäft einer ziem­lich verach­teten Klasse von Men­schen ge­worden ist". [110]  Über den­sel­ben Befund besteht auch heute wieder Einigkeit vom Stamm­tisch [111]  bis ins Par­lament: Statt von Po­litik- und Par­teienver­dros­sen­heit muß von einer Partei­en- und Poli­tikverach­tung ge­spro­chen werden. [112]

Liberale Verteidiger des Status quo möchten die Schuld an der 1923 wie 1994 gleichar­tigen Misere gern vom liberalen Parla­ments­sy­stem auf seine real exi­stieren­den Parteien schieben. So erklärte Hart­mut Schie­dermair unter der Über­schrift "Hände weg vom Grund­ge­setz!", die Ur­sache der "Staats­ver­dros­senheit" seien "be­kannt­­lich die po­liti­schen Parteien, deren Integrations­kraft in er­schrec­ken­der Weise nach­­gelassen habe. Kor­rektu­ren am parla­men­ta­ri­schen Sy­stem seien hier ei­ne fal­sche Therapie." [113]  Diese Aus­rede ist so falsch wie die Be­haup­tung aus der Endphase des real exi­stieren­den So­zialis­mus, ei­gentlich sei die Idee ja schön ge­we­sen - nur die SED und ihre Füh­rer seien ihr lei­der menschlich nicht gewachsen gewesen. Es gab aber kei­nen wirk­lich an­deren als den real existieren­den Sozia­lis­­mus, und ebenso hat­ten und haben an­de­re Parlamentarismen in al­len Ländern mit denselben Struk­tur­pro­ble­men zu kämpfen wie der un­serer.

Diese Schwierigkeiten hatten schon 1985 die Juristen der Staats­rechts­leh­rer­ta­gung unter die Lupe genommen und die Tagung un­ter ein Carl Schmitt ent­lehn­tes Motto ge­stellt: "Par­tei­en­staat­lich­keit - Krise des demo­kratischen Ver­fas­sungs­staa­tes?" Sie be­fan­den, daß die der­zeitige Situation des Par­tei­enstaats und seine Kri­se des Re­prä­sen­tativ­sy­stems An­laß zu größ­ter Be­sorg­nis sei­en, [114]  womit sie auf die Pro­ble­matik des Parlamen­tarismus an­spiel­ten. Von einer Krise der Demokra­tie hatten sie mit Recht nicht ge­spro­chen. Be­reits Carl Schmitt hatte die Krise der Demokratie von der des moder­nen Staa­tes und der des Parla­menta­rismus un­ter­schieden [115]  und die Krise des letzteren darin erkannt, daß seine axio­mati­schen Grund­prinzipi­en nicht funk­tionieren: Diese sind die Wil­lensbil­dung in öf­fentlicher Dis­kussion und die Gewaltentei­lung. So stellt sich die Geschichte des Parlamenta­rismus im 20. Jahrhundert als eine fortwährende Krise dar: von Carl Schmitts Kri­senanalyse schon 1923 bis hin zu v.Arnims Diktum von 1995 über die "Legitimationskrise des Parlamentarismus". [116]

Die Wahrheitsfindung in öffentlicher Diskussi­on

Ein typisch liberales Ordnungsprinzip ist das der Balance. In auf­klä­reri­scher Tradi­tion will der Liberale überall eine aus­balancierte Vielheit schaffen und er­hofft sich aus der Ausba­lancierung der Kräfte eine hö­here Harmonie. Im politi­schen Raum führt die­ses Prinzip zur Idee des Parla­ments. Seine Ra­tio liegt in der Aus­ein­an­der­setzung von Ge­­gen­sät­zen und Meinungen, aus der sich die rich­tige Entschei­dung als Resul­tat er­ge­ben soll. Aus dem frei­en Kampf der Ideen soll auf­klä­reri­sch-ra­tio­nalisti­schem Glauben nach die Wahr­heit ent­ste­hen als die aus dem Wett­be­werb sich von selbst erge­bende Har­mo­nie. [117]  Heute wird dieser Glaube als "Theorie der kommunikativen Vernunft" von Jürgen Habermas vertreten. [118]  Mit der prakti­schen Einlösung dieses Dog­­mas steht und fällt die parla­mentari­sche Idee. Zur blo­ßen Kon­flikt­re­gulierung und zum rei­nen in­ner­ge­sellschaft­li­chen In­ter­es­senaus­gleich [119]  be­dürfte es nämlich kei­ner vom ganzen Volk ge­wähl­ten Ab­ge­ordneten. Es würde ein Gre­mium genü­gen, in das die "ge­sell­schaft­lich relevan­ten Grup­pen" ihre Ver­tre­ter entsenden.

Wie sehr das Dogma von der sich aus dem freien Gedankenaus­tausch er­ge­ben­den hö­he­ren Harmonie und der sich ihm erge­ben­den "Wahrheit" noch heute Leitidee der Ver­fas­sung ist, zeigte das Bun­des­verfassungsgericht: [120]  Es geht von einem Ver­fas­sungs­ge­bot des grund­sätz­lich staats­freien und offenen Meinungs- und Wil­lensbil­dungspro­zes­ses vom Volk zu den Staatsorganen aus. Die Recht­ferti­gung staatli­chen Handelns beruht danach letztlich darauf, daß der aus einem freien Prozeß der Mei­nungsauseinan­derset­zung resul­tie­renden Ent­schei­dung eine höhere formale Le­giti­ma­tion inne­wohnen soll. Was so für das Volk insgesamt gel­ten soll, spie­gelt sich im klei­nen im Parlament wider.

Tatsächlich war demgegenüber das Dogma der Entscheidungs­fin­dung auf Grund frei­en Ge­dan­ken- und Meinungsaustauschs schon 1923 gefallen, als Carl Schmitt mit bis heute unver­änderter Aktuali­tät no­tie­ren konnte: "Die Par­teien treten heute nicht mehr als dis­kutie­ren­­de Meinungen, sondern als so­ziale oder wirtschaftli­che Macht­grup­­pen ein­an­­der ge­gen­über, berechnen die beider­seiti­gen Interessen und Macht­mög­­lichkeiten und schlie­ßen auf die­ser fakti­schen Grund­lage Kom­pro­mis­se und Koalitio­nen." [121]  "Nach liberaler Auffassung ist die Poli­tik wesentlich ein Kampf um Positio­nen, die Verfügung über administrative Macht einräumen. Der politische Meinungs- und Wil­lensbildungsprozeß in Öf­fentlichkeit und Parlament ist durch die Kon­kurrenz strategisch handelnder kol­lektiver Aktoren um den Erhalt oder den Erwerb von Machtpositionen be­stimmt." [122]

"Die Massen wer­den durch ei­nen Pro­paganda-Ap­parat gewonnen, des­sen größte Wirkungen auf einem Ap­pell an nächstliegende Interes­sen und Leiden­schaf­ten beru­hen. Das Ar­gu­ment im ei­gentlichen Sin­ne, das für die echte Diskus­sion charakte­ri­stisch ist, ver­schwin­det." [123]  "Heu­te wirkt es wie eine Satire, wenn man ei­nen Satz von Bent­ham [124]  zitiert: 'Im Parla­ment treffen sich die Ideen, die Be­rüh­rung der Ideen schlägt Funken und führt zur Evi­denz.'" [125]  Das par­lamen­tari­sche Form­prinzip der Ent­schei­­­dungsfindung aufgrund öf­fentlicher Dis­kussi­on ist längst zur in­haltslee­ren For­ma­lie de­gene­riert. Von sel­te­nen Ausnah­mefällen ab­ge­se­hen, fal­len die we­sentli­chen Ent­schei­dun­gen nicht mehr im Par­la­ment. Die wün­schenswerte demo­kratische Wil­­lensbil­dung im Volke auf­grund freier gei­sti­ger Auseinander­set­zung, die Willens­bildung "von un­ten nach oben", führt ihren Reigen allen­­falls noch über dem Sternen­zelt des Ideen­himmels, nicht aber hie­nieden im all­gegen­wärti­gen Medi­en­staat oder gar im Bundes­tag. Wirk­lich entschieden wird auf Par­tei­­ta­gen, in­for­mel­len Tref­fen von Spit­­zenpo­liti­kern, [126]  in schriftli­chen "Ver­trä­gen" ein­zelner Seil­­schaf­ten zur Aufteilung der Beute­masse, [127]  besten­falls noch in der Koali­ti­ons­­runde, aber nicht in den verfas­sungsmäßig vorgese­henen Staatsor­ga­­nen. "Frak­ti­ons­dis­zi­plin und -zwang beste­hen fort. Koali­ti­ons­ver­ein­­barun­gen legen fest, wann das Ab­stimmungs­ver­­halten im Par­la­ment den Ab­geordneten - hor­ribile dictu - frei­ge­stellt werden soll." [128]  

Koalitionen sind in der Verfassung nicht vorgesehen und beein­trächtigen ver­fas­sungsrechtliche Kompetenzen von Staatsorganen, näm­­lich die Per­so­nal­ho­heit (Art.64 I GG) und Richtlinienkom­petenz (Art.65 S.1 GG) des Kanzlers und die Ressort­kom­pe­tenz der Bun­desminister (Art.65 S.2 GG). Koalitions­ent­schei­dungen unter­liegen, da im Ge­setz nicht vorgesehen, keiner ver­fas­sungs­rechtli­chen oder sonst richterlichen Kontrolle. [129]  Wie drastisch die nach der Idee des Parla­mentaris­mus und dem Willen des Bon­ner Grundgeset­zes vorge­sehene Ent­scheidung aller Fragen des Ge­mein­wohls durch demo­kra­tisch legiti­mierte Insti­tutionen zur Farce ge­wor­den ist, schildert uns Wal­demar Schreckenberger, der von 1982 bis 1989 Staats­se­kre­tär im Bundes­kanzler­amt war und es daher wohl wissen muß. Der heu­tige Pro­fessor an der Verwal­tungs­hochschu­le in Speyer sieht die Koaliti­onsrunden als ein Sym­ptom auf dem Wege zum Parteienstaat an. [130]  

Er berichtet aus seiner Erfahrung, daß die Entscheidungs­verfah­ren in den staatli­chen Gre­mien Bundestag und -kabi­nett zuneh­mend über­lagert werden durch interne Be­schlüsse der Parteien, den wirklichen Trägern der Macht. Zwi­schen Kabinett und Koali­tions­runde habe sich eine Ar­beitsteilung ergeben, nach der die massenhaf­ten Routine­sa­chen dem Kabi­nett verbleiben, die wich­tigsten Sach- und Personal­fra­gen aber im Regel­fall von der Ko­alition vorent­schieden wer­den. Die nach­folgenden Kabi­netts- und Parla­ments­be­schlüsse er­scheinen nur noch als Voll­zugsakt vor­aus­gegange­ner Partei­ver­einba­rungen. Es entsteht zu­mindest der Schein, als sei die Regierung ein blo­ßes Durch­füh­rungsor­gan oder das ge­schäftsführende Management der sie stützen­den Par­tei­en.

Diese Beobachtung hatte Carl Schmitt schon 1923 gemacht: Die we­sentli­chen Ent­schei­dun­gen fallen in geheimen Sitzun­gen der Frak­ti­onsführer oder gar in außer­par­la­men­tari­schen Komitees, so daß eine Ver­schiebung und Auf­hebung jeder Ver­ant­wort­lichkeit eintritt und auf diese Weise das ganze par­lamentari­sche System nur noch eine schlech­te Fassade vor der Herrschaft von Partei­en und wirtschaftli­chen Interes­senten ist. [131]  Koalitionsentscheidungen sind nicht trans­pa­rent, obwohl sie im nachhinein Wahlentscheidungen ver­än­dern, wo­mit sie im Ergebnis das demokrati­sche Prinzip selbst einschrän­ken. [132]  Und Schreckenber­ger fol­gert in diesem Sinne 1992 weiter, daß diese in­stitutio­nali­sierten For­men der Ein­flußnahme und des Zu­griffs auf den Staat zwar für die Koalitions­par­teien ei­nen Machtge­winn bedeu­ten. Für eine nur dem Parla­ment ver­antwort­liche Re­gie­rung be­deu­tet es dagegen eine Her­abstufung zu einem Ausfüh­rungs­ge­­hil­fen von Par­teio­li­gar­chen. Die Regie­rungs­mit­glieder fun­gieren da­mit als Re­prä­sen­tan­ten von Gre­mien der Par­tei­enkoalition, statt von de­mokra­tisch legi­ti­mierten Staats­orga­nen, was Schrecken­ber­ger "schwer er­träglich" findet: Eine "Oligarchie der füh­ren­den Politiker bei ge­ringer Transpa­renz." [133]  Nicht weniger be­­deut­sam sei die Ein­fluß­­nahme von Koaliti­onsparteien auf den par­la­menta­ri­­schen Ent­schei­­dungsprozeß: We­sent­liche Rege­lungen eines Ge­set­zes­­ent­wurfs, die be­reits die Billi­gung der Koali­tons­runde ge­funden ha­­ben, lassen sich im Parla­ment nur noch schwer verän­dern. So wird der Staat nicht aus sei­nen ver­fas­sungsmäßigen Institutio­nen gelenkt, son­dern aus Partei­gre­mien fern­ge­steuert.

Über die Koalitionsvereinbarung zwischen den Grünen und der SDP in Nord­rhein-Westfalen schrieb Scheuch sogar: [134]  "Waren die Abgeordneten bislang schon durch die starke Stellung der Frak­tions­spitzen als Einzelpersonen weitge­hend ent­machtet, so ist dies in die­sen Koalitionsvereinbarungen noch ein Stück weiter ge­trie­ben hin zu dem Abgeordneten als Abstimmungssoldaten. Das Ko­alitionspapier ist nicht nur ein weiterer Schritt weg von einer parlamentarischen De­mo­kratie, die diesen Namen ver­dient. Es ist auch zugleich ein Schritt hin­zu einer Art Fünf-Jahres-Plan, wie man ihn aus nicht­de­mo­kra­ti­schen Regimen kennt."

Wie hatte es doch in einer Rede Hitlers auf dem Reichspar­teitag Triumph des Wil­lens ge­hei­ßen: Nicht der Staat hat der Partei zu be­fehlen, nein, die Partei schafft sich ihren Staat. Und wie war es in den kommunisti­schen Diktatu­ren des Ostblocks? "Die Partei führt, der Staat verwal­tet." [135]  Nicht die Regie­rung war al­so Trä­ger der Macht, sondern das hinter ihr ste­hende Politbüro, die Partei. Ge­nau hier ver­läuft die Scheide­li­nie zwi­schen der heute so bezeichne­ten par­la­menta­ri­schen Demokratie in Gestalt der bloßen Par­teiende­mo­kratie und ei­nem Partei­enstaat. Bei ihm ist die Macht des Vol­kes höch­stens noch Fik­tion und damit zur Fassade verkommen. Tat­sächlich herrschen ei­ne oder meh­rere Blockparteien, die sich, wozu jede zur Macht ge­langte Gruppe neigt, nach außen für das All­ge­meine ausge­ben [136]  und mit dem Staat identifizie­ren. Die Iden­ti­fi­zie­rung von Staat bzw. Re­gie­rung und Par­teien bedeutet aber schon begrifflich den reinen Par­tei­enstaat. [137]  

Keine Gewaltenteilung im Parteienstaat

Nicht besser steht es mit dem anderen parlamentarischen Grunda­xiom, der Aus­ba­lan­cie­rung der Gewalten. [138]  Die von Locke und Montesquieu ent­wic­kel­te Lehre zur Aus­balancierung der Gewalten ist eine typisch liberal-auf­klä­reri­sche Verfas­sungs­idee. Sie beruht auf der bürgerlichen Überzeugung vom Gleich­ge­wicht. Stün­den wiederstreitende Kräfte im Gleichgewicht, würden sie sich wech­selseitig ausba­lancieren und bildeten eine höhere Harmonie. Von dieser "mechanischen Gleich­gewichtsmetapher" machte auch Montesquieu ausgiebigen Gebrauch und gab ihr eine spezifische Wendung, indem er das Gleichgewicht als wünschenswerte "Mäßigung" der souveränen Staatsgewalt umschreibt. [139]

Von der Lehre Montesquieus ist heute vor­nehm­lich der Grund­gedanke an­wend­bar geblie­ben: Die Idee, dem Bürger mög­lichst viel Si­cherheit zu geben, indem die Staats­be­fugnis­se auf ver­schie­dene Häup­ter verteilt werden. Sobald in ein und der­sel­ben Per­son oder "Beamtenschaft" die legislative Befugnis mit der exe­ku­tiven verbun­den werde, gebe es keine Freiheit. [140]  

Es gab im 18. Jahrhundert andere gesellschaftliche Machtfak­to­ren. Wäh­rend heute macht­voll organisierte Inter­es­sengruppen, Parteien und Mas­sen­medien den Ton ange­ben, hatte Montesquieu als Mäch­ti­ge den König, den Adel und das Bürger­tum vor­ge­fun­den. Die­sen Gruppen versuchte er die ein­zelnen staatlichen Macht­be­fug­nisse zu­zu­ordnen, die soge­nannten Gewal­ten: Adel und Bür­ger­tum sollten, in Vertre­tungs­kör­per­schaften or­gani­siert, ge­mein­sam die Gesetze ma­chen, gegen die der König nur ein Ein­spruchs­recht hatte. Die Richter sollten jährlich aus der Menge des Vol­kes aus­ge­sucht wer­den. Weil die gesell­schaftli­che Realität und ih­re Akteure sich grundlegend ge­wan­delt haben, kön­nen Mon­tes­quieus Zuordnungen der Befug­nisse zu bestimmten Grup­pen so nicht mehr funk­tionie­ren. Seine Grund­idee kann heute nur sinn­gemäß auf die heutigen Macht­faktoren der Ge­sell­schaft ange­wandt werden.

Der gedankliche Kern der Trennung von Befugnissen und der Auf­tei­lung der Macht drückt sich in Inkompatibilitäten aus, das heißt dem Verbot, nach dem ein und diesel­be Person oder Personen­grup­pe nicht gleichzeitig zwei ver­schiedene Gewal­ten inneha­ben oder an ih­nen teil­haben darf. Das ent­spricht der Idee nach der heu­te gängi­gen Staats- und Verfas­sungs­lehre, ist im Grundgesetz aber nur in bezug auf ein­zel­ne Per­sonen verwirk­licht. So ist be­kannt, daß es gesetz­liche Ver­bote der gleichzeitigen Zu­gehörigkeit zu meh­re­ren Ge­wal­ten gibt.

Montes­quieu hatte das Verbot aber aus­drücklich weiter als heute ge­faßt und auch mit der Freiheit für un­vereinbar er­klärt, wenn ver­schie­dene Ein­zel­perso­nen aus "der­sel­ben Be­am­tenschaft" mehrere Gewal­ten inne hätten. Mit Be­dacht hatte er jede der Staats­funk­­tionen ei­ner bestimm­ten, in sich als weit­ge­hend homogen vorge­stell­ten gesell­schaftli­chen Grup­pe zugeordnet, bei­spiels­wei­se die Gesetz­gebung der­jenigen Kam­mer, die aus dem Bür­gertum her­vor­ge­gangen war und einer an­deren aus dem Adel. Keiner dieser Grup­pen ge­hörte der Kö­nig als Haupt der Exe­kutive per­sönlich an. Mon­tes­quieu hätte sich nicht einfallen las­sen, Per­sonen aus ein und derselben Grup­pe, etwa dem Adel, gleich­zeitig die Exe­ku­tive und die Mitwirkung an der Ge­setzgebung an­zu­ver­trauen. Er be­tont mehrfach, daß nicht nur eine Einzel­person keinesfalls Ein­fluß auf mehr als eine Staatsge­walt gleich­zeitig haben darf, sondern daß auch ein und dieselbe Perso­nen­gruppe nicht mehrere Staatsbefugnisse beset­zen dürfe: "Alles wäre verloren, wenn ein und derselbe Mann bzw. die gleiche Kör­perschaft ent­weder der Mächti­gen oder der Adli­gen oder des Vol­kes alle drei Machtvor­kommen aus­übte".

Als negatives Beispiel schildert Montesquieu die Situation in den ita­lie­ni­schen Re­pu­bli­ken sei­ner Zeit: "Die gleiche Beamten­schaft hat als Ausführer der Ge­setze alle die Be­fug­nisse, die sie sich als Gesetz­geber selbst verliehen hat. Sie vermag den Staat durch ih­ren Willen zu ver­heeren. Da sie auch noch die rich­terliche Ge­walt inne­hat, ver­mag sie je­den Bürger durch ihre Sonder­be­schlüs­se zu­grun­de­zurich­ten. Alle Be­fug­nisse bilden hier eine ein­zige. Ob­wohl hier keine äuße­re Pracht ei­nen despoti­schen Herr­scher verrät, be­kommt man ihn auf Schritt und Tritt zu spü­ren." [141]  "Der Des­po­tis­mus der modernen Demokratie hat einen an­de­ren Charakter, er ist viel weiterge­hender und sanfter und er­nie­d­rigt die Men­schen, ohne sie zu quälen." [142]  Der "Despotismus der Vielen" war in Montes­quieus "Augen nicht viel besser als die Despotie des Einen". [143]

Die­sen Beob­ach­tungen ent­spricht weit­ge­hend der politische All­tag der Bun­desre­publik und mar­kiert eine der bei­den ent­schei­den­den Ein­bruch­­stellen des Partei­enstaats in die ge­wal­ten­tei­lende Verfassungs­ord­nung, die deshalb, jeden­falls im klas­sischen Sinne, nicht mehr funk­tioniert. Dem englischen Vorbild fol­gend [144]  sind die ge­setzge­ben­de Ge­walt und die Spitze der Exe­ku­tive in Bund und Ländern näm­lich in dop­pel­ter Weise mit­ein­an­der ver­schmolzen:

Zum einen wird nach Art.63 und 67 GG der Kanzler vom Bun­des­tag ge­wählt und kann von ihm jeder­zeit durch einen ande­ren er­setzt werden. Durch diesen Zustand ist die Bun­desre­gierung (Art.62 GG) tech­nisch auf die Funk­tion eines Parla­ments­aus­schus­ses be­schränkt. Da auch der Kanzler selbst - nicht zwangs­läu­fig rechtlich, aber prak­tisch - Par­laments­mit­glied ist, recht­fertigt sich für die­ses Regierungs­sy­stem der Begriff Parla­ments­re­gie­rung. Dieses parlamen­tarische Re­gierungssystem ist nicht zu ver­wechseln mit der par­la­men­ta­ri­schen De­mokra­tie. [145]  Der erste Begriff ist eine ex­treme Un­ter­­­form des zweiten. Es wi­der­spricht der Lehre von der Ge­wal­ten­tei­lung und ver­­zerrt diese bis zur Unkennt­lich­keit. [146]  Hier ist das Volk nicht, wie in der monarchi­schen Re­gie­rungs­form, durch einen König re­prä­sen­tiert; es ist auch nicht als han­delnde politische Einheit - de­mo­kratisch - mit sich selbst iden­tisch; vielmehr ist die Herrschaft des Par­laments im Prinzip ein Fall von Aristokratie, oder, in der ent­ar­te­ten Gestalt, eine Oligar­chie. [147]  Wenn die Exekutive von der Legislative abhängig ist, be­steht die Gewal­tentrennung nur dem Namen nach und erfüllt ih­ren Zweck nicht. [148]

Zum anderen sind Exekutive und Legislative dadurch machtmä­ßig ver­­bun­den, daß sie beide unter dem beherrschenden Ein­fluß ei­ner Par­­tei oder Par­tei­en­koali­tion stehen und keine selb­stän­digen Ent­schlüsse zu fassen pfle­gen. Re­gie­rung und Bun­destag werden heu­te faktisch aus der Partei­zentrale der Mehr­heits­par­tei oder der Koaliti­ons­runde fern­ge­lenkt, was jede Gewal­ten­tei­lung zur blo­ßen Fik­tion werden läßt. [149]  

Nach der bürgerlichen Ideologie des Liberalismus soll eine Balance auch in­ner­halb des Parla­ments er­for­der­lich sein. [150]  Davon kann im Parteienstaat aber keine Rede sein, weil im wesentlichen dieselben, durch die 5%-Klausel unter sich blei­benden Kräfte im wesentlichen homogen sind. Durch die verbin­dende Klam­mer der Mehr­heits­par­tei(en) ver­schwindet zwischen den Ge­wal­ten je­nes Span­nungs­ver­hältnis, das für das Funk­tionieren der Ge­wal­ten­teilung grund­le­gend und un­ver­zicht­bar ist. "Die ent­schei­den­den handelnden Per­sonen sind durch­weg füh­rende Politiker der Par­tei­en. Sie nehmen gleichsam eine Inte­grati­onsfunkti­on von Re­gie­rung, Par­lament und Koali­tions­par­tei­en wahr." [151]  "Wenn sich in der politi­schen Wirk­lich­keit ei­nes Staates nicht mehr wie bei Mon­tes­quieu Le­gislative und Exe­ku­tive als mit­ein­ander echt kon­kur­rierende Gewal­ten ge­gen­über­ste­hen, sondern ei­ner­seits ein Kong­lome­rat aus Regie­rung und par­la­men­tari­scher Mehr­heit und ande­rer­seits die Oppo­sition als par­la­men­ta­rische Min­derheit, die zu­dem durch das Mehrheitsprin­zip je­der­zeit über­stimmt wer­den kann, kann von einer Gewal­tenteilung ver­nünf­ti­ger­weise nicht mehr die Re­de sein." [152]  "Wir können daher von einer Art 'Oligarchie' der Spit­zen­poli­ti­ker der Partei­en spre­chen." [153]

Das Grundgesetz kennt keine Vorkehrungen dagegen, daß ein und die­sel­be Partei die Ge­setze macht, anwendet und noch aus ihren Rei­hen Richter be­stimmt, die über die Auslegung des Ge­setzes zu wa­chen ha­ben. Es ist ge­gen­­über der Existenz politi­scher Partei­en fast blind, und in Ausnutzung dieses blinden Flecks konnten diese die Macht über Exekutive und Le­gislative voll­ständig und über die Recht­sprechung im aus­schlag­gebenden Teilbereich der Ver­fas­sungs­ge­richtsbar­keit und der oberen Ge­rich­te usurpie­ren.

Das GG nennt die Par­teien nur nebenbei in Art.21, nach dem sie an der politi­schen Wil­lens­bildung mitwirken sol­len. Die Schöp­fer der Verfas­sung hiel­ten es für ausrei­chend, die drei Staats­ge­walten institutio­nell für vonein­an­der unabhän­gig zu erklä­ren. Es soll keine Gewalt der an­deren An­wei­sun­gen geben kön­nen. Die Fülle der Macht soll auf ver­schiedene Äm­ter und Institutionen ver­teilt und ein System der "checks and ba­lan­ces" ge­schaffen werden. Die Fülle verschie­dener Äm­ter soll die Amts­träger in ihrer Macht­ent­fal­tung hemmen und ge­gen­seitig ausba­lancie­ren. Das für eine ausreichende Si­che­rung ge­gen Macht­zu­sam­men­bal­lun­gen anzusehen, ist aber na­iv, weil es die parteilichen, ämte­r­über­grei­fen­den Machtstruk­tu­ren ig­no­riert und je­den Parteigän­ger im Amte als bloßen Ein­zel­kämp­fer an­sieht. Die po­litischen Par­teien spielen sich immer mehr selbst als In­teressen­gruppen in eigener Sache auf. Weil sie die Ge­setz­ge­bung, die staat­li­chen Haus­halte und die Exekutive be­herr­schen, un­terlaufen sie die über­kom­me­nen Ele­mente ge­wal­ten­tei­len­der Checks and Balances. [154]  "Die vor­handenen checks and balances verdanken sich eher den aus­drücklichen oder still­schwei­genden Spielregeln, die das Zusammenleben von Par­teien, Ver­bänden etc. auf der unentbehrlichen Basis einer ungestörten Reproduktion der mate­riellen Vor­aussetzungen des sozialen Systems leiten, den verfassungs­recht­lichen Bestim­mungen." [155]   Wie Kondylis generalisierend ausführt, gibt es "zwei Grundformen von Nichtrealisierung der Gewalten­tei­lung", von denen er unse­re beschreibt: "Die Legislative wird zwar vom sou­veränen Volk gewählt, wie auch immer dessen Zusammensetzung ausfällt, und als Re­präsentantin des Volks­willens trifft sie souveräne Entschei­dungen. Sie wird aber ihrerseits durch die stärkste poli­ti­sche Partei beherrscht, deren aus­führendes Organ faktisch die Re­gierung ist. Die stärkste Parteiführung dominiert also im Par­lament, sie kontrolliert die Exeku­tive, und sie bestimmt direkt oder indirekt die Zusammensetzung und die Zu­stän­digkei­ten der Judikative."

Schon Montesquieu hatte dieses Konzept als unzureichend mit den Wor­ten ver­wor­fen: "Die Äm­terfülle mindert das Ämterwe­sen manch­mal. Nicht immer verfol­gen alle Ad­ligen diesel­ben Pläne. Ge­gen­sätzli­che Tribu­nale, die einander einschrän­ken, bilden sich. Auf solche Weise hat in Venedig der große Rat die Legislation inne, der Pregadi die Durch­führung, die Vier­zig die Gerichtsbe­fug­nis. Das Übel besteht aber darin, daß diese unter­schied­li­chen Tri­bu­na­le durch Beamte aus der gleichen Körper­schaft ge­bil­det wer­den. So entsteht kaum et­was ande­res dar­aus, als die eine gleiche Be­fug­nis." [156]  In Deutschland be­steht heute dasselbe Übel: Alle Ge­wal­ten sind von Mitglie­dern der­sel­ben Parteien be­setzt. Sie kon­sti­tuieren letztlich den Staat und zwin­gen allen seinen Teilen ihre Ge­setzlichkeit auf. [157]  

Ihre "fettfleckartige Ausbreitung" [158]  über alle staatlichen und halb­staat­li­chen Ein­flußbe­reiche bringt es mit sich, daß wir uns - wie im Mär­chen vom Ha­sen und vom Igel - am An­blick der Staatspar­tei­en tagtäglich er­freuen dürfen, sei es im Bun­destag, sei es in der par­tei­pro­portionier­ten Ver­wal­tung, bei den par­tei­pro­portio­nierten Ober­ge­richten oder im Medienbe­reich, dessen Chefses­sel heißbe­gehrte Beu­testücke der Parteien sind. [159]  Das Staats-Parteien­system hat die klas­si­sche Ge­walten­teilung außer Kraft ge­setzt, [160]  weil alle Ge­wal­ten glei­chermaßen von par­tei(an)ge-hörigen Seil­schaf­ten durch­setzt sind, de­nen Par­tei­räson vor Staatsräson geht. Der Par­teienstaat läßt die Ge­waltentei­lung "un­wirk­lich und fas­sa­den­haft" erschei­nen. [161]

Schon Montesquieu hatte das System der Parlamentsregierung mit den Wor­ten ver­wor­fen: "Es gäbe keine Freiheit mehr, wenn es kei­nen Monarchen gäbe und die exe­ku­tive Befugnis einer bestimm­ten, aus der legislativen Kör­perschaft ausge­such­ten Per­so­nen­zahl an­ver­traut wäre, denn diese beiden Be­fugnisse wären somit ver­eint. Die­sel­ben Personen hätten an der einen und der anderen manchmal teil - und so­mit könnten sie im­mer daran teilhaben." [162]  Ge­nau die­ser Zustand kenn­zeichnet die Verfas­sungssi­tuation des Grundge­setzes. Es gibt hier schon seit No­vember 1918 keine in­sti­tutionell un­abhän­gige Re­gie­rungs­gewalt mehr: Die Regierung ist eben nur ein Parla­ments­aus­schuß und kann vom Bundestag je­derzeit ab­ge­wählt wer­den. "Zwi­schen Parlament und Regierung besteht keine Ver­schie­denheit mehr. Die stän­dige Angst der Parlamentsgewalti­gen ist, daß sich eine Re­gie­rung von ihnen unab­hängig machen könnte," [163]  was sie nach der Theo­rie der Gewaltenteilung doch müßte. "Das Par­la­ment, so­zu­sa­gen das Gehirn dieses machtgieri­gen Systems, will un­ter Be­sei­ti­gung je­der Gewaltenteilung al­lei­nige Machtquelle wer­den," warnte Ed­gar J. Jung 1930; und seit 1949 ist das dem Par­la­ment vollständig ge­lungen.

Im Vaterland von Montesquieus ist die Mit­gliedschaft in der Regierung mit ei­nem Parlamentsmandat bis heute unver­einbar. "In der Bundesrepublik Deutsch­land", klagt dagegen der Hamburger Professor von Münch, " werden im Jahre 1998 anläßlich des zwei­hundertfünfzig­jährigen Jubiläums des Erschei­nens von Montes­quieus berühmtem Werk "De l'Esprit des lois" gewiß viele kluge Reden über Sinn und Notwen­digkeit der Gewal­tenteilung gehalten wer­den. Die Verhöh­nung des Grundsatzes der Gewaltenteilung durch Minister und Abgeord­nete in einer Person wird vermutlich bleiben." [164]  Auch wenn das Grundgesetz die Unvereinbarkeit von Re­gierungsamt und Abgeordne­tenmandat im Normalfall nicht aus­drücklich vor­schreibe so bleibt dennoch die Tatsache bestehen, daß die gleichzei­tige Innehabung von Regierungsamt und Abgeordne­tenmandat eine schwerwiegen­de Durchbrechung des Grundsatzes der Gewaltenteilung darstelle, rügt v.Münch weiter und witzelt für den Fall einer Rede eines Ministers und Abgeordneten vor dem Plenum: "Der Dop­pelkopf muß vor Be­ginn seiner Re­de im Bundestag kundtun, ob er/sie als Abgeord­neter oder als Minister spricht." Zur Gewaltenteilung gehöre näm­lich auch die per­so­nelle Gewaltenteilung, die sich in Unvereinbar­keiten konkretisiert. [165]   Suche man nach Rechtfertigungsgründen für die Verein­barkeit von Regierungsamt und Abge­ordnetenmandat, so finde man nur mehr oder minder pauschale Hinweise auf "die parla­men­tari­sche Tradi­tion" oder auf 'das parlamentarische Regie­rungssystem'. Mit solchen Allgemeinplätzen lasse die Zwittergestalt eines Abge­ordnetenmini­sters oder Ministerabgeordne­ten sich aber nicht halten.

Die Rechtfertigungsversuche aus Kreisen der Nutznießer der Parteien­staat­lich­keit lau­fen auf zwei Hauptar­gumente gegen den Befund hinaus, nach dem es Gewal­ten­tei­lung im eigentli­chen Sinn in Deutschland heute nicht gibt: Zum ei­nen werde die ge­ballte Macht des rela­tiven Ab­so­lutis­mus, der durch die unum­schränkte Herr­schaft der Par­la­ments­ma­jorität (auf Dauer ei­ner Legis­latur­pe­riode) ge­schaffen wird, dadurch gemildert, daß es zwei Parteien gebe, die sich in der Herr­schaft re­gelmäßig ab­lö­sten. Zum anderen ge­währleiste der Fö­deralis­mus eine gänz­lich neue Art verti­kaler Gewalten­teilung. Das Argument mit den einan­der ablö­senden Parteien mag viel­leicht im England ver­gan­ge­ner Jahrhun­derte funktioniert ha­ben. Die heu­ti­gen Groß­par­teien aber durch­drin­gen alle Le­bens­berei­che und wol­len ge­meinsam jede Al­ternative vom Zu­­gang zu Macht und Pfrün­den aus­schließen. Ein Wettbe­werb mit ge­wal­ten­tei­lender Ne­benwirkung fällt da­her aus. [166]  Ihre poli­tischen Positio­nen äh­neln ein­ander zum Ver­wechseln. Überdies hat seit Be­stehen der Bun­des­re­publik noch nicht ein einziges Mal das Volk in einer Bun­des­tags­wahl ei­nen Regie­rungs­wechsel erreicht, weil un­ge­ach­tet der Stärke der bei­den Groß­parteien stets die FDP als Mehr­heits­be­schaffer den Aus­schlag für die eine oder die an­de­re Ko­a­li­tions­re­gierung gab. Das Ar­gument der Machtmin­de­rung durch zwei aus­­ba­lan­cierte Par­teien zieht also nicht. Auch das Ar­gu­ment, der Födera­lismus schaf­fe eine Machtauf­glie­de­rung neuer Art, ersetzt nicht die Notwendig­keit der klas­si­schen Ge­wal­tentei­lung. Die Über­macht der Groß­struk­tu­ren politi­scher Mas­sen­partei­en bricht sich kei­neswegs an Län­der­grenzen.

Das entscheidende Versagen des Grundgesetzes liegt darin, daß es eine reine Par­tei­en­par­la­ments-Herrschaft zuläßt und seinen Parla­ments­par­teien den un­um­schränk­ten Zu­griff auf alle Gewalten er­mög­licht, weil es ihn nicht verbie­tet. So entstand das Ge­gen­teil von einer Ge­wal­ten­teilung: eine Ge­wal­tenverfil­zung [167]  näm­lich. Die Gewalten­tei­lung ist hier und heute kein echtes poli­tisches Machtvertei­lungs­prinzip mehr, son­dern sie ist zu einer reinen Zu­ständigkeits­auftei­lung von Gre­mien ver­kommen, die al­lesamt in den Hän­den der­selben "Beam­ten­schaft" (Mon­tesquieu) bzw. Parteien liegen. Die Omni­po­tenz dieser Parteien [168]  tendiert zum Einpartei­en­staat. [169]  Da­bei kann "die Par­tei" im funktio­nalen Sinne durchaus auf meh­rere un­selb­stän­di­ge (Modell DDR) oder selb­stän­dige (Modell BRD) Organi­sationen ver­teilt sein, wenn diese ih­re Claims abge­steckt ha­ben, ge­mein­sam aber den we­sentlichen Teil der Staatlichkeit be­setzt halten. Agnoli hat das die plurale Form einer Ein­heits­partei [170]  ge­nannt.

Auch v.Arnim zieht ausdrücklich die Parallele zu den früheren "kommuni­sti­schen Monopolparteien": Etwa "hinsichtlich neuer Diätengesetze" sehe sich der Bürger "regelmäßig einem Kollektivmonopol der etablierten Parteien gegenüber. Diese verhalten sich also dort, wo sie durch Blockbildungen in Sachen Politikfi­nanzierung die Konkurrenz ausschalten, partiell selbst wie Einheits­parteien östli­chen Musters." Sie tendieren dabei, mit den Worten v.Arnims, zu einem neuen Absolutismus. Durch ihre Gesetzentwürfe anläßlich der Parteienfinanzierung 1995 versuchten die Parteien, "sich zum eigenen Wohl aller [demokratischen und richter­lichen] Kontrollen ein für allemal zu entledigen und sich dadurch in Sa­chen eigener finanzieller Ausstattung jetzt und in Zukunft praktisch kontrollos zu stellen. Das ist das Gegenteil dessen, was das Prinzip der Gewaltenteilung ver­langt." "Hat sich die "politische Klasse" aber erst einmal in bezug auf ihre eigene Finanzierung der Kon­trollen entledigt, wird dieses - aus ihrer Sicht - bestechende und das Regieren scheinbar so sehr erleichternde Vorgehen auch auf nichtfinan­zielle Bereiche über­greifen, in denen es um Eigeninteressen der politischen Klas­se geht." [171]

 "Je mehr sich die Partei­en den Staat zur Beute ma­chen und da­mit zu Staats­par­teien de­generie­ren, desto mehr hebt sich der Par­tei­ens­taat nur noch durch das Mehr-­Parteiensy­stem von der Par­tei­dik­ta­tur ab." [172]  Faßt man den Dikta­turbegriff nicht verfassungsrechtlich, son­dern versteht darunter jede schran­kenlose Macht­ausübung, rechtfertigt sich gar der Satz: Heute, Ende des 20. Jahrhunderts, stellt die Diktatur un­serer Par­tei­funk­tio­nä­re, Parteiapparate, Parteizentralen zweifellos eine sehr auf­geklärte, wenn auch die typi­schen Ohn­­­­­-machtsgefühle her­vorru­fende Diktatur dar." [173]

Dies ist umso be­denkli­cher, weil sich die zwei großen Par­tei­­en pro­gram­ma­tisch einander annä­hern. [174]  Nach Parallelen zwi­schen den Block­­wah­len in der DDR und Blockwahlen innerhalb der Bon­ner Par­tei­en befragt, antwortete der Soziologe Erwin Scheuch an­hand per­sönlicher Erfah­rungen: "Wie in der DDR! Wir ha­ben noch meh­­re­re Parallelen zur DDR." [175]  Vor diesem Hin­­ter­grund er­­scheinen al­le klas­si­schen Ge­wal­ten zu­züg­lich moder­ner Me­dien­ge­walt als in den Hän­den eines Par­teienkar­tells, dessen Teilsy­ste­me nach au­ßen hin Schau­kämpfe austragen, in­haltlich aber nicht für Al­ter­nati­ven ste­hen. Ihr Wahl­kampf ist Schwin­del, weil er pro­gram­ma­ti­sche Ver­schie­den­heit vortäuscht. "Es ist das glei­che wie die Kämp­fe zwi­schen ge­wis­sen Wiederkäuern, deren Hör­ner in einem sol­chen Winkel ge­­wach­sen sind, daß sie einander nicht verletzen kön­nen. Wenn er aber auch nur ein Schein­gefecht ist, so ist der doch nicht zwecklos, son­­dern hilft, die be­sondere gei­sti­ge Atmosphäre auf­recht" und ihre "Ge­­­sell­schafts­struktur intakt zu halten." [176]  

So be­steht der Zweck der Groß­­par­teien heute haupt­säch­lich da­rin, Wahl­verein für den ei­nen oder den an­de­ren Kanz­ler zu sein - eben Scheuchs Po­sten­vertei­lungs­kar­­tell auf Dau­er. In ihrer wech­sel­sei­tig sich sta­bi­li­sie­ren­den ge­gen­sei­ti­gen Be­zo­genheit glei­chen sie den drei glo­balen "Su­per­staaten" in George Or­wells 1984, die "einander nicht überwin­den kön­nen, son­dern auch kei­nen Vorteil da­von hät­ten. Im Ge­genteil, so­lan­ge sie in ge­spanntem Ver­hältnis zueinander ste­hen, stüt­zen sie sich ge­genseitig wie drei an­ein­andergelehnte Ge­trei­de­gar­ben." [177]  In Wahl­kampf­zeiten re­duzieren sie und ihre Medi­enstrategen die Wahl­ent­schei­dung der Bür­ger gern auf polarisie­ren­de Parolen wie "Frei­heit oder So­zia­lis­mus" erzeugen ope­rativ den Eindruck ei­nes Kopf-an-Kopf-Rennens der Kandidaten der Groß­parteien, um den Wähler in eine Schein­al­ter­na­tive zu zwin­gen und die ohnehin klei­ne Kon­kurrenz aus dem Wäh­ler­bewußt­sein zu til­gen. Im End­ef­fekt ent­wickelt Deutsch­land sich vom par­tiellen zum ten­den­ziell tota­len Par­tei­en­staat [178] , in des­sen Rah­men die Par­tei­en ei­ne schall­schluckende Sty­ro­por­schicht bilden, in der die Rufe der Wäh­ler verhal­len [179] , und die sich immer dich­ter, drüc­ken­der über ein Ge­meinwe­sen legt, in dem die angebliche Ge­wal­tentei­lung längst zur Lebens­lüge [180]  ge­wor­den ist.

Der systemtheoretische Ansatz

Die Gesellschaft erobert den Staat

Jeder Herr­schaftsordnung liegt die Unter­scheidung zwischen Herr­schen­den und Beherrschten zugrunde. Eine Ordnung ohne Herrschende und beherrschte ist Utopie. Auch das Grundgesetz Deutschlands geht von Herrschaft aus. Mit Recht definiert das BVerfG es ausdrücklich als Herrschaftsordnung.

Die Be­herrschten sind das Staatsvolk. Wenn wir es als Ob­jekt zu seinem re­gie­renden Subjekt in Be­ziehung setzen, kön­nen wir es sinnvol­ler­weise auch als Ge­sell­schaft in Bezie­hung auf die Staats­gewalt be­zeich­nen. Dem Dualismus von Staat und Gesell­schaft entspricht strukturell der von Exekutive und Legis­la­tive. Schon in Mon­tes­quieus Lehre vertritt der König als Re­gieren­der den Staat, wo­hin­gegen Bür­ger­tum und Adel (heute gemein­sam "Volk") das Ob­jekt der Re­gierung sind und die Gesellschaft bilden. Sie steht damit der staatlichen Re­gie­rungs­ge­walt ge­genüber. Sie organisiert sich im Parlament und setzt sich dort au­tonom ih­re Rechts­re­geln. Wer diese Trennung von Staat und Gesellschaft aufhebt, entfesselt einen absoluten Staat oder eine absolute Gesellschaft. Beide garantieren das Ende der individuellen Frei­heit. Deutschland tendiert heute zur absoluten Gesellschaft.

Staat und Gesell­schaft miteinander verschmelzen zu lassen oder dem Staat die Rolle des Regierens und der Gesellschaft die der auto­nomen Recht­setzung zuzu­ord­nen, Staat und Ge­sell­schaft damit als funktional gewaltentei­lend zu trennen, ist die Gretchen­frage heutiger Staats­wis­senschaft. [181]  Wo die Gewalten nicht geteilt sind, herrscht Diktatur. Absoluter Staat und absolute Gesellschaft sind solche Diktaturen, weil sie keine Gewaltenteilung besitzen, sondern sich alle Gewalten in Händen des Staates oder in Händen der vorherrschenden gesellschaftlichen Mächte befinden.

Zwi­schen der Skylla des absoluten Staates und der Chary­bdis des absoluten Ge­sellschaft bedeutet Ge­wal­ten­tei­lung, den exekuti­ven Teil der (theoretisch als umfas­send vor­ge­stell­ten) Staats­gewalt dem Staat als sol­chem und den le­gis­la­ti­ven Teil der Ge­sell­schaft zu­zu­wei­sen und diese somit vom Staat so­wohl zur Wah­rung ihrer Frei­heit ab­zugrenzen als auch funk­tio­nell zu in­te­grie­ren. So gese­hen liegt der Ge­walten­teilungs­leh­re Montes­quieus faktisch die Trennung von Staat und Gesell­schaft zu­grunde. [182]  Ohne diese Tren­nung gibt es keine Frei­heit: wenn die Ge­sell­schaft den Staat be­herrscht und zur absoluten Ge­sell­schaft wird ebensowenig, wie wenn um­gekehrt der Staat die Ge­sell­schaft ver­staatlicht und zum absoluten Staat wird. "Die Ge­schich­te kennt in Wahrheit nur zwei große Ge­gen­sätze in der Staats­auf­fassung: Frei­heit und Absolutismus. Fälsch­li­cher­weise wird unter Ab­so­lu­tis­mus nur die offe­ne Gewaltherrschaft" des Staa­tes "verstanden, wäh­rend de­ren ver­deckte Form meist über­se­hen wird:" [183]  die ab­so­lute Herrschaft der indirekten ge­sell­schaft­li­chen Ge­wal­ten.

Wenn der Staat die Gesellschaft an seine Macht kettet, lassen beide sich vonein­ander nicht mehr unterscheiden. Dasselbe gilt, wo gesellschaftliche Kräfte den Staat erobert haben. Überall dort, wo Staat und Gesellschaft ununterscheidbar ineinander verwoben sind, gibt es keine Ge­walten­tei­lung. Daß es im Staatsabsolutismus keine individuelle und keine gesellschaftliche Freiheit gibt, muß ich nicht eigens begrün­den. Aber auch die Ver­ei­ni­gung der Ge­wal­ten in der Hand eines einzelnen Bürgers, einer ideologischen Formation, einer Par­tei oder eines anderen Macht­kartells läßt zwangsläufig Staat und Ge­sellschaft in­ein­ander über­­ge­hen. Damit ist aber eine Grund­­be­din­gung mensch­li­cher Frei­heit besei­tigt: [184]  näm­lich der gesellschaftlich neutrale Rechts­staat.

Nur er ist Schutz­macht der in­ner­ge­sell­schaft­lich Schwa­chen gegen die Star­ken, [185]  er schützt die Armen vor Ausbeutung, die Alten vor dem Elend, die Ungebo­renen vor dem Egoismus der Lebenden. Er hütet die Frei­heit gegen Übergriffe wohl­or­ga­ni­sierter Macht­grup­pen und wahrt des Rechts­friedens ge­gen das Faustrecht und die la­tent bür­ger­kriegs­berei­ten inner­gesell­schaftli­chen Machtgrup­pen. Nach Lo­renz von Stein be­steht das innerste Prinzip des Gesell­schaft­li­chen in der Unter­­wer­fung der Einzelnen unter die vie­len an­deren Ein­zel­nen. Es führt also not­wen­dig zu Un­frei­heit. Es steht damit im di­rekten Wi­der­spruch zum Prin­zip des Staates als der sitt­lich ver­ant­wor­teten Freiheit und damit dem wah­ren Wil­len und Wohl der All­ge­mein­heit. Während da­her das Prinzip des Ge­sell­schaft­li­chen das Inter­es­se ist, ist das des Staa­tes die Frei­heit. [186]  Dazu ist er da, er ist nicht Selbstzweck. Freiheit im neu­zeitlichen Sin­ne be­deutet, den Bürger als Staatsbürger von gesellschaftlichen Zwän­gen zu befreien.

Beide Prinzipien - Staat und Gesellschaft - haben ihre Daseinsberechtigung. Da­her darf kei­nes das an­dere ver­nichten. Menschen sind von Natur aus Einzel­per­sön­lichkeiten und Ge­mein­schafts­we­sen. Als auf Individualität be­dachte Einzelne bilden sie in ihrer Summe eine Gesell­schaft; in­so­weit sie aber sozialverbunden und -be­dürftig sind, bilden sie Ge­mein­schaf­ten wie Fa­mi­lie und Staat, die mehr be­deuten als die Sum­me ihrer Teile, und sind auf diese be­zo­gen. Die Gesell­schaft ist das Innenle­ben der Gemein­schaft. Beide Aspekte menschlicher Existenz sind glei­cher­ma­ßen real und in jedem Menschen vorhanden. Sozialver­bun­den­heit und Ein­zel­per­sön­lich­keit sind zwei er­gän­zungs­be­dürf­ti­ge Aspek­te des Menschen und ver­kör­pert in Staat und Ge­sell­schaft. Kei­ner dieser As­pek­te darf ex­tre­mi­stisch verabsolutiert werden. Trotz seiner Ei­gen­ständigkeit braucht der Mensch die Gemeinschaft, ist auf sie be­zogen und bleibt da­her Mensch in der Ge­mein­schaft. [187]  Die Bindung an die im Staat ver­kör­perte Gemeinschaft verhindert, daß Frei­heit zur ego­zen­tri­schen Willkür wird. Der liberale An­spruch auf individuelle Au­to­no­mie läuft aber in letzter Denk­kon­se­quenz auf bindungslose Will­kür hinaus und wird von Niklas Luhmann mit Recht un­ter die politi­schen Utopien ein­ge­ord­net. [188]  

Vor der modernen Einsicht in die Doppelnatur jedes Menschen als Einzel- und Sozialwesen gin­gen der hi­sto­ri­sche Konservativismus der mit­tel­al­ter­li­chen societas civilis bis in die Zeit der Gegen­re­vo­lution [189]  so­wie spä­ter der Na­tio­nal­so­zia­lis­mus [190]  davon aus, daß die Men­schen von Natur aus Glieder objek­tiver Ord­nun­gen sind; er ließ des­halb die in­­di­vi­duel­le Selbst­be­stimmung, das heißt die Ent­fal­tung der Per­sön­lich­keit, nur unter Ein­fü­gung in die ge­sell­schaft­lichen und staat­li­chen In­sti­tu­tio­nen mit ih­ren Ei­gen­ge­setz­lich­kei­ten zu. Hier kommt - im Ge­gensatz zum Libera­lis­mus - der Ge­mein­schaft der Vor­rang vor dem Ein­zel­nen zu; er ist ihr teils un­ter­ge­ord­net, teils ein­ge­ord­net. [191]  Somit führt die Auf­lö­sung der Dia­lek­tik von Staat und Gesell­schaft zu­gun­sten des Staa­tes zur Ver­staat­li­chung der Ge­sell­schaft und zur Wie­der­kehr ei­nes Staats­ab­so­lu­tis­mus. Und vor der ande­ren Mög­­lich­keit der Ver­ge­sell­schaf­tung des Staates warnt Lorenz von Stein, in­dem er am End­punkt die­ses Pro­zesses den "Tod der Ge­mein­schaft" sieht: "Es gibt keine voll­en­de­ten Völ­ker, aber es gibt wohl tote Völ­ker. Das sind die­je­nigen, in de­­nen es keinen Staat mehr gibt [...], in denen die Staats­gewalt abso­lut in den Hän­den der Ge­sell­schaft ist." [192]

Das Mittelalter hatte eine Trennung von Staat und Gesell­schaft nicht ge­kannt: In der ei­gen­tümli­chen Form des Lehns­staats, des sog. Feuda­lismus, war alles "Gesellschaft". Zwi­schen König und Vasall, Va­sall und Untervasall bis hin zum fro­nenden Bauern waren alle Rechts­ver­hältnisse rein personaler Natur und en­deten mit dem Tode ihrer Träger. Die Lehnspy­ramide war ein Rechtsge­füge, das auf Ver­pflich­tungen zwischen Personen be­ruhte. Ein "Staat" war nicht vor­ge­se­hen. Nach der Krö­nung eines Königs in Deutsch­land hatten die Reichs­städte nichts Eiligeres zu tun, als diesem seine per­sön­liche Be­stäti­gung ihrer Rechte und Frei­heiten abzu­bitten. Was gingen ihn auch die Verspre­chun­gen sei­nes Vor­gängers an? Ein Staat als über­persönli­che Rechtsfi­gur im abstrakten Sinne wie heute existierte nicht. Für jeden einzelnen hatte das die praktische Konsequenz, daß er in einen hierarchi­schen Ge­sell­schaftsauf­bau streng eingebunden blieb. Im Normalfall hatte er keine Chance, sei­nem Geburts­stand zu entkommen. Niemand schützte den fro­nen­den Bau­ern vor der Will­kür sei­nes Grund­herrn, und wer ge­gen die Über­macht eines anderen Schutz benö­tigte, konnte den nur in eigener Kraft fin­den oder sich ei­ner mächti­gen Gruppe anschlie­ßen, die ihn schützen sollte. So schloß man sich zu sozialen Verbän­den zu­sam­men und wurde Bürger einer Stadt, Kaufmann in einer Gilde oder auch Räuber in einer Bande. In die­sen ge­sellschaftlichen Teilgruppen fand der ein­zelne Schutz, aber um den Preis der Un­terordnung. Frei­heit im Sinne der heutigen Grund­rechte, Bürger­rechte oder die Si­cherheit einer privaten Exi­stenz in unserem Sinne gab es nicht.

Die Neuentdeckung des Staates im Sinne der antiken Res pu­blica war die Lei­stung der frühen Neuzeit. Er wurde als vom persönlichen Herrscher un­ab­hän­gig und immer­wäh­rend vor­ge­stellt und bil­dete eine abstrakte, weil nicht kör­per­lich sichtbare Rechts­person, den Le­via­t­han Thomas Hobbes , oder mo­dern ge­spro­chen: eine juristi­sche Per­son. Als solche ver­kör­perte er allen Ein­zelnen ge­gen­über das Recht der Ge­samt­heit. Er forderte jedem Bürger die Loyalität und den Ge­hor­­sam ab, die ein jeder der Ge­meinschaft al­ler schul­det. Der Zu­sam­men­hang zwi­schen Schutz und Gehor­sam ist un­auflöslich. [193]  Der vom Deut­schen Kö­nig verkündete Ewige Land­friede von 1495 konn­te die Selbsthilfe nur mit der inne­ren Rechtfertigung seines Ver­spre­chens verbie­ten, das Recht zu ga­ran­tieren. [194]  Oh­ne Loyalität kann das Ge­­mein­we­sen den in­neren und äuße­ren Frie­­den nicht ge­währleisten und verfehlt damit sei­nen Daseinszweck.

Der neuartige Schutz nach innen war vor allem gegen die feuda­len Macht­grup­pen not­wen­dig: Unter dem Schutz des Staa­tes eman­zipier­te sich der Staats­bürger, ein neu­zeit­liches Phänomen, von den alten Gil­den, Zünften, Grundher­ren, Pa­tri­ziern, Kon­fes­si­ons­gemein­schaf­ten und was es an Macht­trä­gern noch alles gab. Er erlangte ein nie ge­kanntes Maß an persönli­cher Bür­gerfreiheit. In dem Wort von den Staats­bür­ger­rech­ten wird dieser Zu­sam­men­hang deutlich. Es galten nicht mehr die Regeln des Fehde­dschun­gels, das Faustrecht des ge­sell­schaftlich Stär­keren, sondern die Gesetze des Staa­tes als über den Parteiungen ste­hender neutra­ler Ge­walt, die tendenziell je­dem glei­ches Recht zu schaffen such­te. Daher war die Staatsmacht konzep­tio­nell den Macht­interessen der ge­sellschaftlich Etablierten ent­gegenge­setzt. Das war sie von An­beginn: Im Inter­esse der adligen Grund­her­ren hatte in der frühen Neuzeit die zähe Verteidi­gung der feu­da­len mit­telalterlichen Ordnung gelegen. Daher lehnten sie kon­servativ die Her­ausbildung des Staates mit seiner Trennung von der Sphäre des Ge­sell­schaft­lichen ab, [195]  ebenso wie heute die Par­teimächtigen als "neu­er Adel" (Scheuch) ihre Herrschaft durch Verschmelzung von Staat und Gesellschaft sta­bi­lisie­ren. Die Ge­schichte der Neu­zeit kann als fort­wäh­ren­des Rin­gen gesell­schaftlicher Grup­­pen um die Vor­macht und die Erobe­rung der Schalthe­bel des Staa­­tes verstanden wer­den, um ihn für ihre Par­tei­zwecke ein­spannen und gegen innerge­sell­­­schaftliche Konkur­renten benutzen zu können.

Historisch war die Forderung derjenigen sozialen Schichten, die keinen An­teil an der Macht hatten, auf eine Trennung von Staat und Gesellschaft und war ihre wei­tere Erwar­tung, der Staat möge sie vor der Macht der Herr­schen­den schützen, eine altlibe­rale For­de­rung. [196]  Sie wird immer aktuell sein, wo herrschende Schichten oder Eliten Staat und Gesellschaft in ihrer Hand haben und miteinan­der ver­schmel­zen lassen. Wer die Hebel von Staat und Gesell­schaft glei­cherma­ßen bewegen und steuern kann, hat an ihrer Tren­nung kein In­teresse. Die Forde­rung nach einer Tren­nung war historisch stets ei­ne Kampfansage der Machtlosen gegen die Mächti­gen und ist das noch heute.

Die Trennung von Staat und Gesellschaft ist eine genuin liberale Forderung, die aus dem typologische Merkmal des liberalen Balance­denkens zwingend folgt. Daher wird sie bis heute von der radikal-li­beralen Politiktheorie vertre­ten. [197]  Aber auch ohne die im Kern me­ta­physische Begründung liberalen Balan­cedenkens ergibt sich empi­risch aus anthropologischer Sicht, daß zwei ant­ago­ni­sti­schen menschlichen Bedürfnis­sen auch im Rahmen einer Staats­kon­struk­­tion Rechnung ge­tragen werden muß. Weil der Mensch Ge­mein­schafts­wesen und Indi­vidualist ist, kann eine an allge­mein­mensch­li­chen Grundbedürfnis­sen orien­tierte Politiktheorie nicht ohne Tren­nung von Staat und Ge­sell­schaft auskom­men: Das Staatliche hat die Auf­gabe, die individuel­le Freiheit und die gesell­schaftliche Existenz selbst nachhaltig zu schüt­zen. So begründet braucht sich die For­de­rung nach einer Tren­nung von Staat und Ge­sellschaft nicht den Vor­wurf machen zu lassen, sie sei selbst Liberalismus.

Die Oberhoheit des Staats gegenüber den Machtgelüsten ge­sell­schaftlich Mächti­ger und damit die Grundbedingung menschlicher Frei­­heit zu wahren, erfordert ein ständi­ges Rin­gen um die nö­tige Neu­trali­tät. In Sternstunden staat­li­cher Tätigkeit des 19.­Jahr­hun­derts soll die­ses Ideal der Legende nach fast ver­wirklicht worden sein. Es war die hohe Zeit bürgerli­chen Selbst­be­wußtseins unter dem Dach monar­chi­scher Staats­auffas­sung. Der Staat hatte seine sinn­fäl­lige Verkörpe­rung im Kö­nig­tum ge­fun­den, und die Gesell­schaft die ihre im Par­la­ment. Die Regierung des Königs war an die Ge­setze gebun­den, die sich die Ge­sellschaft frei ge­geben hatte; so die Idee. Die ge­wal­tentei­lende Verfas­sung hatte die regierende Staatsbe­fugnis dem König zu­gewiesen und die ge­setzgebende der im Parlament re­präsen­tierten Ge­sell­schaft.

Beide, Staat und Gesellschaft bzw. König und Parlament bzw. Exe­ku­tive und Le­gis­lative blie­ben einander funktional zuge­ord­net und da­her zur Koope­ration verur­teilt. Eine ein­sei­tige Do­mi­nanz der einen oder der anderen Kraft wurde zwar nicht zielge­richtet durch ei­nen wei­sen Verfassungs­gesetz­ge­ber vermie­den, konnte sich aber fak­tisch nicht einstel­len, weil beide Ge­wal­ten ein Macht­gleich­ge­wicht bildeten. Frei­lich hätte jede Ge­walt gern die an­dere domi­niert, wie beim preußischen Verfas­sungskon­flikt deutlich wurde. Aber erst 1918 kam der ent­schei­dende Wende­punkt, der Sünden­fall der deut­schen Verfas­sungsge­schichte: Am 28.Oktober trat ein Reichs­gesetz auf Druck der im Parla­ment ver­sammelten Parteienver­tre­ter in Kraft, durch das Reichs­kanz­ler und -regierung ihrer Ver­antwortung gegen­über dem Souve­rän entho­ben und dem Parlament unterwor­fen wur­den. Bis heute sind Kanzler und Regie­rung ihm ent­zogen und unter­stehen der jeder­zeitigen Dis­position der jeweili­gen innergesell­schaft­li­chen Majorität bzw. sind mit de­ren Par­teivorsitzendem iden­tisch.

Die absolute Gesellschaft wird totalitär

Parteien und Gruppen haben mit dem Staat als neutraler Macht der Na­tur ih­res An­lie­gens nach nichts im Sinn und trachten nur da­nach, ihn von in­nen zu er­obern. Einer Partei ge­lang das 1933, und ihr Füh­rer konnte seine Partei zur Herrin über den Staat er­klä­ren. Der ein­zelne galt nichts mehr, noch dazu, wenn er der Staats­partei nicht an­ge­hör­te, und die als Partei formierte Gesell­schaft verkörperte sich in dem von ihr ge­stal­te­ten Par­tei­staat. Für das SED-Sy­stem gilt mutatis mutan­dis dasselbe: Es gab zwar noch ei­ne funktionale Auftei­lung der Staats­gewalt auf besondere Orga­ne der Recht­sprechung, der Gesetz­ge­bung und der Verwaltung. Über allen stand jedoch der Wille der Par­tei bzw. ih­­res Führers oder Politbü­ros. Die Gesellschaft hatte sich tota­li­tär for­miert, und einen ihr neu­tral gegen­überstehenden Staat gab es nicht mehr.

Heute ist es nicht, wie im 3. Reich und in der DDR, eine tota­litäre Ein­heits­par­tei, die den Staat unter ihre Fuchtel ge­bracht hat. Heute ist dassel­be durch ein Kartell libe­ra­ler Par­teien gesche­hen, die einan­der zum Verwechseln ähn­lich sehen und konzeptio­nell über­einstim­men. Die Strategie ihrer Mento­ren war seit Beginn der Bundesrepu­blik vor­ge­zeichnet und fand ih­ren ju­risti­schen Nie­der­schlag im Bon­ner Grundge­setz. Der Staat wurde 1949 mit dem GG nicht aus al­len Par­tei­fesseln be­freit, sondern es wurden nur die einen Bande durch ande­re ersetzt. Der perfek­te Liberalismus des Bon­ner Grundge­setzes er­mög­lichte die voll­ständige Eroberung des Staates durch die Ge­sell­schaft in Ge­stalt der sich for­mierenden Bonner Par­teien. Die Plu­ra­li­sie­rung durch Parteienvielfalt war nur vordergründig und kurzlebig. Sie hat die latente Wendung zum Totalen "nicht aufgehoben, sondern nur sozusagen par­zelliert, indem jeder orga­nisierte soziale Macht­kom­plex soviel wie möglich - vom Gesangverein und Sportklub bis zum bewaffneten Selbstschutz - die Totalität in sich selbst und für sich selbst zu verwirklichen sucht." [198]

Wenn aber eine Partei den Staat usurpiert, zerstört sie die Grund­lage sei­ner Macht­­legi­ti­ma­tion: Die über alle Staatsangehö­rigen aus­ge­übte Staats­ge­walt fin­det ihre inne­re Rechtfer­tigung nämlich darin, daß dieser Staat tat­säch­lich allen Bürgern Schutz und Rechts­frieden nach innen und außen ge­währlei­stet. Identifi­ziert sich aber eine Teil­gruppe oder Partei ein­seitig mit dem Staat und erobert seine Schalt­stellen, so grenzt sie damit die anderen Grup­pen oder Min­derheiten aus und de­fi­niert sie als nicht zum Staat gehö­rende Feinde: als Ket­zer oder Staats­feinde, als Volksschäd­linge, Klassen- oder Verfassungs­feinde. So steht dann eine partei­gelenk­te Polizei mit in den Hosenta­schen ver­grabe­nen Händen dabei, wenn ran­da­lierende Po­litgewalttä­ter den Par­teitag ei­ner der Regierung unbe­quemen Op­positionspartei zu­sam­menprü­geln. Noch einfa­cher ist es für die Re­gie­rungs­­partei, auf die bloße Drohung ge­walt­tätiger Banden hin die Veranstal­tung einer Op­po­siti­onspartei poli­zeilich als "Risiko für die öffentli­che Si­cher­heit" zu verbieten.

Die von Carl Schmitt schon in der Weimarer Zeit gesehene Gefahr einer Wen­dung zum totalen Staat spitzt sich ständig zu. 1954 schrieb Martini weit­sichtig: "Diese Ge­fahr ist um so größer, je mehr sich un­ter dem Eindruck sozialer Krisen der consensus verdünnt, so daß sich die Parteien in zunehmendem Maße mit der Nation, mit der 'volonté générale' identifizieren, die Gegenparteien also damit als nationalen Feind diskriminieren." [199]  Der Staat kann seine ord­nungs­stif­­tende und be­­friedende Funk­tion nur aus­­fül­len, wenn er tatsächlich neu­tral und nicht von Par­­­­tei­gängern von in­nen her­aus erobert ist. "Wo ein Teil der Bürger in einem Teil der anderen aus welchen Grün­den auch im­mer nicht 'Rechts­­genossen', son­dern Feinde erblickt," erkennt der Rechts­philosoph Braun, "an deren loya­ler Ge­sin­­nung man zweifeln muß, dient das Recht in der Sicht der beiden Kon­­trahenten weniger dem Schutz der eigenen Per­son; es schützt und er­hält vielmehr zu­nächst den 'Feind' und verdient da­her selbst be­kämpft zu wer­den. ... Es erscheint nunmehr als Schutz­­schild und Waffe des jeweiligen Geg­ners." In Händen der Partei, die an den Schalt­hebeln des Staats sitzt, wird es dann zwar be­wußt mißbraucht, aber mora­lisch hoch er­ho­be­nen Hauptes; und die an­dere Seite wird bald einem Recht die Loya­li­tät verweigern, das zu of­fen­kundig nur als Kampfin­strument zu ih­rer Niederhaltung ein­ge­setzt wird - und sie wird ihre eigene Moral be­­haupten. Die formelle Ak­­zeptanz des Rechts setzt nämlich vor­aus, daß alle Normadressaten den unein­ge­schränk­ten Schutz der anderen auch wirklich wol­len. [200]  Ge­nau das meinte Rous­seau, wenn er schrieb: "Es ist un­mög­lich, mit Leuten, die man für verdammt hält, in Frie­­den zu leben." [201]  "Der ei­gent­liche 'Feind' ist da­her nicht der Kri­mi­­nelle, der ein­zelne Regeln bricht, das Sy­stem als solches aber ak­zep­tiert, sondern der Ketzer und Re­­vo­lu­tio­när, der unterge­ordnete Re­­geln durchaus unangetastet läßt, je­doch das so­ziale System in sei­nem Zentralpunkt angreift, indem er seine Sinn­haftigkeit an­zwei­felt." [202]

Die Entwicklung der vergangenen Jahre brachte den Bürgern in Deutsch­land da­her kein Mehr an Freiheit, als Liberale den Staat zu­nehmend demon­tier­ten. [203]  "In dem Maß, wie das In­dividuum sich ge­gen den Staat aus­spielen ließ, [...] ge­riet es unter die Herr­schaft der Ver­bände, die seinen Spiel­raum sehr viel enger zo­gen, und zerfiel vor dem Druck ei­nes neuen Ver­bandskollektivis­mus, dem es sich fügte, weil der einzelne Mensch in der Ge­sell­schaft nicht oh­ne Schutz exi­stie­ren kann." [204]  So näherte sich un­sere Ver­fas­sungs­wirk­­lichkeit wie­der ih­rem mittelalterlichen Aus­gangspunkt an und wurde von Scheuch tref­­fend als feudales Postenvertei­lungssy­stem be­zeichnet. Die al­ten Gegner des neutralisierenden Staates sind als "ge­sell­schaft­li­che" Macht­grup­pen wie Parteien und Verbände wieder auf den Plan ge­treten und haben sich auf dem We­ge über das Parla­ment aller Staats­gewalten be­mäch­tigt.

Der nur vom Staat als überpar­teilicher Kraft zu garan­tie­ren­de Schutz der Pri­vat­sphäre und der Frei­heits­rech­te wurde so dem "frei­en" Kräf­tespiel unsichtbarer ge­sell­schaftlicher Mäch­te ausge­liefert, die vom ein­zelnen wohl Gehorsam for­dern, ihn aber nur be­dingt schüt­zen kön­nen und wol­len. So wurde aus dem Dua­lismus von Staat und staats­frei­er Ge­sell­schaft ein sozia­ler Plu­ra­lis­mus, dessen jeweils best­­organisierte und stärk­ste Forma­tionen mü­he­lo­se Triumphe über die nicht Or­ga­ni­sier­ten und Schwa­chen feiern kön­nen. [205]  Ka­pi­tal­star­ke und wohlor­ganisierte Inter­essengruppen wurden zu Nutznießern des­­sen, was der Liberale un­ter Freiheit ver­steht: der Freiheit nämlich, ohne sittliche Schranken und ohne Beachtung des Woh­les Aller die Ar­­men und Schwachen durch die Macht rein ökonomischer Gesetze zu beherrschen. Alle vom Staate behüteten sittlichen Schranken su­chen sie niederzu­reißen und den Einzelnen zu "emanzipieren", los­zu­lö­sen von allen ihn schützenden Bindungen an das Ganze, damit er um­so leichter zur Beute des Partiku­laren werden kann. Deutschland leidet unter dem nachhaltigen Einfluß der Normen des Manager­tums der Privatindu­strie auf die Parteifunktionäre. Es stellt sich bereits die Frage, ob die Parteien von einem zahlen­mäßig kleinen, aber äu­ßerst finanz­starken Teil der Gesellschaft koloniali­siert werden, von Kapital­eig­nern und Mana­gern nämlich und von deren Verbän­den. [206]

Aber nicht nur ökonomische und sozialpolitische Gründe erfor­dern die Tren­nung von Staat und Gesellschaft. Diese neuzeitliche Tren­nung hatte nicht zuletzt den für un­kon­­­ven­tionelle Geister ange­nehmen Ne­beneffekt, daß zunehmend gesagt und ge­druckt wer­­den durfte, was immer man dachte. Je­der konnte nach seiner Façon selig werden. Erst bei der staatsfeindlichen Handlung wurde der säkulari­sierte Staat re­pressiv. Diese Frei­heit des Den­kens ge­riet im 20. Jahr­hundert zu­neh­mend in Gefahr. Unser Jahrhundert bie­tet rück­blickend das Schau­spiel des Aufstiegs und Zerfalls zwei­er ideologi­scher Groß­sy­­ste­me, die in ih­rem totalitären Anspruch in nichts hinter hi­sto­ri­schen Formen fa­nati­schen Chri­sten­tums und seinen Ketzerverfolgun­gen zu­rück­blie­ben. Die Jahrzehnte des gei­stigen und blutigen Welt­bürger­kriegs der Groß­ideo­logien haben auch bei ihrem po­li­ti­schen Geg­ner Spuren hinterlas­sen: dem Libe­ralismus als siegreichem Erben des lin­ken und des rech­ten so­zialistischen Totalita­rismus. Mit dem Libera­lismus des 19. Jahr­hun­derts, sei­nem bürgerlich-kapitalisti­schen sozi­alpolitischen Ursprung und seiner Be­schrän­kung auf das Einfor­dern staatsfreier Räume und bür­gerlicher Freihei­ten hat der heu­te herr­schende Links­liberalismus nur noch die histori­schen Wurzeln ge­mein.

Der historische Altliberalismus hatte gegen den historischen Kon­ser­va­tivis­mus größ­ten Wert auf die Trennung von Staat und Ge­sell­schaft gelegt, um dem bürgerli­chen In­di­vi­dualismus einen Frei­heits­raum zu öffnen. Wo hingegen Staat und Gesell­schaft eins sind, kann sich niemand der Einheit von Privatem und Öffentlichem und da­mit von Legalität und Mo­ra­lität entziehen. Unmoral wird dann straf­bar. Im mit­telal­terlichen christlich-uni­ver­sa­listischen Feu­da­lis­mus hatte das die Konsequenz, daß jeder Verstoß gegen die christ­li­chen Dog­men selbst dann auf dem Scheiterhau­fen enden konn­te, wenn der Ketzer im übri­gen gesetzestreu war. Ketzer, wuß­te 1646 Nicolas de Vernuls, darf man im Staate auch dann nicht dul­den, wenn sie fried­lich seien, denn Menschen wie Ketzer könn­ten gar nicht friedlich sein. [207]  Später setzte sich die allei­nige Staats­räson mit ihrer Tren­nung von der priva­ten Mo­ral durch und erlaub­te ein ungekanntes Maß an Gei­stesfreiheit.

In un­se­rem Jahrhundert hat die Gesellschaft den Staat zurück­er­obert. Ge­wechselt haben ge­gen­über dem Mittelalter nur die Ideo­lo­ge­me. Jetzt gab es wie­der den Ge­dan­ken­ver­bre­cher [208] , das ist zur Zeit der Aus­länderfeind, der ewige Nazi, der Erz­feind alles Li­be­ra­len. Die ge­­sell­­schaft­liche Zensur ist strenger als die staatli­che und ar­bei­tet mit Ta­­bus. "Die Probe auf die Pressefreiheit ist, ob gei­sti­ge Tra­di­tio­nen und von nen­nenswerten Teilen der Be­völ­ke­rung ge­tragene Po­si­tio­­nen an der Öffentlich­keit teil­ha­ben kön­nen oder nicht. Ist das nicht der Fall, kann man sicher sein, daß Zen­sur nicht nur ausgeübt wird, son­­dern sich bereits erfolg­reich durch­ge­setzt hat." [209]  Ein Indikator dafür ist es beispielsweise, wenn alle überregionalen Tages- und Wo­chen­zeitungen von Focus und Spiegel bis WELT und FAZ es ab­lehn­ten, eine Anzeige für die erste Auflage dieses Buches ab­zudrucken. Die Mechanismen der ge­sellschaftli­chen Selbst­zensur sind zwar nicht plump und direkt wie die staatli­chen in der DDR wa­ren, funk­tio­nie­ren aber ebenso sicher. So seufzte Steffen Heit­mann: [210]  "Wir aus der DDR wa­ren besonders auch wegen der ga­ran­tier­ten Mei­nungsfreiheit mit einer großen Hoff­nung und - wie sich jetzt zeigt - Illu­sion in die frei­heitliche, demokrati­sche Grundord­nung ein­­ge­tre­ten. Ich mußte er­le­ben, daß es bei drei Vierteln der Medi­en eine Art von gut funk­tio­nie­render Zensur gibt, die mit der in der DDR in ge­wis­ser Weise ver­gleich­bar ist. Nur geschieht sie heute in al­ler Öf­fent­lich­keit, durch Ab­stimmungen unterein­ander, durch in­di­rek­ten Druck ge­gen Leute, die aus dem Schema ausbrechen. Ich habe das selbst er­lebt, als ein Sen­der mich endlich einmal selbst zu Wort kom­men ließ, an­statt im­mer nur aus dem Zu­sam­menhang gerissene Sät­ze zu zi­tie­ren. Die Em­pörung der anderen Sender in den fol­gen­den Pro­gramm­kon­fe­ren­zen war im­mens."

Die ak­tu­el­le Er­obe­­rung des Staates durch links­li­be­rale Re­prä­sen­tan­ten der Ge­sell­­schaft bedeu­tet die höchste Alarm­stu­fe für den bür­ger­­li­chen In­di­vi­dualis­mus, sei­ne Ge­dan­ken- und schließ­lich seine Hand­­lungs­frei­heit: Im Deutschland des Jah­res 1994 kann wieder mit dem staat­li­chen Gesetz in Konflikt kom­men, wer ge­gen die Moral des ver­­ge­sell­schaf­te­ten Staates seine ei­gene Mo­ral be­haup­tet oder nur die Zu­­mu­tung ab­wehrt, die volks­pä­d­a­go­gi­sch aufgestellten Tabu- und Ge­­­nick­­schuß­zo­nen zu achten. Wie ein Altlinker die Tabuwaffe ge­zielt zu führen weiß, schildert Schren­ck-Notzing: "Un­be­fan­gen schi­l­­dert Ad­ler, wie er dann an der FU in Berlin beim SDS lernte, die Waf­fe selbst zu verwenden: 'Ich konnte es genießen, wenn ich sah, wie ganz nor­male liberale Leute in ei­ner Dis­kussion den Kür­ze­ren zo­gen, wenn je­mand das Wort fa­schi­stisch ge­brauchte, evtl. ver­stärkt durch die An­­deu­­tung der KZs mit ent­sprechendem Tabu-Ge­sichts­­aus­­druck, dro­hend ernst, Stirn in Falten, Au­gen ins Un­endliche ... Wem dies noch zu abstrakt war, dem wurden die Gas­kammern vor Au­­gen ge­führt, wo­­mit jeder se­hen konnte, wohin das führ­te, wenn man so dach­te.' Das Wort Tabu-Ge­sichts­aus­druck ist kein Zu­fall: Mein­hard Adler ist in der Tat der Ansicht, daß es beim Be­wäl­ti­gungs-Ri­tus um ein me­thodisches Auf­richten von Tabus geht. Die 'an­geb­li­che Tabu­be­freiung in unserer Gesell­schaft' ist für ihn bloße Rhetorik: 'Es hat le­diglich eine Tabu­ge­biets­ver­schie­bung stattge­funden. War es frü­her bei Ächtung verboten, die Kraft der Erektion und der Sinn­lich­keit öf­fentlich nach­zu­emp­fin­den, so ist es heute bei gleicher Ächtung ver­­bo­ten, die faszinative Kraft von Ord­nung, Autorität und Kampf zu emp­finden.' " [211]

Der zu­neh­mend zum totalitären Ge­sin­nungs­druck über­ge­hen­de Links­li­be­ra­lis­mus be­ur­teilt den Menschen nicht mehr da­nach, was er tut, son­dern da­nach, was er denkt, sagt oder schreibt. [212]  "Der Eifer un­serer Gesinnungs-, Welt­an­schau­ungs- und und Sek­ten­be­auf­trag­ten, un­serer Groß- und Klein­in­qui­si­to­ren und Wächter über 'political cor­rec­t­ness' ist zu einer ernsten Be­dro­hung unserer Frei­heit ge­wor­den." [213]  Während die Ge­set­zes­ord­nung so weit­ma­schig und li­be­ral ge­hand­habt wird, daß kein Verhal­ten mehr verboten werden kann, muß der Libera­lis­mus sich als Er­satz­lö­sung der Gesin­nung sei­ner Bür­ger ver­sichern und for­dert ihnen die Be­reit­schaft zur Iden­ti­fi­ka­ti­on ab. Das Ver­hal­ten ist nur noch der for­male An­knüp­fungs­punkt, um "ver­fas­sungs­freund­li­che oder -feind­liche" Ge­sin­nung her­aus­zu­fin­den, auf die es ihm ent­schei­dend an­kommt. [214]  Die "neue Ten­denz" geht zur "staat­li­chen Welt­an­schau­ungskontrolle ... . Die auf­ge­klär­te Welt­­an­schau­ung, ... be­an­sprucht jetzt, da sie mehr­heit­lich ak­zeptiert ist, den Al­lein­herr­schafts­an­spruch." [215]

Totalitär wird der "aufgeklärte" Liberalismus zum Beispiel, wo sich ein Leh­rer nicht dem Er­war­tungs­druck moraleifriger Kol­le­gen oder Schüler ent­zie­hen kann, an der Spit­ze einer Lichterkette mit­zu­mar­schieren, obwohl er das ei­gent­lich gar nicht möch­te, und wo die so demonstrierte höhere Moral zur Be­dingung be­ruf­li­chen Fort­kom­mens wird. Totalitär wird er, wenn die Stadt­ver­ord­ne­ten­ver­samm­lung der Stadt Potsdam am 3.5.1994 beschloß, ei­nen Ver­mieter auf­zu­for­dern, den Mietvertrag mit einem rechten Zei­tungs­verlag rechtswidrig auf­zu­kün­digen, dessen Tendenz den Par­la­mentariern nicht paßte. To­ta­li­tär wird er auch, wo in staat­li­chen Mas­sen­me­dien mo­ra­lisch er­le­digt wird, wer es wagt, zu be­stim­m­ten Fragen wie der Aus­län­der­fra­ge oder zu Wer­tun­gen der jün­­geren Ver­gan­genheit eine ab­wei­chen­de Mei­­nung zu äu­ßern. To­ta­li­tär wird er erst recht, wo der Staat den mit Ge­fängnis bestraft, der zu technischen Ein­zel­fra­gen oder Zah­len­an­­ga­ben der Zeitgeschichte etwas anderes sagt, als die staat­­lichen Ge­­­denk­­ta­feln be­haup­ten; oder wo der Staat unter dem Ein­­­fluß gesell­schaft­li­cher Mo­ral­vor­stel­lun­gen ei­nem Gast­­wirt die Kon­zes­sion ent­zieht, der Gä­ste bestimm­ter Na­tionalität nicht ein­las­sen will. Eine hy­ste­rische Be­trof­fen­heit­stümelei fordert je­dem ein stän­­diges mo­ra­li­sches Glau­­bens­be­kennt­nis ab, das leicht eben­so zur Heu­chelei wird wie jedes her­un­ter­ge­be­tete Glau­bens­be­kenntnis in ir­gend­ei­nem hi­sto­ri­­schen Staat, der eine be­stimm­te Moral zur Staats­rä­son er­hoben hat. So werden heute jedem jene "peinigenden Exerzitien abverlangt, ... der heute in Deutschland von Amts we­gen zu öffentlicher Rede ver­pflich­tet ist." "Schulmeisterhaft" wird dem Volk "von oben her­ab eingerie­ben ... , was es zu denken habe, wel­chen Ge­danken es sich hinge­ben dürfe und welche es hintanzuhal­ten ha­be." [216]

Es ist kein Zufall, daß gegen die Trennung von Staat und Gesell­schaft gleich­lau­tend al­le diejenigen polemisieren, die das In­di­vi­duum ih­rer Herr­schafts­ideo­logie als Staats­mo­ral unterwerfen wol­len: Die kon­­­servativen Feu­dal­grund­herren des 19. Jahr­hun­derts, die ihre mit­tel­al­ter­li­chen Rechte von Got­tes Gnaden über ihre Bauern gern wie­der ge­habt hät­ten; Karl Marx, der in sei­ner Schrift Deutsche Ideolo­gie das ein­heit­li­che, von der Spal­tung in eine ge­sellschaftliche und ei­ne staatli­che Sphäre "freie" bür­gerliche Sub­jekt for­der­te; [217]  und unse­re linkslibe­ralen Mo­ralvorbeter, die ihre Anma­ßung, Be­trof­fen­heit zu er­zeugen, aus ei­ner für den ver­ge­sellschafteten Staat einheit­li­chen Hu­ma­ni­täts­ideo­lo­gie ab­lei­ten, deren berufene Interpreten und Inquisi­to­ren sie selbst sind.

Die Staatsgewalt als Subsystem des Partei­enstaates

Nur im Lichte und im engeren Sinne der verfassungs­recht­lichen Vor­­ga­ben des Grundgesetzes betrachtet ist das derzeitige System ge­wal­ten­tei­lungslose Parla­ments­re­gie­rung: Der Bundestag ist das zen­tra­le Machtzen­trum: Er macht die we­sentlichen Gesetze, be­stimmt zu­sammen mit dem Bun­desrat die Ver­fas­sungsrichter, die über die Aus­le­gung seiner Gesetze wa­chen sol­len, und er bildet mit der Wahl eines von ihm je­derzeit abhängigen Kanz­lers eine Regierung, die wie ein Ausschuß funk­tioniert und sei­ner völligen Kon­trolle unterliegt. Im Zwei­felsfall hat der Bun­destag die Kompe­tenz-Kompe­tenz, al­so das Recht, die Ver­fassung zu än­dern und die Grenzen seiner verfas­sungs­mä­ßi­gen Macht selbst zu bestimmen. Der Bundestag ist Zentrum und Macht­träger des durch die Grundge­setzkonstruktion gebildeten und ver­fassungs­recht­lichen Normen gehorchenden Systems der par­la­men­ta­ri­schen De­mok­ratie.

Dieses ist indessen nur das Untersystem eines übergeordne­ten Gan­zen, der Herr­schaft der Parteiapparate: Wenn wir uns das System der staatlichen Verfas­sungsor­gane mit seinem In­ein­an­dergreifen ver­schiedener Gewalten als große Maschine vor­stellen, sind die Par­teien ihre Bediener. Einschließlich ihrer hierar­chischen Binnen­struk­tur sind die Parteien neben dem Staat ein eigenständiges, autonomes Subsy­stem. Sie beherrschen den Staat auf dem Wege über das Parla­ment. [218]  Sie regeln ihre inter­nen Regeln selbst, indem sie nämlich durch ihre im Bundestag sitzenden Vertreter das Parteiengesetz und in ihren Mit­gliederver­sammlungen ihr Satzungs­recht schaf­fen. Die staat­li­chen Amtsträger sind zu­gleich Partei­funk­tio­näre und ma­chen durch diese Perso­nal­union die Verbindung zwischen dem regierenden System der Parteien und dem ge­horchenden Sub­sy­ste­m Staat  sicht­bar.

Den Partei­enstaat dürfen wir da­her als Gesamtsy­stem begreifen, in des­­sen In­nen­le­ben mehrere aufeinander bezogene Subsysteme exi­stie­ren, von denen das eine domi­niert und das andere funktioniert: Die Par­tei­en sind die han­de­lnde Seele der Staatsma­schine; diese die Hand­puppe - jene der Puppen­spie­ler!

Das Gesamtphänomen Parteienstaat besitzt außerdem weitere Subsysteme, die ihm teils eingeordnet sind und ihn stützen, teils ihre Eigenständigkeit auf den Fort­bestand des liberalen Parteienstaats stüt­zen. Zu ihnen zählen die weitgehend auto­nome Wirt­schaft als öko­no­mi­scher Hauptnutznießer sowie die Medien. Die Wirt­schaft, die Staats­bürokratie, die Medienwelt und die politischen Parteien sind je­weils gesell­schaftliche Un­­tersysteme, die sich zueinander ver­hal­ten wie zwei sich schnei­den­de Krei­se mit wech­selnden Ab­hän­gig­kei­ten.

Ent­scheidender Faktor langfristiger Herrschaftssicherung ist die Me­­­dienland­schaft, ohne deren Kontrolle eine sta­bile Herr­schaft nur mög­lich war, so­lange die Politik noch dem Gesetz des Kartät­schen­prin­zen und nachmaligen Kaisers Wil­helm I. ge­horchte: "Gegen De­mo­kra­ten hel­fen nur Soldaten." Jeder Herrscher regelt die Regeln so, daß er wei­terhin herrscht. Die selbstgesetzten Regeln des Par­la­men­ta­ris­mus schließen Kartätschen als Mittel der Herrschaft grund­sätzlich aus und führen im Zeitalter der Massen­kommunikation da­hin, daß Le­­gi­timati­on und Wie­derwahl nur in einem per­ma­nen­ten Rück­kopp­lungs­prozeß mit einem als "öffentliche Mei­nung" ver­stan­denen Me­di­enwesen ge­währleistet sind. Das Subsystem des Par­tei­ensy­stems ist also in ein ge­sell­schaftliches Obersystem ein­gebettet, in dem mutmaß­lich die politi­sche Macht ge­winnt, wer sich den Wählern publi­kums­wirk­sam ver­kaufen kann. Die Abhängigkeit zwi­schen Parteien und Me­dien ist wechselseitig, weil Parteien sich ohne Me­dienkon­trolle nicht darstel­len können und daher medien­ab­hängig sind. Das liberale Medienwe­sen seiner­seits hängt von den ökonomi­schen und politi­schen Rahmenbedingungen des Parteienstaates ab.

Die verfassungsrechtliche Lage

"Das Zeitalter des demokratischen Absolutismus ist vollendet. Wird er nicht ab­ge­löst, so droht dem deutschen Volke die Zukunft der demokratischen Inquisi­tion." [219]  Als Edgar Julius Jung das 1930 zu Papier brachte, mein­te mit demokra­ti­schem Abso­lutismus, was hier deshalb als Parlamentsabsolutismus bezeichnet wird, um der heil­­losen Begriffsverwirrung um das Wort Demokratie zu ent­ge­hen. Die­ser ist die politi­sche Form des Nichtstaates, die Gestalt ge­wor­dene "ab­so­lute Ge­­sell­schaft". Diese unterminierte in nicht vor­ge­se­he­nem Umfange die Verfas­sungs­ord­nung der BRD, welche hier nur kor­rekt als frei­heitliche demokra­tische Grundord­nung be­zeich­net wird und staats­recht­lich eine par­la­men­ta­ri­schen Republik ist. Der Ver­gleich zwischen den Ansprüchen der Grund­gesetztheorie und der Ver­fas­sungs­wirk­lichkeit fällt für den Bon­ner Par­la­menta­ris­mus ver­­hee­­rend aus. Das als ausge­wo­gen kon­zi­pierte Konzept des Grund­­ge­set­zes ist von den Parteien als Groß­mäch­ten der ab­so­lu­ten Ge­sell­schaft in ei­nem Ausmaße ver­fremdet worden, welches die Ver­fas­­sungs­­­wirk­lich­keit ins­­ge­samt verfas­sungs­­widrig erscheinen läßt. Eine gan­­ze Reihe der Idee der Ver­fas­­sung nach unver­zicht­ba­rer Ver­fas­­sungs­­­prin­zi­pien ist durch ihre nicht vor­ge­sehene Übermacht wir­kungs­­los geworden.

Die FdGO wurde vom Bun­des­ver­fas­sungs­ge­­richt aus dem Grund­ge­setztext abge­leitet und in ih­ren Einzel­merkma­len rechts­ver­bindlich de­­finiert als eine "Ordnung, die unter Ausschluß jegli­cher Gewalt- und Will­kür­herr­schaft eine rechts­staatliche Herr­schaftsord­nung auf der Grund­lage der Selbst­bestimmung des Vol­kes nach dem Willen der jeweiligen Mehr­heit und der Freiheit und Gleichheit dar­stellt. Zu ih­ren Grund­prin­zipien sind minde­stens zu rechnen die Achtung vor den Men­schen­rechten, die Volks­souve­ränität, die Ge­wal­ten­teilung, die Ver­antwortlich­keit der Regierung, die Gesetz­mäßig­keit der Ver­wal­­tung, die Unab­hän­gigkeit der Gerichte, das Mehr­par­tei­en­prin­zip und die Chancen­gleich­heit der Par­teien mit dem Recht auf un­ge­hin­derte Ausübung der Op­posi­tion." [220]  Diese Grund­ord­nung funk­tio­niert in Kernbe­rei­chen nicht mehr. Warum es im par­lamen­ta­rischen Par­tei­en­s­taat kei­ne Ge­wal­ten­teilung im ei­gentlichen Sinn gibt, wurde oben schon dar­ge­stellt. Auch mit ande­ren Wesens­merk­malen dieser Ord­­nung sieht es heute schlecht aus:

Das Demokratieprinzip

Aus Art.20 I GG leitet das BVerfG das Demokratieprinzip her: Der politi­sche Wil­lensbil­dungs­prozeß muß sich vom Volk hin zu den Staatsorga­nen vollzie­hen und nicht umge­kehrt. Den Staats­or­ga­nen ist grundsätzlich je­de Ein­fluß­nahme auf den Prozeß des Volks­willens ver­wehrt. [221]  Die Großpar­teien miß­brauchen da­ge­gen ständig die staat­li­chen Finanzen und Res­sourcen, be­ein­flus­sen dadurch den Volks­willen von oben nach unten und verstoßen damit ge­gen das Demokra­tieprin­zip. Diesen Mißbrauch er­mög­li­chen sie sich "legal" durch auf ihre Be­dürfnisse zurecht­ge­schnei­der­te Gesetze wie die Rundfunk­ge­setze und das Partei­engesetz.

Staatliche Parteienfinanzierung hatte das Bundesverfassungsge­richt bis zum Er­laß des Urteils vom 9.4.1992 [222]  für unzulässig er­klärt, weil sie den Par­tei­en mit Staats­mit­teln die Macht zur Be­ein­flus­sung des Volkswil­lens gibt. Nur als Aus­nah­me hatte es eine reine Wahl­kampfkostenerstattung aus Steuer­gel­dern er­laubt, denn im Wahl­kampf um die Staatsorgane näh­men die Par­tei­en eine staatli­che Auf­gabe wahr. [223]  Die Erstat­tung von Ko­sten ab­surd aufwendiger Wahl­­kämp­fe [224]  im Waschmittelrekla­me-Stil hat aber mit den not­wen­di­gen Ko­sten ei­nes angemes­senen Wahlkampfs nichts mehr zu tun. Tat­säch­lich be­steht seit Jahren faktisch der durch das Urteil des BVerfG vom 9.4.1992 sanktio­nierte Zustand der überwiegenden staat­­lichen Dauer­fi­nan­zierung pro­fessionel­ler Partei­apparate durch den Staat. [225]  Diese ermög­licht den Staatsparteien im Zeitalter der Me­dien- und Stim­mungs­de­mokratie eine umfassende und be­ständige Meinungs­kontrolle und -lenkung der Wahl­bevöl­ke­rung. Die Partei­en sind Dauerkun­den bei demoskopischen In­stituten, pro­fessio­nellen Wer­bebüros und Hoch­glanz-Druc­ke­reien.

Inzwischen hat das Bundesverfassungsgericht sogar die direkte Fi­nan­zie­rung der Parteien auf Staatskosten für zulässig erklärt. [226]  Der Bun­destag hatte dar­aufhin nichts Ei­ligeres zu tun, als sich 1993 ein re­noviertes Par­tei­en­gesetz zuzu­legen. "Erst mal ein­sacken" beti­tel­te der SPIEGEL süffisant den jüngsten Coup der Bonner Partei­schatz­mei­ster. Von selbst hatten die Bun­destags­parteien noch nie be­son­dere Eile an den Tag ge­legt, den Um­fang ihrer Finanzierung aus Steu­er­ge­l­dern ge­setzlich zu begrenzen. Erst eine Fol­ge von Ver­fas­sungs­ge­richtsurtei­len [227]  hatte erzwun­gen, daß die von den Abge­ord­ne­ten zu­gun­sten ihrer Par­tei­en in den Haus­halt auf­ge­nom­menen Haus­halts­mit­tel über­haupt ge­setzlich ge­re­gelt werden mußten. Seit­dem han­delten die Par­tei­en nach der De­vise: "Wir neh­men, was wir krie­gen!" So gibt auch die amt­li­che Be­grün­dung der Geset­zes­vor­la­ge vom 28.9.93 treuherzig zu, die vom BVerfG nunmehr ge­setzte "absolute Ober­gren­ze" der "vor­gesehenen staatli­chen Zu­schüsse" werde "aus­ge­schöpft". Man läßt nichts an­bren­nen in Bonn.

Der gesetzgeberische Spielraum des Par­la­ments hatte sich indes­sen auf das Su­chen von Schlupflöchern beschränkt: Ei­nen Groß­teil der Neuregelun­gen mußte die Ge­set­zes­vorlage wörtlich oder der Sa­che nach vom Verfas­sungs­ge­richtsur­teil vom 9. April 1992 ab­schrei­ben. Das Ri­si­ko, von dem vom Gericht Vorge­schrie­be­nen ab­zuwei­chen und wie­der aufgehoben zu werden, er­schien den Parteien zu groß. Im­mer­hin sieht das Grund­ge­setz über­haupt keine Staatsfi­nan­zie­rung von Par­tei­en vor und gibt da­her kei­ne Vor­ga­ben. So fühlten sich die Karls­ru­her Richter be­mü­ßigt, das Schweigen der Ver­fassung als Re­ge­lungs­lücke aufzufas­sen und sich wieder einmal als "rich­ter­li­che Er­satz­ge­setz­ge­ber" in Sa­chen ihrer Ent­sen­departei­en auf­zu­spie­len.

Für die Frak­tio­nen und Partei­stif­tun­gen rieseln die Duka­ten jetzt nicht nur mun­ter wei­ter aus dem Steuersack - der Pe­gel steigt! Noch sind die Par­teien durch nichts ge­hin­dert, weitere Mil­lio­nen­be­trä­ge oh­ne förm­liches Ge­setz ein­zu­­streichen und die vom BVerfG gesetzte "ab­so­lu­te Ober­gren­ze" zu umgehen. Sie ver­stec­ken nämlich Per­so­nal­ko­sten wie die Gehälter von Ab­ge­ord­ne­ten­mitarbei­tern pau­schal in Haus­halts­plä­nen und -ge­set­zen. [228]  Da sie sich in ei­gener Sa­che meist einig sind und der Ver­wen­dungs­zweck in Haus­halts­titeln für Außen­ste­hen­de nicht leicht er­kennbar ist, ge­schieht das diskret und oh­ne öf­fent­liches Auf­­sehen - schließ­lich ist ein Mitarbei­ter kein Dienst­wagen.

Während die direkten Fraktionszuschüsse der Bonner Parlamenta­ri­er mit 98,917 Mio.DM für 1994 unverändert blieben und bei der Par­tei­enfinanzie­rung formell nicht mit­zählen - oder sind Frak­tio­nen etwa Par­tei­en? - dürfen auch die einzelnen Ab­ge­ord­ne­ten künf­tig le­gal Wer­be­broschüren auf Ko­sten der Staats­kas­se her­aus­geben. Gleich­zeitig mit der Neu­regelung des Parteien­gesetzes und dem for­malen Ein­frieren ih­rer Staats­fi­nan­zie­­rung än­der­ten die Parteien näm­lich das Frak­ti­onsge­setz. Wie beim Pe­gel­stand eines Sy­stems kom­muni­zierender Röhren legen sie hier zu, was sie sich dort an Zu­wäch­sen ver­kneifen müssen.

Wo offen von Parteien gedruckte Wahlreklame nicht mehr ver­fängt, tar­nen die Par­tei­en, wenn sie gerade an der Regie­rung sind, ih­re Wer­bung gern als "staatliche Öf­fent­lich­keitsar­beit." Wir fin­den die Reklame für ihre Positio­nen dann unter "Der Mi­nister für xyz infor­miert" oder ähn­lich neutral klin­genden Namen im Brief­ka­sten. Die in solcher quasi amtli­cher Form ver­steckte Parteiar­beit besitzt einen scheinba­ren Bo­nus an Objek­tivität und Glaubwürdigkeit. [229]  Dies hatte bis zum Urteil vom 9.4.1992 auch das Bun­desverfassungsge­richt als propa­gandi­sti­sches Mittel der jeweiligen Re­gierung zur Macht­er­hal­tung durch­schaut. Es wollte ver­hindern, daß Parteipropa­gan­da im Re­gie­rungs­ge­wand die Me­chanismen demokrati­scher Wil­lensbil­dung außer Kraft setzt und ei­nen Machtwechsel verhin­dert: "Die Öffent­lich­keitsar­beit darf nicht durch Einsatz öffent­li­cher Mittel den Mehr­heitsparteien zu Hilfe kom­men oder die Op­po­si­ti­ons­parteien be­kämp­fen. Dies wäre mit den Grund­sätzen eines freien und offe­nen Pro­zesse der Mei­nungs- und Wil­lens­bildung des Volkes und der Gleich­be­rech­­tigung der politischen Par­tei­en nicht vereinbar." [230]  Tat­sächlich ist die Staats­finanzierung heute der Hauptfaktor ihres Macht­erhalts. Da die 5%-Klau­sel ihren Dienst nur noch unge­nügend leistet, soll die kraß un­gleiche Aus­stat­tung mit Fi­nanzmitteln das er­wünschte Ergebnis bringen. [231]

Spätestens hier muß der Medienbereich ins Blickfeld rücken. Er bil­det als In­stru­ment der Herrschaftstechnik einen Eck­pfeiler der Par­tei­­en­macht. Schon quantitativ stellt er alle Möglichkeiten weit in den Schat­­ten, durch gedruckte Wurf­sendungen Parteire­klame zu ma­chen. Ei­nen "gewaltigen He­bel zur Erobe­rung, Wahrung und Kräfti­gung der Herrschaft über die Mas­sen" nannte Mi­chels bereits 1911 die Pres­se, [232]  als das noch suggesti­vere Fernsehen und die Kunst ideo­lo­gi­scher Agitation noch nicht einmal er­fun­den waren. "Die Ver­fas­sung und der Gesetzgeber haben" die Medi­en "im In­ter­es­se der Durch­schaubarkeit staatli­cher Macht­aus­übung mit nahezu un­be­grenz­ten Rechten ausgestattet." [233]  Nach Un­tersuchun­gen leiten 30% der Wahl­be­rech­tigten ihre po­liti­sche Mei­nung di­rekt aus dem Fernsehen ab. "Eine kon­tinu­ierliche Be­einflussung der politi­schen Mei­nungs­bil­dung über Jahre hinweg kann die Wahlchancen der Re­gie­rungs­mehr­heit ge­genüber den Oppositi­onsparteien durchaus merk­lich ver­bes­sern" [234]  Das über­läßt die "politische Klasse" nicht dem Zu­fall, son­dern "ver­sucht ih­rerseits in schon fast totalitärer Absicht, mit allen Tech­ni­ken der Massenkommunika­tion in alle Bereiche des ge­­­sell­schaftlichen und privaten Lebens einzudringen, um sich in um­fas­sen­der Weise un­se­rer Einstellungen und Gefühle zu be­mächtigen." [235]

Vor der Frage: 'Wer regiert?' liegt nämlich die Frage: 'Wer be­stimmt, wer re­giert?', "und das macht, daß die allerwich­tigste Frage lau­ten muß: 'Wer be­herrscht den, der be­stimmt, wer regiert?' Mit an­de­ren Worten: Wer be­herrscht den Volkssou­verän, der ein 'Klima' er­schafft oder erleidet, das sich in Wil­lens­bildung umsetzt, die vage Vor­­stel­lun­gen, Ge­fühle, Stimmungen zu Hand­lungen und Haltungen wer­­den läßt? Wer beherrscht den Herrscher 'Volk' - und wie wird sol­che Herrschaft be­werkstelligt?" [236]  Das weiß das Bon­­ner Establish­ment und befaßt sich nicht mehr hauptsäch­lich mit Sach­pro­blemen des Vol­kes, son­dern vor allem mit "Public Relati­ons": Sein Anse­hens­verlust ist ihm allen­falls ein Kom­mu­ni­ka­tionsproblem, und darum sind ihm die Medien so wich­tig wie ei­nem anti­ken Des­po­ten seine Pa­last­wache. Überall steht die Medio­kratie unter Kon­trolle links­li­be­ra­ler Seilschaften. [237]

Bis zu 50% der ARD- und ZDF-Mitarbeiter sind par­tei­ge­bun­den [238] . Sie wer­den fest an die Kandare genommen: "Als der Bonner Stu­­­dio­leiter des ZDF, Wolf­gang Herles, vor dem Bremer Par­tei­tag der CDU Helmut Kohl kriti­sierte, wurde ihm vom 'Freun­des­kreis der Uni­on' beim ZDF 'Undankbarkeit' (sic!) angekreidet. Herles, der sich selbst als 'strikten Gegner jeder Hofbericht­erstat­tung' be­zeich­net, muß­te auf Druck Kohls am 1.11.1991 seinen Sessel als Stu­dio­leiter räu­­­men." [239]  Ähn­­liche Fälle sind aus dem Be­reich der "unab­hän­gi­gen" über­­­regiona­len Presse bekannt­geworden, wo z.B. ein Anruf des Bun­des­­kanzlers bei ei­nem Zei­tungs­her­aus­ge­ber genügt haben soll, ei­nem kri­­­tischen Re­dak­teur [240]  einen schon zu­gesagten Auf­stieg zu ver­bau­en.

Direkte Zensur durch die Parteien hat der Parteienstaat ebenso­we­nig nö­tig, wie die SED ihrem bewährten Karl-Eduard von Schnitzler nicht ins Hand­werk pfuschen mußte. Durch strenge Per­so­nalauswahl und Parteipro­porz wird überall da­für ge­sorgt, daß "dank­ba­re" Partei­aktivisten in vorder­ster Linie für die Be­lange ihrer Par­tei eintre­ten. Zensur braucht man dann nicht mehr. So wird die "demokratische Willensbildung von unten nach oben" tag­täglich zur Farce, wenn hoch­bezahlte und daher "dankbare" Mode­ratoren die Nach­rich­ten­aus­wahl tref­fen, kunst­voll Betroffen­heiten ze­lebrieren und Agitation und Pro­pa­gan­da auf so versteckt-suggestivem Ni­veau treiben, daß selbst ein Goebbels fach­­liche An­er­kennung hätte zollen müssen. Vom Inten­dan­ten bis zum Redak­teur hat der Par­tei­enstaat die Medien im Griff, deren Angehörige in vor­ausei­lendem Gehorsam die Parteien und ihr System be­lob­hu­deln: Die Stimme sei­nes Herrn! Häufig schreckt das Fernsehen noch nicht einmal vor plumper und direk­ter Meinungs­ma­che wie in George Or­wells "1984" durch den Großen Bru­der zurück wie 1992 bei der staatlichen Pro-Aus­län­der-Kampa­gne. Staatliche Wurf­sen­dun­gen mit volkspädago­gisch Erwünschtem ver­voll­­ständi­gen das Bild lüc­ken­loser ideologi­scher Er­fassung aller Haushalte. "Den Staatsparteien des Parteienstaates ist daran gelegen, in uns das ihrem Interesse gemäß 'richtige' Gesell­schaftsbild zu ver­ankern, und sie ha­ben die Mittel dazu." [241]

Im Endeffekt befindet sich die Mehrheit der Bürger, von de­nen nach de­mo­­krati­scher Lehre doch die politische Willens­bildung aus­ge­hen soll­te, fest in Hän­den staat­lich fi­nan­zierter, profes­sio­nel­ler Partei­appa­rate und ist "um­ge­ben von Journali­sten im öf­fent­lich-rechtlichen Rund­funksy­stem." [242]  Sie üben ei­ne so um­fas­sen­de In­formations­aus­wahl und Meinungssteue­rung aus, daß sie jede abwei­chende inhalt­li­che Position marginalisie­ren und jede auch nur per­­so­nelle Kon­kur­renz ins Abseits drängen können, das heißt in die Schmuddelecke für "Radikale". Be­deutet schon die selektive Aus­wahl der Tatsachen und Meldun­gen nach Maß­stab der volkspäd­agogi­sch jeweils Er­wünsch­ten eine Steuerung, so nicht minder ihre Zu­bereitung, Darbie­tung nach Form, Aus­drucks­wei­se, Sprach­re­ge­lung [243]  im Auslassen, An­mer­­ken und Akzentuieren. So beru­hen gleichschal­tende Sprachregelungen in fast allen Medien nicht auf Zufall, die offen na­tional­sozialistische Kleinst­grüppchen etwa mit "rechts­ge­rich­tet" apo­stro­phie­ren, de­mo­kra­tische Rechts­parteien aber mit "rechts­ex­tre­mi­stisch". Peter Kroll be­richtet von einem "alt­ge­dien­ten Korrespondenten, der noch wäh­rend des Dritten Rei­ches für damalige bür­ger­­liche Zeitungen im Aus­land tätig war", und dazu bitter mein­te: So wie es da­mals ei­ne 'Sprach­regelung' des Pro­pa­gan­daministeriums gegeben habe, existiere heute ei­ne selt­same Sprach­re­gelung in den elektronischen Me­dien, dem Spiegel, dem Stern" usw. [244]  Die tägliche Desinfor­mation wird zum Är­ger­nis. [245]  Man kann heute das geistige, po­li­ti­sche reli­giöse und mora­li­sche Klima eines Landes vom grü­nen Tisch aus planen und da­­nach fa­brizie­ren. [246]  

"Staatliche" Öffentlichkeitsarbeit regierender Parteien be­ein­träch­tigt lang­fri­stig die Chan­cen­­gleichheit der Parteien und damit die frei­heit­­li­che de­mo­kratische Grund­ord­nung. [247]  Durch den Miß­brauch die­ser Herr­schafts­tech­niken ist heute ein Zu­stand er­reicht, der dem De­mo­­kra­tie­prin­zip im Sinne des BVerfG di­rekt zuwi­derläuft und die Le­gi­­ti­mität des Sy­stems im Kern trifft. Einst durfte man in Deutschland nicht wagen, frei zu denken. Heu­te darf man es. Ge­samt­schul­ge­schä­digt und selektiv in­for­miert kann der moderne Deutsche es aber nicht mehr. Er vermag nur noch das zu denken, was er nach Ansicht un­se­rer Medienzaren und volks­pä­dagogischen Erzieher wollen soll, und eben das hält er nach ei­nem Wort Oswald Spenglers für seine Frei­heit.

Parteiendemokratie oder Parteienstaatlichkeit?

In diesen Zusammenhang gehört die Dialektik von Parteiende­mo­kra­tie als Soll- und Partei­enstaat­lichkeit als Istzu­stand. Die von staat­li­cher Dauer­fi­nan­zie­rung ab­hän­gig ge­wordenen Parteien ha­ben den Staat von innen durch­drun­gen und usurpiert, um diese Ab­hängigkeit umzu­kehren. Bildlich gespro­chen grün­den sie mit ih­ren Wurzeln in der Ge­sell­schaft, üben aber mit ihren Wipfeln schon die Funktion von Verfas­sungsor­ga­nen aus. [248]  Durch hohe Äm­ter­kom­bi­nation zwi­schen Partei- und Parlamentsamt und Re­gie­rungs- und Ver­wal­­tungs­amt [249]  ha­ben sie gewis­sermaßen ne­ben das innere Ge­rüst staatli­cher Struk­tu­ren wie ei­ne Schling­pflan­ze ein perso­nell identisches zwei­tes Gerüst gesetzt und sich auf diese Weise di­rek­ten Zugriff auf alle staat­lichen Funktio­nen ge­si­chert. So sind staatliche Amtsträger zu­gleich Partei­funk­tio­näre und haben damit zwei Seelen, zwei wi­der­streitende Loya­li­täten in ihrer Brust. Solange die Partei re­giert, die sie auf den Po­sten pro­te­giert hat, dienen sie da­zu, "möglichst viel aus ih­rem Pro­gramm in der Verwal­tung durch­zuset­zen." [250]  Sie fungie­ren als direk­tes Instru­ment der Ein­flußnah­me von Par­tei­in­teres­sen auf den Staat, in des­sen Na­men sie doch das Ge­mein­wohl för­dern sollten, nach dem alten Spruch, recht und billig sei zu­vör­derst das, was mir und mei­nen Vet­tern nützt.

Wechselt die Regierung, bleiben sie gleichwohl als unkünd­bare Alt­lasten in der Re­gie­rungs- oder Verwaltungsbürokra­tie pla­ziert, nun­mehr als Hemm­schuhe gegen den ebenso gie­rigen Zugriff der neuen Regierungspartei. Was diese an Zielvorstel­lungen durch­set­zen will, su­chen die Rückstände der abge­wählten Partei nach Kräf­ten zu durch­kreuzen. Bei höheren Beamten wie Ge­ne­ral­staats­anwälten pfle­gen nach ei­nem Regie­rungswechsel da­her als­bald Ent­las­sung und Ein­set­zung ei­nes anderen, par­teifrommen Be­hördenleiters zu fol­gen, womit augen­fällig wird, daß der nomi­nelle Anwalt des Staats in Wahrheit als An­walt der Re­gie­rungs­par­tei miß­braucht wird.

Ebenso hat das Parlament seine Bestimmung völlig eingebüßt, das Volk zu re­prä­sen­tie­ren. Es ist zu einer Stätte gewor­den, an der sich Parteibeauf­tragte treffen und Ent­schei­dun­gen regi­strieren, die Partei­gremien längst ge­troffen ha­ben. [251]  Die ge­setzli­che Fiktion des Art.38 GG, nach dem der Ab­geordnete nur seinem Gewissen ver­ant­wort­lich sein soll, ist ein nicht einge­löstes Dogma [252]  und prak­tisch ins Ge­gen­teil ver­kehrt. Keineswegs wirft etwa der Parteipolitiker im Moment seiner Wahl sein Wolfs­fell ab und mutiert plötzlich zu einem fried­li­chen Schaf, das die Parla­ments­wiese ab­grast, auf der Suche nach der blau­en Blume des Gemeinwohls. [253]  Die tat­sächlichen Par­teien ent­sen­den die real exi­stieren­den Abgeordneten über Listen als ih­re Ver­treter in die Parla­mente, nicht als Abgeord­nete des Volkes, und dem­ent­spre­chend verlan­gen sie von ihnen Gehorsam in Form des üb­li­chen Frakti­ons­zwangs. Wer aus­schert, ris­kiert seine Wiederauf­stel­lung und damit seine Exi­stenz als par­teiab­hängiger Be­rufs­politiker. Die in Art.38 GG statuierte Fiktion von der Unab­hän­gig­keit der Ab­ge­ord­ne­ten hatte einmal Edmund Burke in einer Rede ver­tei­digt. Es straf­te aber schon da­mals das tatsächliche Verhalten der mei­sten ge­wähl­ten Volks­vertreter den "hohen Idealis­mus Edmund Bur­kes Lü­gen. Selbst man­cher Zeitge­nosse Burkes, der seine Rede hör­te, muß in­nerlich ge­lacht haben, wenn er an die völlige Un­terwürfigkeit der mei­sten Par­la­­mentsmitglieder gegenüber den großen aristokra­ti­schen Grund­be­sit­zern dachte, die nicht einmal Weisungen auszugeben brauch­ten, so eif­rig waren 'ihre' Abgeordneten beflissen." [254]  

Das Ver­hält­nis­­wahlrecht mit seinem starren, nach Meinung Hans Herbert von Ar­nims verfas­sungs­wid­rigen [255]  Listensy­stem ist das Hauptin­strument der Par­teien, ihre Abgeordneten in Ab­hän­gig­keit zu halten. So konnte Schmitt schon 1932 spot­ten, die Ab­geord­neten würden in fester Organisation und Disziplin mar­schieren, zum Teil so­gar schon uniformiert. [256]  Heute ist die textile Uni­for­mie­rung ver­pönt, die geistige Uni­formität dagegen blieb.

Die Eroberung des Staats durch die Parteien als gesell­schaftli­che Kampf­­ver­bände führte zur totalen Machtergrei­fung des Par­tei­en­sy­stems und machte den Staat selbst weit­gehend hand­lungs­un­fähig. [257]  Be­sonders augen­fällig wird sie wie eine Machter­grei­fung auf einem feind­­lichen Haupt­quar­tier, wenn man etwa beim Nieder­säch­si­schen Um­­­welt­­ministe­rium an­fragt, ob dieses eine Initiative für Um­welt­schutz in der Lan­des­verfas­sung plane: Man erhält als Ant­wort den Ent­­wurf der SPD-Land­tags­fraktion über­sandt. So ist die Eigen­i­den­ti­fi­­kation der Parteien mit dem Staat zur unre­flek­tierten Selbst­­ver­ständ­­­lich­keit ge­worden. [258]  Par­tei und Staat be­gin­nen sich zu dec­ken. [259]

Wo die ihrer Natur nach parteiischen Parteien aber den Staat er­obert und sei­ner Neu­trali­tät beraubt und damit Ge­sellschaft und Staat heillos mit­einander verwoben ha­ben, steht der Bürger statt ei­nem ge­rechten, weil äqui­distanten Staat stets einer Partei­obrig­keit ge­gen­über. Die Par­tei­po­litisierung der Staats­verwal­tung läßt ihm im­mer ge­rin­gere Mög­lichkeiten einer priva­ten, unpoliti­schen Exi­stenz, die Mäßigung der Ein­fluß­nahme des Staats aufgrund sei­ner Neu­tralität entfällt und mit ihr eine wesentliche Vor­ausset­zung bür­ger­licher Frei­heit. [260]  Freiheit vom Staate gibt es im Par­tei­en­staat nur für die­je­ni­gen, die sich selbst des Staates bemächtigt und ihren Zwecken dienst­bar gemacht haben. So führen die Durch­drin­gung und das Zu­rück­drän­gen staatli­cher und damit unpartei­ischer, gesellschaftlich neu­tra­ler Macht durch Partei- und Verbän­de­struk­turen tenden­ziell zur Auf­lö­sung des Staa­tes, ja zum to­ta­li­tä­ren Partei­enstaat. [261]  "Die Bonner Re­­pu­blik, im­mer auf der Jagd nach totalitären Phä­no­me­nen, ist in ih­rer letz­ten Pha­se selbst to­talitär geworden." [262]  

"Die andere Sei­te aber, die an und für sich staatsfreudig ein­ge­stellt ist, wird we­gen ihrer Abneigung gegen die heutige Par­tei­en­de­mo­kra­tie ver­folgt. Die we­nigen Bejaher von Staat und Republik ge­raten so ins Hin­ter­tref­fen und bilden eine miß­achtete Min­der­heit. Wer aber den heu­ti­gen Zustand von Ge­sell­schaft und Staat nicht als der Weis­heit letz­ten Schluß ansieht, wird von den ... Macht­habern erbittert be­kämpft. Nach links Libertinage, nach rechts die Peitsche: das ist die 'Au­torität' der modernen deut­schen De­mokratie. Der zu Unrecht ge­schmäh­te Metternich ... wür­de vor Neid erblas­sen, beobachtete er die verfeiner­ten Methoden, mit de­nen der Libe­ralismus in seine Spu­ren tritt." [263]  

Einen skurrilen Höhepunkt erreicht die Tendenz zum totalen Par­tei­enst­aat, wenn seine Staats­parteien mit dem Ruf "Der Staat sind wir!" jedes Kon­kur­rie­ren mit ihrem Herr­schafts­anspruch als "staats­feind­lich" zu stigmatisie­ren su­chen. Nur eine unaus­ge­spro­che­ne Selbst­­einschät­zung als Staatspar­teien er­möglicht es, jeden An­griff ei­ner Kon­kurrenz­partei auf ihr Machtmonopol juri­stisch wie pro­pa­gandistisch als Angriff auf Staat und Verfas­sung umzu­deu­ten. So pflegten par­teiangehörige "Verfassungsschützer" in je­nen verwal­tungs­ge­richtlichen Verfah­ren ei­ner Partei im Jahre 1993 ge­gen ihre nach­­rich­ten­dienst­liche Beobach­tung re­gel­mä­ßig der Opposi­tion als Beweis für ihre angeb­liche Ver­fas­sungs­feind­lichkeit an­zukreiden, daß diese "die demokrati­schen Par­tei­en" politisch hart attackiere; woraus ge­schlossen werden müsse, daß die Partei den demokratischen Ver­fassungsstaat be­kämp­fe.

Schon Proudhon hatte beobachtet, daß die Volksvertreter, sobald sie in den Be­sitz der Macht ge­langt sind, sofort ih­re Macht stärken, aus­bauen und ih­re Stellung unauf­hör­lich mit neuen Schutz­maß­re­geln zu umgeben suchen, um sich end­lich von der po­pulä­ren Bot­mä­ßig­keit gänz­lich zu befreien. [264]  Theo­phrast bemerk­te, der größ­te Ehr­geiz der die höchsten Stellen im Volks­staate ein­neh­men­den Männer bestehe nicht so sehr in der Sucht nach Ge­winn und Berei­cherung, als viel­mehr darin, auf Kosten der Sou­ve­ränität des Vol­kes all­mäh­lich eine eigene zu gründen. [265]  Jede einmal in den Besitz der Macht ge­lang­te Gruppe neigt dazu, diese festhalten zu wollen. Im Zeitalter der De­mo­kratie spre­chen und kämpfen alle Fak­toren des öf­fentlichen Le­bens im Na­men der Gesamt­heit. Alle Grup­pen, welche die Macht fest­zu­halten su­chen, be­rufen sich zu ih­rer Eigen­legi­timation auf deren an­gebliches Wohl. [266]  Je­de Par­tei sucht sich des Staates zu be­mächti­gen und sich für das Allge­mei­ne aus­zuge­ben. [267]  Vor allem, wenn sie als Abgeordnete in einer demokratischen Legislative sitzen, bilden sie sich manch­mal ein, sie selbst seien das Volk. [268]  Be­griff­lich bedeutet diese Iden­tifi­zierung von Re­gie­rung und Partei den rei­nen, nach dem BVerfG [269]  verfassungs­wid­rigen Par­teienstaat.

Im Gesetzgebungsstaat kanalisiert die Verfassung den Zugang zur Macht: Sie fällt dem­jeni­gen zu, der sie gemacht hat und die Mittel be­sitzt, verbindlich zu defi­nieren, wie sie zu verste­hen, und vor al­lem: wer ihre Fein­de sind. [270]  So ha­ben die Par­teien mit dem Grund­ge­setz, flankierenden Partei­en- und Wahlge­setzen sowie der Judikatur des po­liti­schen: des Bundesverfas­sungsgerichts, eine ih­nen auf den Leib ge­schneiderte Herr­schaftsordnung er­rich­tet. Herr­schaft des Rechts, ihres Rechts, bedeutet aber nichts ande­res als die Legitimie­rung ei­nes jewei­ligen Status quo, an dem diejeni­gen Parteien und Personen ein In­ter­esse ha­ben, welche die Rechts­nor­men gesetzt haben und deren Macht­stel­lung sich in ihnen stabi­li­siert. [271]  

Alles Recht ist politisches Recht. "Seien Sie nicht unpolitisch," er­teil­te "aus eige­ner Erfahrung" ein Richter am BGH "einen freund­lich-wohl­wollenden Rat­schlag", son­dern passen Sie sich dem Zeit­geist, das heißt dem Geist der Herren unserer Zeit, an; ... Nehmen Sie sich ein Beispiel an ...erg.: Roman Herzog . Er hat nicht nur ein fei­nes Emp­finden, woher der politische Wind weht, sondern weiß auch, wer ihn macht. Der Gleichheitssatz gebietet keine Gleich­be­hand­lung al­ler gesellschaftlichen Gruppen. Eine geläuterte Rechts­auf­fassung er­kennt klare Unterschiede, aus denen sachliche Dif­fe­ren­zie­rungs­grün­de für eine Ungleichbe­handlung herzuleiten sind. Ist es etwa kein re­le­vanter Differenzierungsgrund, wenn man das Wäh­lerpotential im Au­ge hat? ... Im übrigen: Sie rücken in die Nähe eines Ver­fas­sungs­fein­des, wenn Sie Zweifel an den Dif­fe­ren­zie­rungen unserer obersten Rechts­verwal­ter vom Schloßplatz bei der Anwen­dung des Gleich­heits­satzes äu­ßern. Alle Bürger sind gleich, aber einige sind gleicher als die ande­ren. Wissen Sie nicht, daß Not kein Gebot kennt und wo ge­hobelt wird, Späne fallen?" [272]

So gibt das Bundes­ver­fassungsgericht dem weltan­schau­lich Wün­schens­wer­ten Flankendeckung, falls einmal ein Gesetz so un­ge­nau for­muliert oder lücken­haft sein soll­te, daß die In­stanz­ge­rich­te zu un­er­wünschten Urteilen ge­lan­gen: Die "richterlichen Er­satz­ge­setz­ge­ber" [273]  in Karls­ruhe lesen not­falls auch ins Grund­ge­setz hinein, was dort gar nicht steht: Die Legiti­mationsbasis des BVerfG dürfte zwar al­lein das po­­si­tive Verfas­sungs­recht sein. Gleichwohl miß­brau­chen sie das "Grund­gesetz als 'verfassungs­rechtliche Wun­dertüte', der sich das 'Gu­te, Wahre und Schö­ne' - je nach Bedarf - ent­neh­men läßt. Jen­seits des­sen, was sich als 'immer schon im GG ent­hal­ten' auf­wei­sen läßt, be­treibt das Ge­richt Politik. Dafür hat es weder Man­dat noch Le­gi­ti­ma­ti­on. Zu­ge­ge­ben: Be­züglich seiner Macht ist das BVerfG fak­tisch sou­ve­rän. Aber diese Souve­ränität ist gebunden an eine Nor­mal­­lage; fürch­ten muß das Ge­richt den Aus­nahmefall: Die zu­neh­mende Ver­la­ge­rung po­liti­scher Macht nach Karlsruhe kann sich näm­­lich auf Dauer zu ei­ner Ak­­zep­tanz- und Ver­fas­sungs­kri­se aus­wachsen [...]. Und dann wer­den die Oli­garchen von Karls­ru­he in schlich­ten, ge­mein­ver­ständ­li­chen Wor­ten er­klären müs­sen, mit welchem Recht sie der Ver­fas­sung In­halte entloc­ken, die vor­her dort nicht zu fin­den wa­ren. Wehe dem Ge­richt, es kann die Ele­mentar­frage nicht plau­si­bel be­ant­wor­ten." [274]

Seine Antwort könnte nur eine politische sein und enthüllen, worum es eigentlich bei der Institution Bundesverfassungsgericht geht: Der verbale For­melkompromiß gehört zum Wesen par­la­men­ta­ri­scher Gesetzgebungstätigkeit. Wo politische Einmü­tigkeit nicht er­zeugt und für eine klare Lösung keine Me­hrheit gefunden werden kann, schiebt man gern die sachliche Entscheidung durch eine unklare For­mulierung hinaus und läßt so die politische Entscheidung offen. Hier ist es Aufgabe der in das "Verfassungsgericht" entsandten Par­tei­envertreter, in justizförmigem Gewand die ei­gentliche politische Ent­­scheidung zu treffen. "Hier Rechtsfragen von politischen Fra­gen zu trennen und anzuneh­men, eine staatsrechtliche Angelegenheit lasse sich ent­politisieren, ... ist eine trübe Fiktion." [275]  

Die umfassende Definitionsmacht der Bonner Parteien und ihrer im Ver­fas­sungs­ge­richt sitzenden Angehörigen über die Ver­fas­sungs­normen birgt für Au­ßenseiter die Ge­fahr, von Rechts wegen po­li­tisch entrechtet werden zu kön­nen: Nach Art.18 GG "ver­wirkt" die­ Grund­­rechte, wer sie zum Kampf ge­gen die frei­heit­li­che demo­krati­sche Grund­ord­nung (FdGO) "mißbraucht". Dem­ent­spre­chend kön­nen Vereini­gun­gen, die sich gegen die ver­fas­sungs­mä­ßige Ordnung rich­ten, nach Art.9, und Partei­en, die nach ih­ren tatsächli­chen Zielen oder auch nur nach dem Verhalten ihrer An­hänger (!) darauf ausge­hen, die FdGO zu beein­trächtigen (!), nach Art.21 verboten werden. Wäh­rend diese Sanktio­nen ge­gen­über Einzel­personen und Par­teien nur durch das BVerfG aus­ge­spro­chen werden können, genügt für ein Verbot anderer Ver­eini­gun­gen ein Verwal­tungs­akt, gegen den immer­hin noch ge­richt­li­cher Schutz angerufen werden kann.

Verfassungsschutz oder Parteienschutz?

Hauptinstrument des Parteienkartells ist aber der Verfas­sungs­schutz. Als Schild und Schwert des Parteienstaates fällt ihm die Auf­gabe zu, schon im Vor­feld von Par­teigrün­dun­gen filternd zu wirken und vorsichtige Naturen wie Be­am­te fernzuhal­ten ("Sie wissen doch, als Beamter kann ich mir das nicht er­lau­ben..."). Allein die Mög­lich­keit der nach­richten­dienstlichen Bespit­zelung er­zeugt ein Klima der Ein­schüch­te­rung. In­dem man den Bereich der ver­däch­ti­gen, "ver­fas­sungs­feind­li­chen" Äußerungen lange be­wußt un­scharf ließ, wußte niemand so recht, ob er noch die erlaubte Ge­sin­nung hatte oder als "Radikaler" zum Beispiel nicht zum Staats­dienst zugelassen wurde. Erst das Bun­des­ver­fas­sungs­schutz­ge­set­zes vom 20.12.1990 schuf ein Min­destmaß an Rechts­si­cher­heit. Objekt der Be­ob­ach­tung waren da­bei im­mer nur die "an­de­ren": Ob­wohl die Bun­des­­tags­par­teien seit Jahren am lau­fen­den Band Ge­setze pro­duzieren, die das Bun­desver­fas­sungs­ge­richt we­gen ihrer Unver­ein­bar­keit mit Ver­fas­sungs­normen wieder auf­hebt, betrachten sie sich als al­lein le­gitime Hüter der Ver­fas­sung. Die GRÜNEN wurden be­spit­zelt, solange sie "draußen" wa­ren. Nach ihrem Einzug in Parla­men­te bildete man dann Koalitionen mit ih­nen.

Der Verfassungsschutz gibt den jeweiligen Regierungspartei­en ein schein­bar le­ga­les Mittel, demokratische Konkurrenz­parteien mit nach­­­rich­tendienstli­chen Mitteln auszu­spä­hen. Prakti­scher Er­fah­rung nach haben Ver­waltungsrich­ter in den selten­sten Fäl­len den Mut, eine of­fen­kundig gesetz­wid­rige Ein­schleu­sung von V-Leu­ten des Verfas­sungs­schutzes und ähnli­che Methoden zu un­ter­bin­den. [276]  Diese V-Leute ope­rieren in einer Grauzone, in der selten klar wird, ob sie nur beobachten oder ob sie die "Vorfälle" selbst provozieren, die der be­ob­achte­ten Organisation später vor­geworfen werden. Am 31.5.94 trat der der Bundesor­ganisationsleiter der Repu­blikaner Udo Bösch "nach rund zweijähriger aufmerk­samer Beobachtung", wie er selbst for­­­mu­lierte, aus seiner Partei aus und trat sofort vor die zufrieden schnur­renden Fernsehka­meras. Und im Juni 1994 gab der SPD-In­nen­­mini­ster in NRW zu, daß sein Verfas­sungsschutz-Informant Bernd Schmitt in Solingen Leiter der Kampf­sportschule war, aus der die Tä­ter des dortigen Brandanschlags auf Türken am 29.5.93 her­vorge­gan­gen waren.

Viel wichti­ger als die nachrichten­dienst­li­che Beob­ach­tung selbst ist den Re­gie­ren­den im Zeitalter der sym­bo­li­schen Politik aber, die Op­posi­tion quasi amt­lich als Staats­fein­de stig­matisieren zu kön­nen. Die Stra­tegie der Stig­matisie­rung wird in inter­nen Papieren des Kon­rad-Ade­nauer-Hau­ses im­mer wieder betont und an­emp­fohlen. [277]  Da schwingt dann rechtzei­tig vor Wahlen ein Partei­-Gene­ralsekretär wie Geiß­­ler den Takt­stock gegen die Op­position, und der Chor der par­tei­ange­hörigen Ver­fas­sungs­schutz­prä­si­den­ten und Fern­seh­mo­de­ra­­to­ren stimmt be­trof­fen und be­sorgt ein: Diese oder jene Par­tei stehe im Ver­­­dacht der Ver­fas­sungs­feindlich­keit. Das hat in un­se­rer Me­­dien­de­mo­­kra­tie etwa die Wir­kung, als ließe ein Show­ma­ster über ei­nen pro­mi­nen­ten Schauspie­ler die Bemer­kung fal­len, dieser miß­brau­­che klei­ne Mäd­­chen. Der Ruf ist hin, doch ge­richt­li­chen Schutz ge­ben die Ge­­set­ze des Par­tei­en­staa­tes ge­gen sol­che Ruf­schädigun­gen nicht. [278]

Der Verfassungsschutz wird als Verunglimpfungsinstrument durch­­­­aus be­wußt und ziel­ge­richtet eingesetzt. Gelangt eine neue Grup­­­pie­rung zu gewisser Bedeu­tung, weil die Medien ihr eine ge­wis­se Be­kanntheit ermöglicht haben, fährt der Schreck den Eta­blier­ten mäch­tig in die Glieder. Der Parteienstaat zeigt dann seine Fol­ter­werkzeuge vor, deren erstes das Gespenst des Ver­fas­sungs­schut­zes ist: Da gibt es den früheren bayerischen FDP-Vorsitzenden Brun­ner, einen jahre­lang ge­standenen Demokraten, eine Stütze des Sy­stems. Leider war ihm in Brüs­sel bei seiner segens­reichen Tä­tig­keit für Deutschland aufge­fallen, daß die Ver­anstaltung Brüssel viel­leicht in Gänze gar nicht segensreich für Deutschland werden könnte. Er klag­te in Karls­ruhe, bekanntlich formell erfolglos, gegen den EG-Ver­trag und trat aus der FDP aus. Jetzt schmückt seine kleine aber fei­ne Par­tei Bund Freier Bürger als jüngste Blume die bunte Wiese der Partei­neugrün­dungen. Nein, so Brun­ner, eine Rechtspartei sei sie nicht. Be­tont marktwirt­schaftlich, ja liberal-konservativ sei man ein­gestellt. Für die Gründungsver­sammlung am 23.1.1994 wolle er als stellvertre­ten­de Vor­sitzen­de mehrere bun­desweit bekannten Pro­fes­so­ren und ähn­lich integer-illu­stre Persönlich­keiten vor­schla­gen. Also alles klar für das junge Par­tei­schiff? Nein, der gute Brun­ner weiß nicht, wie das heut­zu­tage zugeht gegen­über Neuan­kömm­lingen und Kon­kurrenz­par­teien: Da hatte der thüringische In­nen­minister Schu­ster (CDU) nichts eilige­res zu tun, als in der Thü­rin­gischen Landes­zei­tung perfide zu behaupten, die geplante Par­tei sei "weitaus gefähr­licher als bereits veran­kerte Gruppie­rungen wie die Re­pu­bli­ka­ner und die NPD". Er werde die Gründungs­ver­samm­lung beob­achten lassen, könne die Par­teigründung aber nur ver­hin­dern, "wenn in Wei­mar konkrjet verfas­sungswidrige Ziele for­mu­liert wer­den." Ar­mer Brun­ner ! Er weiß noch nicht, daß im Par­tei­­enstaat die Macht hat, wer ver­bind­lich bestimmt, wie die Ver­fas­sung aus­zulegen ist, wo man ihre Feinde findet und wer diese me­dien­­wirksam stig­matisieren kann. Diese Feinde sind immer die an­de­ren, zu­mal, wenn sie als Konkur­renz um die Pfründen ge­fähr­lich wer­den. Der Aus­spruch des CDU-Ministers ist an un­ter­schwel­liger Bös­artig­keit und verleumderischer Un­terstellung kaum zu über­bie­ten, aber er wird seinen Zweck erfüllen. Nie­mand wird fra­gen, was Brun­ner wirk­lich will.

Wie Stefan Dietrich an einem anderen Beispiel, dem Nieder­säch­si­schen Lan­des­amt für Verfassungs­schutz, und seiner Instru­men­ta­li­sie­rung durch die rot-grüne Lan­des­regie­rung ausführte, zeigt sich der ziel­ge­rich­te­te Mißbrauch des Verfas­sungs­schut­zes darin, wie der link­sex­treme Be­reich dort bewußt bagatelli­siert und der rechts­ex­tre­me mit ei­ner ge­häs­si­gen In­vek­ti­ve ge­gen die CDU auf­ge­bauscht wird: "Eine Probe seiner neu­en Hell­sich­tig­keit für rechte Umtriebe hatte das ge­wen­dete Landesamt schon im Früh­jahr mit der Wan­der­aus­stel­lung 'Demo­kratie gegen rechts' ab­ge­lie­fert. Aus dem Fundus des Ver­fas­sungs­schutzes wer­den dort Parolen und Sym­bole, Schall­platten und Magazine prä­sen­tiert, an denen man die rechten Rat­ten­fänger er­kennt - ei­ne si­cher­lich ver­dienst­vol­le Ar­beit. Der CDU ist ent­gan­gen, daß der Ti­tel 'Demokratie gegen Rechts' auch eine Spit­ze gegen sie enthielt. Wenn Mini­sterpräsi­dent Schröder (SPD) oder Bun­des­rats­mi­ni­ster Trit­tin (Bündnis 90/Grüne) von 'den Rechten' sprechen, ist sel­ten klar, ob sie damit Rechts­radi­kale, die CDU oder beide meinen. Be­sonders Schrö­der zieht gern Verbin­dungs­linien zwi­schen den Blut­taten von Mölln und Solin­gen über rechts­radi­kale Hin­ter­män­ner zu den 'Ver­ant­wort­lichen in der CDU'. Wenn es ihm ernst da­mit ist, dann müßte der Mi­nisterpräsi­dent eigentlich den Ver­fas­sungs­schutz beauf­tragen, sich in Nie­dersach­sen auch um christ­lich-demo­kra­ti­sche Um­triebe zu küm­mern.

Eher unwahrscheinlich ist dagegen, daß etwa die Göttinger Au­to­no­men, mit de­nen Mi­ni­ster Trittin offen sympathisiert, fortan noch nach­rich­ten­dienstlich be­hel­ligt wer­den." [279]  Die Ju­stiz­wacht­mei­ster beim Amts­gericht Göttingen plaudern heute noch gern über die 80er Jahre und über den Alt­kommunisten Trit­tin (Kom­mu­ni­sti­scher Bund) und wis­sen manche dienstlich er­lebte Anek­dote zu berichten. Daß in ei­ner Koa­lition mit ihm sei­ne alten Freunde der Göt­tinger Auto­no­men­sze­ne nicht mehr beob­ach­tet wer­den, ge­gen die jahre­lang durch den General­bun­desanwalt aufgr­und § 129 a StGB we­gen Bil­dung ei­ner terroristi­schen Vereini­gung er­mit­telt wurde, wo­hin­ge­gen Trit­tin die ver­fas­sungs­treu­en Re­pu­bli­ka­ner be­spit­zeln möchte, ver­steht sich von selbst. Ob es un­ter die­sen Um­stän­den reiner Zufall ist, daß Par­tei­­tage und Tref­fen der Re­pu­blikaner in Nie­der­sachsen noch so qua­si­kon­spi­rativ vor­be­rei­tet werden kön­nen wie sie wollen, es treten re­gel­­mäßig au­to­no­me Prü­gel­kom­man­dos in Ak­tion, die das Ta­gungs­lo­kal kurz und klein schla­gen und die Teil­neh­mer ver­hau­en wollen, mag sei­­ne nach­den­­kens­wer­ten Gründe haben. Im­merhin ist das vom Ver­fas­­sungs­schutz in ei­ne Ge­fäng­nis­mauer gesprengte Celler Loch noch in all­ge­mei­ner Erinne­rung. [280]

Der Zugriff auf die Rechtsprechung

Die Realität des totalen Parteienstaates und seines direk­ten Zu­griffs auf die Ge­wal­ten machte auch die Rechtspflege zum be­gehr­ten Objekt sowohl de­rer, die sich in den Be­sitz der Recht­spre­chung set­zen wollen, um mit ihrer Hilfe die gesell­schaftli­che Ord­nung zu ver­ändern, [281]  als auch derer, die sie zur Stabi­li­sierung ihrer Herr­schaft be­nö­ti­gen. Die Justiz ist heute Teil des Sy­stems, [282]  was schon aus der An­wendung des vom Bon­ner Esta­blish­ment ge­machten Geset­zes­rechts folgt. Vor allem aber un­ter­liegt die Justiz des­sen per­sonel­lem Zugriff. Bei ihrer par­tei­po­li­ti­schen Durchdrin­gung sün­digen alle Par­teien in ei­nem Ausmaß, das selbst der so­zial­de­mo­kratische ehemalige Präsi­dent des OLG Braun­schweig, Rudolf Was­ser­mann, nicht mehr hin­nehmbar fin­det. Nicht mehr das Lei­stungs­prinzip des Art.33 GG gilt, sondern "au­ßer­dienst­liche Ak­tivi­täten". [283]  "Die Günst­lings­wirt­schaft erzeugt zwangs­läu­fig ei­nen Geist in der Justiz, der sich der Po­litik und den Parteien ver­pflich­tet fühlt." [284]  Wer sich nicht genug ver­pflichtet fühlt, versündigt sich als Rich­ter nicht ungestraft gegen die­sen Geist: Als das Landgericht Mannheim im August 1994 den NPD-Vorsitzenden Deckert zu einem Jahr Freiheitsstrafe verurteilte und die Urteilsgründe bekannt wurden, war­fen Partei­vorsitzende, un­ter ihnen auch der Bundeskanzler, dem Ge­richt vor, es habe zu viel Ver­­ständnis für die Motive des Ver­ur­teil­ten durchblicken lassen. Das ver­anlaßte den Kammervorsitzenden Rich­ter Dr.Müller eilig zu einem von dpa verbreiteten öffentli­chen Ent­schuldigungsschrei­ben, in dem er durch seinen Rechtsanwalt be­flis­sen Selbst­kritik übte und fle­hent­lich darauf verwies, er sei doch "seit über 25 Jahren Mitglied der äl­te­sten deutschen demokratischen Par­tei" (also der SPD). Der an­bie­dern­­de Hin­weis hat dem Ärmsten in­des­sen nicht ge­nützt: Seine Par­tei­­­genossen-Richterkollegen des Ge­richts­präsidi­ums entzogen ihm vorläufig den Straf­kam­mer­vor­sitz.

Die oberen Richter die­ser Republik werden vorsichtshalber gleich von einer Hand­voll Par­tei­politi­kern hin­ter ver­schlos­senen Türen aus­ge­han­delt: [285]  Die Ent­schei­dung über die Aus­wahl hat sich fak­­tisch von dem nach § 6 BVerfGG durch den Bundestag zu wählenden Wahl­­aus­schuß ver­scho­ben "auf eine nir­gends recht­lich ver­faßte, aus den Macht­eliten der Par­teien in Frak­tionen, Re­gie­rung und Bundesrat be­­ste­henden 'Arbeits­grup­pe', die so­wohl die vom Bun­des­tag wie die vom Bun­des­rat zu wählen­den Richter auswählt, so daß der Wahl­män­­ner­aus­schuß bzw. der Bundes­rat nur noch for­mell dar­über be­schließt." [286]  Während das Volk auf die Be­setzung des Bun­des­ver­fas­sungs­­ge­­richts keinerlei Einfluß hat, sollen gemäß Art.94 GG Bun­des­tag und Bundes­rat ihre richterlichen Kontrolleu­re selber aus­wäh­len. [287]  Tat­säch­lich aber wählt das Parlament gar nicht, sondern hat ei­nen zwölf­köpfigen Wahlaus­schuß damit beauftragt. Doch selbst diese Zwölf haben nicht wirklich das Sagen: Die verbindliche Vorent­schei­dung dar­über, wer nach Karlsruhe geschickt wird, treffen sogenannte Ar­­beits­gruppen von zwei bis drei Personen hinter ge­schlos­senen Tü­ren. Dieser Zustand ist "von Hause aus ver­fas­sungs­widrig". [288]   Auf diese Weise haben die Parteien bequem ein "verfas­sungs­un­mit­tel­­ba­res Organ politischer Ju­stiz" [289]  ge­schaf­­fen und mit ih­nen geneh­men Par­­tei­po­litikern be­setzt.

Zu­grunde liegt dem ganzen Manöver die "Idee, daß sich die bei­den großen Par­tei­en die Prä­sidentschaft" und die an­de­ren Rich­ter­stel­­len "ungefähr je zur Hälfte tei­len." [290]  So haben sie sich auf einen Mo­dus harmonischen Zu­­­sam­men­wir­kens geei­nigt, "al­ler­dings auf Ko­sten der Parteilosen, die bekanntlich 97% der Be­völ­ke­rung aus­ma­chen. ... Die Politik re­kru­tiert also die höch­sten Rich­ter nicht aus dem (Ju­ri­sten-)Volke, son­dern aus einer Ka­ste, de­ren Ho­mogenität und Ex­klu­si­vität durch ein Stück Papier be­stimmt wird: das Par­tei­buch. Das sind im Hinblick auf das Dis­kri­mi­nie­rungs­verbot (Art.3 III GG) und die Be­sten­auslese (Art.33 II GG) zwei­fel­los ver­bo­tene Aus­wahl­­­kri­te­rien. Das höch­ste Ge­­richt, das Ver­fas­sungs­ge­richt, wird also un­ter no­to­ri­schem Ver­stoß gegen Ver­fas­sungs­grund­sät­ze besetzt; - oder gibt es ir­gend­wo eine Stim­me, die das be­zwei­felt?" [291]  Für 10 der 16 Verfas­sungs­richter läßt das Bun­­­des­ver­fas­sungs­ge­richts­ge­setz ge­nü­gen, daß sie ir­gend­wann ein­mal die zweite juristische Staats­prü­fung bestan­den ha­ben. [292]  Diese Praxis der Ver­fas­sungs­rich­ter­wahl stößt in der herrschenden Ver­fas­sungs­leh­re aus "begründete Ab­leh­nung", die "bis zur Verach­tung" reicht." [293]  

Was für das Bundesverfassungsgericht gilt, setzt sich bei den Lan­desverfas­sungs­gerichten und den anderen Obergerichten fort. 1996 wurde eine Studie über den Einfluß der politischen Parteien auf die Ernennungen zum Bundesgerichts­hof erstellt. [294]  Die Autoren befragten die BGH-Richter durch einen anonymen Fragebo­gen. Der Anteil der parteigebundenen Richter liegt bei rzwa 40%. "Von seiten der parteilosen Richter", führen die Autoren der Studie aus, "wird scharfe Kritik an der Wahlpraxis der Parteien geübt, die sich in Schlagworten wie "Däubler-Gmelin-Syndrom" und "Kohl-Effekt" nieder­schlägt und die auch nicht davor zurückschreckt, Kollegen - immerhin Richter am höchsten ordentlichen Gericht! - fachlich als "schwach" zu bezeichnen und diese fachliche Schwäche mit der Parteizugehörigkeit in Verbindung zu bringen."

Die Mitglieder des Hamburgi­schen Verfassungsgerichts können ohne Rest den Parteien der Bürgerschaft zuge­rechnet werden. [295]  Eine bayeri­scher Bürger­aktion mit ihrem Vorsitzenden, der zugleich Vor­sit­zen­der der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaften ist, Ri­chard Sigl, kündigte am 18.11.94 an, sie werde gegen die Per­so­nal­be­set­zung des Bayeri­schen Verfas­sungsgerichtshofs klagen: Er sei zu 86% CSU-besetzt, von SPD und Grünen nur zu 14%. Nach Mei­nung der SDP-Fraktions­vorsitzenden im Münchener Landtag, Re­na­te Schmidt, ist die Unabhängigkeit dieser Richter "zum vor­aus­eilenden Gehorsam ge­gen­über der Landesregierung de­ge­ne­riert" [296]  

Nicht jede personelle Ranküne der Parteien gelang den Parteien: Man­cher Politi­ker hat, zum Verfassungsrichter gewählt und somit in den Stand der per­sönlichen Unab­hängigkeit ver­setzt, zu für seine Ent­sendepartei unlieb­samer Rechtsamkeit und Neu­tralität gefunden. Den­noch brachte auch ein je­der seine persönlichen politischen und ideo­lo­gischen Grund­wer­te in die Ent­schei­dungen ein, welche auch sonst? Nun ist das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt nicht be­ru­fen, die bloß formell richtige Auslegung des ein­fachen Gesetzes­rechts nach­zu­prü­fen. Viel­mehr soll es die Gesetzgebung gerade in­so­weit kontrollieren, als sie ei­nen politischen Akt dar­stellt, und zwar auf Überein­stim­mung mit der im Grundgesetz nie­dergelegten ma­te­riel­len Wertordnung.

Durch diese Kontrolle soll verhindert werden, daß der de­mo­kra­ti­sche Rechts­staat zur Diktatur der Parlamentsmehrheit pervertiert wird. [297] ­ Indes­sen kann eine wert­ge­bun­de­ne, mit anderen Wor­ten ideo­logische, Kontrolle der Par­lamentsent­scheidun­gen nur das Per­pe­tuum mobile einer sich immer­während selbst re­pro­du­zie­ren­den Herr­schaft auf Grund­lage einer homogenen Herr­schafts­­ideo­logie ge­währ­lei­sten und erfüllt damit eine emi­nent system­sta­bi­li­sierende Funk­tion. Ma­­teriell wird durch die an­­ge­wandte Rich­ter­wahl­pro­ze­dur sicherge­stellt, daß im­mer wie­der Juristen aus ei­ner welt­anschaulich ver­hält­nis­mä­ßig ein­heit­lichen Per­so­nen­grup­pe Ver­fas­sungsrich­ter wer­den und nur immer das Sy­stem auf Ein­hal­tung seiner eigenen Spiel­re­geln über­wachen kön­nen. So ge­se­hen, darf die "gewaltenteilende" Funkti­on des Ge­richts nicht da­hin­gehend miß­ver­stan­den werden, un­ter sei­nem Schirm könn­te et­wa eine grund­sätzlich andere welt­an­schau­li­che oder po­li­ti­sche Rich­tung richterlichen Schutz suchen, als sie von den Bun­­des­tags­par­tei­en sonst ver­tre­ten wird. Eine welt­an­schau­li­che Gleich­­schal­tung auf­grund ei­ner Parla­mentsmehrheit, Re­gierung und Recht­sprechung übergreifen­den ho­mogen li­be­ra­len Ideologie kann das Bun­desverfas­sungsgericht also nicht nur nicht verhindern; es ist so­gar de­ren Garant. Als Hüter der Ver­fassung mit ihrem ma­te­riel­len Kern­ge­halt wacht es ge­mäß Art.79 Abs.III GG auf ewig über das ge­schlos­sene Sy­stem der liberalen "of­fe­nen Gesell­schaft". Ist das eine Dikta­tur? Welch akademische Frage - darf man doch in ihr, wie in ei­ner Gummi­zelle, alles tun; nur ändern kann man nichts.

Damit teilt das liberale System das Schicksal aller Systeme, die Wert auf ih­ren Selbst­erhalt legen. Kein System kann langfristig dul­den, daß seine ge­teilten Gewal­ten ein ideo­logisches Eigenleben füh­ren, sonst zer­stört es sich infolge seiner inneren Wi­der­sprü­che selbst. So bereitete die Machtergreifung 1933 der Weimarer Republik ein schmähliches Ende. Sie veranschaulichte uns, was aus einem Sy­stem wird, dessen Recht­sprechung einen so neutralen Gesetzes­be­griff hatte, daß es seiner ei­ge­nen Aus­lieferung an seine Feinde nichts ent­gegensetz­te. [298]  Für die wehrhafte De­mokratie des Bon­ner Grund­ge­setzes und militante Demokraten [299]  gibt es hingegen, Carl Schmitt fol­gend, [300]  selbst­ver­ständ­lich nur einen auf einer ein­heit­li­chen Wert­ord­nung be­ru­hen­den Rechts- und Ge­set­zes­be­griff. Das li­be­ra­le Bür­ger­tum hat aus der Geschichte ge­lernt. Obwohl es ohne­hin den gan­zen Staat erobert hat, hat es des­sen Gewalten vor­sichtshalber noch ein­mal auf­ge­teilt. Weiter sicher­heits­hal­ber hat es sich von den Staats­funk­tionen die Ge­setz­ge­bung als Domäne reserviert. Durch die Grund­sätze des Vorranges und des Vor­behaltes der par­la­men­ta­risch be­schlos­se­nen Gesetze hat es si­chergestellt, daß die an­deren Ge­wal­ten nicht au­ßer­halb seiner Ge­setze handeln dür­fen. So ist alles Recht "bürgerliches Recht," sind die Gerichte bür­gerliche, mit an­deren Wor­ten: li­berale, Ge­rich­te. Es wird so eine Recht­spre­chung gewähr­leistet, die auf die li­be­ralen Grund­werte als oberste Wer­te aus­ge­rich­tet ist. Der Vorrang und der Vor­be­halt des par­la­men­ta­ri­schen Geset­zes si­chern so einen li­be­ralen Ge­set­zesbegriff, eine li­be­rale Hand­ha­bung der Exekutive und ei­ne libe­ra­le Recht­spre­chung.

Zur Verteidigung dieser Maßregeln muß be­tont werden, daß kein Sy­stem auf Da­uer bestehen kann, das in seinen Staats­organen etwa von­ein­an­der ab­wei­chen­de ideo­logische Auf­fas­sun­gen zuließe. Die Einheit­lich­keit der staatlichen Ver­fassung und ih­rer Wert­ord­nung gilt nicht nur nach rich­tiger An­sicht des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts [301]  hier und heute, sondern in jedem stabilen System. "Jeder Staat nimmt für sich ein Selbsterhaltungsrecht zur Ver­tei­di­gung des etablierten Macht- und Vertei­lungssy­stems in Anspruch. Auch wenn sich Un­ter­schie­de in der Art und Weise feststellen las­sen, wie dieses Selbst­er­hal­tungsrecht verwirk­licht wird, so geht es doch stets darum, po­li­ti­sche Systemgegner auszuschalten oder we­nig­stens zu schwächen. Wer­den ge­richtsförmige Verfahren dazu in Dienst genommen, dann spricht man von politischer Justiz." [302]

Deshalb kann die "Gewaltenteilung" nicht die Glorio­le eines et­wai­gen Refu­gi­ums für weltanschauliche Dis­si­den­ten für sich in An­spruch neh­men, die nicht liberal sein möchten und an­dere Grund­wer­te beto­nen als die freie Entfaltung der Indivi­dualität des Ein­zel­menschen. Auch wenn jeder Angehörige der Recht­spre­chung per­sönlich un­ab­hän­gig ist, ist er doch durch die Gesetze und die Ver­fas­sung, auf die er ge­schworen hat, dazu verpflichtet, auf der Grund­lage bestimmter vor­­gegebener Ideo­lo­ge­me zu rich­ten. Schreckenberger hat diese als Tri­vialideo­logie bezeichnet, als Basis­doktrin zur verfassungskräftigen Dog­matisierung eines Kernbestan­des gesell­schaftlicher Über­zeu­gun­gen, der für eine pluralistische Ge­sellschaftsauffas­sung unentbehrlich sei. [303]  Diese werden heute üb­li­cher­wei­se als "Wertordnung des Grund­­ge­set­zes" bezeichnet. So können Rich­ter in der par­la­men­ta­ri­schen Demokratie mit derselben Kon­se­quenz nur auf par­la­men­ta­risch-de­mokratischer Basis richten, wie et­wa Richtern im So­zia­lis­mus ein fester "Klassenstandpunkt" ab­ver­langt wurde. Das parlamen­ta­ri­sche System teilt das Schicksal aller Sy­ste­me, die Wert auf ihren Selbst­erhalt le­gen: Es ergreift alle Ge­wal­ten. In ihnen muß zwangs­läu­fig derselbe Geist walten. Eine Frei­heit für nicht Libe­rale, das Sy­stem zu verän­dern, gibt es vor li­beralen Ge­richten nicht. Das relati­viert die Sage vom freiesten Staat auf deut­schem Bo­den beträchtlich.

Keine Chancengleichheit für Parteien

Wie empirische Versuche gezeigt haben, gibt es auch die für die frei­heitli­che de­mo­krati­sche Grundordnung (FdGO) grund­le­gen­de Chan­­cen­gleichheit für alle Partei­en nicht; je­den­falls nicht für neue Par­teien, die dem Postenvertei­lungs­kartell der Etab­lier­ten noch nicht an­ge­hö­ren. Die Chance des legalen Macht­ge­winns ist nicht nur We­sens­merk­mal der FdGO, son­dern darüber hin­aus der ein­zig plausible Grund für je­de Opposition, sich fried­lich an die je­wei­li­gen Spielre­geln des je­wei­li­gen Sy­stems zu hal­ten. Schlie­ßen diese Re­geln die Chance des fried­li­chen Macht­gewinns aus, pro­vo­zie­ren sie ihre illegale Durch­­bre­chung. [304]  Eine Rechtsordnung, die allen Bürgern Rechts­frie­den verspricht, "kann nur dann mit allgemeiner Akzeptanz rech­nen, wenn  und so­weit die Normadressaten über­haupt bereit sind, ein­an­der als Rechtsgenossen, d.h. als Gleiche und Gleichheits­fähige zu ak­zep­tieren. Denn warum sonst sollte in einer De­mokratie die über­stimm­te Mehrheit bereit sein, sich dem Willen der Mehrheit freiwil­lig zu un­terwerfen, wenn nicht deshalb, weil sie im Kern eben doch damit überein­stimmt? Wo es aber an dieser prinzipiellen Über­ein­stim­mung fehlt, ist die Demokratie nichts anderes als eine Diktatur der je­wei­li­gen Mehrheit; über diesen Zusam­menhang wird sich jedenfalls die Minderheit niemals täuschen lassen." [305]

Die Chancengleichheit scheitert heute schon an den durch die Alt­par­tei­en ge­schaf­fe­nen Struk­turen der staatlichen Parteienfi­nan­zie­rung. Erst am 9.4.1992 rügte das BVerfG [306]  die Parla­ments­par­teien hät­ten "im Vergleich zu den an der Sperr­klausel ge­scheiterten Par­tei­en grö­ßere Chancen, sich im Blick auf künfti­ge Wahlen dem Wäh­ler dar­zu­stel­len und für ihre Ziele zu wer­ben." Weil sich dies auf Mit­glie­der­zu­gang und Spenden­auf­kommen auswirke, müs­se der Ge­setzge­ber den nicht im Bundestag vertre­te­nen Partei­en bei der Berech­nung der Staats­quote einen Aus­gleich schaf­fen und ihren Wahl­erfolg stär­ker ge­wich­ten als die bishe­rige Parteienfi­nan­zierung.

Zur Chancengleichheit für neue Parteien fehlt aber nicht nur die Gleich­be­hand­lung bei der oh­nehin fragwürdigen Staatsfinan­zie­rung der Parteien und ih­rer Wahl­kämpfe. Di­rekt und gravie­rend verfas­sungs­widrig wird gegen die Chan­cengleichheit versto­ßen, wo die Par­teien alle ver­fügbaren staatlichen und halbstaatlichen Mittel zur Nie­derhal­tung auf­kommender Konkur­renz mißbrau­chen. Das Beispiel verschie­dener rechter Parteien, wie auch immer man zu ih­nen sonst stehen mag, hat gezeigt, wie neue Par­teien ge­gen gelten­des Recht in Hun­derten von Fällen flächendeckend von CDU- und SPD-par­tei­from­men Stadtver­waltun­gen bewußt rechtswidrig [307]  an der Nut­zung öf­fent­licher Hallen und Ver­sammlungs­stät­ten gehin­dert und wie sie von Parteibuchbü­rokraten, teil­weise wi­der besse­res Wis­sen, als ver­fas­sungsfeindlich oder extremistisch ver­un­glimpft und auf das übelste beschimpft werden. Einen Höhe­punkt erreichten diese An­griffe am 23.9.93 im Land­tag von Baden-Württem­berg, als der Abge­ordnete Weimer (SPD) über den Abgeordneten Wilhelm (Re­publikaner) in ei­nem Zwi­schen­ruf rief: "Wieso Kol­lege? Das ist doch kein Mensch!" [308]  

Die widerrechtliche Verweige­rung städtischer Hallen und Lokale, die allen ande­ren Parteien so­fort zur Verfügung stehen, bricht sich zwar ständig an der festen Recht­spre­chung der Verwal­tungsge­rich­te, die das Ge­bot der Chancen­gleichheit noch hüten. Daß aber im­mer erst ein einst­weili­ges Anordnungs­verfah­ren ange­strengt wer­den muß, wenn ei­ne Partei sich ihrer Pflicht aus dem Partei­en­ge­setz entspre­chend ver­sam­meln und einen Parteitag abhalten will, ist kein Zufall. Es be­weist die syste­matische Dis­krimi­nie­rung durch die Etablier­ten und ihre Statt­hal­ter in den Kom­munen. Sie ist den höchsten Vertre­tern der Recht­spre­chung bestens be­kannt: Der ehemalige Präsident des Bun­des­ver­fas­sungs­gerichts, Ernst Benda, gab den ständigen offe­nen Rechts­bruch mit den kritischen Wor­ten zu, entweder müßten sol­che Par­teien verfas­sungsrichter­lich überprüft (und gege­benenfalls ver­boten) wer­den, "oder sie sind wie jede andere Partei zu behandeln. Alle Ver­suche, sich um diese klare Alternative zu drücken, sind zu Recht ge­scheitert, wie vor al­lem die wiederholten Bemühungen, sol­che Grup­pierun­gen vom Zu­gang zu öffentlichen Einrichtungen für die Abhaltung von Parteitagen oder Wahl­versammlungen auszu­schließen. Es gibt keine rechtliche Grund­lage dafür, Parteien, die man aus nur zu ver­ständlichen Grün­den nicht mag, anders als jede andere politi­sche Gruppierung zu behan­deln." [309]  "Im Kampf gegen rechts" aber "gel­ten grund­sätz­liche Er­wä­gungen der Rechtskul­tur offen­bar nichts." [310]  Im­mer häufiger be­kommt unser Rechts­staat Ausset­zer, wo es gegen "Rechte" geht. In sei­ner An­sprache zum Presse­ge­spräch des Bundes­ver­waltungsge­richts am 17.2.94 meinte des­sen Präsi­dent Ever­hardt Fran­ßen, die Flut ver­wal­tungs­rich­ter­li­cher Ent­schei­dungen zu­gun­sten rechter Par­teien recht­fer­ti­gen zu müssen: So­lange eine Par­tei nicht vom BVerfG ver­boten sei, dürfe sie nicht be­nachtei­ligt werden. "Daß dies die zuständigen Ver­wal­tun­gen oder Ent­­schei­dungs­gremien in der Regel wissen, darf", so Franßen, "ebenso als be­kannt vor­ausge­setzt werden, wie der Um­stand, daß sie sich manch­mal scheuen, die­sem Wissen ent­spre­chend zu han­deln."

Nicht mit richterlicher Hilfe korrigierbar ist die Diskri­minie­rung im Staats­fern­se­hen ARD und ZDF. In den par­teihörigen Medien set­zen sich Beschimp­fung und Verleum­dung der Parteien fort, deren Ver­tre­ter nicht in den Aufsichts­räten der Medien sitzen. Die tat­säch­lichen poli­tischen Forderungen dieser Partei­en werden ver­schwie­gen und ih­nen andere, gar nicht vertrete­ne Positionen unter­ge­schoben, oh­ne daß sie zu Wort kommt und damit eine Chance hät­te, die Falsch­behaup­tungen richtigzustellen. Darin liegt ein Ele­ment der Dis­kriminie­rung und macht die Bericht­erstattung zur Agi­ta­tion. Obwohl alle ein­schlä­gigen Rundfunk­gesetze ausge­wo­gene Be­richt­er­stat­tung ver­lan­gen, kamen z.B. Repu­blikaner bis zum Früh­jahr 1992 nicht selbst zu Wort und auch da­nach nur höchst sel­ten und kurz. Wäh­rend neo­-na­tio­nal­so­zialistische Halb­starke - volks­päd­agogi­sch ab­schrec­kend we­gen des baren Un­sinns ihrer Re­de - in politi­schen Ma­gazin­sen­dun­gen ge­nüß­lich vorge­führt wer­den und ihre Sprüche klopfen dürfen, sind zum Beispiel Re­pu­bli­ka­ner offenbar zu ge­fähr­lich, als daß man sie auszu­strahlen ris­kie­ren könn­te. Nach in­formellen Ab­spra­chen zwi­schen den In­tendanten darf kein Repu­blikaner seine Mei­nung im Fernsehen ver­tre­ten und Pro­gramm­punk­te vor­tra­gen, weil man dann nicht mehr be­haup­ten könnte, die Partei hätte au­ßer dummen Sprü­chen kein Pro­gramm. Die Noelle-Neu­mann­sche Schwei­­­­ge­spi­ra­le wird ope­rativ ein­gesetzt und gegen die als ge­fähr­lich ein­geschätzte Kon­kurrenz­partei ge­wandt: Die Po­li­ti­ker, die allabend­lich in ihren Staats­ka­rossen zu Sit­zun­gen auf­fahren, hält der Fernseh­zu­schauer für real. Wer nicht auf­fährt und ein­trifft, ist irreal - es gibt ihn ein­fach nicht. Die Ikone Bild­schirm ersetzt für den sich "in der ersten Reihe" wäh­nenden Zu­schau­er die Reali­tät; [311]  und in dieser Reali­tät dür­fen Stö­renfriede nicht vor­kommen.

Die Verfügungsmacht über die Medien ist eine der tragenden Spiel­regeln des Sy­stems, durch die es für seinen dauernden Selbst­er­halt sorgt. Wenn Parteipoliti­ker und ihre Journaille sich gegensei­tig Vor­lagen geben, steht jede Konkurrenz sofort im Ab­seits, die nicht über die Mikrophone verfügt. Ihre grundgesetzlich garantierte Frei­heit, bei diesem Spiel mitzumischen, ist so hilfreich wie die Frei­heit der Me­nü­wahl bei Ti­sche, wo der Fuchs und die Gans mitein­ander ta­feln. Mit dem Zugriff auf das Fernse­hen und mit seinem par­tei­po­liti­schen Miß­brauch haben die Kartell­partei­en das aus­schlag­gebende Macht­in­stru­ment der moder­nen Medien­ge­sell­schaft in der Hand. Sein Ein­satz be­sei­tigt die Chan­cen­gleichheit voll­stän­dig und trifft damit den Nerv der Fd­GO. Diese Grund­ord­nung, so juri­stisch ver­schroben sich ihre De­fini­tion durch das BVerfG auch anhören mag, bildet in sich ein aus­ge­wo­­genes und durch­dach­tes Gan­zes. Man kann nicht ein­zelne ihrer Ele­­mente be­lie­big besei­ti­gen, ohne das Funk­tio­nieren des Ganzen zu stö­ren. Die fehlen­de Chan­cengleich­heit für An­ders­den­ken­de, die dem Po­stenver­tei­lungs­kartell mit Wertüberzeugungen ent­ge­gen­tre­ten und sich im Fern­se­hen ständig als Extremi­sten oder Schlim­me­res ab­qua­li­fi­ziert finden, führt bei ei­ner wachsenden Zahl nach­denklicher Bür­ger zu einem fort­schrei­ten­den Legi­timi­täts­ver­lust des Par­teiensystems und för­dert die Radika­lisie­rung.

Die anthropologischen Aspekte

Die Schlußfolgerungen jeder Wissenschaft werden von nicht mehr hin­ter­frag­ba­ren Axio­men geprägt. Bei den Staats- und Gesell­schafts­wis­sen­schaf­ten sind das Annah­men über die Na­tur des Me­nschen. Die Haupt­rich­tun­gen des politi­schen Den­kens un­ter­schei­den sich schon im An­satz durch ihr op­timi­sti­sches, skepti­sches oder pessimisti­sches Men­schenbild. Wer an die na­türliche Güte des Menschen glaubt, meint, kei­nen Staat als Tu­gendwächter nötig zu haben. Der staats­feindliche Ra­dikalismus wächst in dem glei­chen Grade wie der Glau­be an das ra­dikal Gute im Men­schen. [312]  Je mehr Schlech­tigkeit man sei­nen Mitmen­schen hingegen zu­traut, de­sto eher rechtfertigt man Ge­setze und einen star­ken Staat über ihnen; denn "Tugend", sagte schon Wilhelm Busch so nett, "will ermuntert sein; Bosheit kann man schon allein!"

Nach der Doktrin des Liberalismus soll angeblich die Summe al­ler pri­va­ten Ego­is­men zum Gemeinwohl führen, wenn man ih­nen frei­en Lauf läßt. [313]  Im Parlament wür­den die Sonderinteressen durch Mei­nungs­austausch und Diskus­sion koordiniert und zu einem Aus­gleich ge­bracht, bis sie sich mit dem Interesse des Gemeinwesens als Gan­zem identisch wären. Diese pluralistische Har­monie­lehre, welche die Re­­­sul­tante des Interessen­drucks mit dem Gemeinwohl gleich­setzt, wird von Libe­ralen wie ein Dogma aufrechterhalten. [314]  Es vermag im Ge­­meinwohl nichts anderes zu sehen als ein "Kräfteparallelogramm der Sonderin­teressen." [315]  Ihre Grund­über­zeu­gung vom Men­schen fußt auf einem schönfärbe­rischen Men­schen­bild, dessen sich in po­le­mi­­scher Absicht vornehmlich die­je­ni­gen be­die­nen, die von staatlichen Schutz­gesetzen für öko­no­misch und so­zial Schwa­che nur persönliche Nach­teile befürch­ten: die Ei­gen­tü­mer von Ka­pital. "Der Staat ist den Ei­­gentümern ein notwendiges Übel, und man muß je­des Übel so klein ma­chen als möglich." [316]  Also dul­det der Liberale den Staat allen­falls als in Diensten der Ge­sell­schaft ste­hen­des, miß­trauisch kontrol­lier­tes Übel. Tatsäch­lich hingegen ist das Gemeinwohl nicht die Summe der addier­ten Einzelwohle und bleibt ein aliud und ein Eigenwert im Ver­hältnis zum Einzelin­teresse. [317]

Nun ge­hören die bewuß­ten Böse­wichte unter uns ebenso zu den Sel­tenheiten wie die selbstlo­sen Tu­gend­bolde. We­der eine Dik­ta­tur zur Niederhaltung des prinzipiell Bö­sen im Menschen, noch ein of­fen staats­feindlicher An­ar­chismus zur besseren Ent­fal­tung des Gu­ten ließe sich durch empiri­sche anthropo­logi­sche Be­ob­ach­tung stützen. Die Erfahrung macht vielmehr skeptisch und lehrt viel­mehr, daß wir "zu al­lem fähig" und inso­weit mit frei­em Wil­len zum ei­nen und zum an­deren aus­ge­stattet sind. Unsere stam­mes­ge­schicht­lich ererbten An­la­gen lassen uns al­ler­dings in be­stimm­ten Situa­tio­nen zu bestimm­ten Hand­lungen nei­gen, die sich teilweise in der modernen Welt als pro­ble­matisch er­weisen kön­nen. [318]  Insoweit hat Ar­nold Gehlen den Mensch zu Recht als Män­gelwesen bezeich­net. [319]  Zu den "Mängeln" ge­hören neben der Ag­gres­sion das Do­mi­nanz­stre­ben und eine Nei­gung, das ei­ge­ne Wohler­gehen und die kurz­fristige Ver­grö­ße­rung des per­sön­li­chen Er­folgs für wich­ti­ger zu nehmen als das Gemein­wohl und da­mit die Grund­­lage der ei­ge­nen Existenz. "Der Mensch ist nicht bö­se von Ju­gend auf, er ist gut genug für die Elf-Mann-Sozietät, aber nicht 'gut genug', um sich für ein anony­mes, per­sönlich nicht be­kann­tes Mit­glied der Mas­senso­zietät so ein­zu­set­zen, wie für das per­sön­lich be­kann­te und eng be­freundete Indivi­duum" [320]  Sein Ver­stand predigt erst einmal Selbst­sucht, und darum sind die mei­sten Men­schen dann am scharfsin­nigsten, wenn es dar­um geht, sich von ethi­schen Ver­pflich­tungen frei­zuspre­chen. [321]  

Das auf ein ab­straktes Ge­mein­wohl ge­richtete altru­isti­sche Han­deln kommt also nicht als ange­bo­rene Verhaltens­weise von allein, son­dern bedarf der "so­zia­len Ab­stüt­zung" durch Institutionen [322]  die das Wohl des Ganzen wahren und Ein­zele­gois­men, wo nötig, in ih­re Schran­­ken wei­sen. Die Sum­me dieser Insti­tutionen nen­nen wir Staat. Des­sen Funktionieren hängt davon ab, daß seine Amts­träger tat­säch­lich ge­mein­woh­lori­en­tiert handeln, denn von der För­de­rung die­ses Wohls und dem In-Schach-Halten der Ego­is­men hängt seine Exi­stenz­berechtigung ab. Wenn Ver­tre­ter von Einzel- und Teil­in­teressen den Staat und seine Amtsträ­ger da­zu ver­anlassen, nicht mehr das Ge­mein­wohl als Maßstab zu neh­men, son­dern Par­tei­interessen, muß man das im weite­sten Sin­ne als Korrup­tion be­zeich­nen. Der Libe­ra­lis­mus ist im­mer in Ge­fahr, dieser ei­gennüt­zigen Ten­denz zu erlie­gen. In Deutsch­land ist sie zum Sy­stem er­ho­ben wor­den. Die maßgeb­li­chen Ver­treter des Ge­meinwohls sind nämlich in einer Per­son re­gel­mä­ßig auch Funk­tio­näre orga­ni­sierter Grup­peninter­essen und sol­len zwei Her­ren gleich­zei­tig die­nen, was sie na­türlich nicht kön­nen.

Das Ge­mein­wohl nimmt aber Scha­den, wenn der Staat mit sei­nen In­sti­tu­tio­nen nur miß­trauisch kontrollier­ter Un­ter­ge­be­ner ge­sell­schaft­­­­licher Par­tei­un­gen ist. Seine Die­ner tragen Par­tei­buch und Par­tei­­ge­sinnung. Der Li­be­ra­lis­mus erhebt den Staat nicht zum fürch­ter­li­chen Leviathan, sondern er­niedrigt ihn im Ge­gen­teil zum ge­fes­sel­ten Gul­­li­ver. Sechs kon­ser­va­ti­ve Jahr­hun­derte mögen es ge­ra­de zwei Ge­ne­ra­tionen erlau­ben, libe­ral zu sein. [323]  Ist der für den Zu­sam­menhalt des Gan­zen not­wen­dige Grund­be­stand an Ge­mein­woh­l­ori­en­tie­rung durch Ge­ne­ra­­tio­nen­wech­sel auf­ge­zehrt, kom­men Füh­rungs­eli­ten zur Macht, die den Staat nur noch als Selbst­bedie­nungs­la­den an­se­hen. Diese Tos­kana-Frak­tion drängt seit einigen Jahren mas­siv an die Schalt­stel­len der Macht und ver­drängt die Rest­bestände äl­te­rer Poli­ti­ker, die in ih­rer Ju­gendzeit noch ge­lernt hat­ten, daß Ge­mein­­­nutz vor Eigen­­nutz geht.

Heute wird die fehlende Gemeinwohlorientierung allgemein be­klagt. [324]  Der Bür­ger kann Ent­scheidungen von Amtsträgern nur ak­zep­tie­ren, wenn er darauf ver­trauen darf, daß diese auf dem Ge­mein­wohl und nicht auf privaten Inter­es­sen beru­hen. Das Ver­trau­en des Volkes in seine Repräsentanten ist die ent­schei­dende Le­gi­ti­mations­grundlage und -vor­­aus­setzung einer reprä­sentati­ven Demokratie. [325]  Ohne dieses Ver­trauen denaturiert sie zu einem in­halts­lo­sen, techno­kratischen Sy­stem. [326]  Diese In­haltsleere und die aus­drückliche Wei­ge­rung des "plu­ra­listi­schen" Li­be­ra­lis­mus zu übe­rindi­vidueller Sinn­stif­tung haben den Weg in die Kor­rup­tion un­entrinn­bar vor­gezeich­net: Blind ge­macht für die Be­lan­ge des gan­zen Volkes, wurde der Bür­ger in ei­ner Je­der-ge­gen-je­den-Ge­sellschaft auf sich selbst zu­rück­geworfen. "In einem als 'liberal' mißverstandenen Individualismus kap­seln sich Individuen und Kleingruppen vonein­ander ab, um ohne Rück­sicht auf die Interessen der größeren Gemeinschaft ihre Ei­gen­in­ter­essen durchzuset­zen." [327]  Massenhaft pro­duzierte das System den Men­schen­typ, den es zu sei­nem Funk­tio­nie­ren braucht: den Steu­er­zah­ler, den Kun­den, den Wäh­ler, den Ver­brau­cher - den Untertan. In ei­­ner an­onymen Massengesell­schaft an­ony­mer Mächte, de­ren Walten er immer weni­ger be­greift, fehlt ihm das Ethos, sich kon­struk­tiv als be­­wuß­ter Teil ei­nes größeren Gan­zen zu ver­stehen - und umso leich­ter wird er ma­ni­pu­lierbar.

Die Parteien haben ihre Beute so gesichert, daß werden muß wie sie, wer an ihr Anteil ha­ben will. [328]  "Was ist das für ein System," fragt der Radikaldemokrat Stub­be-da Luz verzweifelt, "in dem sich mit Erfolg nur solche Menschen zeit­weise zu wider­setzen vermö­gen, die aus demselben Holz geschnitzt sind wie die Funktio­näre?" [329]  Das Sozialschma­rotzer­tum, [330]  die Vorteil­nahme auf Ko­sten anderer, wur­de zur Exi­stenz­frage für Mil­lio­nen. Der Feh­ler liegt im Sy­stem: Die heu­tige libe­rale Zerr­form der "Demo­kratie" steht am Kul­mi­na­ti­ons­punkt einer Schwin­gung, [331]  der sich auf die For­mel "Du bis al­les, dein Volk ist nichts" brin­gen läßt und dem das frü­here "Du bis nichts, dein Volk ist al­les" dia­lektisch gegen­über­steht. Diese libera­le Ei­gen­süch­­tig­keit kann erst über­wun­den wer­den, wenn der im Egoismus als al­­leinigem Prinzip lie­gen­de Ex­tremis­mus als solcher allgemein durch­schaut wird. Das wird die Stunde der sy­stem­über­winden­den Refor­men im Sinne Scheuchs sein, in der das Feu­dal­sy­stem "auf Bun­des­ebe­ne be­sei­tigt" [332]  und durch ei­ne frei­heit­li­che, dem Ge­mein­­wohl und den Ein­zel­inter­essen glei­cher­ma­ßen ver­pflichtete Volks­herrschaft er­setzt wird, die zwi­schen den Extre­men des Un­ter­ta­nen­staates und der tota­len Feu­dalge­sell­schaft ein ausgewo­ge­nes Mittel­maß fin­det.

Die ökonomische Parallele

Der extreme Liberalismus möchte den Staat gegen Null ten­dieren sehen, weil er auf die sich ausbalancierende Kraft des Wettbe­werbs or­­ganisierter Grup­­pen­interes­sen baut. Sie sollen sich nach seiner "plu­­ra­li­sti­sche Harmonie­lehre" ge­genseitig in Schach halten und aus­pen­deln. [333]  Die­ses Inter­es­sen­ver­tre­tungs­mo­dell behauptet schein­hei­lig, was den Son­derinter­essen der jeweili­gen Ma­jo­ri­tät förderlich sei, könne dem Ge­meinwohl nicht scha­den: "Was für Ge­neral Mo­tors gut ist, ist auch gut für Ame­rika." [334]  Der Staat tritt hier nur noch als Agen­tur beim Aus­gleich der wider­streitenden In­ter­essen in Er­schei­nung und muß sich von Fall zu Fall besonders recht­ferti­gen, wenn er über­­ge­ord­ne­te Ge­sichts­punkte zur Gel­tung bringen will. [335]  Ja, man geht sogar so ­weit, so et­was wie ein Ge­mein­wohl über­haupt zu leug­nen und mit dem so­phi­sti­schen Ge­dan­kenkurz­schluß zu be­strei­ten, was das Ge­mein­wohl sei, hin­ge ja doch nur davon ab, wer die Macht habe, es zu de­fi­nie­ren. Letzt­lich sei das Gemein­wohl eine reine Fik­tion. Die Auf­gabe einer staat­lichen Ver­fas­sung reduziert sich nach die­ser Sicht auf ein blo­ßes Kon­fliktregulie­rungssystem zum wech­sel­sei­tigen Inter­es­sen­aus­gleich. Dem­ge­genüber läßt sich sehr wohl und sehr leicht fest­stellen, welche po­li­tische Maßnahme, z.B. auf ökono­mischen Gebiet, wem nützt. Un­ter demo­kra­ti­schen Prämissen kann Gemeinwohl nur be­deuten, als Be­zugs­grö­ße mög­lichst alle An­gehö­ri­gen des Volkes zu wählen, nicht hinge­gen nur eine Teil­gruppe oder gar Fremde.

Durch Ausschaltung dieses Gemeinwohlbegriffs ist die BRD heute die institu­tio­na­li­sierte Arena aller de­rer, die sich machtvoll or­gani­sie­ren und die Un­organi­sierba­ren als ih­re Schäfchen in den troc­ke­nen Pfrün­­den­pferch trei­ben kön­nen. Es herrscht das Gesetz des ökono­misch Stärkeren und Listige­ren. Wie sagte schon Carl Schmitt: Heute - 1923 also - erscheine das Parlament selbst als rie­si­ge An­tichambre vor den Büros oder Aus­schüssen unsichtbarer Macht­ha­ber. Die Selbst­­rechtfertigung dieses Sy­stems läßt sich ver­einfacht auf die vul­gär­­liberale Be­hauptung redu­zie­ren, die Re­sul­tante des Interessen­drucks sei identisch mit dem Gemein­wohl. Der inne­ren Logik des Li­be­­ralis­mus folgend soll das zual­lererst auf ökonomi­schem Ge­biet gel­ten. Ei­ner Nachprüfung hält diese These aller­dings nicht stand [336]  und er­weist sich als ideologi­sches Vor­urteil: Es führt bereits das Mit- und Ge­geneinander der Parteien und Ver­bände kei­nes­wegs zu einer hö­he­ren Harmonie und Ausgewo­gen­heit. "Mit Theodor Eschen­burg gilt: 'Was nicht or­ganisiert ist, ist un­ge­­schützt.' Der Druck der or­ga­ni­sier­ten Kräfte ist deshalb auch in der Summe alles andere als aus­ge­wo­gen. Dieses Un­gleich­gewicht infi­ziert die gesamte politische Wil­len­s­bil­dung. Die or­gani­sationsstarken Ver­bände haben nicht nur im Wege der Tarif­au­to­no­mie di­rekte Rechtset­zungsmacht, sondern mittels Geld, Sach­ver­stand und Wäh­­ler­stim­men auch Einfluß auf die Po­li­tik. " [337]

Wir haben gesehen, daß es in der Natur jedes einzelnen Men­schen einen of­fenbar art­er­hal­tenden und deshalb angeborenen Antrieb gibt, zu­nächst sein ei­genes Wohl zu för­dern und das der Allge­meinheit als für die Existenz des Indi­viduum se­kundär wich­tig hint­an­zustel­len. Wir haben uns auch mit letzt­lich dar­auf zu­rückführ­baren in­neren Ge­setz­mäßig­keiten jeder politischen Or­ga­ni­sa­ti­ons­bildung befaßt; sie neigt zu oligar­chi­schen Herr­schaftsstruktu­ren und un­ter­­liegt der Ten­denz zur Verselbständi­gung und Ver­festigung. Das Zusam­men­wir­­ken bei­der Faktoren, des natürlichen menschlichen Egois­mus und des u.a. aus dem Domin­anztrieb fol­genden eher­nen Ge­setzes der Oli­gar­chi­sie­rung, führt zwangs­läufig nach einiger Zeit zu feudalen Herr­schafts­struktu­ren. An­statt das Wohl der Allge­meinheit durchzusetzen, bilden die Herr­schen­den kleine Macht­grup­pen zur Förde­rung des Wohles ih­rer Mit­glie­der. Von ur­sprünglich politi­schem Wollen de­na­tu­rieren sie mit der Zeit zu ökonomisch motivier­ten Kartel­len zur Verteilung von Po­sten und Pfrün­den und werden zu ei­genwirt­schaft­li­chen Inter­es­sen­grup­pen; ein dem schon in der Antike be­kannten Verfall der Ari­sto­kratie zur Oligar­chie ver­gleichbarer Vor­gang. Auf den öko­nomi­schen Sek­­tor herabge­sunken, treffen sich die oligar­chischen Grüpp­­chen mit den dort ohne­hin schon vorhan­denen Sonder­inter­es­sengrup­pen, mit de­nen sie perso­nell von Anfang an teiliden­tisch sein kön­nen. [338]  So erzeugen die Al­lein­gel­tung des Öko­no­mischen und das blinde Walten seiner Ge­setze in einer vom Li­beralismus be­herrsch­ten Ge­sell­schaft einen "modernen Feudalis­mus" [339] , der die Ar­men schlim­mer unter­drücken kann als sein we­nigstens noch von christlichen Sitt­lich­­keits­ide­en beglei­teter mit­telalterlicher Vorgänger.

Der im politischen Raum festzustellenden Gegensatz zwischen dem All­ge­mein­wohl und den Einzelinteressen findet seine verblüf­fen­de sy­stemati­sche Ent­­spre­chung in volks­wirt­­schaft­li­chen Untersu­chun­gen, die sich die Frage nach der Ge­mein­verträg­lichkeit ei­gen­­nütziger In­te­rers­sen­organisation ge­stellt ha­ben. Die Me­cha­nismen der För­de­rung des ei­­ge­nen Wohls und die Or­gani­sa­tionen­bildung zur Durch­set­zung von Gruppeninteressen ge­gen das Allge­mein­wohl wir­ken sich volks­wirt­schaftlich in der­selben Weise aus wie im po­li­ti­schen Be­reich. Während diese Wir­kungs­zusammen­hän­ge im Poli­tischen den Hand­­lungs­­spiel­raum einen­gen und zu man­gelnder Vertret­ung des Ge­mein­wohls zu­gun­­sten von Son­derin­teressen füh­ren, [340]  haben sie im Öko­no­mi­schen eine ent­schei­dende Min­derung von Wachstum und Effi­zi­enz der Volks­­wirt­schaft zu­gun­sten kleinerer Vorteile von Ein­zel­­in­ter­essen zur Folge.

Amerikanische Ökonomen, namentlich Mancur Olson, kamen die­sen Ge­setz­mä­ßig­kei­­ten durch die Erforschung der Gründe für soge­nannte Wirt­schafts­wun­der auf die Spur. Wie es häufig ist, fan­den sie hinter ei­nem schein­baren Wunder ein allge­mein wir­ken­­des Ge­setz. Das Wunder hatte darin be­standen, daß die Volkswirt­schaften ver­schie­de­­ner Staa­ten seit Beginn der In­du­strialisie­rung auf­fällig unter­schied­liche Wachs­tumsra­ten aufwie­sen. Wäh­rend England im 19. Jahr­hundert noch einen extrem hohen Zu­wachs er­wirt­schaf­tete, ließ die­­ser bis in unsere Ta­ge immer weiter nach. Deutsch­land dagegen war in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts arm, holte aber nach der Grün­­dung des Zollvereins und 1871 des Deut­schen Rei­ches so schnell auf, daß es um 1914 Eng­land über­holte. [341]  Nach dem 2.Welt­krieg lag die jährliche Wachtstumsrate bis 1960 bei 6,6% (dagegen Eng­land 2,3%, Ja­pan 6,8%), bis 1970 nur noch bei 3,5% (E. 2,3%, J. 9,4%) und sank bis 1978 auf 2,4% (E. 2,0%, J. 3,8%). Man­cur Ol­sons ein­ge­hende und hier nicht im De­tail darstell­ba­re Un­tersu­chungen ha­ben einen direkten Zusam­menhang zwi­schen der Bil­dung und Ver­fe­sti­gung ökonomischer Son­derinteres­sen­grup­­pen und sin­ken­dem Wirt­­schafts­wachs­tum ergeben. Dieser Ursa­chen­zu­sam­­men­hang war mu­ta­tis mutandis in al­len ent­wickelten Ländern nachzuwei­sen:

Stabile Gesellschaften mit unveränderten Grenzen neigen da­zu, im Laufe der Zeit eine stei­gende Zahl vom "Kollusionen", d.h. Or­ganisa­tionen für kol­lek­tives Handeln, zu ak­kumulie­ren, [342]  also wirtschaftli­che Sonderinteressen­grup­pen und Verteilungs­koali­tio­nen. Diese sind auf innerge­sell­schaftliche Kämpfe um die Vertei­lung von Ein­kom­men und Vermögen aus­gerichtet. Für Deutsch­land wären dies nament­lich Wirt­schafts­verbän­de, Gewerk­schaften oder be­rufsstän­di­sche Kam­mern. Sie werden bei unverän­derten äu­ßeren Be­din­gungen mit der Zeit gesetz­mäßig mächti­ger. Schwach waren sie hingegen noch in der An­fangs­phase der Indu­stria­lisie­rung, die im 19.Jahrhundert für Eng­land früher liegt als für Deutschland. Wäh­rend die In­teres­sen­gruppen in England, unge­stört von gesell­schaftlichen Umbrü­chen, an Macht gewan­nen, wurden sie in Deutschland 1933 zerschla­gen oder gleich­geschal­tet, und was an ihre Stelle trat, wurde 1945 er­neut aufgelöst und bildete sich erst nach und nach neu.

Der Zweck von Interessenverbänden besteht darin, das Wohl ihrer Grup­pen­mit­glie­der zu för­dern. Dafür bieten sich theo­retisch zwei denkbare Wege an: nämlich eine Ver­größe­rung der gesamten volks­wirtschaftlichen Ver­tei­lungs­­mas­se oder die Erlan­gung ei­nes grö­ßeren Anteiles an ihr. So könnten zum Beispiel 1 Mio. Angehö­rige ei­ner Gruppe in das Ge­samt­wohl des z.B. 1oo Millionen zäh­lenden Volkes inve­stieren. Je­der Hand­schlag, der das Vermö­gen der 1oo Mio. ver­mehrt, zahlt sich für jeden Grup­pen­an­ge­hö­ri­gen zu 1/1oo aus; ihm kommt also nur diese Quote persön­lich zugu­te.

Der zweite Weg ist der Kampf um eine höhere Quote an der volks­wirt­schaft­li­chen Ge­samt­verfügungsmasse, ohne diese selbst zu er­hö­hen, oder gar unter Inkauf­nahme ih­rer di­rek­ten Verringe­rung. Sol­che Anstren­gun­gen zahlen sich für die Grup­penmit­glie­der di­rekt und voll aus. So vermehrt ein er­folgrei­cher Lohn­streik das Vermögen eines ÖTV-Müllwer­kers selbst dann, wenn er als Haus­haltsvorstand später selbst hö­here Müll­ge­büh­ren zahlen muß. Den Vorteil durch reines Vertei­lungsinteresse gelenk­ten Handelns ha­ben die Grup­­pen­mitglieder voll, wohingegen sie et­waigen Nachteil für das Ganze nur an­tei­lig als Ange­hö­rige der weit größeren Allge­meinheit tragen müs­sen. "Kurz ge­sagt, die typi­sche Organi­sation für kollekti­ves Handeln in einer Gesell­schaft hat wenig oder gar keinen Anreiz, ir­gendein be­deutendes Opfer im Interesse der Allge­meinheit zu brin­gen [...] Sie kann den Mit­glieder­in­teres­sen am besten die­nen, wenn sie nach einem grö­ßeren An­teil am Sozi­al­pro­dukt für sie strebt [...] In prak­ti­scher Hinsicht bestehen keine Schran­ken für die Höhe der so­zialen Ko­sten, die eine solche Organisa­tion im Zuge des Strebens nach ei­nem größe­ren An­teil am Sozialpro­dukt der Gesellschaft auf­zu­erlegen für zweck­­mäßig er­ach­tet." [343]  

Ob der dabei gewonnene soziale Nutzen für die Gemeinschaft als ganze die so­zia­len Kosten rechtfertigt, darauf nimmt die Inter­es­sen­grup­­pe also keine Rück­sicht. [344]  Um ihren Mitgliedern den schnell­sten Vorteil zu verschaffen, wird sie ihre Anstren­gungen und Geld­mit­tel nicht daran set­zen, die Volkswirtschaft als Gan­zes effizi­en­ter und den Ver­tei­lungs­ku­chen damit grö­ßer zu machen, obwohl ihre Mit­glie­der letzt­lich auch davon profitieren wür­den. Der antei­lige Nutzen am Vermö­gens­zuwachs des Ganzen läge aber für jedes Grup­penmitglied weit unter dem antei­ligen Auf­wand, den es in­vestie­ren müßte. [345]

Da die Konzentration auf Umverteilungsfragen die Bedeutung von ge­mein­sa­men In­teres­sen im Bewußtsein der Menschen ver­rin­gert, ma­chen sie das Le­ben zwie­träch­ti­ger; es kann nie­mand ge­winnen, oh­ne daß ein anderer min­de­stens ebensoviel ver­liert. [346]  Der bloße Zeit­­ab­lauf führt bei stabilen Gesellschaften nach Olsons Er­kennt­nis­sen zu ei­ner in­stitutionellen Skle­rose, al­so gewisserma­ßen einer Ver­kal­­kung der Ge­samt­ge­sell­schaft, die immer unbewegli­cher und in­ef­fi­zien­ter wird. Die An­pas­sung an sich ver­än­dernde Um­stände und neue Tech­nologi­en ver­zö­gert sich. Die un­kri­tische Über­­zeugung, Koa­li­ti­ons­­freiheit, Selbst­or­ganisation gesell­schaft­li­cher Grup­­pen und die In­sti­tutionalisierung von Interes­sen­grup­pen seien auch nach lan­ger Le­bensdauer per se nur nützlich für das Ganze, ist dem­­nach falsch. [347]

Es ist daher wenigstens so viel Staat erforderlich, daß die in­stitu­tio­­nelle Skle­rose in ge­meinver­träglichen Grenzen ge­halten und ein Gleich­­ge­wicht zwi­schen berech­tig­ten Son­der­in­teressen und dem All­ge­­mein­wohl erzielt wer­den kann. Die ihrer Natur nach dem Ge­mein­wohl ab­träg­lichen ökonomischen Son­derin­teressen dür­fen sich nicht voll­­ständig durch­set­zen. Es ist die Grund­über­zeu­gung der libe­ralen "Lais­sez-faire"-Ideo­­logie, daß jene Re­gie­rung am besten ist, die am we­nig­sten regiert; die Märkte würden das Pro­blem lösen, wenn die Re­­gierung sie nur in Ruhe ließe. In den volks­tümlichsten Darstel­lun­gen dieser Ideologie gibt es einen Mo­no­dia­bolis­mus, und der Teufel ist im­mer der Staat. Wenn die­ser Teu­fel in Ketten gehalten würde, gä­be es ei­nen fast utopi­schen Man­gel an Sorgen um andere Proble­me. In Wahrheit findet aber oft auch dann kein freier Wettbe­werb statt, wenn die Regierung nicht in­terveniert. Der Staat ist kei­nes­wegs die einzige Ursache von Zwang oder so­zia­lem Druck in der Ge­sell­schaft. [348]

Aus der Welt zu schaffen sind Gruppenegoismen allerdings prin­zi­piell nicht, weil in­teres­senori­entiertes Handeln der Natur des Men­schen ent­spricht. Kon­servati­ve Kon­zepte müssen das als ge­ge­ben hin­neh­men, halten sie sich doch selbst ih­ren anthropo­logi­schen Rea­lis­mus zugute. Es gilt daher Wege aufzu­zei­gen, die Ver­bän­de­egois­men zu zähmen und gemein­wohl­kon­form in das Ver­fas­­sungssystem zu in­te­­grieren. Da die er­kannten Mängel ganz über­wie­gend struk­tur- und sy­­stembedingt sind, gilt es, des­halb, die Struktu­ren zu än­dern. [349]  Da­ge­­gen wäre der Ver­such einer Un­ter­drückung bür­ger­li­cher und wirt­schaft­li­cher Interes­sen­vertre­tung mit dem na­tür­li­chen Be­dürfnis des Men­­schen nach Grup­pen­bildung und sei­ner zu ach­tenden Frei­heit, sich mit Men­schen glei­chen In­ter­es­ses zu ver­binden, unverein­bar.

Die Zivilreligion

Der Liberalismus wird weltanschaulich totalitär. Die besondere Gefährlich­keit des Parteienstaates beruht auf der ideologischen Ho­mo­­genität seiner Staats­parteien und dem von ihnen ausgeübten Ge­sin­­nungs­­druck. Nach Kelsen möch­te die li­berale De­mo­kratie gern "der Aus­­druck eines politi­schen Rela­tivismus und ei­ner wunder- und dog­­men­befreiten, auf den mensch­lichen Verstand und den Zweifel der Kritik gegründeten Wis­sen­schaft­lichkeit" [350]  sein. In einem säku­la­ri­­sier­­ten, weltan­schau­lich neu­tralen Staat dürfte es libe­raler Ansicht nach keine frei­heit­liche de­mo­krati­sche Staats­re­ligion ge­ben. [351]  Es gibt sie den­noch. "Aus dem 'Verfassungspatriotismus' wird eine gera­de­zu religiös verklärte 'Verfassungsmystik'." [352]

Das Di­lemma des Li­beralismus besteht darin, daß er wohl sei­ner Selbstein­schät­­zung nach plura­listisch sein möch­te, so daß mo­ra­lische oder re­ligiöse Dog­men quer zu seiner kri­tisch-rationa­li­sti­schen Ei­gen­recht­ferti­gung zu liegen schei­nen, daß die Einlö­sung sei­nes Plura­lis­mus­ver­sprechens aber zu sei­ner fak­tische Selbst­auf­ga­be füh­ren würde. Die liberale De­mo­kratie sieht sich mit ihrer Ei­gen­recht­ferti­gung im ent­­­schie­de­nen Ge­gen­satz zur "totalitären Dik­ta­tur", welche "die Recht­­­fer­tigung der richtigen Politik durch Rück­griff auf erste, wahre Prin­­zi­pien" will. Sie möchte die "Dog­matisie­rung des politi­schen Irr­tums" ver­hin­dern [353]  und lehnt offiziell "eine positive, in­halt­li­che Nor­­­­mie­rung und Fest­schrei­bung des sozia­len Le­bens nach vor­ge­faß­ten ... Postu­la­ten" ab.

Der Liberalismus stünde gegenüber konkurrierenden Ideo­lo­gien wehrlos da, wenn er ihnen, getreu seiner Selbstrecht­fer­ti­gung, nur "li­be­ral" und pluralistisch ge­gen­übertreten und sich selbst kritisch-ra­tio­na­listisch be­trachten würde. Tat­sächlich sieht er alle an­­­deren Phä­no­me­ne mit kritisch-rationalistischen, aufge­klärten Au­gen, nur sich selbst nicht. Wie je­des Herr­schafts­sy­stem würde er un­ter­­ge­hen, wenn er die geistigen Grundlagen sei­ner Macht nicht mit Ge­­sin­nungs­druck ver­teidi­gen, würde, wo sie angegriffen wird. Die weltli­che Macht über die Men­schen behält er nur durch die spiri­tuelle Kontrolle über ihren Glau­ben. Trotz liberal-auf­klä­re­ri­scher Attitüde muß auch der Liberalismus an sich selbst glau­ben, weil sich die libe­ra­le Ratio nicht mit sich selbst begründen kann. Darum muß er mit sei­nen eigenen Prä­missen in Konflikt kom­men und diese mit quasi-reli­giö­ser In­brunst ver­teidigen, sobald sie grund­sätzlich in Frage ge­stellt werden.

Keine Herrschaft hält sich dauernd, die ihren Untertanen nicht die Frage be­ant­worten kann, welchen Sinn ihr Gehorsam eigentlich hat. Diese Sinnstif­tung ist Auf­gabe von Herrschafts­ideologien. Derartige Ideengebäude grün­den auf kon­kre­ten er­wünschten Einzeltugenden, zum Beispiel der Treue zum Königs­haus in der Monar­chie, der virtù in der Republik oder der Got­tes­furcht im klerikalen Staat. So­zio­lo­gisch betrachtet fungieren derartige meta­physischer Gebote als Mittel der Herr­schaftstech­nik. Sie verordnen den Be­herrschten eine Ethik, unter deren Gel­tung nicht nur die Herr­schenden weiter herr­schen und die Be­herrschten weiter beherrscht bleiben, son­dern sich dar­über hin­aus des Beherrscht­werdens erfreuen und es als ethisch anstößig emp­fin­den, überhaupt die Frage nach der Legiti­mation der Herr­schaft auf­zuwer­fen oder gar gegen sie anzukämpfen. Dem ju­ri­stischen Ver­bot des weiteren Kampfes um die Macht folgt das mo­rali­sche: Der Un­terle­gene soll eine Wie­der­aufnahme des Kampfes noch nicht ein­mal mehr denken dürfen. Der end­gültigen Durchset­zung der etablier­ten Macht folgt die Mo­ralisie­rung des Politi­schen. Dem Un­terlegenen wird eingeredet, daß es mora­lisch  böse und ethisch anstößig sei, um Macht zu kämpfen, ja daß es über­haupt keine exi­stentielle Feind­schaft gibt, die das Kämpfen lohnen würde. Das Fried­lich­keitsge­bot ist die Waffe des Siegers, und die Wieder­aufnahme des Kampfes zum Ge­dankenverbre­chen; schließlich zum Tabu. Dieses kann unter den Be­din­gungen des Medienstaates er­rich­tet, durchgesetzt und instru­mentalisiert werden.

Wäh­rend die Obrig­keit der mittelal­terlichen Feudal­ge­sell­schaft ihre Un­ter­­ta­nen glau­ben machte, ihre Herrschaft be­ru­he auf Gottes Wil­len, steht die intellek­tuel­le Raf­finesse mo­derner li­beraler Herr­schafts­recht­fertigung den alt­vorderen Vorbildern in nichts nach. Es geht heute um die Wahrung der ge­sell­schaft­li­chen Macht der öko­no­misch je­weils Stärksten. Diese bedarf zu ih­rer Legi­ti­mie­rung des Glaubens der vielen Schwächeren, das mög­­lichst un­kontrol­lierte Walten rein ökonomi­scher Fak­toren führe über eine Art Kräf­te­ba­lance zur Har­monie und auch ihrem, der Schwä­cheren, Gedeihen. Durch kritisch-ra­tionalisti­sches In­fra­ge­stel­len aller nicht ökono­misch begründeten mensch­lichen Gemein­schaf­ten sollen diese entle­giti­miert und schließ­lich zer­stört werden. So ge­rät der von den Bindun­gen an Volk und Fa­milie "be­frei­te" Deutsche um­so sicherer unter die Herrschaft des internationalen Gel­des und findet sich als Ver­braucher wieder.

Wie sich der real exi­stie­rende Liberalismus aus dem ihm eigentlich verhaßten Arse­nal seiner ideolgischen Gegner bewaffnet, zeigt sich bereits in seinen äuße­ren Alltags­formen. Politische Reden werden "wie ein mo­ra­lisch-rhetorisches Hochamt began­gen", in dem "die Li­tur­­­gie vom gu­ten Menschen zelebriert wird" [354]  Nicht zufällig ent­fernt sich der deut­sche All­tag seit einigen Jahren wie­der von jener nüch­ter­nen Nach­kriegs­zeit, in der die vom NS-System noch wirk­lich Be­trof­fe­­nen von Pa­thos und Auf­mär­schen, Fahnen, Schwüren, Hymnen und Fac­kel­zü­gen die Nase voll hatten. Die nachgebore­nen Be­trof­fe­nen ahmen in stei­gendem Ma­ße wieder die äußeren Formen reli­giöser Kult­hand­lungen nach, wie sich auch bereits die Aufmär­sche und Fei­er­stun­den der Na­tio­­nal­so­zia­li­sten und der Kom­munisten bewußt der äuße­ren Formen reli­­giö­ser Kult­hand­lungen be­dient hatten. So ist es kein Zufall, wenn wir evan­ge­li­sche Pastoren an der Spit­ze von Lich­terketten mar­schie­ren sehen. Die­se gehö­ren zur Fami­lie der Fackel­züge und Buß­pro­zes­sio­­nen und ge­hen letztlich auf vor­christ­lich-ar­cha­i­sche Kult­hand­lun­gen zu­rück. Es ist auch kein Zu­fall, wenn CDU-Stra­te­gen die Stig­ma­­ti­sie­rung politischer Geg­ner anstreben. In die­sen Zusam­menhang ge­­hören die ge­bets­müh­lenartig wie­der­hol­ten Be­­trof­fenheitslita­neien eben­so wie der gesell­schaftliche Bann für Un­gläu­bige. Jede Herr­schafts­rechtferti­gung ist eben in ih­rem Kern Re­li­gion. "Al­le präg­nanten Begrif­fe der mo­dernen Staatslehre sind sä­ku­la­ri­sier­te theo­logische Begrif­fe." [355]  Da­her ist je­des System nur im Kern sei­ner meta­physi­schen Letzt­recht­fer­tigung erfolgreich an­greif­bar. Diese wird es diese mit quasi­re­ligiö­ser Inbrunst ver­tei­di­gen und dabei mit den Waf­fen der Ket­zer­verfol­gung zu­rück­schla­gen müssen, oder es wird un­ter­ge­hen. Es genügt nicht, die Hand­lun­gen des Ab­weichlers zu ver­bieten. Auf Dau­er läßt sich ein System nur verteidigen, wenn es alle Taten und die Gesin­nung des­je­nigen verflucht, der es abschaffen will.

Im diesem Lichte betrachtet entpuppt sich der angeblich auf­ge­klär­te, säkula­ri­sier­te Deutsche des ausgehenden 20. Jahrhun­derts als ebenso anfällig für das Pathos der heute dominanten huma­ni­ta­ri­sti­schen Zi­vil­reli­gion wie sein mittelal­terli­cher Vorfahre für die christ­li­che Religion. Je­des Zeital­ter hat seine eige­nen My­then. Heute er­füllt der Glau­be, daß alle Gewalt vom Volk kom­me, eine ähnli­che Funk­ti­on wie frü­her der Glaube, daß alle obrig­keit­li­che Ge­walt von Gott kom­­me. [356]  Robert Michels sprach 1911 tref­fend vom Gott der De­mo­­kra­tie. [357]  Zu den Dogmen der humanita­ristischen Zivilreligion ge­hö­ren neben der Souveräni­tät des Vol­kes ein ega­li­taristi­sches Ver­ständnis der Menschenrechte, und ähnli­che Ge­dankenkonstruk­te. Sie wer­den von ih­ren Gläu­bigen mit dersel­ben Wut ver­teidigt, über die Voltaire im März 1737 an Fried­rich schrieb: "Alle Theolo­gen al­ler Länder (sind) Leute, die von heiligen Schimären trunken sind, (und) ähneln jenen Kardinä­len, die Gali­lei ver­dammten..." So zeigt sich heute der theologi­sche Kern der humanitaristischen Men­schen­rechts- und De­mo­kra­tie­theo­rie, der alle Säkularisierungen über­stan­den hat. [358]  Über die christ­li­chen engen Verwandten unserer De­mo­kra­tie­gläu­bi­gen schrieb Fried­rich der Große an Voltaire am 4.11.1736: "Was die Theo­logen an­geht, so scheint es, als ähnelten sie sich alle im all­ge­mei­nen, gleich welcher Religion oder Na­tion sie an­gehö­ren; stets ist es ihr Be­stre­ben, sich über die Gewissen eine des­potische Auto­ri­tät an­zuma­ßen." 

Die Gläubigen unserer Zeit ver­teidigen ihre Moral mit dem­­sel­ben quasire­li­giösen Fa­na­tismus wie die Gläu­bigen aller Zei­ten ihre je­wei­ligen Götter. Fried­rich hatte sie in ei­nem Brief an Vol­taire am 6.7.1737 so charakterisiert: "In Deutschland fehlt es nicht an aber­gläu­­bi­schen Leu­ten, auch nicht an von Vorur­teilen be­herrschten und bös­­artigen Fanati­kern, die umso un­verbes­ser­li­cher sind, als ih­nen ih­re tumbe Unwis­senheit den Gebrauch der Ver­nunft ver­bie­tet. Es steht fest, daß man im Dunstkreis solcher Untertanen vor­sichtig sein muß. Selbst der ehrenhafteste Mensch ist ver­schrien, wenn er als Mann oh­ne Re­ligion gilt. Reli­gion ist der Fe­tisch der Völ­ker. Wer auch immer mit profaner Hand an sie rührt, er zieht Haß und Ab­scheu auf sich." [359]  Ebenso verfah­ren die modernen De­mo­kra­tie­gläubigen, die Be­­troffe­nen, bei wirk­li­chen oder ein­ge­bil­deten An­grif­fen auf ihren Gott. Wer mit pro­faner Hand an die ver­götterte De­mo­kratie rührt oder sie gar an­zweifelt, stößt sich selbst aus der Ge­mein­­schaft der Gu­­ten so sicher aus wie jeder Ketzer in irgend ei­nem Zeitalter. Wer das nicht glaubt, kann ja einmal öffentlich be­kennen, kein Demo­krat oder nicht betrof­fen zu sein, und warten, was dann pas­siert: Er zieht un­­weigerlich die soziale Reaktion des Mob­bing [360]  auf sich: die Grup­pen­hatz. Er wird er­fahren, was das Wort Sündenbock eigent­lich be­deu­tet und was es heute heißt, einer zu sein: Wie in allen Zei­ten der Sün­denbock rituell ge­schlachtet wurde, um sym­bolisch die Sün­den der Gemeinschaft der Recht­gläubigen auf sich zu zie­hen und jene zu er­lösen, fühlt sich der mo­derne Betrof­fene gleich besser, wenn in ei­ner Talkschau, der Mit­ter­nachts­mette der liberalen Dis­kurs­gesell­schaft, mit gehörig betrof­fe­ner Miene der Neonazi be­schwo­ren, ver­dammt und ausgetrieben wurde. Oh Herr, ich danke dir, daß ich nicht so scheußlich bin wie jener! In Sodom und Go­morrha soll es leider kei­nen Ge­rech­ten mehr gegeben haben. Im Li­be­ralismus gibt es nur Ge­­rechte: Pharisäer - Selbstgerechte - sagte man früher.

Wie die Hohepriester aller Religionen Sündenböcke brau­chen, be­nö­tigt der libe­ra­le Staat den seinen: Es ist der soge­nannte Neo­nazi. Ob jemand Neonazi ist, be­stimmt er freilich eben­sowenig selbst wie ir­gendein anderer historischer Sün­den­bock. Heute bestimmen die Mas­­senmedien nach ihren Bedürfnissen, wer Neo­nazi ist. Vor den Richter­stüh­len der mo­dernen Dreifaltigkeit aus Fernsehmo­de­ra­toren, Staats­­par­tei­en und Verfas­sungsschutz gilt wieder das Wort Friedrichs des Gro­ßen: "Wir haben hier eine Sekte Seeliger, die den Pres­by­te­ria­nern in Eng­land ausge­spro­chen ähnelt und so­gar noch un­er­träg­licher ist, weil sie in stren­ger Recht­gläubigkeit ohne Ein­spruchs­recht alle je­ne der Ver­dam­­mung überantwor­tet, die nicht ihre An­sichten tei­len." [361]  Damit hatte er auf Voltairs Satz ge­antwor­tet: "Es wird eines Ih­rer größten Ge­­schenke an die Menschheit sein, wenn Sie Aber­­glau­ben und Fana­tis­­mus unter Ihren Sohlen zertreten, nicht zu­las­sen, daß ein Mensch in Robe andere Men­schen verfolgt, die nicht so den­ken wie er." [362]  

Der Liberalismus mußte zwangsläufig totalitär werden, so­bald ei­ne wach­sende und nicht mehr ohne weiteres beherrsch­bare Zahl sei­ner Untertanen mit ihren Inter­essen in Konflikt zu den Interessen der­je­ni­gen kam, welche durch den liberalen Status quo be­vorzugt wer­den. Die liberale Auffassung vom Staat als großem Be­trieb führt zur Öff­nung der Grenzen und zur Privatisierung wichtiger Lebensberei­che wie demje­nigen der öffentlichen Sicherheit, widerspricht aber den Bedürfnissen vieler Bür­ger. Die Beispiele ließen sich be­liebig ver­meh­ren. Dem Pochen von immer mehr Bür­gern auf gegen den Libera­lis­mus gerichteten persönlichen und nationa­len Inter­es­sen kann die­ser nur noch damit begegnen, daß er es als ketzerisch brand­markt, seine Ab­weichler stigmatisiert oder als Neo­nazis dämonisiert. Der Kultus der Staatsreligi­on Libe­ralis­mus mit seinen von Pastoren an­geführten Lichterket­ten und Betroffen­heitsri­ten, seinen Ta­bu­zo­nen und Exor­zismen wird sich aller­dings nur halten können, wenn es dem Li­bera­lismus gelingt, die Anzahl seiner Gegner recht­zei­tig durch Mas­senein­wanderung in die Minorität zu drängen und wei­terhin sozial und po­li­tisch auszuschal­ten.

Auf der Suche nach der idealen Staatsform

Parlamentarismus und Menschenrechte

Gegen die unbestreitbaren und seit Jahrzehnten bekannten Mängel des par­la­men­ta­ri­schen Systems wenden die Anhänger des Parla­men­ta­rismus ein, grö­ße­re Frei­heit ha­be der Bürger nirgends. Diese Meinung beruht auf einer Verwechs­lung von De­mo­kratie und Rechts­staat­lich­keit. Diese ist eine altliberale Schöp­fung. Pure De­mokra­t­ie, lehrt ge­schichtliche Erfahrung, könnte dagegen zur ja­kobinischen Willkür der Mehr­heit führen. David Hu­me hatte behauptet, daß es im Frank­reich des ancien régime mehr Frei­heit der Rede und des Handelns ge­ge­ben habe, als im re­pu­blikani­schen Hol­land: Ei­ne Mon­archie ha­be es näm­lich nicht nötig, zu so willkürlichen Maß­­nah­men zu greifen, wie die hol­län­di­schen Be­hörden es notge­drun­gen täten. [363]  

Heute verbreiten Liberale das Vorurteil, es möge zwar gegen das Funk­tio­nie­ren der Leit­ideen des Parlamentarismus be­grün­de­te Ein­wände ge­ben - ja, man gibt mit ent­waff­nendem Lächeln zu, daß er "die schlech­­te­ste Staatsform über­haupt" sei - in­des­sen gebe es eine bes­sere auch nicht. Vor allem hätten alle Al­ternati­ven noch schlim­me­re Nach­teile. So habe es Mas­sen­tötun­gen und -vertrei­bun­gen in voll aus­ge­bil­deten parla­men­tari­schen Sy­ste­men nie gegeben. [364]  Aber fand das demokra­tisch-parla­mentarische Ame­rika etwas da­bei, die In­di­a­ner fast auszurotten und bis zum Se­zessi­onskrieg Skla­ven zu halten? Hat­ten nicht die ur­par­lamentari­sch re­gier­ten Briten im Bu­ren­krieg 1902 die er­sten Kon­zentrati­onslager der Ge­schichte ge­baut und seit 1932 den totalen Bomben­krieg auf die Zivilbevölkerung ei­nes po­ten­tiel­len Kriegsgeg­ners ge­plant? Wurde nicht Lud­wig XVI. von Par­la­men­ta­ri­ern der franzö­si­schen Na­tio­nal­ver­samm­lung zur Guillo­tine ge­schickt? Die Achtung vor den Men­­schenrechten hängt nicht von der Re­gie­rungs­form ab. Darum sind auch Demokratie oder Parlamentarismus keine Vorbedingung für die Geltung von Menschenrech­ten. [365]  Leicht ließe sich ein Register kleiner und gro­ßer Sün­­den par­la­men­ta­risch regierter Staaten aufstellen. Ein an­schau­li­ches Bild davon, was auch in der angebli­chen westlichen Wer­te­ge­mein­schaft unter  einer parlamentari­schen Re­gierung 1945-1949 in Bel­gien möglich war, vermittelt Reiß­mül­ler: "Zur Re­pres­sion der Nach­kriegs­jahre gehör­te un­ter vielem an­de­ren fol­gendes: Frauen und Kinder von Be­schuldigten wur­den im Voll­zug von Sip­penhaf­tung ein­ge­sperrt. In den Ge­fäng­nis­sen und La­gern - so­gar ein von den Deut­schen errichte­tes und be­trie­be­nes Kon­zen­tra­ti­ons­lager führte man mit neu­en Häft­lingen weiter - wur­de ge­fol­tert, ge­tö­tet. Unzäh­lige Straf­ver­fahren sprachen jeder Rechts­staat­lich­keit Hohn; sie wurden im Blitz­tempo geführt, der An­ge­klagte wur­de nicht ge­hört, die Ver­tei­di­gung be­hin­dert, Ent­la­stungs­zeugen wur­den be­droht ... . Zehntau­sende Per­sonen ka­­men ohne straf­recht­li­chen Vor­wurf in Haft. ... . Ein an­de­res Ka­pi­tel da­­ma­­ligen Staats­un­rechts war das Gesche­henlassen von Ter­­ror, den nach der Befreiung wirk­liche oder falsche Wi­der­ständ­ler üb­ten. In je­nen Monaten haben ent­fesselte ein­zelne und Grup­pen ge­mor­det, ge­fol­­tert, verschleppt, ver­ge­wal­tigt, ge­­raubt; Po­lizei und Straf­justiz schau­­ten weg oder zu." [366]  

Die kühne Be­haup­­­tung der Liberalen, ihr Par­lamentaris­mus sei die einzige Staats­form, die Menschenrechte und bür­­­gerliche Frei­heiten ga­­rantie­ren könne, ist also durch vielfache hi­sto­­rische Erfah­rung wi­der­legt. Da diese Men­schen­rechte als "Natur­rech­te" zur Summe aller vor­­po­si­ti­ven Rechts­nor­men gehören, werden sie aus­­­drück­lich für ge­gen das staatliche Recht ver­­bindlich erklärt und kön­­­n­en weder be­griff­­li­­che Merkma­le der De­mo­kratie noch des Par­la­men­­­ta­ris­mus oder ir­­gend­­­ei­­ner anderen be­stimmten Staatsform sein. Keine bestimmte Re­gierungs­form al­­lein garan­tiert also Humanität oder Men­schen­rech­te. Daher "bekennt sich" das Grundgesetz zu den vor­staatlichen Grund­rechten und begründet sie nicht erst. Für den Par­­la­men­ta­ris­­mus sind Freiheits­rechte der Bür­ger gegen den Staat zwar auch grund­le­gend; jedoch nicht als Ausdruck der all­ge­mei­nen oder unverän­der­li­chen Natur des Men­schen, [367]  sondern rein funk­­­tio­nal auf das parla­men­tarische System be­zo­gen. Der pri­märe Sinn des gan­­zen Sy­stems von Pres­se-, Meinungs- und Ver­samm­lungs­frei­heit hatte darin be­stan­­den, den für das Funk­tionieren des Par­la­menta­rismus nach der libe­ra­len Idee kon­sti­tu­ti­ven Pro­zeß der öf­­fent­li­chen Meinungs­bil­dung zu ge­­währlei­sten, [368]  in dem durch den frei­en Kampf der Mei­nun­gen die "Wahr­heit" ent­stehen soll als die sich aus dem Wett­be­werb von selbst er­ge­ben­de Harmonie. Diese ur­­sprüngli­che Funk­ti­on ha­ben sie aller­dings im real exi­stierenden Par­la­­­men­ta­rismus vollstän­dig eingebüßt. Nur der bür­ger­liche Rechts­staat mit seinen Freiheiten ver­hin­dert, daß Demo­kratie jako­binisch wird. Seine konsequente Durch­füh­rung durch den Vor­rang der In­­di­vidualrechte verhindert die kon­sequente Durch­­­füh­­rung des demo­kratischen politischen Form­prin­zips [369]  und ver­­­leiht so dem an sich totalitären De­mokratie­konzept ein "mensch­­li­ches Ant­litz." [370]  Im heutigen Par­la­men­ta­ris­mus ge­win­nen die Grund­rech­te zu­neh­­mend Be­deu­tung als Ab­wehr­rech­te ge­gen als staatli­che Macht ko­stü­mierte Par­tei­will­kür. Nur ein neutraler Rechts­staat mit garan­tierten Bür­gerrech­ten kann uns heute noch vor dem Ja­kobi­nis­mus der rich­ti­gen Bewußt­seins und den Herrschafts­tech­niken der an die Macht ge­kommenen früheren Apolo­geten des herr­schaftsfreien Dis­kur­ses schüt­zen.

Wenn also die Menschenrechte weder Begriffsmerkmal der De­mo­kratie noch des Parla­men­taris­mus, sondern diesen nur auf­ge­pfropft sind: Warum sollen sie nicht auch an­dere Staatsformen und darüber hinaus jede organi­sierte Macht erst veredeln und er­träg­lich ma­chen können? So bereitet we­der be­griff­lich noch tatsächlich die Vorstel­lung einer konstitutionellen Monarchie, einer Ari­sto­kratie oder einer nicht absolut parlamentsbeherrschten Republik mit Bür­ger- und Frei­heits­­rech­ten ge­dank­li­che Schwie­rig­keiten. Die Not­wen­dig­keit die­ser Rech­te folgt nämlich aus vor­staat­li­chen Wertent­schei­dun­gen, de­ren Rich­­­tig­keit in vielen Sy­stem gültig bleibt: Sie sind daher auch ob­jek­ti­ve Ord­­nungsprinzipien für die von ih­nen ge­schützten li­be­ralen Wert­ge­gen­stände wie Ehe, Fami­lien, Presse und Eigentum [371]  und als sol­che ein not­wendiges Ele­ment und Mittel zur Integration des Staa­tes. In die­sem Sinne ist Frei­heit nicht als schran­ken­lose Libertinage zu ver­­ste­hen, son­dern als "Freiheit zur Realisie­rung der durch die Grund­­­rechte ausgedrückten Wert­vorstel­lun­gen." [372]  Diese Wert­ent­schei­dun­gen sind auch an­deren Wertordnun­gen eigen und unabhängig von der Staats- und Regierungs­form. "Mit Hilfe der bürgerlichen Frei­heit kann also jeder Staat, oh­ne Rücksicht auf seine Staats- oder Re­­gie­rungs­form, in der Aus­übung der staatlichen Macht beschränkt wer­den. Ei­ne Durch­füh­rung dieser Prinzipien verwan­delt jede Mon­archie in eine ver­fas­sungs­ge­setz­lich beschränkte, sog. kon­sti­tu­tio­nelle Mon­ar­chie ... Eben­so wird das politische Prinzip der De­mo­kratie ver­än­dert und aus einem rein de­mokratischen Staat eine kon­stitutio­nelle De­mokra­tie. Die Prin­zipien der bürgerli­chen Freiheit kön­nen sich des­halb auch mit je­der Staats­form verbinden, sofern nur die rechts­staat­lichen Schran­ken der staatlichen Macht aner­kannt sind und der Staat nicht 'absolut' ist." [373]

Lernen aus der Geschichte

In einem absolut monarchischen Duodezfürstentum des 18. Jahr­hun­­derts konnte man als Bürger ebenso frei von staatli­cher Re­pres­sion le­ben, wie in ei­ner zeitgenös­si­schen Stadt­re­pu­blik wie Köln oder Ham­­burg; und unter preu­ßisch-­monarchischer Herr­schaft hatte ein Ehe­paar vor hundert Jah­ren in Frankfurt am Main eine objektiv grö­ßere Chan­ce, eine Schar fröhlicher Kin­der groß­zu­ziehen, als heute im "de­­mo­kra­ti­schen" Frankfurt, in dem Ju­gend­banden schon in Schulen mit Waffen han­tieren und die Ge­fah­ren durch Rausch­gift weitaus grö­­ßer sind, als eine mögliche Be­drän­gung durch staatli­che Gewalt im Kaiserreich. "Freiheit läßt sich wirksam nur als einheitli­che ge­währ­lei­sten, und aus ei­ner unfreien Ge­sell­schaft kann kein frei­heit­li­cher Staat her­vor­ge­hen. Sofern Frei­heit nicht nur die Freiheit der Mäch­tigen, gleich wel­cher Rich­tung, sein soll, bedarf sie viel­mehr des Schut­­zes so­wohl ge­gen staatli­che als auch ge­gen ge­­sellschaftliche Be­ein­trächti­gungen; ihre Wahrung erfor­dert also eine Siche­rung im Rah­men der Ge­samt­gesell­schaft [...]. In­sofern ge­winnt ge­sell­schaft­li­che Frei­heit [...] Wirk­­lich­keit erst durch staatliches Tätig­werden." [374]

Zugegeben: Wer damals "staatsfeindliches" sozialdemo­kra­tisches Pro­­­­pa­gan­da­ma­te­rial her­ausgegeben hätte, der hätte früh um sechs von der Polizei aus dem Bett geholt werden können. Aber kann das 1994 nicht ebenso pas­sie­ren? Es ist schon zu oft pas­siert. Nur sind jetzt die Po­lizisten sozialdemo­kra­tisch und tragen keine Pickelhauben mehr; als "staats­feindlich" gelten jetzt an­dere Bestre­bungen, aber das gut einge­übte Beschlagnah­men von Propa­gan­da­ma­terial, Fahnen oder Kenn­zei­chen oppositioneller Gruppen hat in Deutsch­­land bisher unter kei­ner Re­gierung aufge­hört. Und wer in St.Petersburg 1905 "auf die Stra­ße ging", wurde leicht von ei­nem za­risti­schen Kaval­leriesä­bel ge­troffen; doch wer heute in Ham­burg zu spä­ter Stun­de in der fal­schen Stra­ße spazie­rengeht, dem kann mit stati­stisch noch größe­rer Wahr­schein­­lich­keit das­selbe durch die Klinge eines Krimi­nellen pas­sie­ren.

Freiheit bedeutet eben nicht nur Freiheit von staatlichem Über­griff, son­­­dern auch von Ge­fahren unserer banalen, all­täglich ge­wordenen Kri­­minalität. Die Summe aller "privaten" kriminellen Übergriffe auf Leib, Leben und Ei­gentum der Bürger war und ist aber notwen­dig in libe­ralen Parlamenta­rismen höher als in ande­ren Staaten, weil der Staat bewußt ohn­mächtig gehalten wird. Mit libe­ralistisch halbierter Ver­­nunft wird dann ent­setzt ver­merkt, daß die Polizei bei ei­ner Ring­fahn­­dung "unsere Daten" benutzt, als ob da­von ei­ne Gefahr ausginge; lieber läßt man die Verbrecher laufen. Der Staat soll nach Meinung des Libe­ra­len alles können, aber nichts dürfen. Die sich dabei un­ver­meid­lich ein­stel­len­den mafiosen Strukturen nimmt der Liberale in sei­ner einäugi­gen Fixierung auf die von der Staatsgewalt potenti­ell aus­ge­henden Ge­fahren hin und gelangt dabei vom Regen in die Traufe. So kann der erzli­berale Nachtwäch­terstaat den in­neren Frieden und die Freiheit der Bürger nicht wah­ren, wenn er ihnen nur hoch und hei­lig ver­spricht, ih­nen auch gewiß nichts zu tun, und das Verspre­chen dadurch einlöst, daß er gar nichts mehr tut und zum impotenten Pa­pierti­ger wird. "Die indivi­dualistischen Apostel haben noch nicht er­kannt, daß auch die Republik ein Staat ist, der bejaht werden muß." [375]  Das eigentliche Problem besteht also darin, daß der not­wen­dige Schutz vor staat­li­cher Will­kür in einem aus­gewogenen Ver­hält­nis ste­hen muß zu ei­nem aus­rei­chen­den Maß an staat­li­cher Macht, um die Bürger voreinander zu schüt­zen [376] . Die­ses Ver­hält­nis ist heu­te tief­grei­fend ge­stört.

Wo nicht ein neu­tra­­ler Rechts­staat herrscht, herr­­schen be­­sten­falls Verbände, Cli­quen und Interes­sen­­grup­­­pen; schlimm­­sten­­­falls herrscht die Mafia. Die li­be­ra­le Ge­sell­schaft ist der ideale Nähr­bo­den für Ma­fias aller Art, [377]  und zu­weilen drängt sich die Frage auf, ob Staat überhaupt noch existiere oder ob er zum Ei­gen­­tum ma­fio­ser Po­litik­gruppen ge­wor­den sei." [378]  Ein System muß aber not­wen­dig schei­tern, das den Ei­gen­nutz zum al­lei­­ni­gen Prinzip er­hebt und daher keine Sicherun­gen ge­gen Kor­rup­tion hat. Mit aller Kunstfertigkeit und mit allem Fleiß sucht der Li­be­ra­le ein Gleichgewicht zu errei­chen. "Nur für eine Macht hat die li­berale Schule das dieser entspre­chende Ge­gengewicht nicht gesucht: für die Macht der Korrup­tion." [379]

Panta rhei

Fehlt äußerer Zwang, hat jedes Volk die Staatsform, die es ver­dient. Gegen den ent­schiedenen und anhal­tenden Wi­derstand einer großen Mehr­heit hat sich noch kein Sy­stem auf Dauer halten kön­nen. Die Si­tu­a­­tions­bezogen­heit und Ver­ände­rungs­be­dürf­tig­keit der Staats­form wird na­ment­lich an Bei­spielen aus der Antike deut­lich, z.B. an den bei­den sich in ih­rer Macht ausba­lan­cieren­den Kon­suln [380]  der rö­mi­schen Re­pu­blik, [381]  die in Not­zeiten ei­nem ernann­ten Dikta­tor auf Zeit wi­chen, [382]  oder am Heer­­kö­nigtum der Germa­nen: Nur so­lange krie­geri­sche Ver­wick­lungen es erfor­derten, wählte die Landsge­mein­de einen Her­zog als mili­täri­schen Leiter, [383]  dessen Amt im Frieden wie­­der ende­te. Die germanische Urverfassung ließ für eine Herr­scher­ge­walt einzelner keinen Spielraum. Das Staats­­oberhaupt war die Lands­­ge­meinde. Schilderhe­bung und vor­hergetragene Heerfahne sym­­­bo­li­sierten den kriegeri­schen Charakter des Amts. [384]  Das Her­zog­tum bedeu­tete, verfas­sungs­po­li­tisch gese­hen, den Aus­nahme­zu­stand. [385]  Es läßt sich all­gemein der Satz aufstel­len, daß ein Ge­mein­we­­sen um­so straf­fer organi­siert sein muß, je exi­stenzieller eine in­nere oder äu­ßere Bedro­hung ist. Die Ein­buße an indivi­dueller Freiheit wird nur hin­­genommen, solange die Ge­meinschaft stark sein muß, um Le­ben und Freiheit aller einzelnen zu schüt­zen. So ist Staat­lichkeit stets zweck­­bezogen, und Zweck kann nur die per­sönli­che Wohlfahrt der ein­­zel­nen Men­sc­hen sein. Nie darf hin­gegen ein Sy­stem zum Selbst­zweck wer­den, weil es sich sonst um die Grundlage sei­ner Legi­timi­tät bringt.

Der Gegensatz von zentraler Gewalt des Staats und partiku­laren Ge­wal­ten durch­zieht die deut­sche Geschichte wie ein roter Fa­den. Als das Heilige Römi­sche Reich unter den Stau­fern zu ei­ner von au­ßen kaum angreifbaren Macht gekommen war, schwand im In­nern das Be­wußtsein, zusammenhalten zu müs­sen. Der Fürsten­par­ti­ku­la­ris­­mus war die Antwort auf die­se neue Lage in einer Zeit, die den christ­lich-univer­sali­sti­schen Herr­schaftsanspruch schwinden und den "No­mina­lis­mus" derer wachsen sah, die trotzig auf dem Eigenen, Be­son­­de­ren beharrten. Alleror­ten in Deutsch­land nahm man sich zuneh­mend die Frei­heit, so­viel man eben be­kommen konnte, bis die apoka­lyp­ti­schen Szenarien den 30jährigen Krieges wieder zum abso­luten Zu­­sam­men­fassen al­ler Kräfte zwan­gen und der Fürstenabsolutis­mus sich durch­setzte.

Die Geschichte bietet das ständig sich wiederholende Bild der un­ter dem An­sturm des Frei­heitsdurstes bröckelnden Staatsmacht und dem Gesetz, daß man unter äuße­rem Druck wie­der en­ger zusam­men­rücken muß. Lorenz von Stein hat das auf die Formel vom ständigen Stoß und Gegenstoß von Staat und Gesell­schaft gebracht und als In­be­­griff des politisch-geschichtlichen Le­bens erkannt. [386]  Wo sich eine Ge­sell­schaft un­ter äu­ßerem Druck nicht recht­zeitig in staatliche Façon zu bringen ver­mochte, er­lag das Ge­mein­wesen äu­ße­rem An­sturm, und das jewei­lige Volk sank vom geschichtli­chen Sub­jekt zum Ob­jekt des Willens und Handelns anderer herab. [387]  So hatte das alte Reich den fran­zösi­schen Revo­lutions­armeen mit ihrer to­talitär-demo­kra­­ti­schen, alle Kraft ihres Staa­tes zusam­men­fassenden Wucht nichts ent­­gegenzu­set­zen und lö­ste sich auf. Nach dem Be­frei­ungskrieg sieht das 19.Jahrhundert ei­ne fort­wäh­rende Folge von inneren Libera­lisie­run­­­gen, zuneh­mende Bür­gerfreiheit und ab­neh­mende Staatsmacht. Die­­­se Ten­denz wurde erst unter­bro­chen, als mit der Weimarer Re­pu­blik ein nie dage­wesener Tief­punkt staat­li­cher Macht er­reicht wur­de und breitere Schich­ten unter bür­ger­kriegsähnli­chen Zustän­den und der offenen Schwäche des Staates nach innen und außen persön­lich lit­ten.

Letztlich war es die Angst vor dem geographisch benachbar­ten Sow­­jet­mo­dell und sei­nen Mas­senmorden an Klassenfeinden und sei­nem sy­stemati­schen Terror als Mittel der Poli­tik, die eine re­la­tive Mehr­heit in die Arme dessen trieb, der alle staat­lichen Kräfte an­zu­spannen ver­sprach, Terror mit Gegenterror zu bre­chen. [388]  In der heu­ti­gen russi­schen Presse werden die Opfer des Bol­sche­wismus in der UdSSR von der Ok­to­berrevolution bis 1989 auf zwi­schen 40 Mio. und 100 Mio. Men­schen beziffert, [389]  ei­ne hi­storisch sin­gu­­läre Anzahl. Viele fan­den es 1933 in Deutschland aus Kommu­ni­sten­furcht als we­ni­ger be­drohlich, den Staat mit dik­ta­­to­ri­schen Macht­­­­mit­teln aus­zu­stat­ten, um die als po­ten­tiel­le Täter be­trach­teten Kom­­­­­mu­ni­­sten in La­ger zu sper­ren; und selbst ihre offene Er­mordung dul­­­dete ei­ne schwei­gende Mehr­heit noch. Nicht aus Lust auf Dikta­tur for­­­mier­te Deutsch­land sich zu Ko­lonnen, sondern aus Angst. [390]  Man gab an per­sönli­cher Freiheit dem Staat, um an Sicher­heit vor emp­fun­de­­ner Be­­­dro­hung zu gewin­nen. Wie sehr die Angst vor dem Sowjetterror ein Motiv eines füh­renden Nationalsozialisten war, wird am Beispiel des 'Chefideologen' des 3. Reiches deutlich, dem Bal­­ten­deut­schen Ro­sen­berg: "Berichte aus Emi­gran­tenkreisen schilder­ten die schlimm­sten Greu­el der Bol­schewisten. Ein­schließ­­lich der Hungertoten habe die Re­volution 35 Millionen Tote ge­fordert. Schlimm­ste und bru­talste Fol­te­rungsme­thoden wur­den an die Öffentlichkeit ge­­bracht."

Das Kaisertum bis 1918, die Weimarer Republik, das Dritte Reich, auch die Bun­des­re­pu­blik und sogar die DDR waren je­weils in ih­rer Wei­se mögli­che und ihren Zeit­ge­nos­sen völ­lig plau­sible Antworten auf Existenzfragen ihrer Zeit. Im Re­gelfall be­jahte eine Mehr­heit ihr je­­wei­liges System. Der Grundfehler unhi­stori­scher Sicht von Ver­gan­ge­nem ist es, die Lösungen von heute als Maß­stab für Probleme von ge­stern legen zu wollen. Wer der Ro­dungs­periode des Land­aus­baus vom 12. und 13.Jahrhundert nach­träglich aus ökologi­schen Grün­­den grollt, hat von den Men­schen, der Ge­schichte und menschlichen Pro­b­lem­­­­­lö­sungs­stra­tegien eben­sowenig verstan­den wie der demo­kra­ti­sche Fun­da­men­ta­­list, der nicht begrei­fen kann, warum es für eine Mehr­­­heit der Bürger 1914 "nur noch Deut­sche" und keine Parteien mehr gab und warum der Reichs­tag 1933 das Ermächti­gungsgesetz ver­­ab­schiedete. Wenn der Ma­­gen unserer eiszeitli­chen Ahnen knurr­te, wurde eben Mam­mut ge­jagt und ausgerot­tet, und hätten die Eis­zeit­jäger dar­auf verzich­tet, gäbe es uns womöglich nicht. Es gibt kei­ne ewig gültigen Prob­lem­lö­sungs­stra­tegien, also auch keine ewig gül­ti­­gen Regie­rungs­systeme. Mit Heraklit stellen wir nüchtern fest: ÐÜíôá ñåé! Al­les ist im Fluß und wird auch im­mer im Flusse blei­ben.

Die Geschichte lehrt die immerwährend erforderliche Anpas­sung an kli­ma­ti­sche, de­mo­gra­phische, kriegerische, geisti­ge, ökolo­gische, öko­­nomische und andere Pro­bleme und Über­lebensfragen. In­dem un­se­re gleichgeschaltete Me­dien­gesell­schaft auf dem Vul­kan tanzt und "Beste aller Welten" spielt und sich der Ge­schichtsunter­richt für viele Schü­ler auf zwölf Historienjahrgänge be­schränkt, sind diese Grund­tat­­sa­chen hi­storischer Abläufe aus dem allge­mei­nen Bewußt­sein her­aus­gefiltert worden. Darob stöhnte ein Ge­schichts­profes­sor: "In vie­len jungen Köp­fen haftet, sehr zäh-kleb­rig, ein grauer, amor­pher, eben bildloser Pla­­ti­tü­denmatsch, der gar nichts mit 'Ab­strak­tions­nei­gung' oder 'Theo­rie­­be­dürfnis' des mo­dernen Men­schen zu tun hat (ja, das Gegen­teil da­von ist!), son­dern in dem die Fertigteile der veröf­fent­lichten Mei­nung mit ei­genen, Mißgunst her­vor­bringen­den Unlust- und Versa­gens­kom­ple­xen ver­backen sind. Oft und oft habe ich schon mit Kum­mer fest­ge­stellt, daß es tat­sächlich unmög­lich ist, mit Leuten über den Drei­ßig­jäh­ri­gen Krieg oder über die Bauern­be­freiung in Preu­ßen zu re­den, von 'diskutieren' ganz zu schweigen, die nicht wis­sen, ob Wallen­stein einen Brustpanzer oder eine karier­te Weste trug." [391]  

Die permanente Evolution

Der Bonner libe­rale Staat mit seiner parlamentarischen Re­gie­rung ist eine von vie­len möglichen Regierungsformen. Solche un­ter­schied­li­chen For­men und Sy­steme sind in Pa­ra­graphen gegos­sene Pro­blem­lö­sungs­stra­te­gien. Sie regeln das Zusam­men­le­ben ver­bindlich und wol­len mit ihrem Re­gelwerk zum Nutzen aller die zwi­schen­menschli­chen Beziehungen op­ti­mie­ren und all­gemeine Pro­bleme lö­sen. Wel­che Narr­heit, zu behaupten, irgend­ein sol­ches Re­gelwerk könne für alle Ewig­keit gelten. Ge­nau das befiehlt aber das Bonner Grund­ge­setz, wenn es seinen Kernbe­reich durch die "Ewig­keits­klau­seln" in Art.79 und 20 als für alle Zeiten unabänder­bar er­klärt. Wel­che Hy­bris! Nach einer am 29.4.1992 veröf­fentlichten UNO-Studie wird die Welt­be­völ­ke­rung sich bis 2050 auf 10 Milliar­den verdoppeln. Die glo­bale Öko­kata­stro­phe, die un­ge­hemmte Vermeh­rung der Mensch­heit und der absehbare Totalzu­sammen­bruch der Po­pu­la­tion der Er­de, der rasant stei­gende Ein­wanderungs­druck nach Deutsch­land und die in al­len mo­dernen Wirt­schafts­gesellschaften zu be­ob­ach­tende Unter­schrei­tung der für den Bev­ölke­rungserhalt nöti­gen Ge­burten­ra­te, und zwar in Deutsch­land um ein Drit­tel, das alles stellt uns vor Schwierigkei­ten exi­sten­tieller Art. Dem Geburten­rück­gang "widmeten der Chef des Bonner 'Instituts für Wirt­schaft und Gesell­schaft' (IWG), Meinhard Miegel, und seine Co-Autorin Ste­fa­nie Wahl eine 1990 von Bun­des­for­schungs­mini­­ster Riesenhuber (CDU) in Auf­­trag gegebene Studie. Was die beid­en Wissenschaftler ... dabei her­aus­fan­­den, ist laut einem Bericht der 'Stuttgarter Nachrichten' derart alar­mie­rend, daß das Bun­des­innenmini­steri­um die Veröffentli­chung zunächst un­­terband. Auf den Punkt gebracht kommen die beiden zu dem Er­gebnis, daß un­ser [...] Volk mit der Nachkommen­schaft derart ins Hin­ter­treffen gera­ten wird, daß unsere Kultur zunächst von der fremd­ländischer Zuwande­rer über­la­gert werden dürfte, um schließlich ganz zu erlö­schen." [392]  Unter dem Druck die­ser Pro­ble­me wird in ab­sehba­ren Jah­ren kein Mensch mehr nach dem Klein­ge­druck­ten fragen. Wie der Eiszeitjä­ger keine Gewis­sens­­bisse hatte, als er das letzte Mammut erlegte und - nicht ver­hun­gerte, wird im 21.Jahrhundert so man­ches ohne Gewis­sensbisse ge­sche­­hen, was nicht in die "un­ab­än­der­liche" Grundgesetz­theorie paßt. [393]  Die vere­lende­ten Milli­arden und Aber­milli­ar­den in den ver­seuch­ten Slums der Zu­kunft in Übersee wer­den nicht zim­per­li­cher mit­einander und mit uns um­ge­hen, als es ih­re eis­zeit­lichen Vor­fahren einmal mit den Mammuten taten. Wäh­rend Bonn noch im­mer die Probleme von 1933 bis 1945 "bewältigt", wer­den uns un­sere En­kel ein­mal ver­flu­­chen, wenn wir ih­nen nicht auf diesem klei­nen Glo­bus ein Fleck­chen hinter­las­sen, auf dem sie als Deut­sche men­schen­­wür­dig werden leben können. Flexi­bili­tät ist also ange­zeigt.

Zur Zeit ist die genetische, kulturelle und politische Vielfalt noch die Stärke der Mensch­heit. Alles Leben ist ein informati­onsgewin­nen­der Prozeß und damit ei­ne An­pas­sungslei­stung an wechselnde Um­welt­ver­hältnisse. [394]  Einen Verzicht auf diese An­passung dürfen wir uns um den Preis unserer Existenz nicht lei­sten. Wir lieben unse­re Art zu le­ben; doch ob sie in kom­menden Jahrhunderten rück­blickend ein­mal die opti­male in einer ausge­plün­derten und übervöl­kerten Welt sein wird, wis­sen wir nicht. Nach dem abseh­ba­ren Be­völkerungs- und mög­licherwei­se auch teil­weisen Zivi­lisati­onszu­sammenbruch könnten es auch die Aus­tral­neger sein, die alles überle­ben und Ahnherren ei­ner Mensch­heit der fer­nen Zukunft wer­den. Heute können wir nur die star­ke Ver­schie­denheit der Men­schen als Chance begreifen. Es gäbe nicht Gefährli­che­res für die Mensch­heit, als zu einer Ein­heitsrasse mit Ein­­heitszi­vilisati­on zu ver­schmel­zen, [395]  weil im Falle glo­baler Ka­ta­stro­­phen alle ge­meinsam den Weg der Sau­rier und Mam­mute gehen könn­ten. Wir dür­fen uns nicht al­le in ein Boot set­zen, denn das Risi­ko des ge­meinsamen Un­ter­ganges wä­re zu groß. [396]

Während die genetische Verschiedenheit der Menschenrassen noch ver­gleichs­weise ge­ring ist, unterscheiden wir uns reli­giös, zi­vili­sa­tori­sch, mental und kulturell gewal­tig. Die ver­schiedenen Kulturen glei­­chen auf einer ande­ren Ebene den ver­schiedenen Ras­sen der Mensch­­heit und ver­schiedenen Ar­ten des Tierreichs. Man spricht hier von Pseudo-Art­bil­dung [397] . Wie die Tierarten und die Men­schen­ras­sen be­stimmte klimati­sche, geogra­phi­sche und tem­poräre Ni­schen be­set­­zen und sich anpassen, ist auch die Aus­bil­dung menschlicher Kul­tu­­ren ei­ne Anpassungslei­stung, ein in­for­ma­tions­ge­win­­nen­der Vor­gang. Die In­formation über die Außen­welt wirkt auf die Kultur zu­rück und ver­än­dert sie. Die­ser Pro­zeß ist die eigentli­che Über­lebens­lei­stung und führte bisher zu steti­ger Höhe­rent­wicklung des Lebens und der Kul­tu­ren. Er darf nicht enden - um den Preis des Überlebens selbst darf er das nie­mals. Unveränderliche äußere Kon­stan­ten gibt es in der menschli­chen Ent­wick­lungsgeschichte nicht. Je­der Ver­zicht auf An­­pas­sung kann nur im Untergang enden, sei dieser das Ausster­ben ei­nes Volkes, die Aus­lö­schung einer Kultur oder gar der gan­zen Mensch­­heit. Eine bestimmte Problem­lösungsstrategie dür­fen wir un­seren Kin­dern nie als unver­än­der­lich in die Wiege legen; unwan­delbar sind nur die In­schriften von Grabstei­nen. "Staaten mit Jahrhunderte oder gar Jahrtausende alten Regierungstraditionen gehören in die Grab­kammern der Pyra­miden." [398]  Der Ver­such, über das Grab hinaus zu regieren und auch die Kinder den eigenen Gesetzen zu unterwer­fen, ist die unverschämteste und lächerlichste Art der Tyrannei. [399]

Das Bonner System will seiner Selbstrechtfertigung nach system­t­heo­reti­sch ein of­fenes System sein, und auf diese Offenheit ist es be­son­ders stolz. Welch entsetzli­cher Irrtum! [400]  Wirk­lich offen ist es we­der verfassungs­rechtlich noch soziolo­gisch. Nach dem Urteil des So­zio­­logen Erwin Scheuch hat sich der Bon­ner Staat zu einem selbst­re­­fe­­­ren­tiel­len Feudal­system ver­festigt, dessen "politische Klasse" ein Ei­gen­­le­ben führt, nur noch ihren eigenen Ge­set­zen ge­horcht und nur dem­­je­ni­gen Zutritt zur Macht ge­währt, der so wird wie sie. Be­son­ders hart­näckig vertei­digt sie ihr fak­tisches Mono­pol der Ver­fas­sungs­­ge­setz­ge­bung und -auslegung; in ihr stabili­siert sich der Kern­be­reich ih­rer Macht, den sie wie ein Per­petuum mobile in alle Zukunft un­­­ver­än­der­­bar wissen wol­len, unver­än­derbar selbst durch das an­geb­lich sou­veräne Volk.

Die liberale Demokratie á la Bonn hat sich in ihrer eigenen lo­gi­schen Falle ge­fan­gen: Mit Recht erkennt sie das Erfor­dernis der im­merwäh­ren­den Änder­barkeit politi­scher Lö­sungs­strategien. Die Mög­lich­keit der Veränderung müsse garan­tiert sein; das Sy­stem müsse recht­lich und insti­tutionell immer für bessere Lö­sungen offen sein. [401]  Das sei in der "pluralistischen Demokra­tie", und nur in ihr, der Fall. Da­­her dürfe alles verändert werden, nur das parla­men­tari­sche Sy­stem nicht. Die lo­gische Fehlleistung besteht darin, die Ver­än­der­bar­keit da­­durch er­rei­chen zu wollen, nur ein System für anpas­sungs­fä­hig zu er­­klären, aber die Verände­rung zu jedem ande­ren Sy­stem auszu­schlie­ßen. Fle­xi­bi­lität und Än­der­bar­keit werden dadurch aber nicht er­reicht, son­dern ge­rade verhindert. Möglich sind hier nur kleine Kor­rekturen. Der denk­ba­re Fall einer tief­greifenden Ände­rung, ein wirkli­cher Sy­stem­wandel, soll verhindert wer­den. In der Wirk­lich­keit än­dert sich aber sowieso im­­mer alles ir­gendwann, ob ein Gesetz es für un­abän­derlich erklärt oder nicht. Auf Dauer hält die Realität sich nicht an pa­pie­rene Ver­fas­sun­­gen. Ge­rade die­sen norma­len Pro­zeß sucht das Grundgesetz mit sei­­nen Ewig­keitsklau­seln zu stoppen. Da der Fort­gang der Ge­schichte sich aber durch Ewig­keits­klauseln noch nie hat auf­halten lassen, wird die Zeit auch weiterhin über alle an­ge­maß­ten menschlichen Eitelkeiten und Ewig­keits­ansprü­che hin­­weg­­­schreiten.

Das Rad der Geschichte dreht sich unaufhaltsam weiter. Völ­ker kom­­men und ge­hen - Sy­steme kommen und gehen. Nur eine Zeit­lang kann sich menschli­cher Wille dieser Ge­setz­mäßig­keit entge­genstem­men: Jede einmal in den Besitz der staat­lichen Machtmit­tel gelangte Grup­­pe wird diese festzuhal­ten trachten. [402]  Schon Theo­phrast be­merk­­te, der größte Ehrgeiz der die höchsten Stellen im Volks­staat ein­neh­men­den Männer bestehe darin, auf Kosten der Souve­ränität des Volkes all­­mählich eine eigene zu gründen. [403]  So sticht auch bei un­se­ren heuti­gen Politikern vor allem der Wille her­vor, inner­halb ih­rer Par­tei an der Macht zu blei­ben; [404]  und diese Par­teien werden nur noch durch den Wil­len zur Macht zusammen­gehal­ten. [405]  Die Bonner "politische Klasse" ver­­steht sich als neue Obrigkeit [406]  und benimmt sich ent­­spre­chend. Jede Organisation, jede Bürokratie, neigt nach Mur­phys Ge­setz zu ih­­rer ei­ge­nen stän­di­gen Er­weiterung. Die Or­ga­ni­sa­­ti­on ist die Mutter der Herr­schaft der Ge­wähl­ten über die Wäh­ler, der Be­auftragten über die Auftragge­ber, der Dele­gierten über die De­le­­gieren­den. [407]  Ei­ne dau­­ern­de Vertretung wird unter allen Um­ständen zu einer dauern­den Herr­­schaft der Vertreter führen. [408]  Diese Dauer wird erreicht durch die blei­ben­de Partei­or­ganisati­on mit ihrer Macht über die ein­zelnen Ab­ge­ord­neten.

Ein Postenverteilungskartell auf Dauer hat jenen ständig not­wen­di­­gen In­no­vati­ons­pro­zeß zum Stillstand gebracht, weil die Par­teien als ge­sellschaft­li­che Subsy­steme nicht ster­ben, wie ein grau­haariger alter Mon­arch, sondern wie ein Krebsge­schwür immer weiter wu­chern und Me­­tastasen bilden. Sie durchdrin­gen in ihrem Machthun­ger im­­mer wei­te­re Berei­che von Staat und Ge­sell­schaft und gehorchen nur noch ihren ei­ge­nen Ge­setzen. Ihre Re­präsen­tan­ten gehören zum sel­ben Men­schen­ty­pus, der als Par­teibonze der NSDAP oder der SED oder als kai­ser­li­che Hof­schranze (usw. usf.) in trauriger Erin­ne­rung ist. Weil es sie im­mer geben wird, und weil sie immer ihre und nicht un­sere Pro­bleme lö­sen wer­den, muß entwe­der ein System er­fun­den werden, in dem das Wohl der Regie­ren­den mit dem der Re­gier­ten denknot­wendig iden­tisch ist - oder, da es ein solches System mut­­­maßlich nicht gibt - braucht das Land ge­legentlich ei­nen tiefgrei­fen­den Tape­ten­wech­sel. Dieser muß die alte, abgelebte Macht­elite zu­­rück­drän­gen und unver­brauchten Kräften den Aufstieg ermögli­chen.

In der Monarchie hatte für die notwendige Entrümpelung aus­ge­dien­ten Per­so­nals alle paar Jahrzehnte die natürliche Le­bens­panne des Mon­archen ge­sorgt. Nach dem Tode Friedrich Wil­helm I., des Solda­ten­königs, Fried­richs d.Gr. oder im Dreikaiser­jahr 1888 wurde erst ein­mal "alles anders": Der Thronfolger setzte den unge­liebten Ratge­bern und Ministern ei­nes ungelieb­ten Va­ters den Stuhl vor die Tür. So konn­ten und mußten ver­knöcherte, über­lebte Strukturen verän­dert und durch zeitgemäße er­setzt werden. Eine monarchische Herr­schafts­ord­nung konnte, wie im Heiligen Rö­mi­schen Reich deut­scher Na­tion, Jahr­hun­derte über­dauern und doch in ihrem Innern lau­fend mutieren.

Der Liberalismus meint von sich selbst, ein offenes System zu sein und sich ständig ver­än­dern und Zeitproblemen anpas­sen zu kön­nen. In diesem Kern seines Anspruchs ist er durch die Wirk­lichkeit wider­legt. Anpassungs­fähig ist er nur in den Methoden zur Er­hal­tung und Stabili­sierung seiner eige­nen Macht. Ein Ge­meinwe­sen kann sich aber immer nur eine be­stimmte Zeitlang ein Sy­stem lei­sten, dessen Füh­rungsoli­gar­chie eine geschlos­sene Ge­sell­schaft bil­det, nur noch ih­ren Gesetzen ge­horcht und als Min­derheit auf Kosten des Gan­zen schma­rotzt. Soll das Ganze nicht schweren Scha­den nehmen, er­zwin­gen die Verhältnisse ei­nen Systemwandel zur Ablösung der alten Machtelite und Durchset­zung eines Poli­tik­wech­sels. Der Eliten­wechsel pflegt nicht ei­ne völ­lige Aus­wechs­lung der ge­samten Führungselite zu sein, sondern ein Prozeß der Verschmelzung stets neuer An­wär­ter mit vor­hande­nen Eliten. Die Re­volutio­näre von heute werden dann die Re­ak­­tio­näre von mor­gen. [409]  Die Bun­desre­publik hat sich schon zu lange vor grundsätz­lich neuem Den­­ken und non­kon­formisti­schen Gei­stern ab­ge­schottet. Irgendwann muß un­weigerlich der Zeit­punkt kom­­men, an dem die Verhält­nisse neue Lösungen erzwingen und andere Me­n­sc­hen sie durchsetzen wer­den, oder das Gemein­wesen zu­sam­­men­bre­chen wird.

Systeme sind nicht für Ewigkeiten da. Sie müssen die stän­dig er­for­der­­li­che Inno­va­tion an Ge­danken und Problemlö­sungsstrate­gien ge­­währ­­leisten, die per­manente Evo­lu­tion. Ver­fas­sungen als juristisch fi­xier­­te Pro­blem­lö­sungs­kon­zepte müssen sich zwangs­läufig wan­deln kön­­nen und mit den Pro­ble­men kommen und gehen. Da offen­bar je­des Sy­­­stem zum Geg­en­teil neigt, näm­lich zum Beharren auf sich selbst und auf vergangenen Per­spektiven, muß notfalls im Ab­stän­den ein ganzes Sy­stem über Bord geworfen und er­setzt wer­den, um den unabdingba­ren Wan­del zu erzwin­gen. Das gilt ge­gebe­nenfalls für je­des System. Wo es verhin­dert wird, befindet das Ge­meinwe­sen sich in höch­ster Ge­­fahr. Manchmal kommt so­gar "der Untergang von Staa­­ten da­her, daß sich ihre Verfas­sun­gen nicht mit den Zeitnot­wen­dig­­keiten än­­dern." [410]  Der Wech­sel der Staats­formen ist aufgrund der sich än­dern­­den Zweckmä­ßig­keiten "nötig, da es bisher noch nicht ge­lun­­gen ist, dem Ge­mein­wesen eine Ord­nungsform zu geben - zu­mal nicht von Be­ginn an -, die allen Heraus­for­de­rungen im Poli­ti­schen be­geg­­nen kann; und der Wechsel der Staatsfor­men auf­grund der unver­än­­der­lichen mensch­­lichen Grundkon­stanten ist leider un­vermeid­bar, da sich weder der Mensch ändern noch ein Gemein­wesen errich­ten läßt, das alle zu­frie­­den­­stellt." [411]  Die Über­zeugung Struk­tur­kon­ser­va­ti­­ver, soziale In­sti­tu­­­tio­nen, die lange Zeit überlebt haben, müß­ten not­wen­­di­ger­­wei­se nütz­lich für die Ge­sellschaft sein, ist falsch. [412]  "Der Baum der Frei­heit", sagte schon Thomas Jef­fer­son, "muß von Zeit zu Zeit mit dem Blut von Pa­trioten und Ty­rannen auf­ge­frischt wer­den." [413]

Im Labyrinth der Möglichkeiten

Lösungsstrategien des Liberalismus

Am Ende der Geschichte?

Wie weiße Mäuse im Labor den Ausweg aus einem künstlichen La­by­rinth su­chen und im­mer wieder in Sackgassen scheitern, su­chen die Mensc­hen mit all ihrem Scharfsinn den Weg aus dem La­byrinth der politischen Mög­lich­kei­ten. Die Haupt­stra­ßen heißen Monar­chie, Ari­sto­kratie und De­mokratie, und von ih­nen zweigen unzäh­lige Ne­ben­wege und kleine Pfade nach "rechts" und "links" ab, aber auch nach oben oder unten. Jeder Ab­zweig des Labyrinths steht für ein Denkmo­dell, eine rational aus­geklügelte Strate­gie, die Probleme des mensch­li­chen Zusammenlebens in den Griff zu be­kom­men. Die mei­sten Va­ri­an­ten sind nach dem Prinzip von "Versuch und Irrtum" schon aus­pro­biert und in ir­gendei­ner hi­stori­schen Situation einmal ver­worfen worden. So er­starb nach 1918 das In­teresse am monarchi­schen Gedanken, 1945 emp­fand man den Na­tionalso­zia­lis­mus als wi­derlegt, und in den 1980er Jahren erlosch die Faszina­tion des mar­xi­stischen Denkge­bäudes.

Weil der liberale Parlamentarismus das Glück hatte, weder 1945 militä­risch be­siegt noch 1989 wirtschaftlich bankrott gegangen zu sein, feiern seine Ver­­fechter ihn als ge­schichtli­chen Kulmi­nati­ons­punkt und als vermutliches Ende der Ge­schichte überhaupt. Der der­zeit be­kann­teste Vertre­ter dieser These, Francis Fukuya­ma, sieht die mensch­liche Ent­­wick­lung als lineare Ent­wick­lung mit ei­nem Anfangs- und Endzu­stand an, und diese Li­nie soll na­türlich aufwärts füh­ren. Ähnlich Hegel und Marx sieht Fu­ku­ya­ma Ge­schich­te als zwangsläu­fi­gen Ge­schehens­ablauf von den steinzeit­lichen Bauern­kulturen über die Mon­­archien bis zu einem glückli­chen "Endzustand" vor sei­nem geistigen Au­ge ab­rol­len, [414]  und da­mit sei der Ausgang aus dem La­byrinth endlich er­reicht.

Das hört sich logisch an, vor allem, wenn man zu­fäl­lig in ei­nem li­be­ralen Staat, ei­ner liberalen Weltgegend und einer Zeit lebt, die ge­ra­de den Zusam­men­­bruch des kon­kurrieren­den Sowjetsy­stems erlebt hat. Sol­che "goldenen Zeit­alter" hat es schon öfter ge­ge­ben: Die An­tike erinnerte sich des ihren; Wilhelm II. hat uns "herrlichen Zeiten" ent­ge­gen­geführt; 1933 brach ein "tau­send­jähriges Reich" an; 1949 nahm in der SBZ die Ar­beiter­klasse "für alle Zei­ten" das Heft in die Hand und rot­tete den Kapitalismus "un­wi­der­ruflich" aus. Fukuyamas "Ende der Ge­schichte" be­ginnt es vor unse­ren Au­gen ähnlich zu er­gehen. Kaum war die bipolare Er­starrung der Welt in feindliche Blöc­ke über­wun­den, setzte die "beendete" Geschichte sich mit atem­be­rau­bender Ge­schwin­dig­keit wieder in Gang. Ihre Stationen hie­ßen "Freiheit des Balti­kums", Irak­krieg und Zer­fall Ju­go­sla­wiens, und auch das ist nur der Anfang. Vor un­se­ren Au­gen be­schleunigt der Lauf der Ge­schichte sich in ei­nem Ma­ße, wie es die nach dem 2. Weltkrieg ge­bo­renen Ge­ne­ra­tio­nen noch nicht erlebt ha­ben.

Der Lauf wird sich weiter beschleunigen. Zwischen den Völ­kern war schon im­mer Krach vor­programmiert, wenn in armen, übervöl­ker­ten Ländern die Res­sourcen knapp und durch Klima­än­derun­gen der Bodenertrag geringer wurde, während in er­reichbarer Ent­fer­nung an­­de­re Völ­ker im Überfluß leb­ten. Das blu­tige Aufein­ander­pral­len der Ver­zwei­felten nennen wir heute ver­harmlo­send "Geschichte". Da­mals hatte es für die Menschen unbeschreibli­ches Elend be­deu­tet. So hat­ten sich 2000 v.Chr. aus der Ge­gend nörd­lich des Schwarzen Mee­res nach ei­ner langen Dürreperi­ode [415]  die In­doeuro­päer er­obernd in alle Himmels­rich­tungen in Bewegung gesetzt und einen der nach­hal­­tigsten Schübe von "Geschichte" aus­gelöst. Ähnli­ches hatte sich ab 300 n.Chr. mit der Völker­wan­de­rung er­eignet, der das Imperium Ro­ma­num erlag; und es wie­der­holte sich um 13. Jahrhundert, als die Mon­golen weite Teile der eurasi­schen Land­masse er­oberten und un­zählige Völker und Kul­turen unter den Hufen ihrer Pferde zer­stampf­ten.

Alle Voraussetzungen für ein so stürmisches Zeitalter lie­gen heute wie­der vor: Die Menschheit verdoppelt sich in im­mer kür­ze­ren Ab­ständen. Die heute schon hungern­den über­seeischen Völ­ker vermeh­ren sich auf Kosten der Natur in sol­chem Ausmaße, daß das Ende dieser Natur in wenigen Jahr­zehnten vor­auszu­sagen ist. Unmittelbar nach dem Kahl­schlag und der Ver­nichtung der na­tür­l­i­chen Lebens­grundlagen wird es zu einem Be­völkeru­ngs­zusam­men­bruch dra­mati­schen Ausma­ßes kommen. Elend, Desorganisa­tion, Be­völkeru­ngs­wachs­tum und mensch­­liche Unfä­higkeit, die Probleme aus ei­gener Kraft zu lö­sen, bil­den heute schon einen Teufels­kreis, und es deutet selbst für Optimisten wenig darauf hin, je­mand könnte plötzlich ei­nen Stein der Weisen fin­d­en und diese Tendenzen umkehren. Die Bevöl­ke­rungs­vermehrung in Ländern, deren Bewohner sich heute schon nicht selbst er­nähren kön­nen, wird die Wirkung eines alt­ägyp­ti­schen Heu­­schrecken­schwar­mes entfalten und die Le­bensgrund­la­gen dort rest­los ver­nichten. Dann werden die Hun­gernden und Frie­ren­den zu uns in die nördli­chen Länder kommen wol­len, und zwar alle, weil sie keine an­dere Wahl ha­ben. Ende der Geschichte? Nein, es geht erst rich­tig los! Die Lunte brennt, und aller ge­schicht­lichen Er­fah­rung nach wird sich die Ladung krie­gerisch entladen.

Fukuyamas Thesen leiden unter einem entscheidenden Fehler: Sie setzen vor­aus, daß die na­türlichen Ressourcen auf unab­sehbare Zeit Wirt­­schafts­wachs­tum und Auf­recht­erhal­tung der westlich-­in­dustriel­len Wirtschaftsform er­mögli­chen. Er gibt selbst zu, der libera­le Par­la­mentsstaat, den er Demokra­tie nennt, sei (nur) für die marktwirt­schaft­lich ent­wickelten Industrieländer ange­messe­ner als jede andere Re­gie­rungs­form. [416]  Tat­säch­lich sind Markt­wirtschaft und Parla­men­ta­ris­mus nur ver­schiedene, aus dem Libe­ra­lismus fol­gende Aspekte sei­nes um­fassen­den metaphy­si­schen Systems. Ge­rade darum ist ab­zu­se­hen, daß die Krise des auf Wachstum beruhenden markt­wirt­schaft­li­chen Kapita­lismus nicht ohne Auswir­kung auf die politische Organi­sations­form blei­ben kann.

Die Grenzen des Wachstums sind absehbar, weil die natürli­chen Res­­­sour­cen be­grenzt sind. Welche Form des Wirtschaf­tens in ei­ner künf­tigen Welt an­ge­messen und ef­fizi­ent sein wird, in der die primä­ren Roh­stoffe er­schöpft sind und in der ein globaler Be­völ­ke­rungs­zu­sam­men­bruch einen Neubeginn er­zwungen hat, können wir nur ah­nen. Ei­nes aber ist sicher: Es kann keine Re­de davon sein, daß es zwangsläu­fig beim li­be­ralen, auf Wachstum und freiem Kapital- und Warenverkehr beruhen­den Wirtschafts­system bleiben muß. Eher ist zu ver­mu­ten, daß der in einigen Jahr­zehnten kom­mende Kollaps die­ses Systems eine Hö­her­bewertung un­ver­brauchbarer Güter wie Grund und Bo­den und da­mit eine grund­le­gend andere Wirt­schafts­ordnung erzwingen wird. Für die­se muß der li­berale Parlamentsstaat dann aber nicht mehr die "an­ge­mes­senste" (Fukuyama) politi­sche Form sein.

Die Problemblindheit des Liberalismus

Die existentiellen Bedrohungen der Menschheit sind dem Li­bera­len be­wußt. Für die Si­tua­tion des europäischen Kultur­raumes ge­gen­über der soge­nannten zweiten und drit­ten Welt hat er weniger Ge­spür. Vollends blind ist der deutsche Li­berale gegen­über dem Willen von Deut­schen, auch künftig in deut­scher Weise - was auch im­mer sich der ein­­zelne darunter vor­stellen mag - zu le­ben. Dasselbe gilt für fran­zösi­sche, belgische oder italieni­sche Libe­rale ent­spre­chend. Der Li­be­rale will zual­lererst Kos­mopolit sein, und wenn er deutsch ist, lei­det er be­sonders darun­ter, viel­leicht nicht ge­nug Welt­bürger zu sein, und macht das durch überbetonten Internatio­na­lismus wett.

Jedes politische und gesellschaftliche System gibt Antwor­ten nur auf ganz be­stimmte, als drüc­kend empfundene Fragen. Wo das eine Kon­zept seine Stärken hat, weist das ande­re Lücken auf. Eine Herr­schafts­ordnung, die alle denkbaren Probleme in gleich be­friedi­gen­de­rer Weise zu lösen vermöchte, hat es noch nicht ge­geben. So gibt auch der Libe­ra­lis­mus nur Ant­worten für Men­schen mit ganz spezifi­schen Inter­essen und nur auf ganz be­stimmte Fra­gen; andere Proble­me nimmt er als sol­che über­haupt nicht wahr. Funktionell ist der ty­pisch liberale ökonomische Reduktio­nismus nichts weiter als die Herr­­schaftsideologie der ökonomisch Starken gegen­über den öko­no­misch Schwachen. Sie redet ihnen ein, das freie Walten rein öko­no­mi­scher Ge­setze führe auch zu ihrem Vorteil, und diesen Vorteil sieht er aus­schließlich im Geld­verdienen: So bezeichnet Fukuya­ma ihn ganz richtig als dasje­nige "Regelsystem, in dem das materielle Ei­gen­in­ter­esse und die Anhäufung von Reich­tum als legitim gel­ten." [417]

Überdies verharrt er als hi­sto­­risch bedingte Ant­wort des Bürger­tums des 19. Jahr­hunderts in ei­ner naiven Ani­mosität gegen alles Staat­liche, was als si­tuati­ons­be­zo­­gene Reak­tion auf die vergan­ge­ne Zeit des Für­stenab­solutismus auch ein­mal sinn­voll gewe­sen war. Al­les liberale Pa­thos richtet sich rein de­struktiv gegen das, was der Li­b­erale als Einen­gung sei­nes per­sön­­li­chen Freiraumes emp­fin­det, [418]  aber nie konstruktiv auf eine Sa­che. Der Li­be­rale ist ein Wesen der Negati­on: Er will die Ab­we­sen­­heit von staatli­cher Zensur, die Aufhe­bung straf­rechtli­cher Ver­bote wie dem der Majestätsbe­leidi­gung, der Kuppe­lei, der Ho­mose­xua­li­tät, der Unzucht mit Kin­dern, der Ab­trei­bung, des Ehe­bruchs.

Dagegen ist es noch keinem Liberalen gelungen, einmal posi­tiv zu be­­stim­men, wo­für er ei­gent­lich eintritt außer für seinen An­spruch, un­ge­hemmt seinen Eigen­interessen nach­zu­ge­hen. Der Libera­lismus und sei­ne Inkarnatio­nen, die Markt­wirt­schaft und der Parla­men­ta­ris­mus, sind Antworten auf Fra­gen von vor­ge­stern, näm­lich als über­mäch­tig emp­­fun­dene staatliche Macht­ent­faltung. Sein Rezept er­schöpft sich in der Stereo­type, den Staat mög­lichst machtlos und ge­ring zu halten. Weil aber ohne Schutz ei­nes neutralen Staates der Starke im­mer stär­ker, der Reiche immer reicher und der Mächti­ge immer mächtiger wer­den wird, führt der reine Libe­ralis­mus zwangs­läufig in eine wöl­fische Ge­sell­schaft. Völlige gesellschaftliche Freiheit und Gleichbe­rechtigung füh­ren im­mer dazu, daß sich der Stärkere durch­setzt. Damit wird die Freiheit aller ande­ren zur grauen Theo­rie.

Die liberale Theorie befaßt sich eingehend mit dem Problem der Herr­schaft: "Wer soll re­gie­ren?" Sie will innergesell­schaftli­che Kon­flik­te regulie­ren und die Gesell­schaft trotz aller Ge­gen­sätze zusam­men­hal­ten, weil sie das ganz einfach für "vernünftig" hält. [419]  Das war's dann auch schon. Der Li­bera­lismus stellt eine Theo­rie zur Mi­nimie­rung staat­licher Funktionen dar, und in manchen hi­stori­schen Si­tuationen schadet das auch nicht so bald. Dagegen ist das Werte­ge­rüst des Libe­ra­len denkbar mager: "Laß doch jeden ma­chen, was er will!", lau­tet sein Credo. Eine Ge­sellschaft der Wölfe schreckt ihn nicht; und "Jeder ge­gen je­den" ist sein Leben­selixier. Für überindivi­duelle Sinnfra­gen ist er voll­stän­dig blind, und zwar ganz be­wußt. [420]  Jeder soll nach seiner Façon se­lig werden. Ge­gen ei­ne multikulturelle Ge­sell­schaft aus Mu­selma­nen, Chris­ten, Atheisten und Satan­san­be­tern hätte der Libe­rale keine prin­zi­piel­len Ein­wände, solange ihm niemand aus religiös-rituel­len Grün­den das Geldver­die­nen verbie­ten würde. Wichtig ist ihm nur das autonome Indi­vi­duum.

Wenn Deutschland durch den Geburtenrückgang Einbrüche in seine In­fra­struktur er­lei­det, füllt er die demographischen Lücken eben mit "Beute­deut­schen" auf, mit Ein­wande­rern aus aller Her­ren Länder. So benötigt er Ein­wan­dererkinder aus Über­see, weil er keine bessere Idee hat, eine Kin­der­gärt­ne­­rin vor Arbeitslo­sigkeit zu bewahren. Als Deut­sche kommen wir im li­beralen Vo­ka­bular gar nicht vor: Wir sind für ihn auf unsere Rolle als Ver­braucher re­duziert, als Ren­tenbei­tragszahler oder Pendler, Er­werbstätige oder Pfle­ge­be­dürf­­tige, als Wähler oder Anlieger. Deut­sche? Nicht nötig: Al­les das kann ein Aus­länder ja eben­so­gut. Deutschland? Nur noch mit dem vor­ge­setz­ten Hauptwort "Wirt­schafts­stand­ort"! Als hö­here Idee oder als Land un­se­rer Vä­ter, dem un­se­re Liebe und unsere Sehnsucht gelten, kann er Deutsch­land selbst in sei­nen schlimm­sten Alp­träumen noch nicht ein­­mal denken. Der Libe­rale ist der poli­ti­sche Spieß­­bürger, wie ihn Max Weber ge­nannt und be­schrieben hat: ein Men­schen­schlag, dem die großen Machtinstinkte fehlen, der charakterisiert ist durch die Be­schrän­kung des politi­schen Strebens auf materielle Ziele oder doch auf das In­ter­esse der ei­ge­nen Generation und durch das fehlende Be­wußt­­­sein für die Verant­wor­tung gegenüber un­serer Nachkom­men­schaft. [421]

Der Liberale hat kein Lösungskonzept für Fragen der Identi­tät, des Wun­sches der mei­sten Deutschen, für sich und ihre Nachkom­men ein Leben im Ein­klang mit ihren überlie­ferten Vor­stellungen und Tradi­tio­nen führen zu wol­len; ein Le­ben, in dem nicht die Hei­mat zur Fremde wird. Das alles inter­es­siert den Libe­ralen über­haupt nicht. Ebenso schwerhörig ist er, wenn es um die Er­haltung der natürlichen Lebens­grundla­gen unserer Umwelt geht. Staat­liche Einschrän­kungen unter­nehmerischer Freiheit? So we­nig wie mög­lich! Die ei­gen­nüt­zige Ver­meh­rung seines Geldes gilt ihm mehr. Daß mit jedem Zu­wande­rer nach Deutschland weite­rer Straßenbedarf ent­steht, Wohnraum und Infra­struk­tur ge­schaf­fen wer­den müssen, ist ihm will­kom­men und er­freulich, weil es das Brut­to­so­zi­alprodukt fördert. So dürfen wir von ihm Ant­wor­ten immer nur im Rahmen seines ge­danklichen Koordina­ten­systems erwar­ten. Dessen Eck­punkte sind die Abwehr alles des­sen, was er als staatli­che Bevor­mun­dung fürchtet, und die einzige für ihn interessante Zu­kunfts­frage lautet, wer der­einst einmal seine Rente zahlen wird.

Alle diese Feststellungen sind nicht nur aus der Theorie des Libe­ra­lismus ab­ge­lei­tet, sie ent­sprechen auch genau den Beob­achtun­gen, die wir als Bür­ger dieses Staates in den vergange­nen Jahrzehn­ten ma­chen durften; denn so lange schon sitzen liberale Fundamen­talisten in Gestalt der FDP in je­der Bun­desregie­rung, flankiert von mehr oder weniger li­be­ralen Poli­tikern der bei­den Großpar­teien mit ein wenig so­zialer oder christlicher Tün­che. Das innere We­sen der Bun­desre­publik ist ebenso wie ihr äußeres Erschei­nungsbild tief durch den Li­be­ralismus geprägt. So er­klärt sich ein jahrelanger, scheinbar un­er­klärli­cher Drang zur "Mitte". Diese ist das ty­pisch liberale Werteva­kuum: Während die Ge­danken der Linken haupt­sächlich um das Pro­blem der Gleich­heit krei­sen, die mit univer­sa­listischen Gedanken­ent­wür­fen angestrebt wird, und wäh­rend sich die Sorgen der Rechten um die Bewahrung der Un­terschiedlichkeit und um Konzepte zu ihrer Er­haltung bewegen, kreist und be­wegt sich beim Li­be­­ralen gar nichts. Lö­sungsstrategien für Fra­gen, die er gar nicht ver­steht, kann er auch nicht entwic­keln. Sein Schlachtruf lautet nur: Weiter so, Deutsch­land!

Im Parlamentarismus sieht er die politische Form, die uni­versa­listi­sche Gleich­heit und die parti­kulare Besonderheit miteinan­der in ei­nem austarierten Gleich­ge­wicht zu hal­ten. Kei­nes die­ser Prinzipien soll das andere völlig vernich­ten, [422]  al­les weitere läßt ihn kalt. Als Hüter alles Be­son­deren, Ei­gentümli­chen, Wert­vol­len oder Einzigar­ti­gen ist der Li­be­ra­le völlig ungeeig­net, weil er zu des­sen Vertei­di­gung kei­nerlei ethi­sches Rüst­zeug besitzt und den Wer­ten an­derer ver­ständnislos-­gleich­gül­tig gegen­über­steht. Im Gegenteil ten­diert das freie Spiel der Kräfte, je­­ner Wettbe­werbs­ge­danke als Kern des li­bera­len Welt­bildes, zu uni­ver­saler Ver­flachung und Einebnung der Unter­schiede durch die Do­mi­n­anz des je­weils Stärkeren und die Verdrän­gung des Kleinen und Schwa­­chen. Der Libe­ralis­mus ist nicht der Hü­ter des Gleich­gewichts zwi­schen All­ge­meinem und Be­son­deren, son­dern Motor der welt­weiten Ge­­fährdung der Ein­zelvöl­ker und -kul­tu­ren durch eine um­fassende Welt­zivilisa­tion nach Vorbild der erzlibe­ralen Ge­sell­schaft an sich, den USA.

Liberale Reformvorschläge

Es mangelt nicht an Vorschlägen, die bekannten und von Li­bera­len durch­­aus zu­ge­ge­be­nen Mängel des Parlamentarismus durch sy­stem­kon­forme Ver­bes­se­rungen zu be­he­ben. Mangels ge­danklicher Durch­dringung der struk­turel­len und systemati­schen Gründe der Mise­re sind diese Vorschläge reali­täts­fern. Schon ein Vergleich des deut­schen mit ausländischen Parlamenta­rismen zeigt aber, daß dieselben Struk­tur­probleme in den mei­sten Ländern zur selben Krise geführt ha­ben. [423]

Am meisten haben Korruption und mangelnde Gemeinwohlorien­tie­rung wohl Ita­lien her­un­ter­gewirtschaftet. Schwarzrote Vet­terln­wirt­schaft und voll­ständiges Auf­saugen al­ler öf­fent­lichen Ämter durch die großen Parteien ha­ben in Öster­reich zu massiven Stim­men­gewin­nen der FPÖ und damit der Partei ge­führt, die aus­drück­lich ge­gen den schwar­z­ro­ten Filz und die Verein­nahmung des Staates durch die Par­teien an­tritt. In Belgien hat sich der Li­be­ralis­mus als unfä­hig er­wie­sen, einen für alle Volks­gruppen an­nehmbaren Mo­dus vi­vendi zu fin­den, Flamen und Wallonen dauer­haft zu integrie­ren und zu einer hö­heren, "bel­gi­schen" Ein­heit zu ver­schmelzen. Kein Wun­der: ist er doch zu über­in­di­vi­­dueller Sinnstiftung seinem Wesen nach unfähig und nimmt nur Ge­sell­­schaften und Be­völkerun­gen wahr, aber keine Völker.

Die Kritik am Zustand des Parteiensystems in Deutschland und Vor­schläge zu sei­ner Ver­ände­rung werden aus Kreisen seiner grund­sätzli­chen Befürworter, der "Parlamentaristen", auf zwei Ebenen vorge­tra­gen: Den macht­politisch nicht unmit­tel­bar inter­essier­ten Ver­fassungs­rechtlern, Soziolo­gen und Poli­tologen ste­hen die am System nutznie­ßenden Praktiker aus den Rei­hen der Par­teien gegen­über. Die li­berale politische Theorie erkennt die zunehmende In­kompe­tenz der prak­­ti­schen Parlaments­politik zur Problemlö­sung und sucht nach Re­form­stra­te­gi­en. Je geeigne­ter dieser zur Problem­lö­sung sind, desto wei­­ter führen sie aber von liberalen Glau­bens­sätzen weg. Diese ver­kör­­pern sich im ver­fas­sungs­rechtlichen Parlamen­tarismus im en­ge­ren Sin­­ne. Eine Anwendung ge­eig­neter Refor­men würde aber die be­währ­­­ten Notbremsen gegen den be­fürch­te­ten Machtver­lust loc­kern, und so werden sie von den Parlamen­tari­sten in den tonange­benden Par­teien wohl­­weis­lich nicht an­ge­rührt, für deren Auf­stieg ein si­che­rer Macht­instinkt not­wendi­ges Auslese­kriterium war.

Alle systemkonformen Verbesserungsvorschläge drehen sich um die The­­men­kreise Par­tei­enfinan­zierung, "Entflechtung von Staat und Par­tei­en" und "struk­turelle Erneue­rung der poli­tischen Füh­rung". Der un­mit­telbare Zugriff auf Haus­halts­mittel und vor al­lem auf die Äm­ter­ver­ga­be des Staates bil­det die dop­pelte Basis der Partei­en­macht. Hier set­zen li­be­rale Re­formvor­schläge an:

Reduzierung der staatlichen Parteienfinanzie­rung

Ein ganzer Chor von Kritikern [424]  appelliert an die Partei­führer, sich in einer Art freiwilli­ger Selbstbescheidung auf ihre von der Ver­fassung zuge­wiesene Rolle zu­rück­zu­zie­hen. Dies würde nach Art.21 GG be­deuten, an der Willensbil­dung des Volkes nur mit­zuwir­ken und diese nicht zu monopo­lisie­ren. Sogar Bieden­kopf und Engholm for­dern ei­ne Selbst­be­schränkung der Par­teien zur Stärkung ihrer Ak­zeptanz. [425]

Vierhaus stellt sich tatsächlich vor, die Par­teien könn­ten frei­­willig eine dra­sti­­sche Re­duzierung ihrer Staatsfi­nanzie­rung zulassen und eine effek­tive Kon­trol­le darüber in­stallieren. Die Staats­finanzie­rung soll auf ein ver­fas­sungs­kon­for­mes Maß re­duziert wer­den, in­dem au­­ßer den direkten Zu­wen­dun­gen (Wahl­kampf­­ko­sten­er­stat­tung, Sockel­­­­­be­träge, Chancen­ausgleich usw.) auch die indi­rekten Zahlungen in die Be­rechnung der Staatsquote ein­bezogen werden. Diese ist der staat­liche An­teil an der Par­teienfinan­zie­rung und darf nach ständi­ger Recht­­­spre­chung [426]  nicht über dem Ei­gen­fi­nan­zie­rungsan­teil lie­gen.

Bereits heute wird aber das verfassungsrechtliche Verbot für die Par­tei­en, sich über­­wie­gend aus Staatsmitteln zu fi­nanzie­ren, nur durch or­ganisato­rische Tricks ein­gehal­ten: Die Partei­en haben näm­lich einen gro­ßen Teil ihrer Organi­sation, bei­spiels­weise ihre "Denk­fa­briken", in Form recht­lich selb­ständi­ger Par­teistiftungen aus­ge­glie­dert, die staat­lich finanziert wer­den, bei der Berech­nung der Staats­quote aber formell nicht mitzählen. Das gilt auch für die Milli­ar­den­sum­men, die jährlich in Form von Diäten unzähli­ger Ab­ge­ord­neten auf Bundes-, Landes- und Kommunal­ebene an Par­teivertre­ter nebst Frak­ti­onszu­schüssen, Dienst­wa­gen, wis­sen­schaftli­chen Mitar­beitern und an­deren Extras ge­zahlt wer­­den und deren rechnerische Ein­be­zie­hung in die Staats­quote Vier­haus zu Recht fordert.

Mit jedem dieser Ausgabenposten ist aber ein menschliches Schick­sal ver­bun­den, nämlich die persönliche Versorgung ei­nes Par­lamentari­ers oder von ihm ab­hängigen An­gestellten. Schon die ange­sichts der Haushaltslage von Bun­des­kanzler Kohl im April 1992 an­ge­kündig­te Kür­zung der Minister­gehäl­ter war nicht durch­setzbar, und eine freiwil­lige Selbstbe­schränkung der Partei­en­macht wird im­mer wieder an de­ren ge­genge­richtetem Eigenin­teres­se scheitern. So rea­­li­stisch sieht das auch das BVerfG, wenn es ausführt, "ähnlich wie bei der Fest­legung der Be­züge von Abge­ordneten und sonsti­gen In­habern politi­scher Ämter erman­gelt das Gesetzge­bungs­verfahren" im Be­­reich der Par­tei­en­finan­zierung "regelmäßig des korrigieren­den Ele­ments ge­genläufiger politi­scher In­teres­sen." [427]  Kurz: Bei der Diä­ten­er­hö­hung ist man sich ebenso einig wie beim Zu­griff der Par­tei­ver­tre­ter auf Haus­haltsmittel.

Vor allem aber darf der liberale Parteienstaat seinen Zu­griff auf Ämter und Ver­sor­gungs­posten um den Preis seines Machter­halts nicht aufgeben: Jede Par­tei ist bestrebt, ih­rer Or­ganisa­tion eine mög­lichst breite Machtbasis zu ge­ben. Die Partei­herr­schaft ist ei­ne Herr­schaft weniger; wenn diese Weni­gen aber zu we­nige wer­den, gerät sie in Ge­fahr, von der Mehrheit nicht Pri­vi­legier­ter aus den Angeln geho­ben zu werden. Sie muß daher be­strebt sein, mög­lichst viele Ele­mente auch fi­nanziell an sich zu fesseln [428]  und die Speer­spitze des Wider­stan­des ge­gen ihre Macht personell und durch Geldzu­wen­dun­gen ins Parteiensy­stem einzubinden und damit ruhig­zustel­len. [429]  Dazu sind die Parteien auf den un­geschmä­lerten Zugriff auf den Staats­haushalt auf Ge­deih und Ver­derb an­ge­wiesen. So wurden die GRÜ­NEN seit ihrem Ein­zug in Län­der­parlamente und Bundestag Jahr für Jahr ruhi­ger, und als sie 1989 an­läßlich der Partei­enfinan­zie­rung zum Bundes­verfas­sungsge­richt klagten, wollten sie diese nicht etwa besei­tigen. Sie forderten nur ei­nen "gerechteren", also einen grö­ßeren, Happen für sich selbst. [430]

Der Zugriff auf den Staatshaushalt ist eine der Säulen der Par­tei­en­macht, und das wis­sen ihre Vertreter so genau, daß sie einschnei­den­de Ände­rungen auf keinen Fall zulas­sen wer­den. Wür­den sie an­ders han­deln, wäre ihre Macht bald gebro­chen, und ein Ab­schneiden der Par­tei­en von den staatli­chen Geld­hähnen würde in einen Zu­sam­men­bruch des Partei­enstaates in seiner jetzigen Form einmünden. Da die Par­teien das wissen, wer­den sie es nie zulassen. So resigniert Vier­haus letztlich: "Da es sich bei der Krise des Partei­enstaa­tes um ein staats­rechtli­ches und politi­sches Pro­blem han­delt, rei­chen rechtli­che Ansätze kei­nes­falls aus, zumal jedenfalls die Ge­setzesände­rungen de facto von der Zustim­m­ung der Parteien ab­hängig sind." [431]  Von Ar­nim emp­fiehlt als au­ßer­rechtlichen Aus­weg den Druck der öffent­lichen Mei­nung. Doch noch immer ha­ben die Parteien schnell durch neue, ver­steckte Haus­halts­titel wieder hereinge­holt, was ih­nen der eine oder an­de­re aufge­deckte Skandal an Geldzuflüs­sen ver­schüt­tete.

Auch ihre nach Parteiproporz handverlesenen Vertreter im Karls­ru­her BVerfG wis­sen, was sie den Parteien schuldig sind, die sie zu Ver­fassungs­rich­tern ge­macht haben: Weil die Parteien in Art.21 GG als Mitwirker an der politi­schen Willensbil­dung des Vol­kes ne­benbei er­wähnt sind, hält das BVerfG [432]  ih­re "herausgehobene Stellung im Wahl­­recht" für nötig und ihre Funk­tion als "Wahlvorbe­rei­tungs­or­ga­ni­sa­tionen" für die demo­krati­sche Ord­nung für unver­zichtbar. Sie seien be­rufen, die Bürger freiwillig zu politi­schen Hand­lungsein­hei­ten mit dem Ziele der Betei­ligung an der Willensbil­dung zu den Staatsor­ga­nen or­gani­sato­risch zu­sammenzuschließen und ihnen so einen wirk­samen Ein­­­fluß auf das staatliche Ge­schehen zu er­mögli­chen. Abwei­chend von sei­­ner bisherigen Rechtsprechung er­klärte das Ge­richt 1992 erst­mals eine Basisfi­nanzie­rung der Parteien bis zu einer Staats­quote von 50% für verfassungs­ge­mäß. Neuerdings dür­fen die Partei­en also ganz offen ihre allgemeine Par­teior­ganisation staatlich bezah­len lassen und werden damit von staatli­ch aus­ge­hal­te­nen Kanz­ler­wahlver­einen fak­tisch zu ei­nem Teil der Ob­rig­keit - und führen sich gegenüber dem Bürger und kon­­kurrie­ren­den Partei­en ent­spre­chend auf.

Die Theorie, das li­be­rale Repräsenta­tiv­system könne sich durch finan­zielle Selbst­be­schränkung der Partei­en selbst stabilisie­ren, verkennt die grundle­gende Be­deu­tung des Zugriffs der Parteien und ihrer Vertreter auf die Staatsfi­nanzen. Die naiv-optimi­stische Idee, die Nutznießer ei­nes Systems könnten freiwillig den Ast absägen, auf dem sie be­quem sit­zen, widerspricht al­ler Erfah­rung. Schon Proud­hon hatte beobachtet, daß die Volks­vertreter, so­bald sie in Besitz der Macht gelangt sind, so­fort ihre Macht zu stär­ken und auszubauen be­gin­nen, ihre Stel­lung unauf­hörlich mit neuen Schutz­maßregeln um­ge­ben und sich von der Bot­mäßigkeit gegenü­ber den Vertretenen endgül­tig zu befrei­en su­chen. [433]  Diese Befrei­ung ist ih­nen im selbstre­ferentiel­len Bonner System voll­ständig ge­lungen, weil dieses nur noch seinen eigenen Ge­setzen - ihren Ge­set­zen! - ge­horcht. Eine Chance, dieses System zu re­formieren, besteht daher nur an den Par­teien und Parla­menten vorbei, [434]  die seine Nutznießer sind.

Strukturelle Erneuerung der politischen Füh­rung

Es mangelt auch nicht an wohlmeinenden Ratschlägen, daß die Par­tei­en die Symp­tome der Ämter- und Mandatshäufung reduzie­ren und den Eliten­aus­­tausch vorantrei­ben soll­ten. An klaren und konkre­ten Kon­zepten, wie die Par­­teien die­ses Traumziel denn aus sich selbst her­aus erreichen könnten, fehlt es indes­sen. "Auffallend ist außer­dem, daß die Parteiforschung die schon län­ger ge­führ­te Re­formdebatte kaum ana­ly­tisch beglei­tet." [435]  Hilf­los werden an die Poli­tiker ge­rich­tete For­de­rungskataloge mit den schön­sten Wünsch­bar­kei­ten vor­ge­legt: Die Par­teien dürften nicht mehr alle Le­bens­be­rei­che kolo­ni­sie­ren, müßten sich der Gesellschaft öffnen, und die Ori­en­tie­rung der Politik an "Ge­mein­­wohl­in­ter­essen" müsse wie­der zur Richtschnur des Handelns wer­den. [436]  Nir­­­gends war zu le­sen, wie wir es denn anstellen sol­len, die Da­men und Herren Par­­teio­ligar­chen zu ge­mein­wohl­orien­tier­tem Han­deln zu veran­las­sen. Über la­men­­tieren­des Weh­klagen und eine Zu­stands­be­schrei­bung des real existierenden Par­la­mentarismus ist die Politik­for­schung der Nachkriegs­zeit selten hinaus­gekom­men. Dagegen kann nur die ana­lytische Einsicht in das vorhandene Kri­sen­­ge­flecht die Mög­lich­­keit zu einem sinnvollen, intensiv reflek­tierten Neu­an­fang bie­ten. [437]

Bei der Aufstellung der Kandidaten auf Wahllisten haben die Par­tei­en ein No­minie­rungs­mono­pol. Die Auswahl des gesamten po­liti­schen Personals ist in ih­re Hände über­gegan­gen. [438]  Wäh­rend sich das BVerfG in rührender Weise um die Parteien sorgt, diese dürften nicht "in ver­fas­sungsrechtlich nicht hin­nehm­ba­rer Weise vom Staat abhän­gig" wer­den, [439]  verliert es kein Wort über den tat­sächli­chen Zustand der Erbeu­tung des Staats durch die Par­teien. Die übliche Ver­knüp­fung und Häu­fung von Staats- und Par­tei­ämtern hat zu einer massi­ven Unter­wande­rung aller staatli­chen Ebe­nen durch Partei­funk­tionäre ge­führt, die im Zweifels­fall ihrer Partei zum Dank für den innege­hal­te­nen Po­sten ver­pflich­tet sind und die­sen Dank durch Parteiloyalität und vor­auseilenden Gehor­sam in Sachfragen wieder abstat­ten. Damit bil­den sie einen Staat im Staate, und bei der ihnen zugemuteten zwie­fachen Loyali­tät bleibt die Treue zum Gemeinwohl zwangsläu­fig zu­rück, wenn die Wie­der­wahl oder der Verbleib in einem Amt von der Parteigunst abhän­gen und nicht von staat­li­chen Lei­stungs­maßstäben.

Über die Amtsfunktionen üben die Parteien nach außen Macht aus, und nach in­nen dient ihr Vergabemonopol dazu, die Amtsträ­ger an die Par­tei zu bin­den. Diese Übel­stände zu be­klagen, ist bereits Allge­mein­gut geworden. Bei häufig feh­lender Fach­kompe­tenz ver­dan­ken viele Amts­träger ihre Macht nur ih­rer Par­tei. Damit ist ihr Wohl und We­he un­­trennbar mit dem Status quo des Par­tei­enstaats verbunden. Hier set­zen Reformvor­schlä­ge an und fordern die Be­set­zung von Äm­tern nach Qua­lifika­tion und die Er­gän­zung der Füh­rungs­schicht durch Fach­leu­te [440] , als ob das nicht durch Art.33 GG ohnehin gel­ten­des Recht wä­re. Nach Leistung aber werden die maß­gebli­chen Macht­po­sitio­nen in Deutsch­­land schon lange nicht mehr besetzt, und das be­ginnt schon beim Stu­di­endi­rek­tor.

Als unabdingbar zur Befreiung des Staats aus der Parteien­knebe­lung wird auch die Tren­nung von Staats- und Parteiäm­tern er­kannt. So for­dert Scheuch die Tren­nung von Partei- und Frak­ti­onsamt; Be­amte und Journali­sten sollen keine Par­tei- und Wahl­äm­ter mehr be­kleiden und Mandatsträger und Po­litfunk­tionäre nicht mehr in Auf­sichts­gremien von Betrie­ben der öf­fentli­chen Hand gewählt werden dürfen. [441]  In der­selben Tendenz ver­langt Vier­haus die Aufbre­chung des Blocks von Re­gie­rung und Frakti­on durch In­kom­patibilität von Re­gie­rungsamt (ein­schließ­lich Mini­sterial­bü­ro­kratie) und Abge­ord­ne­ten­mandat.