Während in Bonn am Rhein eine Verfassungskommission aus Parteienvertretern
der Fassade des Grundgesetzes Verzierungen und Erkerchen anflickte, wankte
bereits das ganze auf Treibsand errichtete Gebäude. Ungeachtet der immer
bedrohlicher werdenden existentiellen Sorgen und Probleme der einfachen
Menschen des Volkes befassen die Bundestagsparteien sich nur noch mit ihren
internen Rivalitäten und der Sicherung ihrer Macht. Sie spielen nach einem
Wort Armin Mohlers
die "Beste aller Welten",
und ihre Hofjournalisten sitzen im Parkett und klatschen dazu Beifall. Die
Zustimmung der Regierten zu den herrschenden Politikern aber schwindet,
und mit ihr schwindet die Zustimmung zu den von ihnen installierten Spielregeln,
jenem Repräsentationssystem, aufgrund dessen die einen oben und die anderen
unten bleiben. Mit dem Bekanntwerden systemkritischer Untersuchungen
und Schlußfolgerungen artikuliert sich das Unbehagen selbst in hohen Regierungskreisen
des Bonner Establishments, und hinter vorgehaltener Hand raunt man sich in
den Amtsstuben der Ministerialbürokratie zu, daß es so nicht weitergehen
kann.
Der real existierende Parlamentarismus ist auch an der notwendigen
Bildung einer qualifizierten politischen Elite gescheitert. Das dem Anspruche
nach demokratische System ist zu einem parteiübergreifenden Kartell zur
Postenverteilung auf Dauer entartet, in dem zwangsläufig die größten Opportunisten
nach oben gespült werden. Die Parteien haben ein oligarchisches Feudalsystem
gebildet. Damit verwirklichten sich exemplarisch die von Robert Michels
schon 1911 erkannten Gesetzmäßigkeiten von Parteiorganisationen und
die 1923 von Carl Schmitt
geübte grundsätzliche
Kritik am Parlamentarismus. Der Parteienstaat setzte die freiheitliche
demokratische Grundordnung im Sinne des Bundesverfassungsgerichts außer
Kraft und ist nicht mehr in deren Sinne demokratisch. Er besitzt keine Lösungskompetenz
für die existentiellen Fragen des Gemeinwohls, weil er Eigensucht, Opportunismus
und Korruption zu Prinzipien erhoben hat.
Für die westlichen Bundesländer hatten Soziologen schon vor
der Wiedervereinigung ein zentrales Einflußnetzwerk von nicht ganz 600
Personen festgestellt. 40% davon sind Politiker, 12% Ministerialbürokraten,
8% Gewerkschaftler, 8% vertreten Wirtschaftsverbände, und 8% sind Unternehmer.
Es herrscht der Trend zum Berufspolitiker
vor. Am weitesten ist die Willensbildung in der Politik miteinander vernetzt.
Durch vielfache Ämterhäufung und Cliquenbildung übt dieser Einflußzirkel
eine zentrale Wirkung aus.
"Als neue Obrigkeit wickelt der innere
Kreis dieses politischen Hochadels alle Staatsgeschäfte unter seinesgleichen
ab. Von den Gefolgschaften wird bedingungslose Treue verlangt, wofür diese
dann allerlei Brosamen erhalten."
"Zwischenparteilich entsteht" so
"eine Gruppe von Eingeweihten, die nur noch Scheingefechte
gegeneinander liefern, um das Herz des Wählers zu erfreuen. In Wahrheit sind
sie sehr einig, und nur manchmal fechten sie stille, aber erbitterte Kämpfe
aus um den Anteil an der großen Futterkrippe, die Macht heißt."
In der bloßen Existenz politischer Eliten liegt nicht das
Problem. Nach jeder Staatsumwälzung und Verdrängung einer alten Elite von
der Macht pflegt sich alsbald eine "neue Aristokratie" aufzuschwingen
und die Rolle der alten zu besetzen.
Robert Michels
fand das "Eherne Gesetz
der Oligarchie", nach dem in jedem Herrschaftssystem nur wenige wirkliche
Macht ausüben.
Man hat errechnet, daß die Anzahl der Aristokraten
im zaristischen Rußland, der ausschlaggebenden Lobbyisten in den USA und
der Nomenklatura in der Sowjetunion mit 4%-6% der Bevölkerung immer annähernd
gleich ist.
Zentrales Problem ist aber, durch
welches Ausleseprinzip welche Art von Menschen Zugang zur Funktionselite
bekommt und dadurch an der tatsächlichen Ausübung der Herrschaft Teil hat.
Daß in der heutigen Bundesrepublik die Art der Auswahl von Berufspolitikern
und ihre Karriere die entscheidende Schwachstelle des politischen Systems
ist, sieht der Kölner Soziologe Erwin Scheuch
als nicht kontrovers an. Die Personalauswahl werde durch das Instrument
der Wahlliste bestimmt, und hier dominieren Einflußcliquen und Seilschaften.
Für den Berufspolitiker wird der Kampf um seine Wiederaufstellung zur
persönlichen Existenzfrage, und darum wird er gnadenlos geführt.
Nach de Jouvenels
bekanntem Scherzwort braucht
man, nachdem man einmal Abgeordneter geworden ist, nur noch eine Sorge zu haben,
nämlich Abgeordneter zu bleiben.
Hat der Abgeordnete einen Listenplatz von
seiner Partei Gnaden in der Tasche, ist die Wiederwahl meist nur noch Formsache.
Was das Volk von ihm hält, kann ihm gleichgültig sein. Das Risiko des Mandatsverlusts
durch eine Wahl ist mit 2%-3%, im Extremfall 5% der Abgeordneten außerordentlich
gering.
Die Eigenabsicherung auf einem sicheren Listenplatz wird
nach zwei Richtungen durchgeführt. Nach innen richtet der Berufspolitiker
seine Loyalität auf seine Seilschaft, allenfalls auf seine Partei aus:
Ganze Personalpakete werden in kleinem Kreis informell abgesprochen und
die Cliquenmitglieder darauf festgelegt, sich gegenseitig zu wählen.
Nach außen wird die Wahl jedes Dritten verhindert. So berichtet Scheuch
von schriftlichen Verträgen einzelner Seilschaften
innerhalb der Kölner CDU-Ratsfraktion mit konkurrierenden Seilschaften
über die Aufteilung aller erreichbaren Mandate. Konkurrenten werden ausgebootet
oder nach Absprache mit lukrativen Posten versorgt, um sie ruhigzustellen. Die Aufstellung von Alternativkandidaten
wird möglichst durch Satzungstricks verhindert, wie beim Urteil des Hanseatischen
Staatsgerichtshofs vom 4.5.1993 für Unrecht erkannt, als eine Hamburger
Bürgerschaftswahl wegen undemokratischer Methoden bei der Kandidatenaufstellung
der CDU für ungültig erklärt wurde.
Auf Bundesebene und in einer Anzahl größerer Städte haben
solche Seilschaften sich bereits zu voll ausgebildeten Feudalsystemen
fortentwickelt.
Grundlegend für jedes Feudalsystem ist der
Tausch von Treue gegen Privilegien. Wer auch nur einmal ausschert, wird verstoßen.
Wer aber mitspielt und sich der Cliquenräson
beugt, darf mit seiner Wiederaufstellung rechnen, denn die Clique benötigt
ihn als Baustein ihrer Einflußzone ebenso, wie er auf sie zu seiner persönlichen
Existenzabsicherung angewiesen ist. Die Kleinstrukturen der Cliquen und
Seilschaften
setzen sich in größerem Zusammenhang auf
Bundes-, Landes- und Kommunalebene fort. Die Parteien haben Quasi-Kartelle
gebildet und die Versorgungsposten des staatlichen und halbstaatlichen
Bereichs wie eine Beutemasse
unter sich aufgeteilt. "Solche
Quasi-Kartelle, die von den Betroffenen oft als Beleg für die »Einigkeit der
Demokraten« verharmlost werden, schalten den politischen Wettbewerb aus und
entmachten den Wähler: Welche Partei auch immer er wählt, alle sind in das
Kartell eingebunden."
Sie greifen direkt über sogenannte Wahlkampfkostenerstattungen
und andere unmittelbare Zuwendungen in Höhe von mehr als 1 Milliarde DM
jährlich in den gefüllten Steuertopf
und erzielen damit 60% ihrer Einkünfte. Die
Gesetze, die ihnen das erlauben, haben sie im Bundestag selbst beschlossen
und reproduzieren den sie umhüllenden Nährspeck ständig selbst wie eine
Spinnerraupe ihren Kokon. Die Parteien haben sich als "Absahner die
Gesetze derart hingebogen, daß sie ihr Treiben vor aller Öffentlichkeit
fortsetzen können. Wenn ein Skandal wie die Süßmuthsche Dienstwagenaffäre
ruchbar wird, ändert man einfach die Rechtslage, nach der Frau Süßmuth
ihrem Gatten nunmehr ganz
legal ihren Dienstwagen überlassen darf.
Rechnet man zu ihrer Beutemasse noch die
staatliche Finanzierung ihrer Parteistiftungen mit jährlich 500 Mio.
DM, die Fraktionszuschüsse mit 100 Mio. DM und sämtliche Dienstbezüge
der unter Verstoß gegen das Leistungsprinzip (Art.33 GG) Protegierten hinzu,
steigt sie ins Unermeßliche.
Diese Dienstbezüge sind der wichtigste Gegenstand persönlicher
Vorteilnahme. Durch Zugriff auf die Besetzung lukrativer Posten haben die
Parteien sich die Ressource "Privilegien" unbeschränkt verfügbar
gemacht, um sich der Treue ihrer Günstlinge zu versichern. Im kommunalen
Bereich führen die meisten Gemeinden ihre Dienstleistungsunternehmen
privatrechtlich, bleiben aber im Besitz der Kapitalmehrheiten und behalten
damit den maßgeblichen Einfluß bei der Besetzung der Aufsichtsräte und anderer
Posten. Die Parteien versorgen mit diesen lukrativen Positionen ihre Stadtverordneten,
die mit den gezahlten Spitzenverdiensten ihr Einkommen ergänzen.
Noch wichtiger sind die Aufsichtsratsposten
nach Aufgabe eines politischen Amtes zur "Endlagerung"
abgehalfterter Politrentner. So wechselte
der Vorstandsposten bei den Kölner Verkehrsbetrieben, dotiert mit
250.-350.000 DM jährlich, zwischen SPD- und CDU-Fraktionsvorsitzenden ebenso,
wie die Großaufträge zum Anstreichen der Kölner Rheinbrücken und die
anwaltlichen Mandate für die Rechtsvertretung der Stadt im Wechsel CDU-
und SPD-Ratsherren zugute kommen. Ein weiteres "Endlager" für
ausgediente Parteifunktionäre fand der SPIEGEL in der Bundeszentrale für politische Bildung.
Die Parteien haben den Zugriff auf die öffentlichen Ämter in
kaum vorstellbarem Maße monopolisiert.
Sie erweitern den zu ihrer Beutemasse gehörenden
Kreis systematisch
.
Selbst Behörden werden wie Tendenzbetriebe behandelt.
Die Parteien geben sich neuerdings keinerlei
Mühe mehr, dies zu bemänteln: Nach dem Tode des Weser-Ems-Regierungspräsidenten
verkündete Uwe-Karsten Heye
als Sprecher der niedersächsischen
Landesregierung verblüffend offen, als Nachfolger komme der parteilose
Oldenburger Vizepräsident nicht in Frage, weil es ihm an der "nötigen
Farbennähe" zur SPD-Landesregierung fehle, was selbst das SPD-nahe
Göttinger Tageblatt zu dem Eingeständnis veranlaßte: "Jetzt ist es
amtlich. In Niedersachsen gilt das Prinzip der Parteibuchwirtschaft."
Durch unverhohlene Ämterpatronage und
Parteibuchwirtschaft
fest in ihrer Hand sind der Rundfunk, die
kommunale Selbstverwaltung, Schulen, Universitäten, Bahn, Post und
Sparkassen.
Ferner soll auch der vorpolitische Raum mit
Wohlfahrts-, Bauern- und Vertriebenenverbänden parteipolitischer
Unterwanderung ausgesetzt sein.
Ihr Einfluß hat sich quasi fettfleckartig
über alle staatlichen Institutionen ausgebreitet.
Selbst wohlwollende Autoren sprechen von
einer "Kolonialisierung" aller gesellschaftlichen Lebensbereiche
durch den Parteienstaat.
Den Begriff totaler Parteienstaat
formulierte Carl Schmitt
angesichts derselben Problematik
immerhin schon 1932;
und von Arnim nennt ihn neuerdings den "absoluten Parteienstaat".
Wie drückte es Scheuch
so schön aus: "Es
organisiert sich ein parteiübergreifendes Kartell zur Postenverteilung auf
Dauer."
Es nutzt alle "Möglichkeiten, welche den
Parteien zur Belohnung ihrer Getreuen gegeben sind. Man geht deshalb dazu
über, auch die höheren Beamtenstellen zu parlamentarisieren und auf Grund
stiller Handelsgeschäfte zwischen den Parteien zu besetzen."
Das System der Machtübernahme durch Cliquen
ist nach Scheuch außer Kontrolle. Es ist nur noch auf sich selbst bezogen,
oder, wie es in der Soziologie heißt: selbstreferentiell. In der Systemtheorie nach Niklas Luhmann
bedeutet das, daß es nur
noch auf Veränderungen im eigenen System reagiert. Die Politik in der
Bundesrepublik ist selbstreferentiell als Koalition von beamteten
Politikern und politisierten Beamten, umgeben von Journalisten des öffentlich-rechtlichen
Rundfunks. Derartige Systeme haben die Tendenz, sich zunehmend zu verselbständigen
- hier gegenüber dem Gesamtsystem "Gesellschaft".
Damit ist aber der Elitenpluralismus und
damit eine tragende Säule der Selbstrechtfertigung des Systems außer Kraft
gesetzt. Sie lautet, daß die "Demokratie" institutionell und
tatsächlich offen und durchlässig für konkurrierende Eliten sein muß.
Heute dagegen gleichen die Führungsgremien der Bundestagsparteien geschlossenen
Gesellschaften,
in die Zutritt nur demjenigen gestattet
wird, der den Insidern aus Gründen der internen Räson genehm ist.
Die Auswahl des gesamten politischen Personals
ist in ihre Hände übergegangen.
Die Führungspersonen spielen eine so
entscheidende Rolle dabei, daß Wahlen nur ein legitimierendes Moment in einem
umfassenden Prozeß der Kooptation und Selbstrekrutierung der Führungsgruppen
darstellen.
"Das wesentliche der oligarchischen
Herrschaft ist
...
der Fortbestand einer
gewissen Weltanschauung und einer gewissen Lebensweise.
...
Eine herrschende
Gruppe ist so lange eine herrschende Gruppe, wie sie ihre Nachfolger bestimmen
kann. Der Partei geht es nicht darum, ewig ihr Blut, sondern sich selbst ewig
zu behaupten."
Die traditionellen Volksparteien haben durch ihre
oligarchischen Binnenstrukturen nicht nur den Kontakt zur Gesellschaft in
weiten Teilen verloren.
Ihre Führungseliten orientieren sich auch innerparteilich
nicht an den Bedürfnissen und Interessen der schweigenden Mehrheit der
Mitglieder, sondern, z.B. in der SPD, "weitgehend an den politischen
Präferenzen der aktiven Minderheiten, die das Parteileben bestimmen. Sie
vergeben Delegierten- und Vorstandsposten; ihre Zustimmung ist für die
Erlangung von Kandidaturen für öffentliche Ämter unabdingbar [...] Damit aber birgt die - aus Sicht der Parteieliten durchaus rationale - Orientierung
der politischen Eliten der SPD an dieser engagierten Minderheit der
Parteiaktivisten stets die Gefahr, programmatisch und ideologisch an den
Bedürfnissen und Interessen der schweigenden Mehrheit der Parteimitglieder
und erst recht der Wähler vorbeizudenken und im politischen Abseits zu
landen."
Dieses Fehlanpassungssyndrom führt dazu,
daß die Probleme der einfachen Menschen bei den fehlangepaßten Parteieliten
ganz unten auf der Tagesordnung stehen.
Scheuch
befürchtet, daß es zu einem
Kartell der großen Parteien auf Dauer kommen wird, und fordert daher: "Das System selbst,
die Vorherrschaft von Cliquen auf der Ebene der Kreise, der Unterbezirke
bzw. Bezirke, ist auf Bundesebene zu beseitigen". Er fordert eine rasche Ergänzung des
jetzigen Führungspersonals durch fachlich qualifizierte Personen,
sonst werde sich der Qualitätsverfall beschleunigen.
- Doch Systeme, deren einziges formales Kriterium
für die Qualifikation von Kandidaten darin besteht, mehrheitsfähig zu
sein, haben eine eingebaute Tendenz zur Mittelmäßigkeit.
Da die hauptsächlichen Kriterien der politischen
Kandidatenauswahl und Selektion nur die Cliquenloyalität und -konformität
sind, kann das System nur massenhaft Exponenten hervorbringen, die sich
durch Konformität, Cliquengeist und die Bereitschaft auszeichnen, Treue
gegen Vorteile zu geben und zu nehmen. Parteiaktivisten, denen es noch um
die Sache selbst geht, stören
und bleiben chancenlos. Amtsinhaber sperren
sich gegen eine Zufuhr von Intelligenz, Fachwissen und Unabhängigkeit von
außen. Nachwuchsförderung wird hintertrieben, weil gute Leute als Konkurrenten
die eigene Existenz gefährden könnten. Jede Oligarchie ist ihrem eigenen
Nachwuchs gegenüber argwöhnisch. Sie wittert in ihm Nachfolger bei Lebzeiten.
Rückgrate sind vor Betreten des politischen Parketts an der
Garderobe abzugeben. Die Zöglinge dieses Systems sitzen fest im Sattel.
Sie können und werden die sie begünstigenden Systemregeln nicht ändern.
Darum ist das System nach Ansicht des Soziologen Scheuch aus sich selbst
heraus reformunfähig. Es gehorcht eben nur noch seinen eigenen Gesetzen.
Scheuch sieht keine Chancen, daß "diese Mafia-Strukturen" aus den
Parteien selbst heraus beseitigt werden könnten. Wie die böse Tat, die immer nur Böses gebiert,
bringt das System vorwiegend charakterlosen und mediokren Parteinachwuchs
nach oben und stabilisiert sich so fortwährend selbst. "Nur wer den
klassenspezifischen Politsprech inklusive sämtlicher Tabus und ritueller
Verbeugungen beziehungweise Abscheubezeugungen beherrscht, wird zum Klub
zugelassen."
Wenn die Studie Scheuchs
auch bei ihren Auftraggebern
in der Düsseldorfer CDU wie eine kalte Dusche gewirkt hatte - die Auslieferung
wurde zunächst gestoppt, die Studie dann "zurückgezogen" und dem
Autor mit Verleumdungsanzeigen und Parteiausschlußverfahren gedroht -
sind ihre Erkenntnisse doch keineswegs neu. Sie bestätigen allenfalls aufs
neue empirisch, was an grundsätzlicher Kritik am liberalen Parlamentarismus
seit Jahrzehnten vorliegt. Nur weil man glaubte, in der besten aller Welten
zu leben und mit dem Bonner System den ganz großen Wurf gemacht und den Gipfel
deutscher Verfassungsmäßigkeit erklommen zu haben, verpönte und verdrängte
man Carl Schmitt.
Dieser hatte schon 1923
erkannt: "In manchen Staaten hat es der Parlamentarismus schon dahin
gebracht, daß sich alle öffentlichen Angelegenheiten in Beute- und Kompromißobjekte
von Parteien und Gefolgschaften verwandeln und die Politik, weit davon
entfernt, die Angelegenheit einer Elite zu sein, zu dem ziemlich verachteten
Geschäft einer ziemlich verachteten Klasse von Menschen geworden
ist". Über denselben Befund besteht auch heute
wieder Einigkeit vom Stammtisch bis ins Parlament:
Statt von Politik- und Parteienverdrossenheit muß von einer Parteien- und
Politikverachtung gesprochen werden.
Liberale Verteidiger des Status quo möchten die Schuld an
der 1923 wie 1994 gleichartigen Misere gern vom liberalen Parlamentssystem
auf seine real existierenden Parteien schieben. So erklärte Hartmut Schiedermair
unter der Überschrift
"Hände weg vom Grundgesetz!", die Ursache der "Staatsverdrossenheit"
seien "bekanntlich die politischen Parteien, deren Integrationskraft
in erschreckender Weise nachgelassen habe. Korrekturen am parlamentarischen
System seien hier eine falsche Therapie." Diese Ausrede ist so falsch wie die Behauptung
aus der Endphase des real existierenden Sozialismus, eigentlich sei die Idee
ja schön gewesen - nur die SED und ihre Führer seien ihr leider menschlich
nicht gewachsen gewesen. Es gab aber keinen wirklich anderen als den real
existierenden Sozialismus, und ebenso hatten und haben andere
Parlamentarismen in allen Ländern mit denselben Strukturproblemen zu
kämpfen wie der unserer.
Diese Schwierigkeiten hatten schon 1985 die Juristen der
Staatsrechtslehrertagung unter die Lupe genommen und die Tagung unter ein
Carl Schmitt
entlehntes Motto gestellt:
"Parteienstaatlichkeit - Krise des demokratischen Verfassungsstaates?"
Sie befanden, daß die derzeitige Situation des Parteienstaats und seine
Krise des Repräsentativsystems Anlaß zu größter Besorgnis seien,
womit sie auf die Problematik des Parlamentarismus
anspielten. Von einer Krise der Demokratie hatten sie mit Recht nicht gesprochen.
Bereits Carl Schmitt
hatte die Krise der
Demokratie von der des modernen Staates und der des Parlamentarismus unterschieden und die Krise des letzteren darin erkannt, daß
seine axiomatischen Grundprinzipien nicht funktionieren: Diese sind die
Willensbildung in öffentlicher Diskussion und die Gewaltenteilung. So
stellt sich die Geschichte des Parlamentarismus im 20. Jahrhundert als eine
fortwährende Krise dar: von Carl Schmitts Krisenanalyse schon 1923 bis hin zu
v.Arnims Diktum von 1995 über die "Legitimationskrise des
Parlamentarismus".
Ein typisch liberales Ordnungsprinzip ist das der Balance.
In aufklärerischer Tradition will der Liberale überall eine ausbalancierte
Vielheit schaffen und erhofft sich aus der Ausbalancierung der Kräfte eine höhere
Harmonie. Im politischen Raum führt dieses Prinzip zur Idee des Parlaments.
Seine Ratio liegt in der Auseinandersetzung von Gegensätzen und
Meinungen, aus der sich die richtige Entscheidung als Resultat ergeben
soll. Aus dem freien Kampf der Ideen soll aufklärerisch-rationalistischem
Glauben nach die Wahrheit entstehen als die aus dem Wettbewerb sich von
selbst ergebende Harmonie.
Heute wird dieser Glaube als "Theorie der
kommunikativen Vernunft" von Jürgen Habermas
vertreten. Mit der praktischen Einlösung dieses Dogmas
steht und fällt die parlamentarische Idee. Zur bloßen Konfliktregulierung
und zum reinen innergesellschaftlichen Interessenausgleich
bedürfte es nämlich keiner vom ganzen Volk
gewählten Abgeordneten. Es würde ein Gremium genügen, in das die "gesellschaftlich
relevanten Gruppen" ihre Vertreter entsenden.
Wie sehr das Dogma von der sich aus dem freien Gedankenaustausch
ergebenden höheren Harmonie und der sich ihm ergebenden
"Wahrheit" noch heute Leitidee der Verfassung ist, zeigte das Bundesverfassungsgericht: Es geht von einem Verfassungsgebot des
grundsätzlich staatsfreien und offenen Meinungs- und Willensbildungsprozesses
vom Volk zu den Staatsorganen aus. Die Rechtfertigung staatlichen Handelns
beruht danach letztlich darauf, daß der aus einem freien Prozeß der Meinungsauseinandersetzung
resultierenden Entscheidung eine höhere formale Legitimation innewohnen
soll. Was so für das Volk insgesamt gelten soll, spiegelt sich im kleinen im
Parlament wider.
Tatsächlich war demgegenüber das Dogma der Entscheidungsfindung
auf Grund freien Gedanken- und Meinungsaustauschs schon 1923 gefallen, als
Carl Schmitt
mit bis heute unveränderter
Aktualität notieren konnte: "Die Parteien treten heute nicht mehr als
diskutierende Meinungen, sondern als soziale oder wirtschaftliche Machtgruppen
einander gegenüber, berechnen die beiderseitigen Interessen und Machtmöglichkeiten
und schließen auf dieser faktischen Grundlage Kompromisse und Koalitionen."
"Nach liberaler Auffassung ist die Politik
wesentlich ein Kampf um Positionen, die Verfügung über administrative Macht
einräumen. Der politische Meinungs- und Willensbildungsprozeß in Öffentlichkeit
und Parlament ist durch die Konkurrenz strategisch handelnder kollektiver
Aktoren um den Erhalt oder den Erwerb von Machtpositionen bestimmt."
"Die Massen werden durch einen Propaganda-Apparat
gewonnen, dessen größte Wirkungen auf einem Appell an nächstliegende Interessen
und Leidenschaften beruhen. Das Argument im eigentlichen Sinne, das für
die echte Diskussion charakteristisch ist, verschwindet."
"Heute wirkt es wie eine Satire, wenn
man einen Satz von Bentham
zitiert: 'Im Parlament treffen sich die
Ideen, die Berührung der Ideen schlägt Funken und führt zur Evidenz.'"
Das parlamentarische Formprinzip der Entscheidungsfindung
aufgrund öffentlicher Diskussion ist längst zur inhaltsleeren Formalie
degeneriert. Von seltenen Ausnahmefällen abgesehen, fallen die wesentlichen
Entscheidungen nicht mehr im Parlament. Die wünschenswerte demokratische
Willensbildung im Volke aufgrund freier geistiger Auseinandersetzung,
die Willensbildung "von unten nach oben", führt ihren Reigen allenfalls
noch über dem Sternenzelt des Ideenhimmels, nicht aber hienieden im allgegenwärtigen
Medienstaat oder gar im Bundestag. Wirklich entschieden wird auf Parteitagen,
informellen Treffen von Spitzenpolitikern,
in schriftlichen "Verträgen" einzelner
Seilschaften zur Aufteilung der Beutemasse, bestenfalls noch in der Koalitionsrunde,
aber nicht in den verfassungsmäßig vorgesehenen Staatsorganen. "Fraktionsdisziplin
und -zwang bestehen fort. Koalitionsvereinbarungen legen fest, wann das
Abstimmungsverhalten im Parlament den Abgeordneten - horribile dictu - freigestellt werden soll."
Koalitionen sind in der Verfassung nicht vorgesehen und
beeinträchtigen verfassungsrechtliche Kompetenzen von Staatsorganen, nämlich
die Personalhoheit (Art.64 I GG) und Richtlinienkompetenz (Art.65 S.1 GG)
des Kanzlers und die Ressortkompetenz der Bundesminister (Art.65 S.2 GG).
Koalitionsentscheidungen unterliegen, da im Gesetz nicht vorgesehen,
keiner verfassungsrechtlichen oder sonst richterlichen Kontrolle.
Wie drastisch die nach der Idee des Parlamentarismus
und dem Willen des Bonner Grundgesetzes vorgesehene Entscheidung aller
Fragen des Gemeinwohls durch demokratisch legitimierte Institutionen zur
Farce geworden ist, schildert uns Waldemar Schreckenberger,
der von 1982 bis 1989 Staatssekretär
im Bundeskanzleramt war und es daher wohl wissen muß. Der heutige Professor
an der Verwaltungshochschule in Speyer sieht die Koalitionsrunden als ein
Symptom auf dem Wege zum Parteienstaat an.
Er berichtet aus seiner Erfahrung, daß die Entscheidungsverfahren
in den staatlichen Gremien Bundestag und -kabinett zunehmend überlagert
werden durch interne Beschlüsse der Parteien, den wirklichen Trägern der
Macht. Zwischen Kabinett und Koalitionsrunde habe sich eine Arbeitsteilung
ergeben, nach der die massenhaften Routinesachen dem Kabinett verbleiben,
die wichtigsten Sach- und Personalfragen aber im Regelfall von der Koalition
vorentschieden werden. Die nachfolgenden Kabinetts- und Parlamentsbeschlüsse
erscheinen nur noch als Vollzugsakt vorausgegangener Parteivereinbarungen.
Es entsteht zumindest der Schein, als sei die Regierung ein bloßes Durchführungsorgan
oder das geschäftsführende Management der sie stützenden Parteien.
Diese Beobachtung hatte Carl Schmitt
schon 1923 gemacht: Die wesentlichen
Entscheidungen fallen in geheimen Sitzungen der Fraktionsführer oder gar
in außerparlamentarischen Komitees, so daß eine Verschiebung und Aufhebung
jeder Verantwortlichkeit eintritt und auf diese Weise das ganze parlamentarische
System nur noch eine schlechte Fassade vor der Herrschaft von Parteien und
wirtschaftlichen Interessenten ist. Koalitionsentscheidungen sind nicht transparent,
obwohl sie im nachhinein Wahlentscheidungen verändern, womit sie im Ergebnis
das demokratische Prinzip selbst einschränken. Und Schreckenberger folgert in diesem Sinne
1992 weiter, daß diese institutionalisierten Formen der Einflußnahme und
des Zugriffs auf den Staat zwar für die Koalitionsparteien einen Machtgewinn
bedeuten. Für eine nur dem Parlament verantwortliche Regierung bedeutet
es dagegen eine Herabstufung zu einem Ausführungsgehilfen von Parteioligarchen.
Die Regierungsmitglieder fungieren damit als Repräsentanten von Gremien
der Parteienkoalition, statt von demokratisch legitimierten Staatsorganen,
was Schreckenberger "schwer erträglich" findet: Eine
"Oligarchie der führenden Politiker bei geringer Transparenz."
Nicht weniger bedeutsam sei die Einflußnahme
von Koalitionsparteien auf den parlamentarischen Entscheidungsprozeß:
Wesentliche Regelungen eines Gesetzesentwurfs, die bereits die Billigung
der Koalitonsrunde gefunden haben, lassen sich im Parlament nur noch
schwer verändern. So wird der Staat nicht aus seinen verfassungsmäßigen
Institutionen gelenkt, sondern aus Parteigremien ferngesteuert.
Über die Koalitionsvereinbarung zwischen den Grünen und der
SDP in Nordrhein-Westfalen schrieb Scheuch
sogar: "Waren die Abgeordneten bislang schon
durch die starke Stellung der Fraktionsspitzen als Einzelpersonen weitgehend
entmachtet, so ist dies in diesen Koalitionsvereinbarungen noch ein Stück
weiter getrieben hin zu dem Abgeordneten als Abstimmungssoldaten. Das Koalitionspapier
ist nicht nur ein weiterer Schritt weg von einer parlamentarischen Demokratie,
die diesen Namen verdient. Es ist auch zugleich ein Schritt hinzu einer Art
Fünf-Jahres-Plan, wie man ihn aus nichtdemokratischen Regimen kennt."
Wie hatte es doch in einer Rede Hitlers
auf dem Reichsparteitag Triumph des Willens geheißen: Nicht
der Staat hat der Partei zu befehlen, nein, die Partei schafft sich ihren
Staat. Und wie war es in den kommunistischen Diktaturen des Ostblocks?
"Die Partei führt, der Staat verwaltet."
Nicht die Regierung war also Träger der
Macht, sondern das hinter ihr stehende Politbüro, die Partei. Genau hier verläuft
die Scheidelinie zwischen der heute so bezeichneten parlamentarischen
Demokratie in Gestalt der bloßen Parteiendemokratie und einem Parteienstaat.
Bei ihm ist die Macht des Volkes höchstens noch Fiktion und damit zur
Fassade verkommen. Tatsächlich herrschen eine oder mehrere Blockparteien,
die sich, wozu jede zur Macht gelangte Gruppe neigt, nach außen für das Allgemeine
ausgeben
und mit dem Staat identifizieren. Die Identifizierung
von Staat bzw. Regierung und Parteien bedeutet aber schon begrifflich den
reinen Parteienstaat.
Nicht besser steht es mit dem anderen parlamentarischen
Grundaxiom, der Ausbalancierung der Gewalten.
Die von Locke und Montesquieu
entwickelte Lehre zur Ausbalancierung der
Gewalten ist eine typisch liberal-aufklärerische Verfassungsidee. Sie
beruht auf der bürgerlichen Überzeugung vom Gleichgewicht. Stünden
wiederstreitende Kräfte im Gleichgewicht, würden sie sich wechselseitig ausbalancieren
und bildeten eine höhere Harmonie. Von dieser "mechanischen Gleichgewichtsmetapher"
machte auch Montesquieu ausgiebigen Gebrauch und gab ihr eine spezifische
Wendung, indem er das Gleichgewicht als wünschenswerte "Mäßigung" der
souveränen Staatsgewalt umschreibt.
Von der Lehre Montesquieus ist heute vornehmlich der Grundgedanke
anwendbar geblieben: Die Idee, dem Bürger möglichst viel Sicherheit zu
geben, indem die Staatsbefugnisse auf verschiedene Häupter verteilt
werden. Sobald in ein und derselben Person oder "Beamtenschaft"
die legislative Befugnis mit der exekutiven verbunden werde, gebe es keine
Freiheit.
Es gab im 18. Jahrhundert andere gesellschaftliche Machtfaktoren.
Während heute machtvoll organisierte Interessengruppen, Parteien und Massenmedien
den Ton angeben, hatte Montesquieu als Mächtige den König, den Adel und das
Bürgertum vorgefunden. Diesen Gruppen versuchte er die einzelnen
staatlichen Machtbefugnisse zuzuordnen, die sogenannten Gewalten: Adel
und Bürgertum sollten, in Vertretungskörperschaften organisiert, gemeinsam
die Gesetze machen, gegen die der König nur ein Einspruchsrecht hatte. Die
Richter sollten jährlich aus der Menge des Volkes ausgesucht werden. Weil
die gesellschaftliche Realität und ihre Akteure sich grundlegend gewandelt
haben, können Montesquieus Zuordnungen der Befugnisse zu bestimmten Gruppen
so nicht mehr funktionieren. Seine Grundidee kann heute nur sinngemäß auf
die heutigen Machtfaktoren der Gesellschaft angewandt werden.
Der gedankliche Kern der Trennung von Befugnissen und der
Aufteilung der Macht drückt sich in Inkompatibilitäten aus, das heißt dem
Verbot, nach dem ein und dieselbe Person oder Personengruppe nicht
gleichzeitig zwei verschiedene Gewalten innehaben oder an ihnen teilhaben
darf. Das entspricht der Idee nach der heute gängigen Staats- und Verfassungslehre,
ist im Grundgesetz aber nur in bezug auf einzelne Personen verwirklicht. So
ist bekannt, daß es gesetzliche Verbote der gleichzeitigen Zugehörigkeit zu
mehreren Gewalten gibt.
Montesquieu hatte das Verbot aber ausdrücklich weiter als
heute gefaßt und auch mit der Freiheit für unvereinbar erklärt, wenn verschiedene
Einzelpersonen aus "derselben Beamtenschaft" mehrere Gewalten
inne hätten. Mit Bedacht hatte er jede der Staatsfunktionen einer bestimmten,
in sich als weitgehend homogen vorgestellten gesellschaftlichen Gruppe
zugeordnet, beispielsweise die Gesetzgebung derjenigen Kammer, die aus
dem Bürgertum hervorgegangen war und einer anderen aus dem Adel. Keiner
dieser Gruppen gehörte der König als Haupt der Exekutive persönlich an.
Montesquieu hätte sich nicht einfallen lassen, Personen aus ein und
derselben Gruppe, etwa dem Adel, gleichzeitig die Exekutive und die
Mitwirkung an der Gesetzgebung anzuvertrauen. Er betont mehrfach, daß
nicht nur eine Einzelperson keinesfalls Einfluß auf mehr als eine Staatsgewalt
gleichzeitig haben darf, sondern daß auch ein und dieselbe Personengruppe
nicht mehrere Staatsbefugnisse besetzen dürfe: "Alles wäre verloren, wenn
ein und derselbe Mann bzw. die gleiche Körperschaft entweder der Mächtigen
oder der Adligen oder des Volkes alle drei Machtvorkommen ausübte".
Als negatives Beispiel schildert Montesquieu die Situation
in den italienischen Republiken seiner Zeit: "Die gleiche Beamtenschaft
hat als Ausführer der Gesetze alle die Befugnisse, die sie sich als Gesetzgeber
selbst verliehen hat. Sie vermag den Staat durch ihren Willen zu verheeren.
Da sie auch noch die richterliche Gewalt innehat, vermag sie jeden Bürger
durch ihre Sonderbeschlüsse zugrundezurichten. Alle Befugnisse bilden
hier eine einzige. Obwohl hier keine äußere Pracht einen despotischen Herrscher
verrät, bekommt man ihn auf Schritt und Tritt zu spüren."
"Der Despotismus der modernen
Demokratie hat einen anderen Charakter, er ist viel weitergehender und
sanfter und erniedrigt die Menschen, ohne sie zu quälen."
Der "Despotismus der Vielen" war in
Montesquieus "Augen nicht viel besser als die Despotie des Einen".
Diesen Beobachtungen entspricht weitgehend der
politische Alltag der Bundesrepublik und markiert eine der beiden entscheidenden
Einbruchstellen des Parteienstaats in die gewaltenteilende Verfassungsordnung,
die deshalb, jedenfalls im klassischen Sinne, nicht mehr funktioniert. Dem
englischen Vorbild folgend sind die gesetzgebende Gewalt und die
Spitze der Exekutive in Bund und Ländern nämlich in doppelter Weise miteinander
verschmolzen:
Zum einen wird nach Art.63 und 67 GG der Kanzler vom Bundestag
gewählt und kann von ihm jederzeit durch einen anderen ersetzt werden.
Durch diesen Zustand ist die Bundesregierung (Art.62 GG) technisch auf die
Funktion eines Parlamentsausschusses beschränkt. Da auch der Kanzler
selbst - nicht zwangsläufig rechtlich, aber praktisch - Parlamentsmitglied
ist, rechtfertigt sich für dieses Regierungssystem der Begriff Parlamentsregierung. Dieses parlamentarische Regierungssystem ist nicht zu verwechseln
mit der parlamentarischen Demokratie.
Der erste Begriff ist eine extreme Unterform
des zweiten. Es widerspricht der Lehre von der Gewaltenteilung und verzerrt
diese bis zur Unkenntlichkeit.
Hier ist das Volk nicht, wie in der monarchischen
Regierungsform, durch einen König repräsentiert; es ist auch nicht als
handelnde politische Einheit - demokratisch - mit sich selbst identisch;
vielmehr ist die Herrschaft des Parlaments im Prinzip ein Fall von
Aristokratie, oder, in der entarteten Gestalt, eine Oligarchie.
Wenn die Exekutive von der Legislative
abhängig ist, besteht die Gewaltentrennung nur dem Namen nach und erfüllt ihren
Zweck nicht.
Zum anderen sind Exekutive und Legislative dadurch machtmäßig
verbunden, daß sie beide unter dem beherrschenden Einfluß einer Partei
oder Parteienkoalition stehen und keine selbständigen Entschlüsse zu
fassen pflegen. Regierung und Bundestag werden heute faktisch aus der
Parteizentrale der Mehrheitspartei oder der Koalitionsrunde ferngelenkt,
was jede Gewaltenteilung zur bloßen Fiktion werden läßt.
Nach der bürgerlichen Ideologie des Liberalismus soll eine
Balance auch innerhalb des Parlaments erforderlich sein.
Davon kann im Parteienstaat aber keine Rede
sein, weil im wesentlichen dieselben, durch die 5%-Klausel unter sich bleibenden
Kräfte im wesentlichen homogen sind. Durch die verbindende Klammer der Mehrheitspartei(en)
verschwindet zwischen den Gewalten jenes Spannungsverhältnis, das für
das Funktionieren der Gewaltenteilung grundlegend und unverzichtbar
ist. "Die entscheidenden handelnden Personen sind durchweg führende
Politiker der Parteien. Sie nehmen gleichsam eine Integrationsfunktion von
Regierung, Parlament und Koalitionsparteien wahr." "Wenn sich in der politischen Wirklichkeit
eines Staates nicht mehr wie bei Montesquieu Legislative und Exekutive als
miteinander echt konkurrierende Gewalten gegenüberstehen, sondern einerseits
ein Konglomerat aus Regierung und parlamentarischer Mehrheit und andererseits
die Opposition als parlamentarische Minderheit, die zudem durch das Mehrheitsprinzip
jederzeit überstimmt werden kann, kann von einer Gewaltenteilung vernünftigerweise
nicht mehr die Rede sein."
"Wir können daher von einer Art
'Oligarchie' der Spitzenpolitiker der Parteien sprechen."
Das Grundgesetz kennt keine Vorkehrungen dagegen, daß ein
und dieselbe Partei die Gesetze macht, anwendet und noch aus ihren Reihen
Richter bestimmt, die über die Auslegung des Gesetzes zu wachen haben. Es
ist gegenüber der Existenz politischer Parteien fast blind, und in
Ausnutzung dieses blinden Flecks konnten diese die Macht über Exekutive und Legislative
vollständig und über die Rechtsprechung im ausschlaggebenden Teilbereich
der Verfassungsgerichtsbarkeit und der oberen Gerichte usurpieren.
Das GG nennt die Parteien nur nebenbei in Art.21, nach dem
sie an der politischen Willensbildung mitwirken sollen. Die Schöpfer der
Verfassung hielten es für ausreichend, die drei Staatsgewalten institutionell
für voneinander unabhängig zu erklären. Es soll keine Gewalt der anderen
Anweisungen geben können. Die Fülle der Macht soll auf verschiedene Ämter
und Institutionen verteilt und ein System der "checks and balances" geschaffen werden. Die Fülle
verschiedener Ämter soll die Amtsträger in ihrer Machtentfaltung hemmen
und gegenseitig ausbalancieren. Das für eine ausreichende Sicherung gegen
Machtzusammenballungen anzusehen, ist aber naiv, weil es die
parteilichen, ämterübergreifenden Machtstrukturen ignoriert und jeden
Parteigänger im Amte als bloßen Einzelkämpfer ansieht. Die politischen
Parteien spielen sich immer mehr selbst als Interessengruppen in eigener
Sache auf. Weil sie die Gesetzgebung, die staatlichen Haushalte und die
Exekutive beherrschen, unterlaufen sie die überkommenen Elemente gewaltenteilender Checks and Balances.
"Die vorhandenen checks and balances verdanken sich eher den ausdrücklichen oder
stillschweigenden Spielregeln, die das Zusammenleben von Parteien, Verbänden
etc. auf der unentbehrlichen Basis einer ungestörten Reproduktion der materiellen
Voraussetzungen des sozialen Systems leiten, den verfassungsrechtlichen
Bestimmungen."
Wie Kondylis generalisierend
ausführt, gibt es "zwei Grundformen von Nichtrealisierung der Gewaltenteilung", von denen er unsere
beschreibt: "Die Legislative wird zwar vom souveränen Volk gewählt, wie
auch immer dessen Zusammensetzung ausfällt, und als Repräsentantin des Volkswillens
trifft sie souveräne Entscheidungen. Sie wird aber ihrerseits durch die
stärkste politische Partei beherrscht, deren ausführendes Organ faktisch die
Regierung ist. Die stärkste Parteiführung dominiert also im Parlament, sie
kontrolliert die Exekutive, und sie bestimmt direkt oder indirekt die
Zusammensetzung und die Zuständigkeiten der Judikative."
Schon Montesquieu hatte dieses Konzept als unzureichend mit
den Worten verworfen: "Die Ämterfülle mindert das Ämterwesen manchmal.
Nicht immer verfolgen alle Adligen dieselben Pläne. Gegensätzliche Tribunale,
die einander einschränken, bilden sich. Auf solche Weise hat in Venedig der große Rat die Legislation inne, der Pregadi die Durchführung, die Vierzig die Gerichtsbefugnis. Das
Übel besteht aber darin, daß diese unterschiedlichen Tribunale durch
Beamte aus der gleichen Körperschaft gebildet werden. So entsteht kaum etwas
anderes daraus, als die eine gleiche Befugnis."
In Deutschland besteht heute dasselbe Übel:
Alle Gewalten sind von Mitgliedern derselben Parteien besetzt. Sie konstituieren
letztlich den Staat und zwingen allen seinen Teilen ihre Gesetzlichkeit auf.
Ihre "fettfleckartige Ausbreitung"
über alle staatlichen und halbstaatlichen
Einflußbereiche bringt es mit sich, daß wir uns - wie im Märchen vom Hasen
und vom Igel - am Anblick der Staatsparteien tagtäglich erfreuen dürfen,
sei es im Bundestag, sei es in der parteiproportionierten Verwaltung,
bei den parteiproportionierten Obergerichten oder im Medienbereich,
dessen Chefsessel heißbegehrte Beutestücke der Parteien sind. Das Staats-Parteiensystem hat die klassische
Gewaltenteilung außer Kraft gesetzt,
weil alle Gewalten gleichermaßen von partei(an)ge-hörigen
Seilschaften durchsetzt sind, denen Parteiräson vor Staatsräson geht. Der
Parteienstaat läßt die Gewaltenteilung "unwirklich und fassadenhaft"
erscheinen.
Schon Montesquieu hatte das System der Parlamentsregierung
mit den Worten verworfen: "Es gäbe keine Freiheit mehr, wenn es keinen
Monarchen gäbe und die exekutive Befugnis einer bestimmten, aus der
legislativen Körperschaft ausgesuchten Personenzahl anvertraut wäre,
denn diese beiden Befugnisse wären somit vereint. Dieselben Personen hätten
an der einen und der anderen manchmal teil - und somit könnten sie immer
daran teilhaben."
Genau dieser Zustand kennzeichnet die
Verfassungssituation des Grundgesetzes. Es gibt hier schon seit November
1918 keine institutionell unabhängige Regierungsgewalt mehr: Die
Regierung ist eben nur ein Parlamentsausschuß und kann vom Bundestag jederzeit
abgewählt werden. "Zwischen Parlament und Regierung besteht keine Verschiedenheit
mehr. Die ständige Angst der Parlamentsgewaltigen ist, daß sich eine Regierung
von ihnen unabhängig machen könnte," was sie nach der Theorie der Gewaltenteilung
doch müßte. "Das Parlament, sozusagen das Gehirn dieses machtgierigen
Systems, will unter Beseitigung jeder Gewaltenteilung alleinige
Machtquelle werden," warnte Edgar J. Jung
1930; und seit 1949 ist das
dem Parlament vollständig gelungen.
Im Vaterland von Montesquieus ist die Mitgliedschaft in der Regierung mit einem
Parlamentsmandat bis heute unvereinbar. "In der Bundesrepublik Deutschland",
klagt dagegen der Hamburger Professor von
Münch, " werden im Jahre
1998 anläßlich des zweihundertfünfzigjährigen Jubiläums des Erscheinens von Montesquieus berühmtem Werk "De
l'Esprit des lois" gewiß viele kluge Reden über Sinn und Notwendigkeit
der Gewaltenteilung gehalten werden. Die Verhöhnung des Grundsatzes der
Gewaltenteilung durch Minister und Abgeordnete in einer Person wird vermutlich
bleiben." Auch wenn das Grundgesetz die Unvereinbarkeit
von Regierungsamt und Abgeordnetenmandat im Normalfall nicht ausdrücklich
vorschreibe so bleibt dennoch die Tatsache bestehen, daß die gleichzeitige
Innehabung von Regierungsamt und Abgeordnetenmandat eine schwerwiegende Durchbrechung
des Grundsatzes der Gewaltenteilung darstelle, rügt v.Münch weiter und witzelt
für den Fall einer Rede eines Ministers und Abgeordneten vor dem Plenum:
"Der Doppelkopf muß vor Beginn seiner Rede im Bundestag kundtun, ob
er/sie als Abgeordneter oder als Minister spricht." Zur Gewaltenteilung
gehöre nämlich auch die personelle Gewaltenteilung, die sich in Unvereinbarkeiten
konkretisiert.
Suche man nach Rechtfertigungsgründen
für die Vereinbarkeit von Regierungsamt und Abgeordnetenmandat, so finde man
nur mehr oder minder pauschale Hinweise auf "die parlamentarische Tradition" oder auf 'das parlamentarische Regierungssystem'.
Mit solchen Allgemeinplätzen lasse die Zwittergestalt eines Abgeordnetenministers
oder Ministerabgeordneten sich aber nicht halten.
Die Rechtfertigungsversuche aus Kreisen der Nutznießer der
Parteienstaatlichkeit laufen auf zwei Hauptargumente gegen den Befund
hinaus, nach dem es Gewaltenteilung im eigentlichen Sinn in Deutschland heute
nicht gibt: Zum einen werde die geballte Macht des relativen Absolutismus,
der durch die unumschränkte Herrschaft der Parlamentsmajorität (auf Dauer
einer Legislaturperiode) geschaffen wird, dadurch gemildert, daß es zwei
Parteien gebe, die sich in der Herrschaft regelmäßig ablösten. Zum anderen
gewährleiste der Föderalismus eine gänzlich neue Art vertikaler Gewaltenteilung.
Das Argument mit den einander ablösenden Parteien mag vielleicht im England
vergangener Jahrhunderte funktioniert haben. Die heutigen Großparteien
aber durchdringen alle Lebensbereiche und wollen gemeinsam jede Alternative
vom Zugang zu Macht und Pfründen ausschließen. Ein Wettbewerb mit gewaltenteilender
Nebenwirkung fällt daher aus.
Ihre politischen Positionen ähneln einander
zum Verwechseln. Überdies hat seit Bestehen der Bundesrepublik noch nicht
ein einziges Mal das Volk in einer Bundestagswahl einen Regierungswechsel
erreicht, weil ungeachtet der Stärke der beiden Großparteien stets die FDP
als Mehrheitsbeschaffer den Ausschlag für die eine oder die andere Koalitionsregierung
gab. Das Argument der Machtminderung durch zwei ausbalancierte Parteien
zieht also nicht. Auch das Argument, der Föderalismus schaffe eine Machtaufgliederung
neuer Art, ersetzt nicht die Notwendigkeit der klassischen Gewaltenteilung.
Die Übermacht der Großstrukturen politischer Massenparteien bricht sich
keineswegs an Ländergrenzen.
Das entscheidende Versagen des Grundgesetzes liegt darin,
daß es eine reine Parteienparlaments-Herrschaft zuläßt und seinen Parlamentsparteien
den unumschränkten Zugriff auf alle Gewalten ermöglicht, weil es ihn nicht
verbietet. So entstand das Gegenteil von einer Gewaltenteilung: eine Gewaltenverfilzung
nämlich. Die Gewaltenteilung ist hier und
heute kein echtes politisches Machtverteilungsprinzip mehr, sondern sie ist
zu einer reinen Zuständigkeitsaufteilung von Gremien verkommen, die allesamt
in den Händen derselben "Beamtenschaft" (Montesquieu) bzw.
Parteien liegen. Die Omnipotenz dieser Parteien
tendiert zum Einparteienstaat.
Dabei kann "die Partei" im funktionalen
Sinne durchaus auf mehrere unselbständige (Modell DDR) oder selbständige
(Modell BRD) Organisationen verteilt sein, wenn diese ihre Claims abgesteckt
haben, gemeinsam aber den wesentlichen Teil der Staatlichkeit besetzt
halten. Agnoli
hat das die plurale Form
einer Einheitspartei
genannt.
Auch v.Arnim
zieht ausdrücklich die
Parallele zu den früheren "kommunistischen Monopolparteien": Etwa
"hinsichtlich neuer Diätengesetze" sehe sich der Bürger
"regelmäßig einem Kollektivmonopol der etablierten Parteien gegenüber.
Diese verhalten sich also dort, wo sie durch Blockbildungen in Sachen Politikfinanzierung
die Konkurrenz ausschalten, partiell selbst wie Einheitsparteien östlichen
Musters." Sie tendieren dabei, mit den Worten v.Arnims, zu einem neuen
Absolutismus. Durch ihre Gesetzentwürfe anläßlich der Parteienfinanzierung 1995
versuchten die Parteien, "sich zum eigenen Wohl aller [demokratischen und
richterlichen] Kontrollen ein für allemal zu entledigen und sich dadurch in Sachen
eigener finanzieller Ausstattung jetzt und in Zukunft praktisch kontrollos zu stellen. Das ist das Gegenteil
dessen, was das Prinzip der Gewaltenteilung verlangt." "Hat sich die
"politische Klasse" aber erst einmal in bezug auf ihre eigene
Finanzierung der Kontrollen entledigt, wird dieses - aus ihrer Sicht -
bestechende und das Regieren scheinbar so sehr erleichternde Vorgehen auch auf nichtfinanzielle Bereiche übergreifen,
in denen es um Eigeninteressen der politischen Klasse geht."
"Je mehr sich
die Parteien den Staat zur Beute machen und damit zu Staatsparteien degenerieren,
desto mehr hebt sich der Parteienstaat nur noch durch das Mehr-Parteiensystem von der Parteidiktatur
ab." Faßt man den Diktaturbegriff nicht
verfassungsrechtlich, sondern versteht darunter jede schrankenlose Machtausübung,
rechtfertigt sich gar der Satz: Heute, Ende des 20. Jahrhunderts, stellt die
Diktatur unserer Parteifunktionäre, Parteiapparate, Parteizentralen
zweifellos eine sehr aufgeklärte, wenn auch die typischen Ohn-machtsgefühle
hervorrufende Diktatur dar."
Dies ist umso bedenklicher, weil sich die zwei großen Parteien
programmatisch einander annähern.
Nach Parallelen zwischen den Blockwahlen
in der DDR und Blockwahlen innerhalb der Bonner Parteien befragt, antwortete
der Soziologe Erwin Scheuch
anhand persönlicher Erfahrungen:
"Wie in der DDR! Wir haben noch mehrere Parallelen zur DDR." Vor diesem Hintergrund erscheinen alle
klassischen Gewalten zuzüglich moderner Mediengewalt als in den Händen
eines Parteienkartells, dessen Teilsysteme nach außen hin Schaukämpfe
austragen, inhaltlich aber nicht für Alternativen stehen. Ihr Wahlkampf
ist Schwindel, weil er programmatische Verschiedenheit vortäuscht.
"Es ist das gleiche wie die Kämpfe zwischen gewissen Wiederkäuern,
deren Hörner in einem solchen Winkel gewachsen sind, daß sie einander
nicht verletzen können. Wenn er aber auch nur ein Scheingefecht ist, so ist
der doch nicht zwecklos,
sondern
hilft, die besondere
geistige Atmosphäre aufrecht" und ihre "Gesellschaftsstruktur
intakt zu halten."
So besteht der Zweck der Großparteien heute hauptsächlich
darin, Wahlverein für den einen oder den anderen Kanzler zu sein - eben
Scheuchs Postenverteilungskartell auf Dauer. In ihrer wechselseitig
sich stabilisierenden gegenseitigen Bezogenheit gleichen sie den
drei globalen "Superstaaten" in George Orwells
1984, die "einander nicht überwinden können, sondern auch
keinen Vorteil davon hätten. Im Gegenteil, solange sie in gespanntem Verhältnis
zueinander stehen, stützen sie sich gegenseitig wie drei aneinandergelehnte
Getreidegarben." In Wahlkampfzeiten reduzieren sie und ihre
Medienstrategen die Wahlentscheidung der Bürger gern auf polarisierende
Parolen wie "Freiheit oder Sozialismus" erzeugen operativ den Eindruck eines Kopf-an-Kopf-Rennens der Kandidaten
der Großparteien, um den Wähler in eine Scheinalternative zu zwingen und
die ohnehin kleine Konkurrenz aus dem Wählerbewußtsein zu tilgen. Im Endeffekt
entwickelt Deutschland sich vom partiellen zum tendenziell totalen Parteienstaat
,
in dessen Rahmen die Parteien eine schallschluckende Styroporschicht
bilden, in der die Rufe der Wähler verhallen
,
und die sich immer dichter, drückender über ein Gemeinwesen legt, in dem
die angebliche Gewaltenteilung längst zur Lebenslüge
geworden ist.
Jeder Herrschaftsordnung liegt die Unterscheidung zwischen
Herrschenden und Beherrschten zugrunde. Eine Ordnung ohne Herrschende und
beherrschte ist Utopie. Auch das Grundgesetz Deutschlands geht von Herrschaft
aus. Mit Recht definiert das BVerfG es ausdrücklich als Herrschaftsordnung.
Die Beherrschten sind das Staatsvolk. Wenn wir es als Objekt
zu seinem regierenden Subjekt in Beziehung setzen, können wir es sinnvollerweise
auch als Gesellschaft in Beziehung
auf die Staatsgewalt bezeichnen.
Dem Dualismus von Staat und Gesellschaft entspricht strukturell der von
Exekutive und Legislative. Schon in Montesquieus
Lehre vertritt der König als Regierender den
Staat, wohingegen Bürgertum und Adel (heute gemeinsam "Volk")
das Objekt der Regierung sind und die Gesellschaft bilden. Sie steht damit der staatlichen Regierungsgewalt gegenüber. Sie
organisiert sich im Parlament und setzt sich dort autonom ihre Rechtsregeln.
Wer diese Trennung von Staat und Gesellschaft aufhebt, entfesselt einen
absoluten Staat oder eine absolute Gesellschaft. Beide garantieren das Ende der
individuellen Freiheit. Deutschland tendiert heute zur absoluten Gesellschaft.
Staat und Gesellschaft miteinander verschmelzen zu lassen
oder dem Staat die Rolle des Regierens und der Gesellschaft die der autonomen
Rechtsetzung zuzuordnen, Staat und Gesellschaft damit als funktional
gewaltenteilend zu trennen, ist die Gretchenfrage heutiger Staatswissenschaft.
Wo die Gewalten nicht geteilt sind, herrscht
Diktatur. Absoluter Staat und absolute Gesellschaft sind solche Diktaturen,
weil sie keine Gewaltenteilung besitzen, sondern sich alle Gewalten in Händen
des Staates oder in Händen der vorherrschenden gesellschaftlichen Mächte
befinden.
Zwischen der Skylla des absoluten Staates und der Charybdis
des absoluten Gesellschaft bedeutet Gewaltenteilung, den exekutiven Teil
der (theoretisch als umfassend vorgestellten) Staatsgewalt dem Staat als solchem und den legislativen
Teil der Gesellschaft zuzuweisen
und diese somit vom Staat sowohl zur Wahrung ihrer Freiheit abzugrenzen als
auch funktionell zu integrieren. So gesehen liegt der Gewaltenteilungslehre
Montesquieus faktisch die Trennung von Staat und Gesellschaft zugrunde.
Ohne diese Trennung gibt es keine Freiheit:
wenn die Gesellschaft den Staat beherrscht und zur absoluten Gesellschaft wird ebensowenig, wie wenn umgekehrt der
Staat die Gesellschaft verstaatlicht und zum absoluten Staat wird. "Die Geschichte kennt in Wahrheit nur
zwei große Gegensätze in der Staatsauffassung: Freiheit und Absolutismus.
Fälschlicherweise wird unter Absolutismus nur die offene
Gewaltherrschaft" des Staates "verstanden, während deren verdeckte
Form meist übersehen wird:"
die absolute Herrschaft der indirekten gesellschaftlichen
Gewalten.
Wenn der Staat die Gesellschaft an seine Macht kettet,
lassen beide sich voneinander nicht mehr unterscheiden. Dasselbe gilt, wo
gesellschaftliche Kräfte den Staat erobert haben. Überall dort, wo Staat und Gesellschaft ununterscheidbar ineinander verwoben sind, gibt es
keine Gewaltenteilung. Daß es im Staatsabsolutismus keine individuelle und
keine gesellschaftliche Freiheit gibt, muß ich nicht eigens begründen. Aber
auch die Vereinigung der Gewalten in der Hand eines einzelnen Bürgers,
einer ideologischen Formation, einer Partei oder eines anderen Machtkartells
läßt zwangsläufig Staat und Gesellschaft ineinander übergehen. Damit ist
aber eine Grundbedingung menschlicher Freiheit beseitigt:
nämlich der gesellschaftlich neutrale Rechtsstaat.
Nur er ist Schutzmacht der innergesellschaftlich Schwachen
gegen die Starken,
er schützt die Armen vor Ausbeutung, die Alten
vor dem Elend, die Ungeborenen vor dem Egoismus der Lebenden. Er hütet die
Freiheit gegen Übergriffe wohlorganisierter Machtgruppen und wahrt des
Rechtsfriedens gegen das Faustrecht und die latent bürgerkriegsbereiten
innergesellschaftlichen Machtgruppen. Nach Lorenz von Stein besteht das
innerste Prinzip des Gesellschaftlichen in der Unterwerfung der Einzelnen
unter die vielen anderen Einzelnen. Es führt also notwendig zu Unfreiheit.
Es steht damit im direkten Widerspruch zum Prinzip des Staates als der sittlich
verantworteten Freiheit und damit dem wahren Willen und Wohl der Allgemeinheit.
Während daher das Prinzip des Gesellschaftlichen das Interesse ist, ist
das des Staates die Freiheit. Dazu ist er da, er ist nicht Selbstzweck.
Freiheit im neuzeitlichen Sinne bedeutet, den Bürger als Staatsbürger von
gesellschaftlichen Zwängen zu befreien.
Beide Prinzipien - Staat und Gesellschaft - haben ihre
Daseinsberechtigung. Daher darf keines das andere vernichten. Menschen sind
von Natur aus Einzelpersönlichkeiten und Gemeinschaftswesen. Als auf Individualität bedachte Einzelne bilden sie in
ihrer Summe eine Gesellschaft; insoweit sie aber sozialverbunden und -bedürftig
sind, bilden sie Gemeinschaften wie Familie und Staat, die mehr bedeuten
als die Summe ihrer Teile, und sind auf diese bezogen. Die Gesellschaft ist das Innenleben der Gemeinschaft. Beide Aspekte
menschlicher Existenz sind gleichermaßen real und in jedem Menschen
vorhanden. Sozialverbundenheit und Einzelpersönlichkeit sind zwei ergänzungsbedürftige
Aspekte des Menschen und verkörpert in Staat und Gesellschaft. Keiner
dieser Aspekte darf extremistisch verabsolutiert werden. Trotz seiner Eigenständigkeit
braucht der Mensch die Gemeinschaft, ist auf sie bezogen und bleibt daher
Mensch in der Gemeinschaft. Die Bindung an die im Staat verkörperte
Gemeinschaft verhindert, daß Freiheit zur egozentrischen Willkür wird. Der
liberale Anspruch auf individuelle Autonomie läuft aber in letzter Denkkonsequenz
auf bindungslose Willkür hinaus und wird von Niklas Luhmann
mit Recht unter die politischen
Utopien eingeordnet.
Vor der modernen Einsicht in die Doppelnatur jedes Menschen
als Einzel- und Sozialwesen gingen der historische Konservativismus der mittelalterlichen societas civilis bis in die Zeit der
Gegenrevolution
sowie später der Nationalsozialismus
davon aus, daß die Menschen von Natur aus
Glieder objektiver Ordnungen sind; er ließ deshalb die individuelle
Selbstbestimmung, das heißt die Entfaltung der Persönlichkeit, nur unter
Einfügung in die gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen
mit ihren Eigengesetzlichkeiten zu. Hier kommt - im Gegensatz zum
Liberalismus - der Gemeinschaft der Vorrang vor dem Einzelnen zu; er ist
ihr teils untergeordnet, teils eingeordnet.
Somit führt die Auflösung der Dialektik
von Staat und Gesellschaft zugunsten des Staates zur Verstaatlichung der
Gesellschaft und zur Wiederkehr eines Staatsabsolutismus. Und vor der
anderen Möglichkeit der Vergesellschaftung des Staates warnt Lorenz von
Stein,
indem er am Endpunkt dieses
Prozesses den "Tod der Gemeinschaft" sieht: "Es gibt keine
vollendeten Völker, aber es gibt wohl tote Völker. Das sind diejenigen,
in denen es keinen Staat mehr gibt [...], in denen die Staatsgewalt absolut in
den Händen der Gesellschaft ist."
Das Mittelalter hatte eine Trennung von Staat und Gesellschaft
nicht gekannt: In der eigentümlichen Form des Lehnsstaats, des sog. Feudalismus,
war alles "Gesellschaft". Zwischen König und Vasall, Vasall und
Untervasall bis hin zum fronenden Bauern waren alle Rechtsverhältnisse rein
personaler Natur und endeten mit dem Tode ihrer Träger. Die Lehnspyramide war
ein Rechtsgefüge, das auf Verpflichtungen zwischen Personen beruhte. Ein
"Staat" war nicht vorgesehen. Nach der Krönung eines Königs in
Deutschland hatten die Reichsstädte nichts Eiligeres zu tun, als diesem seine
persönliche Bestätigung ihrer Rechte und Freiheiten abzubitten. Was
gingen ihn auch die Versprechungen seines Vorgängers an? Ein Staat als überpersönliche
Rechtsfigur im abstrakten Sinne wie heute existierte nicht. Für jeden
einzelnen hatte das die praktische Konsequenz, daß er in einen hierarchischen
Gesellschaftsaufbau streng eingebunden blieb. Im Normalfall hatte er keine
Chance, seinem Geburtsstand zu entkommen. Niemand schützte den fronenden
Bauern vor der Willkür seines Grundherrn, und wer gegen die Übermacht
eines anderen Schutz benötigte, konnte den nur in eigener Kraft finden oder
sich einer mächtigen Gruppe anschließen, die ihn schützen sollte. So schloß
man sich zu sozialen Verbänden zusammen und wurde Bürger einer Stadt,
Kaufmann in einer Gilde oder auch Räuber in einer Bande. In diesen gesellschaftlichen
Teilgruppen fand der einzelne Schutz, aber um den Preis der Unterordnung.
Freiheit im Sinne der heutigen Grundrechte, Bürgerrechte oder die Sicherheit
einer privaten Existenz in unserem Sinne gab es nicht.
Die Neuentdeckung des Staates im Sinne der antiken Res publica war die Leistung der
frühen Neuzeit. Er wurde als vom persönlichen Herrscher unabhängig und immerwährend
vorgestellt und bildete eine abstrakte, weil nicht körperlich sichtbare
Rechtsperson, den Leviathan Thomas Hobbes
, oder modern gesprochen:
eine juristische Person. Als solche verkörperte er allen Einzelnen gegenüber
das Recht der Gesamtheit. Er forderte jedem Bürger die Loyalität und den Gehorsam
ab, die ein jeder der Gemeinschaft aller schuldet. Der Zusammenhang zwischen
Schutz und Gehorsam ist unauflöslich.
Der vom Deutschen König verkündete Ewige
Landfriede von 1495 konnte die Selbsthilfe nur mit der inneren
Rechtfertigung seines Versprechens verbieten, das Recht zu garantieren. Ohne Loyalität kann das Gemeinwesen den
inneren und äußeren Frieden nicht gewährleisten und verfehlt damit seinen
Daseinszweck.
Der neuartige Schutz nach innen war vor allem gegen die feudalen
Machtgruppen notwendig: Unter dem Schutz des Staates emanzipierte sich
der Staatsbürger, ein neuzeitliches
Phänomen, von den alten Gilden, Zünften, Grundherren, Patriziern, Konfessionsgemeinschaften
und was es an Machtträgern noch alles gab. Er erlangte ein nie gekanntes Maß
an persönlicher Bürgerfreiheit. In
dem Wort von den Staatsbürgerrechten
wird dieser Zusammenhang deutlich. Es galten nicht mehr die Regeln des Fehdedschungels,
das Faustrecht des gesellschaftlich Stärkeren, sondern die Gesetze des Staates
als über den Parteiungen stehender neutraler Gewalt, die tendenziell jedem
gleiches Recht zu schaffen suchte. Daher war die Staatsmacht konzeptionell
den Machtinteressen der gesellschaftlich Etablierten entgegengesetzt. Das
war sie von Anbeginn: Im Interesse der adligen Grundherren hatte in der
frühen Neuzeit die zähe Verteidigung der feudalen mittelalterlichen Ordnung
gelegen. Daher lehnten sie konservativ die Herausbildung des Staates mit
seiner Trennung von der Sphäre des Gesellschaftlichen ab,
ebenso wie heute die Parteimächtigen als
"neuer Adel" (Scheuch) ihre Herrschaft durch Verschmelzung von Staat
und Gesellschaft stabilisieren. Die Geschichte der Neuzeit kann als fortwährendes
Ringen gesellschaftlicher Gruppen um die Vormacht und die Eroberung der
Schalthebel des Staates verstanden werden, um ihn für ihre Parteizwecke
einspannen und gegen innergesellschaftliche Konkurrenten benutzen zu
können.
Historisch war die Forderung derjenigen sozialen Schichten,
die keinen Anteil an der Macht hatten, auf eine Trennung von Staat und
Gesellschaft und war ihre weitere Erwartung, der Staat möge sie vor der Macht
der Herrschenden schützen, eine altliberale Forderung.
Sie wird immer aktuell sein, wo herrschende
Schichten oder Eliten Staat und Gesellschaft in ihrer Hand haben und miteinander
verschmelzen lassen. Wer die Hebel von Staat und Gesellschaft gleichermaßen
bewegen und steuern kann, hat an ihrer Trennung kein Interesse. Die Forderung
nach einer Trennung war historisch stets eine Kampfansage der Machtlosen
gegen die Mächtigen und ist das noch heute.
Die Trennung von Staat und Gesellschaft ist eine genuin
liberale Forderung, die aus dem typologische Merkmal des liberalen Balancedenkens
zwingend folgt. Daher wird sie bis heute von der radikal-liberalen
Politiktheorie vertreten.
Aber auch ohne die im Kern metaphysische
Begründung liberalen Balancedenkens ergibt sich empirisch aus
anthropologischer Sicht, daß zwei antagonistischen menschlichen Bedürfnissen
auch im Rahmen einer Staatskonstruktion Rechnung getragen werden muß. Weil
der Mensch Gemeinschaftswesen und Individualist ist, kann eine an allgemeinmenschlichen Grundbedürfnissen
orientierte Politiktheorie nicht ohne Trennung von Staat und Gesellschaft
auskommen: Das Staatliche hat die Aufgabe, die individuelle Freiheit und die
gesellschaftliche Existenz selbst nachhaltig zu schützen. So begründet
braucht sich die Forderung nach einer Trennung von Staat und Gesellschaft
nicht den Vorwurf machen zu lassen, sie sei selbst Liberalismus.
Die Oberhoheit des Staats gegenüber den Machtgelüsten gesellschaftlich
Mächtiger und damit die Grundbedingung menschlicher Freiheit zu wahren,
erfordert ein ständiges Ringen um die nötige Neutralität. In Sternstunden
staatlicher Tätigkeit des 19.Jahrhunderts soll dieses Ideal der Legende
nach fast verwirklicht worden sein. Es war die hohe Zeit bürgerlichen Selbstbewußtseins
unter dem Dach monarchischer Staatsauffassung. Der Staat hatte seine sinnfällige
Verkörperung im Königtum gefunden, und die Gesellschaft die ihre im Parlament.
Die Regierung des Königs war an die Gesetze gebunden, die sich die Gesellschaft
frei gegeben hatte; so die Idee. Die gewaltenteilende Verfassung hatte die
regierende Staatsbefugnis dem König zugewiesen und die gesetzgebende der im
Parlament repräsentierten Gesellschaft.
Beide, Staat und Gesellschaft bzw. König und Parlament bzw.
Exekutive und Legislative blieben einander funktional zugeordnet und daher
zur Kooperation verurteilt. Eine einseitige Dominanz der einen oder der
anderen Kraft wurde zwar nicht zielgerichtet durch einen weisen Verfassungsgesetzgeber
vermieden, konnte sich aber faktisch nicht einstellen, weil beide Gewalten
ein Machtgleichgewicht bildeten. Freilich hätte jede Gewalt gern die andere
dominiert, wie beim preußischen Verfassungskonflikt deutlich wurde. Aber
erst 1918 kam der entscheidende Wendepunkt, der Sündenfall der deutschen
Verfassungsgeschichte: Am 28.Oktober trat ein Reichsgesetz auf Druck der im
Parlament versammelten Parteienvertreter in Kraft, durch das Reichskanzler
und -regierung ihrer Verantwortung gegenüber dem Souverän enthoben und dem
Parlament unterworfen wurden. Bis heute sind Kanzler und Regierung ihm entzogen
und unterstehen der jederzeitigen Disposition der jeweiligen innergesellschaftlichen
Majorität bzw. sind mit deren Parteivorsitzendem identisch.
Parteien und Gruppen haben mit dem Staat als neutraler Macht
der Natur ihres Anliegens nach nichts im Sinn und trachten nur danach, ihn
von innen zu erobern. Einer Partei gelang das 1933, und ihr Führer konnte
seine Partei zur Herrin über den Staat erklären. Der einzelne galt nichts
mehr, noch dazu, wenn er der Staatspartei nicht angehörte, und die als
Partei formierte Gesellschaft verkörperte sich in dem von ihr gestalteten
Parteistaat. Für das SED-System gilt mutatis mutandis dasselbe: Es gab zwar
noch eine funktionale Aufteilung der Staatsgewalt auf besondere Organe der
Rechtsprechung, der Gesetzgebung und der Verwaltung. Über allen stand jedoch
der Wille der Partei bzw. ihres Führers oder Politbüros. Die Gesellschaft
hatte sich totalitär formiert, und einen ihr neutral gegenüberstehenden
Staat gab es nicht mehr.
Heute ist es nicht, wie im 3. Reich und in der DDR, eine
totalitäre Einheitspartei, die den Staat unter ihre Fuchtel gebracht hat.
Heute ist dasselbe durch ein Kartell liberaler Parteien geschehen, die
einander zum Verwechseln ähnlich sehen und konzeptionell übereinstimmen.
Die Strategie ihrer Mentoren war seit Beginn der Bundesrepublik vorgezeichnet
und fand ihren juristischen Niederschlag im Bonner Grundgesetz. Der Staat
wurde 1949 mit dem GG nicht aus allen Parteifesseln befreit, sondern es
wurden nur die einen Bande durch andere ersetzt. Der perfekte Liberalismus
des Bonner Grundgesetzes ermöglichte die vollständige Eroberung des
Staates durch die Gesellschaft in Gestalt der sich formierenden Bonner Parteien.
Die Pluralisierung durch Parteienvielfalt war nur vordergründig und
kurzlebig. Sie hat die latente Wendung zum Totalen "nicht aufgehoben,
sondern nur sozusagen parzelliert, indem jeder organisierte soziale Machtkomplex
soviel wie möglich - vom Gesangverein und Sportklub bis zum bewaffneten
Selbstschutz - die Totalität in sich selbst und für sich selbst zu
verwirklichen sucht."
Wenn aber eine Partei den Staat usurpiert, zerstört sie die
Grundlage seiner Machtlegitimation: Die über alle Staatsangehörigen ausgeübte
Staatsgewalt findet ihre innere Rechtfertigung nämlich darin, daß dieser
Staat tatsächlich allen Bürgern Schutz und Rechtsfrieden nach innen und
außen gewährleistet. Identifiziert sich aber eine Teilgruppe oder Partei
einseitig mit dem Staat und erobert seine Schaltstellen, so grenzt sie damit
die anderen Gruppen oder Minderheiten aus und definiert sie als nicht zum
Staat gehörende Feinde: als Ketzer oder Staatsfeinde, als Volksschädlinge,
Klassen- oder Verfassungsfeinde. So steht dann eine parteigelenkte Polizei
mit in den Hosentaschen vergrabenen Händen dabei, wenn randalierende Politgewalttäter
den Parteitag einer der Regierung unbequemen Oppositionspartei zusammenprügeln.
Noch einfacher ist es für die Regierungspartei, auf die bloße Drohung gewalttätiger
Banden hin die Veranstaltung einer Oppositionspartei polizeilich als
"Risiko für die öffentliche Sicherheit" zu verbieten.
Die von Carl Schmitt schon in der Weimarer Zeit gesehene
Gefahr einer Wendung zum totalen Staat spitzt sich ständig zu. 1954 schrieb
Martini weitsichtig: "Diese Gefahr ist um so größer, je mehr sich unter
dem Eindruck sozialer Krisen der consensus verdünnt, so daß sich die Parteien
in zunehmendem Maße mit der Nation, mit der 'volonté générale' identifizieren,
die Gegenparteien also damit als nationalen Feind diskriminieren."
Der Staat kann seine ordnungsstiftende und
befriedende Funktion nur ausfüllen, wenn er tatsächlich neutral und
nicht von Parteigängern von innen heraus erobert ist. "Wo ein Teil
der Bürger in einem Teil der anderen aus welchen Gründen auch immer nicht
'Rechtsgenossen', sondern Feinde erblickt," erkennt der Rechtsphilosoph Braun, "an deren loyaler Gesinnung
man zweifeln muß, dient das Recht in der Sicht der beiden Kontrahenten
weniger dem Schutz der eigenen Person; es schützt und erhält vielmehr zunächst
den 'Feind' und verdient daher selbst bekämpft zu werden.
...
Es erscheint nunmehr
als Schutzschild und Waffe des jeweiligen Gegners." In Händen der
Partei, die an den Schalthebeln des Staats sitzt, wird es dann zwar bewußt
mißbraucht, aber moralisch hoch erhobenen Hauptes; und die andere Seite
wird bald einem Recht die Loyalität verweigern, das zu offenkundig nur als
Kampfinstrument zu ihrer Niederhaltung eingesetzt wird - und sie wird ihre
eigene Moral behaupten. Die formelle Akzeptanz des Rechts setzt nämlich voraus,
daß alle Normadressaten den uneingeschränkten Schutz der anderen auch
wirklich wollen.
Genau das meinte Rousseau,
wenn er schrieb: "Es ist
unmöglich, mit Leuten, die man für verdammt hält, in Frieden zu
leben." "Der eigentliche 'Feind' ist daher
nicht der Kriminelle, der einzelne Regeln bricht, das System als solches
aber akzeptiert, sondern der Ketzer und Revolutionär, der untergeordnete
Regeln durchaus unangetastet läßt, jedoch das soziale System in seinem
Zentralpunkt angreift, indem er seine Sinnhaftigkeit anzweifelt."
Die Entwicklung der vergangenen Jahre brachte den Bürgern in
Deutschland daher kein Mehr an Freiheit, als Liberale den Staat zunehmend
demontierten.
"In dem Maß, wie das Individuum sich gegen
den Staat ausspielen ließ, [...] geriet es unter die Herrschaft der Verbände,
die seinen Spielraum sehr viel enger zogen, und zerfiel vor dem Druck eines
neuen Verbandskollektivismus, dem es sich fügte, weil der einzelne Mensch in
der Gesellschaft nicht ohne Schutz existieren kann."
So näherte sich unsere Verfassungswirklichkeit
wieder ihrem mittelalterlichen Ausgangspunkt an und wurde von Scheuch treffend
als feudales Postenverteilungssystem bezeichnet. Die alten Gegner des
neutralisierenden Staates sind als "gesellschaftliche" Machtgruppen
wie Parteien und Verbände wieder auf den Plan getreten und haben sich auf dem
Wege über das Parlament aller Staatsgewalten bemächtigt.
Der nur vom Staat als überparteilicher Kraft zu garantierende
Schutz der Privatsphäre und der Freiheitsrechte wurde so dem "freien"
Kräftespiel unsichtbarer gesellschaftlicher Mächte ausgeliefert, die vom
einzelnen wohl Gehorsam fordern, ihn aber nur bedingt schützen können und
wollen. So wurde aus dem Dualismus von Staat und staatsfreier Gesellschaft
ein sozialer Pluralismus, dessen jeweils bestorganisierte und stärkste
Formationen mühelose Triumphe über die nicht Organisierten und Schwachen
feiern können.
Kapitalstarke und wohlorganisierte Interessengruppen
wurden zu Nutznießern dessen, was der Liberale unter Freiheit versteht: der Freiheit nämlich, ohne sittliche Schranken
und ohne Beachtung des Wohles Aller die Armen und Schwachen durch die Macht
rein ökonomischer Gesetze zu beherrschen. Alle vom Staate behüteten sittlichen
Schranken suchen sie niederzureißen und den Einzelnen zu
"emanzipieren", loszulösen von allen ihn schützenden Bindungen an
das Ganze, damit er umso leichter zur Beute des Partikularen werden kann.
Deutschland leidet unter dem nachhaltigen Einfluß der Normen des Managertums
der Privatindustrie auf die Parteifunktionäre. Es stellt sich bereits die
Frage, ob die Parteien von einem zahlenmäßig kleinen, aber äußerst finanzstarken
Teil der Gesellschaft kolonialisiert werden, von Kapitaleignern und Managern
nämlich und von deren Verbänden.
Aber nicht nur ökonomische und sozialpolitische Gründe erfordern
die Trennung von Staat und Gesellschaft. Diese neuzeitliche Trennung hatte
nicht zuletzt den für unkonventionelle Geister angenehmen Nebeneffekt,
daß zunehmend gesagt und gedruckt werden durfte, was immer man dachte. Jeder
konnte nach seiner Façon selig werden. Erst bei der staatsfeindlichen Handlung
wurde der säkularisierte Staat repressiv. Diese Freiheit des Denkens geriet
im 20. Jahrhundert zunehmend in Gefahr. Unser Jahrhundert bietet rückblickend
das Schauspiel des Aufstiegs und Zerfalls zweier ideologischer Großsysteme,
die in ihrem totalitären Anspruch in nichts hinter historischen Formen fanatischen
Christentums und seinen Ketzerverfolgungen zurückblieben. Die Jahrzehnte
des geistigen und blutigen Weltbürgerkriegs der Großideologien haben auch
bei ihrem politischen Gegner Spuren hinterlassen: dem Liberalismus als
siegreichem Erben des linken und des rechten sozialistischen Totalitarismus.
Mit dem Liberalismus des 19. Jahrhunderts, seinem bürgerlich-kapitalistischen
sozialpolitischen Ursprung und seiner Beschränkung auf das Einfordern
staatsfreier Räume und bürgerlicher Freiheiten hat der heute herrschende
Linksliberalismus nur noch die historischen Wurzeln gemein.
Der historische Altliberalismus hatte gegen den historischen
Konservativismus größten Wert auf die Trennung von Staat und Gesellschaft
gelegt, um dem bürgerlichen Individualismus einen Freiheitsraum zu
öffnen. Wo hingegen Staat und Gesellschaft eins sind, kann sich niemand der
Einheit von Privatem und Öffentlichem und damit von Legalität und Moralität
entziehen. Unmoral wird dann strafbar. Im mittelalterlichen christlich-universalistischen
Feudalismus hatte das die Konsequenz, daß jeder Verstoß gegen die christlichen
Dogmen selbst dann auf dem Scheiterhaufen enden konnte, wenn der Ketzer im
übrigen gesetzestreu war. Ketzer, wußte 1646 Nicolas de Vernuls,
darf man im Staate auch dann
nicht dulden, wenn sie friedlich seien, denn Menschen wie Ketzer könnten gar
nicht friedlich sein. Später setzte sich die alleinige Staatsräson
mit ihrer Trennung von der privaten Moral durch und erlaubte ein
ungekanntes Maß an Geistesfreiheit.
In unserem Jahrhundert hat die Gesellschaft den Staat
zurückerobert. Gewechselt haben gegenüber dem Mittelalter nur die Ideologeme.
Jetzt gab es wieder den Gedankenverbrecher
,
das ist zur Zeit der Ausländerfeind, der ewige Nazi, der Erzfeind alles Liberalen.
Die gesellschaftliche Zensur ist strenger als die staatliche und arbeitet
mit Tabus. "Die Probe auf die Pressefreiheit ist, ob geistige Traditionen
und von nennenswerten Teilen der Bevölkerung getragene Positionen an
der Öffentlichkeit teilhaben können oder nicht. Ist das nicht der Fall,
kann man sicher sein, daß Zensur nicht nur ausgeübt wird, sondern sich bereits erfolgreich durchgesetzt
hat."
Ein Indikator dafür ist es beispielsweise,
wenn alle überregionalen Tages- und Wochenzeitungen von Focus und Spiegel bis
WELT und FAZ es ablehnten, eine Anzeige für die erste Auflage dieses Buches
abzudrucken. Die Mechanismen der gesellschaftlichen Selbstzensur sind zwar
nicht plump und direkt wie die staatlichen in der DDR waren, funktionieren
aber ebenso sicher. So seufzte Steffen Heitmann:
"Wir aus der DDR waren besonders auch
wegen der garantierten Meinungsfreiheit mit einer großen Hoffnung und -
wie sich jetzt zeigt - Illusion in die freiheitliche, demokratische Grundordnung
eingetreten. Ich mußte erleben, daß es bei drei Vierteln der Medien eine
Art von gut funktionierender Zensur gibt, die mit der in der DDR in gewisser
Weise vergleichbar ist. Nur geschieht sie heute in aller Öffentlichkeit,
durch Abstimmungen untereinander, durch indirekten Druck gegen Leute, die
aus dem Schema ausbrechen. Ich habe das selbst erlebt, als ein Sender mich
endlich einmal selbst zu Wort kommen ließ, anstatt immer nur aus dem Zusammenhang
gerissene Sätze zu zitieren. Die Empörung der anderen Sender in den folgenden
Programmkonferenzen war immens."
Die aktuelle Eroberung des Staates durch linksliberale
Repräsentanten der Gesellschaft bedeutet die höchste Alarmstufe für
den bürgerlichen Individualismus, seine Gedanken- und schließlich
seine Handlungsfreiheit: Im Deutschland des Jahres 1994 kann wieder mit
dem staatlichen Gesetz in Konflikt kommen, wer gegen die Moral des vergesellschafteten
Staates seine eigene Moral behauptet oder nur die Zumutung abwehrt, die
volkspädagogisch aufgestellten Tabu- und Genickschußzonen zu
achten. Wie ein Altlinker die Tabuwaffe gezielt zu führen weiß, schildert Schrenck-Notzing:
"Unbefangen schildert Adler,
wie er dann an der FU in
Berlin beim SDS lernte, die Waffe selbst zu verwenden: 'Ich konnte es
genießen, wenn ich sah, wie ganz normale liberale Leute in einer Diskussion
den Kürzeren zogen, wenn jemand das Wort faschistisch gebrauchte, evtl. verstärkt durch die Andeutung
der KZs mit entsprechendem Tabu-Gesichtsausdruck, drohend ernst, Stirn
in Falten, Augen ins Unendliche ... Wem dies noch zu abstrakt war, dem wurden
die Gaskammern vor Augen geführt, womit jeder sehen konnte, wohin das
führte, wenn man so dachte.' Das Wort Tabu-Gesichtsausdruck ist kein Zufall: Meinhard Adler ist in der Tat der Ansicht, daß es beim Bewältigungs-Ritus
um ein methodisches Aufrichten von Tabus
geht. Die 'angebliche Tabubefreiung in unserer Gesellschaft' ist für ihn
bloße Rhetorik: 'Es hat lediglich eine Tabugebietsverschiebung stattgefunden.
War es früher bei Ächtung verboten, die Kraft der Erektion und der Sinnlichkeit
öffentlich nachzuempfinden, so ist es heute bei gleicher Ächtung verboten,
die faszinative Kraft von Ordnung, Autorität und Kampf zu empfinden.' "
Der zunehmend zum totalitären Gesinnungsdruck übergehende
Linksliberalismus beurteilt den Menschen nicht mehr danach, was er tut,
sondern danach, was er denkt, sagt oder schreibt.
"Der Eifer unserer Gesinnungs-, Weltanschauungs-
und und Sektenbeauftragten, unserer Groß- und Kleininquisitoren und
Wächter über 'political correctness' ist zu einer ernsten Bedrohung
unserer Freiheit geworden."
Während die Gesetzesordnung so weitmaschig
und liberal gehandhabt wird, daß kein Verhalten mehr verboten werden kann, muß der Liberalismus sich als Ersatzlösung der Gesinnung seiner Bürger versichern
und fordert ihnen die Bereitschaft zur Identifikation ab. Das Verhalten
ist nur noch der formale Anknüpfungspunkt, um "verfassungsfreundliche
oder -feindliche" Gesinnung herauszufinden, auf die es ihm entscheidend
ankommt.
Die "neue Tendenz" geht zur
"staatlichen Weltanschauungskontrolle
...
. Die aufgeklärte
Weltanschauung,
...
beansprucht jetzt,
da sie mehrheitlich akzeptiert ist, den Alleinherrschaftsanspruch."
Totalitär wird der "aufgeklärte" Liberalismus zum
Beispiel, wo sich ein Lehrer nicht dem Erwartungsdruck moraleifriger Kollegen
oder Schüler entziehen kann, an der Spitze einer Lichterkette mitzumarschieren,
obwohl er das eigentlich gar nicht möchte, und wo die so demonstrierte
höhere Moral zur Bedingung beruflichen Fortkommens wird. Totalitär wird
er, wenn die Stadtverordnetenversammlung der Stadt Potsdam am 3.5.1994
beschloß, einen Vermieter aufzufordern, den Mietvertrag mit einem rechten
Zeitungsverlag rechtswidrig aufzukündigen, dessen Tendenz den Parlamentariern
nicht paßte. Totalitär wird er auch, wo in staatlichen Massenmedien moralisch
erledigt wird, wer es wagt, zu bestimmten Fragen wie der Ausländerfrage
oder zu Wertungen der jüngeren Vergangenheit eine abweichende Meinung
zu äußern. Totalitär wird er erst recht, wo der Staat den mit Gefängnis
bestraft, der zu technischen Einzelfragen oder Zahlenangaben der
Zeitgeschichte etwas anderes sagt, als die staatlichen Gedenktafeln behaupten;
oder wo der Staat unter dem Einfluß gesellschaftlicher Moralvorstellungen
einem Gastwirt die Konzession entzieht, der Gäste bestimmter Nationalität
nicht einlassen will. Eine hysterische Betroffenheitstümelei fordert jedem
ein ständiges moralisches Glaubensbekenntnis ab, das leicht ebenso
zur Heuchelei wird wie jedes heruntergebetete Glaubensbekenntnis in irgendeinem
historischen Staat, der eine bestimmte Moral zur Staatsräson erhoben
hat. So werden heute jedem jene "peinigenden Exerzitien abverlangt,
...
der heute in
Deutschland von Amts wegen zu öffentlicher Rede verpflichtet ist."
"Schulmeisterhaft" wird dem Volk "von oben herab eingerieben
...
, was es zu denken
habe, welchen Gedanken es sich hingeben dürfe und welche es hintanzuhalten
habe."
Es ist kein Zufall, daß gegen die Trennung von Staat und
Gesellschaft gleichlautend alle diejenigen polemisieren, die das Individuum
ihrer Herrschaftsideologie als Staatsmoral unterwerfen wollen: Die konservativen
Feudalgrundherren des 19. Jahrhunderts, die ihre mittelalterlichen
Rechte von Gottes Gnaden über ihre Bauern gern wieder gehabt hätten; Karl
Marx, der in seiner Schrift Deutsche
Ideologie das einheitliche, von der Spaltung in eine gesellschaftliche
und eine staatliche Sphäre "freie" bürgerliche Subjekt forderte;
und unsere linksliberalen Moralvorbeter,
die ihre Anmaßung, Betroffenheit zu erzeugen, aus einer für den vergesellschafteten
Staat einheitlichen Humanitätsideologie ableiten, deren berufene
Interpreten und Inquisitoren sie selbst sind.
Nur im Lichte und im engeren Sinne der verfassungsrechtlichen
Vorgaben des Grundgesetzes betrachtet ist das derzeitige System gewaltenteilungslose
Parlamentsregierung: Der Bundestag ist das zentrale Machtzentrum: Er
macht die wesentlichen Gesetze, bestimmt zusammen mit dem Bundesrat die Verfassungsrichter,
die über die Auslegung seiner Gesetze wachen sollen, und er bildet mit der
Wahl eines von ihm jederzeit abhängigen Kanzlers eine Regierung, die wie ein
Ausschuß funktioniert und seiner völligen Kontrolle unterliegt. Im Zweifelsfall
hat der Bundestag die Kompetenz-Kompetenz, also das Recht, die Verfassung
zu ändern und die Grenzen seiner verfassungsmäßigen Macht selbst zu
bestimmen. Der Bundestag ist Zentrum und Machtträger des durch die Grundgesetzkonstruktion
gebildeten und verfassungsrechtlichen Normen gehorchenden Systems der parlamentarischen
Demokratie.
Dieses ist indessen nur das Untersystem eines übergeordneten
Ganzen, der Herrschaft der Parteiapparate: Wenn wir uns das System der
staatlichen Verfassungsorgane mit seinem Ineinandergreifen verschiedener
Gewalten als große Maschine vorstellen, sind die Parteien ihre Bediener.
Einschließlich ihrer hierarchischen Binnenstruktur sind die Parteien neben
dem Staat ein eigenständiges, autonomes Subsystem. Sie beherrschen den Staat
auf dem Wege über das Parlament.
Sie regeln ihre internen Regeln selbst, indem
sie nämlich durch ihre im Bundestag sitzenden Vertreter das Parteiengesetz und
in ihren Mitgliederversammlungen ihr Satzungsrecht schaffen. Die staatlichen
Amtsträger sind zugleich Parteifunktionäre und machen durch diese Personalunion
die Verbindung zwischen dem regierenden System der Parteien und dem gehorchenden Subsystem Staat sichtbar.
Den Parteienstaat dürfen wir daher als Gesamtsystem
begreifen, in dessen Innenleben mehrere aufeinander bezogene Subsysteme
existieren, von denen das eine dominiert und das andere funktioniert: Die
Parteien sind die handelnde Seele der Staatsmaschine; diese die Handpuppe
- jene der Puppenspieler!
Das Gesamtphänomen Parteienstaat besitzt außerdem weitere Subsysteme, die ihm teils eingeordnet sind und ihn
stützen, teils ihre Eigenständigkeit auf den Fortbestand des liberalen
Parteienstaats stützen. Zu ihnen zählen die weitgehend autonome Wirtschaft
als ökonomischer Hauptnutznießer sowie die Medien. Die Wirtschaft, die
Staatsbürokratie, die Medienwelt und die politischen Parteien sind jeweils
gesellschaftliche Untersysteme, die sich zueinander verhalten wie zwei
sich schneidende Kreise mit wechselnden Abhängigkeiten.
Entscheidender Faktor langfristiger Herrschaftssicherung
ist die Medienlandschaft, ohne deren Kontrolle eine stabile Herrschaft
nur möglich war, solange die Politik noch dem Gesetz des Kartätschenprinzen
und nachmaligen Kaisers Wilhelm I.
gehorchte: "Gegen Demokraten helfen
nur Soldaten." Jeder Herrscher regelt die Regeln so, daß er weiterhin
herrscht. Die selbstgesetzten Regeln des Parlamentarismus schließen
Kartätschen als Mittel der Herrschaft grundsätzlich aus und führen im
Zeitalter der Massenkommunikation dahin, daß Legitimation und Wiederwahl
nur in einem permanenten Rückkopplungsprozeß mit einem als
"öffentliche Meinung" verstandenen Medienwesen gewährleistet
sind. Das Subsystem des Parteiensystems ist also in ein gesellschaftliches
Obersystem eingebettet, in dem mutmaßlich die politische Macht gewinnt, wer
sich den Wählern publikumswirksam verkaufen kann. Die Abhängigkeit zwischen
Parteien und Medien ist wechselseitig, weil Parteien sich ohne Medienkontrolle
nicht darstellen können und daher medienabhängig sind. Das liberale Medienwesen
seinerseits hängt von den ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen des
Parteienstaates ab.
"Das Zeitalter des demokratischen Absolutismus ist
vollendet. Wird er nicht abgelöst, so droht dem deutschen Volke die Zukunft
der demokratischen Inquisition." Als Edgar Julius Jung
das 1930 zu Papier brachte,
meinte mit demokratischem Absolutismus,
was hier deshalb als Parlamentsabsolutismus bezeichnet wird, um der heillosen Begriffsverwirrung um das Wort Demokratie zu entgehen. Dieser ist
die politische Form des Nichtstaates, die Gestalt gewordene "absolute Gesellschaft". Diese
unterminierte in nicht vorgesehenem Umfange die Verfassungsordnung der
BRD, welche hier nur korrekt als freiheitliche
demokratische Grundordnung bezeichnet wird und staatsrechtlich eine
parlamentarischen Republik ist. Der Vergleich zwischen den Ansprüchen der
Grundgesetztheorie und der Verfassungswirklichkeit fällt für den Bonner
Parlamentarismus verheerend aus. Das als ausgewogen konzipierte
Konzept des Grundgesetzes ist von den Parteien als Großmächten der absoluten
Gesellschaft in einem Ausmaße verfremdet worden, welches die Verfassungswirklichkeit
insgesamt verfassungswidrig erscheinen läßt. Eine ganze Reihe der Idee
der Verfassung nach unverzichtbarer Verfassungsprinzipien ist
durch ihre nicht vorgesehene Übermacht wirkungslos geworden.
Die FdGO wurde vom
Bundesverfassungsgericht aus dem Grundgesetztext abgeleitet und in ihren
Einzelmerkmalen rechtsverbindlich definiert als eine "Ordnung, die
unter Ausschluß jeglicher Gewalt- und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche
Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach
dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt.
Zu ihren Grundprinzipien sind mindestens zu rechnen die Achtung vor den Menschenrechten,
die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der
Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der
Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit der Parteien
mit dem Recht auf ungehinderte Ausübung der Opposition." Diese Grundordnung funktioniert in Kernbereichen
nicht mehr. Warum es im parlamentarischen Parteienstaat keine Gewaltenteilung
im eigentlichen Sinn gibt, wurde oben schon dargestellt. Auch mit anderen
Wesensmerkmalen dieser Ordnung sieht es heute schlecht aus:
Aus Art.20 I GG leitet das BVerfG das Demokratieprinzip her:
Der politische Willensbildungsprozeß muß sich vom Volk hin zu den
Staatsorganen vollziehen und nicht umgekehrt. Den Staatsorganen ist
grundsätzlich jede Einflußnahme auf den Prozeß des Volkswillens verwehrt. Die Großparteien mißbrauchen dagegen
ständig die staatlichen Finanzen und Ressourcen, beeinflussen dadurch den
Volkswillen von oben nach unten und verstoßen damit gegen das Demokratieprinzip.
Diesen Mißbrauch ermöglichen sie sich "legal" durch auf ihre Bedürfnisse
zurechtgeschneiderte Gesetze wie die Rundfunkgesetze und das Parteiengesetz.
Staatliche Parteienfinanzierung hatte das
Bundesverfassungsgericht bis zum Erlaß des Urteils vom 9.4.1992 für unzulässig erklärt, weil sie den Parteien
mit Staatsmitteln die Macht zur Beeinflussung des Volkswillens gibt. Nur
als Ausnahme hatte es eine reine Wahlkampfkostenerstattung aus Steuergeldern
erlaubt, denn im Wahlkampf um die Staatsorgane nähmen die Parteien eine
staatliche Aufgabe wahr. Die Erstattung von Kosten absurd
aufwendiger Wahlkämpfe
im Waschmittelreklame-Stil hat aber mit den
notwendigen Kosten eines angemessenen Wahlkampfs nichts mehr zu tun. Tatsächlich
besteht seit Jahren faktisch der durch das Urteil des BVerfG vom 9.4.1992
sanktionierte Zustand der überwiegenden staatlichen Dauerfinanzierung professioneller
Parteiapparate durch den Staat.
Diese ermöglicht den Staatsparteien im
Zeitalter der Medien- und Stimmungsdemokratie eine umfassende und beständige
Meinungskontrolle und -lenkung der Wahlbevölkerung. Die Parteien sind
Dauerkunden bei demoskopischen Instituten, professionellen Werbebüros und
Hochglanz-Druckereien.
Inzwischen hat das Bundesverfassungsgericht sogar die
direkte Finanzierung der Parteien auf Staatskosten für zulässig erklärt. Der Bundestag hatte daraufhin nichts Eiligeres
zu tun, als sich 1993 ein renoviertes Parteiengesetz zuzulegen. "Erst
mal einsacken" betitelte der SPIEGEL süffisant den jüngsten Coup der
Bonner Parteischatzmeister. Von selbst hatten die Bundestagsparteien noch
nie besondere Eile an den Tag gelegt, den Umfang ihrer Finanzierung aus
Steuergeldern gesetzlich zu begrenzen. Erst eine Folge von Verfassungsgerichtsurteilen
hatte erzwungen, daß die von den Abgeordneten
zugunsten ihrer Parteien in den Haushalt aufgenommenen Haushaltsmittel
überhaupt gesetzlich geregelt werden mußten. Seitdem handelten die Parteien
nach der Devise: "Wir nehmen, was wir kriegen!" So gibt auch die
amtliche Begründung der Gesetzesvorlage vom 28.9.93 treuherzig zu, die
vom BVerfG nunmehr gesetzte "absolute Obergrenze" der "vorgesehenen
staatlichen Zuschüsse" werde "ausgeschöpft". Man läßt nichts
anbrennen in Bonn.
Der gesetzgeberische Spielraum des Parlaments hatte sich
indessen auf das Suchen von Schlupflöchern beschränkt: Einen Großteil der
Neuregelungen mußte die Gesetzesvorlage wörtlich oder der Sache nach vom
Verfassungsgerichtsurteil vom 9. April 1992 abschreiben. Das Risiko,
von dem vom Gericht Vorgeschriebenen abzuweichen und wieder aufgehoben zu
werden, erschien den Parteien zu groß. Immerhin sieht das Grundgesetz überhaupt
keine Staatsfinanzierung von Parteien vor und gibt daher keine Vorgaben.
So fühlten sich die Karlsruher Richter bemüßigt, das Schweigen der Verfassung
als Regelungslücke aufzufassen und sich wieder einmal als "richterliche
Ersatzgesetzgeber" in Sachen ihrer Entsendeparteien aufzuspielen.
Für die Fraktionen und Parteistiftungen rieseln die
Dukaten jetzt nicht nur munter weiter aus dem Steuersack - der Pegel
steigt! Noch sind die Parteien durch nichts gehindert, weitere Millionenbeträge
ohne förmliches Gesetz einzustreichen und die vom BVerfG gesetzte
"absolute Obergrenze" zu umgehen. Sie verstecken nämlich Personalkosten
wie die Gehälter von Abgeordnetenmitarbeitern pauschal in Haushaltsplänen
und -gesetzen.
Da sie sich in eigener Sache meist einig
sind und der Verwendungszweck in Haushaltstiteln für Außenstehende
nicht leicht erkennbar ist, geschieht das diskret und ohne öffentliches
Aufsehen - schließlich ist ein Mitarbeiter kein Dienstwagen.
Während die direkten Fraktionszuschüsse der Bonner
Parlamentarier mit 98,917 Mio.DM für 1994 unverändert blieben und bei der Parteienfinanzierung
formell nicht mitzählen - oder sind Fraktionen etwa Parteien? - dürfen
auch die einzelnen Abgeordneten künftig legal Werbebroschüren auf Kosten
der Staatskasse herausgeben. Gleichzeitig mit der Neuregelung des
Parteiengesetzes und dem formalen Einfrieren ihrer Staatsfinanzierung
änderten die Parteien nämlich das Fraktionsgesetz. Wie beim Pegelstand
eines Systems kommunizierender Röhren legen sie hier zu, was sie sich dort
an Zuwächsen verkneifen müssen.
Wo offen von Parteien gedruckte Wahlreklame nicht mehr verfängt,
tarnen die Parteien, wenn sie gerade an der Regierung sind, ihre Werbung
gern als "staatliche Öffentlichkeitsarbeit." Wir finden die
Reklame für ihre Positionen dann unter "Der Minister für xyz informiert"
oder ähnlich neutral klingenden Namen im Briefkasten. Die in solcher quasi
amtlicher Form versteckte Parteiarbeit besitzt einen scheinbaren Bonus an
Objektivität und Glaubwürdigkeit.
Dies hatte bis zum Urteil vom 9.4.1992 auch
das Bundesverfassungsgericht als propagandistisches Mittel der jeweiligen
Regierung zur Machterhaltung durchschaut. Es wollte verhindern, daß
Parteipropaganda im Regierungsgewand die Mechanismen demokratischer Willensbildung
außer Kraft setzt und einen Machtwechsel verhindert: "Die Öffentlichkeitsarbeit
darf nicht durch Einsatz öffentlicher Mittel den Mehrheitsparteien zu Hilfe
kommen oder die Oppositionsparteien bekämpfen. Dies wäre mit den Grundsätzen
eines freien und offenen Prozesse der Meinungs- und Willensbildung des
Volkes und der Gleichberechtigung der politischen Parteien nicht
vereinbar." Tatsächlich ist die Staatsfinanzierung heute
der Hauptfaktor ihres Machterhalts. Da die 5%-Klausel ihren Dienst nur noch
ungenügend leistet, soll die kraß ungleiche Ausstattung mit Finanzmitteln
das erwünschte Ergebnis bringen.
Spätestens hier muß der Medienbereich ins Blickfeld rücken.
Er bildet als Instrument der Herrschaftstechnik einen Eckpfeiler der Parteienmacht.
Schon quantitativ stellt er alle Möglichkeiten weit in den Schatten, durch
gedruckte Wurfsendungen Parteireklame zu machen. Einen "gewaltigen Hebel
zur Eroberung, Wahrung und Kräftigung der Herrschaft über die Massen"
nannte Michels
bereits 1911 die Presse, als das noch suggestivere Fernsehen und die
Kunst ideologischer Agitation noch nicht einmal erfunden waren. "Die
Verfassung und der Gesetzgeber haben" die Medien "im Interesse
der Durchschaubarkeit staatlicher Machtausübung mit nahezu unbegrenzten
Rechten ausgestattet."
Nach Untersuchungen leiten 30% der Wahlberechtigten
ihre politische Meinung direkt aus dem Fernsehen ab. "Eine kontinuierliche
Beeinflussung der politischen Meinungsbildung über Jahre hinweg kann die
Wahlchancen der Regierungsmehrheit gegenüber den Oppositionsparteien
durchaus merklich verbessern"
Das überläßt die "politische
Klasse" nicht dem Zufall, sondern "versucht ihrerseits in schon
fast totalitärer Absicht, mit allen Techniken der Massenkommunikation in
alle Bereiche des gesellschaftlichen und privaten Lebens einzudringen, um
sich in umfassender Weise unserer Einstellungen und Gefühle zu bemächtigen."
Vor der Frage: 'Wer regiert?' liegt nämlich die Frage: 'Wer
bestimmt, wer regiert?', "und das macht, daß die allerwichtigste Frage
lauten muß: 'Wer beherrscht den, der bestimmt, wer regiert?' Mit anderen
Worten: Wer beherrscht den Volkssouverän, der ein 'Klima' erschafft oder
erleidet, das sich in Willensbildung umsetzt, die vage Vorstellungen, Gefühle,
Stimmungen zu Handlungen und Haltungen werden läßt? Wer beherrscht den
Herrscher 'Volk' - und wie wird solche Herrschaft bewerkstelligt?"
Das weiß das Bonner Establishment und
befaßt sich nicht mehr hauptsächlich mit Sachproblemen des Volkes, sondern
vor allem mit "Public Relations": Sein Ansehensverlust ist ihm
allenfalls ein Kommunikationsproblem, und darum sind ihm die Medien so
wichtig wie einem antiken Despoten seine Palastwache. Überall steht die
Mediokratie unter Kontrolle linksliberaler Seilschaften.
Bis zu 50% der ARD- und ZDF-Mitarbeiter sind parteigebunden.
Sie werden fest an die Kandare genommen: "Als der Bonner Studioleiter
des ZDF, Wolfgang Herles, vor dem Bremer Parteitag der CDU Helmut Kohl
kritisierte, wurde ihm vom
'Freundeskreis der Union' beim ZDF 'Undankbarkeit' (sic!) angekreidet.
Herles,
der sich selbst als 'strikten
Gegner jeder Hofberichterstattung' bezeichnet, mußte auf Druck Kohls am
1.11.1991 seinen Sessel als Studioleiter räumen." Ähnliche Fälle sind aus dem Bereich der
"unabhängigen" überregionalen Presse bekanntgeworden, wo z.B.
ein Anruf des Bundeskanzlers bei einem Zeitungsherausgeber genügt
haben soll, einem kritischen Redakteur
einen schon zugesagten Aufstieg zu verbauen.
Direkte Zensur durch die Parteien hat der Parteienstaat
ebensowenig nötig, wie die SED ihrem bewährten Karl-Eduard von Schnitzler
nicht ins Handwerk pfuschen mußte. Durch strenge Personalauswahl und
Parteiproporz wird überall dafür gesorgt, daß "dankbare" Parteiaktivisten
in vorderster Linie für die Belange ihrer Partei eintreten. Zensur braucht
man dann nicht mehr. So wird die "demokratische Willensbildung von unten
nach oben" tagtäglich zur Farce, wenn hochbezahlte und daher
"dankbare" Moderatoren die Nachrichtenauswahl treffen, kunstvoll
Betroffenheiten zelebrieren und Agitation und Propaganda auf so
versteckt-suggestivem Niveau treiben, daß selbst ein Goebbels fachliche Anerkennung
hätte zollen müssen. Vom Intendanten bis zum Redakteur hat der Parteienstaat
die Medien im Griff, deren Angehörige in vorauseilendem Gehorsam die Parteien
und ihr System belobhudeln: Die Stimme seines Herrn! Häufig schreckt das
Fernsehen noch nicht einmal vor plumper und direkter Meinungsmache wie in
George Orwells
"1984" durch den
Großen Bruder zurück wie 1992 bei der staatlichen Pro-Ausländer-Kampagne.
Staatliche Wurfsendungen mit volkspädagogisch Erwünschtem vervollständigen
das Bild lückenloser ideologischer Erfassung aller Haushalte. "Den
Staatsparteien des Parteienstaates ist daran gelegen, in uns das ihrem
Interesse gemäß 'richtige' Gesellschaftsbild zu verankern, und sie haben die
Mittel dazu."
Im Endeffekt
befindet sich die Mehrheit der Bürger, von denen nach demokratischer Lehre
doch die politische Willensbildung ausgehen sollte, fest in Händen staatlich
finanzierter, professioneller Parteiapparate und ist "umgeben von
Journalisten im öffentlich-rechtlichen Rundfunksystem." Sie üben eine so umfassende Informationsauswahl
und Meinungssteuerung aus, daß sie jede abweichende inhaltliche Position
marginalisieren und jede auch nur personelle Konkurrenz ins Abseits
drängen können, das heißt in die Schmuddelecke für "Radikale". Bedeutet
schon die selektive Auswahl der Tatsachen und Meldungen nach Maßstab der
volkspädagogisch jeweils Erwünschten eine Steuerung, so nicht minder ihre
Zubereitung, Darbietung nach Form, Ausdrucksweise, Sprachregelung
im Auslassen, Anmerken und Akzentuieren. So
beruhen gleichschaltende Sprachregelungen in fast allen Medien nicht auf
Zufall, die offen nationalsozialistische Kleinstgrüppchen etwa mit
"rechtsgerichtet" apostrophieren, demokratische Rechtsparteien
aber mit "rechtsextremistisch". Peter Kroll
berichtet von einem
"altgedienten Korrespondenten, der noch während des Dritten Reiches
für damalige bürgerliche Zeitungen im Ausland tätig war", und dazu
bitter meinte: So wie es damals eine 'Sprachregelung' des Propagandaministeriums
gegeben habe, existiere heute eine seltsame Sprachregelung in den
elektronischen Medien, dem Spiegel,
dem Stern" usw. Die tägliche Desinformation wird zum Ärgernis.
Man kann heute das geistige, politische
religiöse und moralische Klima eines Landes vom grünen Tisch aus planen und
danach fabrizieren.
"Staatliche" Öffentlichkeitsarbeit regierender
Parteien beeinträchtigt langfristig die Chancengleichheit der Parteien
und damit die freiheitliche demokratische Grundordnung.
Durch den Mißbrauch dieser Herrschaftstechniken
ist heute ein Zustand erreicht, der dem Demokratieprinzip im Sinne des
BVerfG direkt zuwiderläuft und die Legitimität des Systems im Kern
trifft. Einst durfte man in Deutschland nicht wagen, frei zu denken. Heute darf man es. Gesamtschulgeschädigt
und selektiv informiert kann der
moderne Deutsche es aber nicht mehr. Er vermag nur noch das zu denken, was er
nach Ansicht unserer Medienzaren und volkspädagogischen Erzieher wollen
soll, und eben das hält er nach einem Wort Oswald Spenglers
für seine Freiheit.
In diesen Zusammenhang gehört die Dialektik von Parteiendemokratie
als Soll- und Parteienstaatlichkeit als Istzustand. Die von staatlicher
Dauerfinanzierung abhängig gewordenen Parteien haben den Staat von
innen durchdrungen und usurpiert, um diese Abhängigkeit umzukehren.
Bildlich gesprochen gründen sie mit ihren Wurzeln in der Gesellschaft,
üben aber mit ihren Wipfeln schon die Funktion von Verfassungsorganen aus.
Durch hohe Ämterkombination zwischen
Partei- und Parlamentsamt und Regierungs- und Verwaltungsamt haben sie gewissermaßen neben das innere Gerüst
staatlicher Strukturen wie eine Schlingpflanze ein personell identisches
zweites Gerüst gesetzt und sich auf diese Weise direkten Zugriff auf alle
staatlichen Funktionen gesichert. So sind staatliche Amtsträger zugleich
Parteifunktionäre und haben damit zwei Seelen, zwei widerstreitende Loyalitäten
in ihrer Brust. Solange die Partei regiert, die sie auf den Posten protegiert
hat, dienen sie dazu, "möglichst viel aus ihrem Programm in der Verwaltung
durchzusetzen."
Sie fungieren als direktes Instrument der
Einflußnahme von Parteiinteressen auf den Staat, in dessen Namen sie
doch das Gemeinwohl fördern sollten, nach dem alten Spruch, recht und billig
sei zuvörderst das, was mir und meinen Vettern nützt.
Wechselt die Regierung, bleiben sie gleichwohl als unkündbare
Altlasten in der Regierungs- oder Verwaltungsbürokratie plaziert, nunmehr
als Hemmschuhe gegen den ebenso gierigen Zugriff der neuen Regierungspartei.
Was diese an Zielvorstellungen durchsetzen will, suchen die Rückstände der
abgewählten Partei nach Kräften zu durchkreuzen. Bei höheren Beamten wie Generalstaatsanwälten
pflegen nach einem Regierungswechsel daher alsbald Entlassung und Einsetzung
eines anderen, parteifrommen Behördenleiters zu folgen, womit augenfällig
wird, daß der nominelle Anwalt des Staats in Wahrheit als Anwalt der Regierungspartei
mißbraucht wird.
Ebenso hat das Parlament seine Bestimmung völlig eingebüßt,
das Volk zu repräsentieren. Es ist zu einer Stätte geworden, an der sich
Parteibeauftragte treffen und Entscheidungen registrieren, die Parteigremien
längst getroffen haben.
Die gesetzliche Fiktion des Art.38 GG, nach
dem der Abgeordnete nur seinem Gewissen verantwortlich sein soll, ist ein
nicht eingelöstes Dogma
und praktisch ins Gegenteil verkehrt. Keineswegs
wirft etwa der Parteipolitiker im Moment seiner Wahl sein Wolfsfell ab und
mutiert plötzlich zu einem friedlichen Schaf, das die Parlamentswiese abgrast,
auf der Suche nach der blauen Blume des Gemeinwohls.
Die tatsächlichen Parteien entsenden die
real existierenden Abgeordneten über Listen als ihre Vertreter in die Parlamente,
nicht als Abgeordnete des Volkes, und dementsprechend verlangen sie von
ihnen Gehorsam in Form des üblichen Fraktionszwangs. Wer ausschert, riskiert
seine Wiederaufstellung und damit seine Existenz als parteiabhängiger Berufspolitiker.
Die in Art.38 GG statuierte Fiktion von der Unabhängigkeit der Abgeordneten
hatte einmal Edmund Burke
in einer Rede verteidigt.
Es strafte aber schon damals das tatsächliche Verhalten der meisten gewählten
Volksvertreter den "hohen Idealismus Edmund Burkes Lügen. Selbst mancher
Zeitgenosse Burkes, der seine Rede hörte, muß innerlich gelacht haben, wenn
er an die völlige Unterwürfigkeit der meisten Parlamentsmitglieder
gegenüber den großen aristokratischen Grundbesitzern dachte, die nicht
einmal Weisungen auszugeben brauchten, so eifrig waren 'ihre' Abgeordneten
beflissen."
Das Verhältniswahlrecht mit seinem starren, nach Meinung
Hans Herbert von Arnims
verfassungswidrigen Listensystem ist das Hauptinstrument der Parteien,
ihre Abgeordneten in Abhängigkeit zu halten. So konnte Schmitt
schon 1932 spotten, die Abgeordneten
würden in fester Organisation und Disziplin marschieren, zum Teil sogar schon
uniformiert. Heute ist die textile Uniformierung verpönt,
die geistige Uniformität dagegen blieb.
Die Eroberung des Staats durch die Parteien als gesellschaftliche
Kampfverbände führte zur totalen Machtergreifung des Parteiensystems
und machte den Staat selbst weitgehend handlungsunfähig.
Besonders augenfällig wird sie wie eine
Machtergreifung auf einem feindlichen Hauptquartier, wenn man etwa beim
Niedersächsischen Umweltministerium anfragt, ob dieses eine
Initiative für Umweltschutz in der Landesverfassung plane: Man erhält als
Antwort den Entwurf der SPD-Landtagsfraktion übersandt. So ist die Eigenidentifikation
der Parteien mit dem Staat zur unreflektierten Selbstverständlichkeit
geworden.
Partei und Staat beginnen sich zu decken.
Wo die ihrer Natur nach parteiischen Parteien aber den Staat
erobert und seiner Neutralität beraubt und damit Gesellschaft und Staat
heillos miteinander verwoben haben, steht der Bürger statt einem gerechten,
weil äquidistanten Staat stets einer Parteiobrigkeit gegenüber. Die Parteipolitisierung
der Staatsverwaltung läßt ihm immer geringere Möglichkeiten einer privaten,
unpolitischen Existenz, die Mäßigung der Einflußnahme des Staats aufgrund seiner
Neutralität entfällt und mit ihr eine wesentliche Voraussetzung bürgerlicher
Freiheit.
Freiheit vom Staate gibt es im Parteienstaat
nur für diejenigen, die sich selbst des Staates bemächtigt und ihren Zwecken
dienstbar gemacht haben. So führen die Durchdringung und das Zurückdrängen
staatlicher und damit unparteiischer, gesellschaftlich neutraler Macht
durch Partei- und Verbändestrukturen tendenziell zur Auflösung des Staates,
ja zum totalitären Parteienstaat.
"Die Bonner Republik, immer auf der
Jagd nach totalitären Phänomenen, ist in ihrer letzten Phase selbst totalitär
geworden."
"Die andere Seite aber, die an und für sich
staatsfreudig eingestellt ist, wird wegen ihrer Abneigung gegen die heutige
Parteiendemokratie verfolgt. Die wenigen Bejaher von Staat und Republik
geraten so ins Hintertreffen und bilden eine mißachtete Minderheit. Wer
aber den heutigen Zustand von Gesellschaft und Staat nicht als der Weisheit
letzten Schluß ansieht, wird von den
...
Machthabern erbittert
bekämpft. Nach links Libertinage, nach rechts die Peitsche: das ist die 'Autorität'
der modernen deutschen Demokratie. Der zu Unrecht geschmähte Metternich
...
würde vor Neid erblassen,
beobachtete er die verfeinerten Methoden, mit denen der Liberalismus in
seine Spuren tritt."
Einen skurrilen Höhepunkt erreicht die Tendenz zum totalen
Parteienstaat, wenn seine Staatsparteien mit dem Ruf "Der Staat sind
wir!" jedes Konkurrieren mit ihrem Herrschaftsanspruch als
"staatsfeindlich" zu stigmatisieren suchen. Nur eine unausgesprochene
Selbsteinschätzung als Staatsparteien ermöglicht es, jeden Angriff einer
Konkurrenzpartei auf ihr Machtmonopol juristisch wie propagandistisch als
Angriff auf Staat und Verfassung umzudeuten. So pflegten parteiangehörige
"Verfassungsschützer" in jenen verwaltungsgerichtlichen Verfahren
einer Partei im Jahre 1993 gegen ihre nachrichtendienstliche Beobachtung
regelmäßig der Opposition als Beweis für ihre angebliche Verfassungsfeindlichkeit
anzukreiden, daß diese "die demokratischen Parteien" politisch
hart attackiere; woraus geschlossen werden müsse, daß die Partei den
demokratischen Verfassungsstaat bekämpfe.
Schon Proudhon
hatte beobachtet, daß die
Volksvertreter, sobald sie in den Besitz der Macht gelangt sind, sofort ihre
Macht stärken, ausbauen und ihre Stellung unaufhörlich mit neuen Schutzmaßregeln
zu umgeben suchen, um sich endlich von der populären Botmäßigkeit gänzlich
zu befreien. Theophrast
bemerkte, der größte Ehrgeiz
der die höchsten Stellen im Volksstaate einnehmenden Männer bestehe nicht
so sehr in der Sucht nach Gewinn und Bereicherung, als vielmehr darin, auf
Kosten der Souveränität des Volkes allmählich eine eigene zu gründen.
Jede einmal in den Besitz der Macht gelangte
Gruppe neigt dazu, diese festhalten zu wollen. Im Zeitalter der Demokratie
sprechen und kämpfen alle Faktoren des öffentlichen Lebens im Namen der
Gesamtheit. Alle Gruppen, welche die Macht festzuhalten suchen, berufen
sich zu ihrer Eigenlegitimation auf deren angebliches Wohl.
Jede Partei sucht sich des Staates zu bemächtigen
und sich für das Allgemeine auszugeben.
Vor allem, wenn sie als Abgeordnete in einer
demokratischen Legislative sitzen, bilden sie sich manchmal ein, sie selbst
seien das Volk.
Begrifflich bedeutet diese Identifizierung
von Regierung und Partei den reinen, nach dem BVerfG verfassungswidrigen Parteienstaat.
Im Gesetzgebungsstaat kanalisiert die Verfassung den Zugang
zur Macht: Sie fällt demjenigen zu, der sie gemacht hat und die Mittel besitzt,
verbindlich zu definieren, wie sie zu verstehen, und vor allem: wer ihre
Feinde sind.
So haben die Parteien mit dem Grundgesetz,
flankierenden Parteien- und Wahlgesetzen sowie der Judikatur des politischen:
des Bundesverfassungsgerichts, eine ihnen auf den Leib geschneiderte Herrschaftsordnung
errichtet. Herrschaft des Rechts, ihres Rechts, bedeutet aber nichts anderes
als die Legitimierung eines jeweiligen Status quo, an dem diejenigen
Parteien und Personen ein Interesse haben, welche die Rechtsnormen gesetzt
haben und deren Machtstellung sich in ihnen stabilisiert.
Alles Recht ist politisches Recht. "Seien Sie nicht
unpolitisch," erteilte "aus eigener Erfahrung" ein Richter am
BGH "einen freundlich-wohlwollenden Ratschlag", sondern passen
Sie sich dem Zeitgeist, das heißt dem Geist der Herren unserer Zeit, an;
...
Nehmen Sie sich ein
Beispiel an
...erg.: Roman Herzog
.
Er hat nicht nur ein feines
Empfinden, woher der politische Wind weht, sondern weiß auch, wer ihn macht.
Der Gleichheitssatz gebietet keine Gleichbehandlung aller
gesellschaftlichen Gruppen. Eine geläuterte Rechtsauffassung erkennt klare
Unterschiede, aus denen sachliche Differenzierungsgründe für eine
Ungleichbehandlung herzuleiten sind. Ist es etwa kein relevanter
Differenzierungsgrund, wenn man das Wählerpotential im Auge hat?
...
Im übrigen: Sie rücken
in die Nähe eines Verfassungsfeindes, wenn Sie Zweifel an den Differenzierungen
unserer obersten Rechtsverwalter vom Schloßplatz bei der Anwendung des
Gleichheitssatzes äußern. Alle Bürger sind gleich, aber einige sind gleicher
als die anderen. Wissen Sie nicht, daß Not kein Gebot kennt und wo gehobelt
wird, Späne fallen?"
So gibt das Bundesverfassungsgericht dem weltanschaulich
Wünschenswerten Flankendeckung, falls einmal ein Gesetz so ungenau formuliert
oder lückenhaft sein sollte, daß die Instanzgerichte zu unerwünschten
Urteilen gelangen: Die "richterlichen Ersatzgesetzgeber"
in Karlsruhe lesen notfalls auch ins Grundgesetz
hinein, was dort gar nicht steht: Die Legitimationsbasis des BVerfG dürfte
zwar allein das positive Verfassungsrecht sein. Gleichwohl mißbrauchen
sie das "Grundgesetz als 'verfassungsrechtliche Wundertüte', der sich
das 'Gute, Wahre und Schöne' - je nach Bedarf - entnehmen läßt. Jenseits
dessen, was sich als 'immer schon im GG enthalten' aufweisen läßt, betreibt
das Gericht Politik. Dafür hat es weder Mandat noch Legitimation. Zugegeben:
Bezüglich seiner Macht ist das BVerfG faktisch souverän. Aber diese Souveränität
ist gebunden an eine Normallage; fürchten muß das Gericht den Ausnahmefall:
Die zunehmende Verlagerung politischer Macht nach Karlsruhe kann sich
nämlich auf Dauer zu einer Akzeptanz- und Verfassungskrise auswachsen [...].
Und dann werden die Oligarchen von Karlsruhe in schlichten, gemeinverständlichen
Worten erklären müssen, mit welchem Recht sie der Verfassung Inhalte
entlocken, die vorher dort nicht zu finden waren. Wehe dem Gericht, es
kann die Elementarfrage nicht plausibel beantworten."
Seine Antwort könnte nur eine politische sein und enthüllen,
worum es eigentlich bei der Institution Bundesverfassungsgericht geht: Der verbale Formelkompromiß gehört zum
Wesen parlamentarischer Gesetzgebungstätigkeit. Wo politische Einmütigkeit
nicht erzeugt und für eine klare Lösung keine Mehrheit gefunden werden kann,
schiebt man gern die sachliche Entscheidung durch eine unklare Formulierung
hinaus und läßt so die politische Entscheidung offen. Hier ist es Aufgabe der
in das "Verfassungsgericht" entsandten Parteienvertreter, in
justizförmigem Gewand die eigentliche politische Entscheidung zu treffen.
"Hier Rechtsfragen von politischen Fragen zu trennen und anzunehmen,
eine staatsrechtliche Angelegenheit lasse sich entpolitisieren,
...
ist eine trübe
Fiktion."
Die umfassende Definitionsmacht der Bonner Parteien und
ihrer im Verfassungsgericht sitzenden Angehörigen über die Verfassungsnormen
birgt für Außenseiter die Gefahr, von Rechts wegen politisch entrechtet
werden zu können: Nach Art.18 GG "verwirkt" die Grundrechte, wer
sie zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung (FdGO)
"mißbraucht". Dementsprechend können Vereinigungen, die sich
gegen die verfassungsmäßige Ordnung richten, nach Art.9, und Parteien,
die nach ihren tatsächlichen Zielen oder auch nur nach dem Verhalten ihrer Anhänger
(!) darauf ausgehen, die FdGO zu beeinträchtigen (!), nach Art.21 verboten
werden. Während diese Sanktionen gegenüber Einzelpersonen und Parteien
nur durch das BVerfG ausgesprochen werden können, genügt für ein Verbot
anderer Vereinigungen ein Verwaltungsakt, gegen den immerhin noch gerichtlicher
Schutz angerufen werden kann.
Hauptinstrument des Parteienkartells ist aber der Verfassungsschutz.
Als Schild und Schwert des Parteienstaates fällt ihm die Aufgabe zu, schon im
Vorfeld von Parteigründungen filternd zu wirken und vorsichtige Naturen wie
Beamte fernzuhalten ("Sie wissen doch, als Beamter kann ich mir das
nicht erlauben..."). Allein die Möglichkeit der nachrichtendienstlichen
Bespitzelung erzeugt ein Klima der Einschüchterung. Indem man den Bereich
der verdächtigen, "verfassungsfeindlichen" Äußerungen lange
bewußt unscharf ließ, wußte niemand so recht, ob er noch die erlaubte Gesinnung
hatte oder als "Radikaler" zum Beispiel nicht zum Staatsdienst
zugelassen wurde. Erst das Bundesverfassungsschutzgesetzes vom
20.12.1990 schuf ein Mindestmaß an Rechtssicherheit. Objekt der Beobachtung
waren dabei immer nur die "anderen": Obwohl die Bundestagsparteien
seit Jahren am laufenden Band Gesetze produzieren, die das Bundesverfassungsgericht
wegen ihrer Unvereinbarkeit mit Verfassungsnormen wieder aufhebt,
betrachten sie sich als allein legitime Hüter der Verfassung. Die GRÜNEN
wurden bespitzelt, solange sie "draußen" waren. Nach ihrem Einzug
in Parlamente bildete man dann Koalitionen mit ihnen.
Der Verfassungsschutz gibt den jeweiligen Regierungsparteien
ein scheinbar legales Mittel, demokratische Konkurrenzparteien mit nachrichtendienstlichen
Mitteln auszuspähen. Praktischer Erfahrung nach haben Verwaltungsrichter
in den seltensten Fällen den Mut, eine offenkundig gesetzwidrige Einschleusung
von V-Leuten des Verfassungsschutzes und ähnliche Methoden zu unterbinden.
Diese V-Leute operieren in einer Grauzone, in
der selten klar wird, ob sie nur beobachten oder ob sie die "Vorfälle"
selbst provozieren, die der beobachteten Organisation später vorgeworfen
werden. Am 31.5.94 trat der der Bundesorganisationsleiter der Republikaner
Udo Bösch
"nach rund zweijähriger
aufmerksamer Beobachtung", wie er selbst formulierte, aus seiner
Partei aus und trat sofort vor die zufrieden schnurrenden Fernsehkameras. Und
im Juni 1994 gab der SPD-Innenminister in NRW zu, daß sein Verfassungsschutz-Informant
Bernd Schmitt
in Solingen Leiter der Kampfsportschule
war, aus der die Täter des dortigen Brandanschlags auf Türken am 29.5.93 hervorgegangen
waren.
Viel wichtiger als die nachrichtendienstliche Beobachtung
selbst ist den Regierenden im Zeitalter der symbolischen Politik aber,
die Opposition quasi amtlich als Staatsfeinde stigmatisieren zu können.
Die Strategie der Stigmatisierung wird in internen Papieren des Konrad-Adenauer-Hauses
immer wieder betont und anempfohlen. Da schwingt dann rechtzeitig vor Wahlen ein
Partei-Generalsekretär wie Geißler den Taktstock gegen die Opposition,
und der Chor der parteiangehörigen Verfassungsschutzpräsidenten und
Fernsehmoderatoren stimmt betroffen und besorgt ein: Diese oder jene Partei
stehe im Verdacht der Verfassungsfeindlichkeit.
Das hat in unserer Mediendemokratie etwa die Wirkung, als ließe ein
Showmaster über einen prominenten Schauspieler die Bemerkung fallen,
dieser mißbrauche kleine Mädchen. Der Ruf ist hin, doch gerichtlichen
Schutz geben die Gesetze des Parteienstaates gegen solche Rufschädigungen
nicht.
Der Verfassungsschutz wird als Verunglimpfungsinstrument
durchaus bewußt und zielgerichtet eingesetzt. Gelangt eine neue Gruppierung
zu gewisser Bedeutung, weil die Medien ihr eine gewisse Bekanntheit
ermöglicht haben, fährt der Schreck den Etablierten mächtig in die Glieder.
Der Parteienstaat zeigt dann seine Folterwerkzeuge vor, deren erstes das
Gespenst des Verfassungsschutzes ist: Da gibt es den früheren bayerischen
FDP-Vorsitzenden Brunner,
einen jahrelang gestandenen
Demokraten, eine Stütze des Systems. Leider war ihm in Brüssel bei seiner
segensreichen Tätigkeit für Deutschland aufgefallen, daß die Veranstaltung Brüssel vielleicht in Gänze gar
nicht segensreich für Deutschland werden könnte. Er klagte in Karlsruhe,
bekanntlich formell erfolglos, gegen den EG-Vertrag und trat aus der FDP aus.
Jetzt schmückt seine kleine aber feine Partei Bund Freier Bürger als jüngste Blume die bunte Wiese der Parteineugründungen.
Nein, so Brunner, eine Rechtspartei sei sie nicht. Betont marktwirtschaftlich,
ja liberal-konservativ sei man eingestellt. Für die Gründungsversammlung am 23.1.1994
wolle er als stellvertretende Vorsitzende mehrere bundesweit bekannten Professoren
und ähnlich integer-illustre Persönlichkeiten vorschlagen. Also alles klar
für das junge Parteischiff? Nein, der gute Brunner weiß nicht, wie das heutzutage
zugeht gegenüber Neuankömmlingen und Konkurrenzparteien: Da hatte der
thüringische Innenminister Schuster
(CDU) nichts eiligeres zu
tun, als in der Thüringischen Landeszeitung perfide zu behaupten, die geplante Partei sei "weitaus gefährlicher
als bereits verankerte Gruppierungen wie die Republikaner und die
NPD". Er werde die Gründungsversammlung beobachten lassen, könne die
Parteigründung aber nur verhindern, "wenn in Weimar konkrjet verfassungswidrige
Ziele formuliert werden." Armer Brunner
! Er weiß noch nicht, daß im
Parteienstaat die Macht hat, wer verbindlich bestimmt, wie die Verfassung
auszulegen ist, wo man ihre Feinde findet und wer diese medienwirksam stigmatisieren
kann. Diese Feinde sind immer die anderen,
zumal, wenn sie als Konkurrenz um die Pfründen gefährlich werden. Der Ausspruch
des CDU-Ministers ist an unterschwelliger Bösartigkeit und
verleumderischer Unterstellung kaum zu überbieten, aber er wird seinen Zweck
erfüllen. Niemand wird fragen, was Brunner wirklich will.
Wie Stefan Dietrich
an einem anderen Beispiel,
dem Niedersächsischen Landesamt für Verfassungsschutz, und seiner Instrumentalisierung
durch die rot-grüne Landesregierung ausführte, zeigt sich der zielgerichtete
Mißbrauch des Verfassungsschutzes darin, wie der linksextreme Bereich
dort bewußt bagatellisiert und der rechtsextreme mit einer gehässigen
Invektive gegen die CDU aufgebauscht wird: "Eine Probe seiner neuen
Hellsichtigkeit für rechte Umtriebe hatte das gewendete Landesamt schon im
Frühjahr mit der Wanderausstellung 'Demokratie gegen rechts' abgeliefert.
Aus dem Fundus des Verfassungsschutzes werden dort Parolen und Symbole,
Schallplatten und Magazine präsentiert, an denen man die rechten Rattenfänger
erkennt - eine sicherlich verdienstvolle Arbeit. Der CDU ist entgangen,
daß der Titel 'Demokratie gegen Rechts' auch eine Spitze gegen sie enthielt.
Wenn Ministerpräsident Schröder (SPD) oder Bundesratsminister Trittin
(Bündnis 90/Grüne) von 'den Rechten' sprechen, ist selten klar, ob sie damit
Rechtsradikale, die CDU oder beide meinen. Besonders Schröder zieht gern
Verbindungslinien zwischen den Bluttaten von Mölln und Solingen über
rechtsradikale Hintermänner zu den 'Verantwortlichen in der CDU'. Wenn
es ihm ernst damit ist, dann müßte der Ministerpräsident eigentlich den Verfassungsschutz
beauftragen, sich in Niedersachsen auch um christlich-demokratische Umtriebe
zu kümmern.
Eher unwahrscheinlich ist dagegen, daß etwa die Göttinger Autonomen,
mit denen Minister Trittin
offen sympathisiert, fortan
noch nachrichtendienstlich behelligt werden." Die Justizwachtmeister beim Amtsgericht
Göttingen plaudern heute noch gern über die 80er Jahre und über den Altkommunisten
Trittin (Kommunistischer Bund) und wissen manche dienstlich erlebte Anekdote
zu berichten. Daß in einer Koalition mit ihm seine alten Freunde der Göttinger
Autonomenszene nicht mehr beobachtet werden, gegen die jahrelang durch
den Generalbundesanwalt aufgrund § 129 a StGB wegen Bildung einer
terroristischen Vereinigung ermittelt wurde, wohingegen Trittin die verfassungstreuen
Republikaner bespitzeln möchte, versteht sich von selbst. Ob es unter
diesen Umständen reiner Zufall ist, daß Parteitage und Treffen der Republikaner
in Niedersachsen noch so quasikonspirativ vorbereitet werden können
wie sie wollen, es treten regelmäßig autonome Prügelkommandos in Aktion,
die das Tagungslokal kurz und klein schlagen und die Teilnehmer verhauen
wollen, mag seine nachdenkenswerten Gründe haben. Immerhin ist das vom
Verfassungsschutz in eine Gefängnismauer gesprengte Celler Loch noch in
allgemeiner Erinnerung.
Die Realität des totalen Parteienstaates und seines direkten
Zugriffs auf die Gewalten machte auch die Rechtspflege zum begehrten
Objekt sowohl derer, die sich in den Besitz der Rechtsprechung setzen
wollen, um mit ihrer Hilfe die gesellschaftliche Ordnung zu verändern,
als auch derer, die sie zur Stabilisierung
ihrer Herrschaft benötigen. Die Justiz ist heute Teil des Systems, was schon aus der Anwendung des vom Bonner
Establishment gemachten Gesetzesrechts folgt. Vor allem aber unterliegt
die Justiz dessen personellem Zugriff. Bei ihrer parteipolitischen
Durchdringung sündigen alle Parteien in einem Ausmaß, das selbst der sozialdemokratische
ehemalige Präsident des OLG Braunschweig, Rudolf Wassermann,
nicht mehr hinnehmbar findet.
Nicht mehr das Leistungsprinzip des Art.33 GG gilt, sondern "außerdienstliche
Aktivitäten". "Die Günstlingswirtschaft erzeugt
zwangsläufig einen Geist in der Justiz, der sich der Politik und den
Parteien verpflichtet fühlt."
Wer sich nicht genug verpflichtet fühlt,
versündigt sich als Richter nicht ungestraft gegen diesen Geist: Als das
Landgericht Mannheim im August 1994 den NPD-Vorsitzenden Deckert
zu einem Jahr Freiheitsstrafe
verurteilte und die Urteilsgründe bekannt wurden, warfen Parteivorsitzende,
unter ihnen auch der Bundeskanzler, dem Gericht vor, es habe zu viel Verständnis
für die Motive des Verurteilten durchblicken lassen. Das veranlaßte den
Kammervorsitzenden Richter Dr.Müller eilig zu einem von dpa verbreiteten öffentlichen Entschuldigungsschreiben, in dem
er durch seinen Rechtsanwalt beflissen Selbstkritik übte und flehentlich
darauf verwies, er sei doch "seit über 25 Jahren Mitglied der ältesten
deutschen demokratischen Partei" (also der SPD). Der anbiedernde Hinweis
hat dem Ärmsten indessen nicht genützt: Seine Parteigenossen-Richterkollegen
des Gerichtspräsidiums entzogen ihm vorläufig den Strafkammervorsitz.
Die oberen Richter dieser Republik werden vorsichtshalber
gleich von einer Handvoll Parteipolitikern hinter verschlossenen Türen
ausgehandelt: Die Entscheidung über die Auswahl hat sich
faktisch von dem nach § 6 BVerfGG durch den Bundestag zu wählenden Wahlausschuß
verschoben "auf eine nirgends rechtlich verfaßte, aus den Machteliten
der Parteien in Fraktionen, Regierung und Bundesrat bestehenden 'Arbeitsgruppe',
die sowohl die vom Bundestag wie die vom Bundesrat zu wählenden Richter
auswählt, so daß der Wahlmännerausschuß bzw. der Bundesrat nur noch formell
darüber beschließt."
Während das Volk auf die Besetzung des Bundesverfassungsgerichts
keinerlei Einfluß hat, sollen gemäß Art.94 GG Bundestag und Bundesrat ihre
richterlichen Kontrolleure selber auswählen.
Tatsächlich aber wählt das Parlament gar
nicht, sondern hat einen zwölfköpfigen Wahlausschuß damit beauftragt. Doch
selbst diese Zwölf haben nicht wirklich das Sagen: Die verbindliche Vorentscheidung
darüber, wer nach Karlsruhe geschickt wird, treffen sogenannte Arbeitsgruppen
von zwei bis drei Personen hinter geschlossenen Türen. Dieser Zustand ist
"von Hause aus verfassungswidrig".
Auf diese Weise haben die Parteien bequem ein
"verfassungsunmittelbares Organ politischer Justiz"
geschaffen und mit ihnen genehmen Parteipolitikern
besetzt.
Zugrunde liegt dem ganzen Manöver die "Idee, daß sich
die beiden großen Parteien die Präsidentschaft" und die anderen Richterstellen
"ungefähr je zur Hälfte teilen."
So haben sie sich auf einen Modus
harmonischen Zusammenwirkens geeinigt, "allerdings auf Kosten
der Parteilosen, die bekanntlich 97% der Bevölkerung ausmachen.
...
Die Politik rekrutiert
also die höchsten Richter nicht aus dem (Juristen-)Volke, sondern aus
einer Kaste, deren Homogenität und Exklusivität durch ein Stück Papier bestimmt
wird: das Parteibuch. Das sind im Hinblick auf das Diskriminierungsverbot
(Art.3 III GG) und die Bestenauslese (Art.33 II GG) zweifellos verbotene
Auswahlkriterien. Das höchste Gericht, das Verfassungsgericht,
wird also unter notorischem Verstoß gegen Verfassungsgrundsätze
besetzt; - oder gibt es irgendwo eine Stimme, die das bezweifelt?"
Für 10 der 16 Verfassungsrichter läßt das
Bundesverfassungsgerichtsgesetz genügen, daß sie irgendwann einmal
die zweite juristische Staatsprüfung bestanden haben.
Diese Praxis der Verfassungsrichterwahl
stößt in der herrschenden Verfassungslehre aus "begründete Ablehnung",
die "bis zur Verachtung" reicht."
Was für das Bundesverfassungsgericht gilt, setzt sich bei
den Landesverfassungsgerichten und den anderen Obergerichten fort. 1996
wurde eine Studie über den Einfluß der politischen Parteien auf die Ernennungen
zum Bundesgerichtshof
erstellt. Die Autoren befragten die BGH-Richter durch
einen anonymen Fragebogen. Der Anteil der parteigebundenen Richter liegt bei
rzwa 40%. "Von seiten der parteilosen Richter", führen die Autoren
der Studie aus, "wird scharfe Kritik an der Wahlpraxis der Parteien geübt,
die sich in Schlagworten wie "Däubler-Gmelin-Syndrom" und "Kohl-Effekt" niederschlägt
und die auch nicht davor zurückschreckt, Kollegen - immerhin Richter am
höchsten ordentlichen Gericht! - fachlich als "schwach" zu bezeichnen
und diese fachliche Schwäche mit der Parteizugehörigkeit in Verbindung zu
bringen."
Die Mitglieder des Hamburgischen Verfassungsgerichts können
ohne Rest den Parteien der Bürgerschaft zugerechnet werden.
Eine bayerischer Bürgeraktion mit ihrem
Vorsitzenden, der zugleich Vorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und
Wissenschaften ist, Richard Sigl,
kündigte am 18.11.94 an, sie
werde gegen die Personalbesetzung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs
klagen: Er sei zu 86% CSU-besetzt, von SPD und Grünen nur zu 14%. Nach Meinung
der SDP-Fraktionsvorsitzenden im Münchener Landtag, Renate Schmidt,
ist die Unabhängigkeit dieser
Richter "zum vorauseilenden Gehorsam gegenüber der Landesregierung degeneriert"
Nicht jede personelle Ranküne der Parteien gelang den
Parteien: Mancher Politiker hat, zum Verfassungsrichter gewählt und somit in
den Stand der persönlichen Unabhängigkeit versetzt, zu für seine Entsendepartei
unliebsamer Rechtsamkeit und Neutralität gefunden. Dennoch brachte auch ein
jeder seine persönlichen politischen und ideologischen Grundwerte in die
Entscheidungen ein, welche auch sonst? Nun ist das Bundesverfassungsgericht
nicht berufen, die bloß formell richtige Auslegung des einfachen Gesetzesrechts
nachzuprüfen. Vielmehr soll es die Gesetzgebung gerade insoweit
kontrollieren, als sie einen politischen Akt darstellt, und zwar auf Übereinstimmung
mit der im Grundgesetz niedergelegten materiellen Wertordnung.
Durch diese Kontrolle soll verhindert werden, daß der demokratische
Rechtsstaat zur Diktatur der Parlamentsmehrheit pervertiert wird.
Indessen kann eine wertgebundene, mit anderen Worten ideologische,
Kontrolle der Parlamentsentscheidungen nur das Perpetuum mobile einer sich
immerwährend selbst reproduzierenden Herrschaft auf Grundlage einer
homogenen Herrschaftsideologie gewährleisten und erfüllt damit eine eminent
systemstabilisierende Funktion. Materiell wird durch die angewandte
Richterwahlprozedur sichergestellt, daß immer wieder Juristen aus einer
weltanschaulich verhältnismäßig einheitlichen Personengruppe Verfassungsrichter
werden und nur immer das System auf Einhaltung seiner eigenen Spielregeln
überwachen können. So gesehen, darf die "gewaltenteilende" Funktion
des Gerichts nicht dahingehend mißverstanden werden, unter seinem Schirm
könnte etwa eine grundsätzlich andere weltanschauliche oder politische
Richtung richterlichen Schutz suchen, als sie von den Bundestagsparteien
sonst vertreten wird. Eine weltanschauliche Gleichschaltung aufgrund
einer Parlamentsmehrheit, Regierung und Rechtsprechung übergreifenden homogen
liberalen Ideologie kann das Bundesverfassungsgericht also nicht nur nicht
verhindern; es ist sogar deren Garant. Als Hüter der Verfassung mit ihrem materiellen
Kerngehalt wacht es gemäß Art.79 Abs.III GG auf ewig über das geschlossene
System der liberalen "offenen Gesellschaft". Ist das eine Diktatur?
Welch akademische Frage - darf man doch in ihr, wie in einer Gummizelle,
alles tun; nur ändern kann man nichts.
Damit teilt das liberale System das Schicksal aller Systeme,
die Wert auf ihren Selbsterhalt legen. Kein System kann langfristig dulden,
daß seine geteilten Gewalten ein ideologisches Eigenleben führen, sonst zerstört
es sich infolge seiner inneren Widersprüche selbst. So bereitete die
Machtergreifung 1933 der Weimarer Republik ein schmähliches Ende. Sie
veranschaulichte uns, was aus einem System wird, dessen Rechtsprechung einen
so neutralen Gesetzesbegriff hatte, daß es seiner eigenen Auslieferung an
seine Feinde nichts entgegensetzte.
Für die wehrhafte
Demokratie des Bonner Grundgesetzes und militante Demokraten
gibt
es hingegen, Carl Schmitt
folgend, selbstverständlich nur einen auf einer einheitlichen
Wertordnung beruhenden Rechts- und Gesetzesbegriff. Das liberale
Bürgertum hat aus der Geschichte gelernt. Obwohl es ohnehin den ganzen
Staat erobert hat, hat es dessen Gewalten vorsichtshalber noch einmal aufgeteilt.
Weiter sicherheitshalber hat es sich von den Staatsfunktionen die Gesetzgebung
als Domäne reserviert. Durch die Grundsätze des Vorranges und des Vorbehaltes
der parlamentarisch beschlossenen Gesetze hat es sichergestellt, daß
die anderen Gewalten nicht außerhalb seiner Gesetze handeln dürfen. So
ist alles Recht "bürgerliches Recht," sind die Gerichte bürgerliche,
mit anderen Worten: liberale, Gerichte. Es wird so eine Rechtsprechung
gewährleistet, die auf die liberalen Grundwerte als oberste Werte ausgerichtet
ist. Der Vorrang und der Vorbehalt des parlamentarischen Gesetzes sichern
so einen liberalen Gesetzesbegriff, eine liberale Handhabung der
Exekutive und eine liberale Rechtsprechung.
Zur Verteidigung dieser Maßregeln muß betont werden, daß
kein System auf Dauer bestehen kann, das in seinen Staatsorganen etwa voneinander
abweichende ideologische Auffassungen zuließe. Die Einheitlichkeit der
staatlichen Verfassung und ihrer Wertordnung gilt nicht nur nach richtiger
Ansicht des Bundesverfassungsgerichts
hier und heute, sondern in jedem stabilen
System. "Jeder Staat nimmt für sich ein Selbsterhaltungsrecht zur Verteidigung
des etablierten Macht- und Verteilungssystems in Anspruch. Auch wenn sich Unterschiede
in der Art und Weise feststellen lassen, wie dieses Selbsterhaltungsrecht
verwirklicht wird, so geht es doch stets darum, politische Systemgegner auszuschalten
oder wenigstens zu schwächen. Werden gerichtsförmige Verfahren dazu in
Dienst genommen, dann spricht man von politischer Justiz."
Deshalb kann die "Gewaltenteilung" nicht die
Gloriole eines etwaigen Refugiums für weltanschauliche Dissidenten für
sich in Anspruch nehmen, die nicht liberal sein möchten und andere Grundwerte
betonen als die freie Entfaltung der Individualität des Einzelmenschen.
Auch wenn jeder Angehörige der Rechtsprechung persönlich unabhängig ist,
ist er doch durch die Gesetze und die Verfassung, auf die er geschworen hat,
dazu verpflichtet, auf der Grundlage bestimmter vorgegebener Ideologeme
zu richten. Schreckenberger
hat diese als Trivialideologie
bezeichnet, als Basisdoktrin zur verfassungskräftigen Dogmatisierung eines
Kernbestandes gesellschaftlicher Überzeugungen, der für eine
pluralistische Gesellschaftsauffassung unentbehrlich sei. Diese werden heute üblicherweise als
"Wertordnung des Grundgesetzes" bezeichnet. So können Richter in
der parlamentarischen Demokratie mit derselben Konsequenz nur auf parlamentarisch-demokratischer
Basis richten, wie etwa Richtern im Sozialismus ein fester
"Klassenstandpunkt" abverlangt wurde. Das parlamentarische
System teilt das Schicksal aller Systeme, die Wert auf ihren Selbsterhalt legen:
Es ergreift alle Gewalten. In ihnen
muß zwangsläufig derselbe Geist walten. Eine Freiheit für nicht Liberale,
das System zu verändern, gibt es vor liberalen Gerichten nicht. Das relativiert
die Sage vom freiesten Staat auf deutschem Boden beträchtlich.
Wie empirische Versuche gezeigt haben, gibt es auch die für
die freiheitliche demokratische Grundordnung (FdGO) grundlegende Chancengleichheit
für alle Parteien nicht; jedenfalls nicht für neue Parteien, die dem
Postenverteilungskartell der Etablierten noch nicht angehören. Die
Chance des legalen Machtgewinns ist nicht nur Wesensmerkmal der FdGO, sondern
darüber hinaus der einzig plausible Grund für jede Opposition, sich friedlich
an die jeweiligen Spielregeln des jeweiligen Systems zu halten. Schließen
diese Regeln die Chance des friedlichen Machtgewinns aus, provozieren
sie ihre illegale Durchbrechung.
Eine Rechtsordnung, die allen Bürgern Rechtsfrieden
verspricht, "kann nur dann mit allgemeiner Akzeptanz rechnen, wenn und soweit die Normadressaten überhaupt bereit sind, einander als Rechtsgenossen, d.h.
als Gleiche und Gleichheitsfähige zu akzeptieren. Denn warum sonst sollte in
einer Demokratie die überstimmte Mehrheit bereit sein, sich dem Willen der
Mehrheit freiwillig zu unterwerfen,
wenn nicht deshalb, weil sie im Kern eben doch damit übereinstimmt? Wo es aber
an dieser prinzipiellen Übereinstimmung fehlt, ist die Demokratie nichts
anderes als eine Diktatur der jeweiligen Mehrheit; über diesen Zusammenhang
wird sich jedenfalls die Minderheit niemals täuschen lassen."
Die Chancengleichheit scheitert heute schon an den durch die
Altparteien geschaffenen Strukturen der staatlichen Parteienfinanzierung.
Erst am 9.4.1992 rügte das BVerfG die Parlamentsparteien hätten "im
Vergleich zu den an der Sperrklausel gescheiterten Parteien größere
Chancen, sich im Blick auf künftige Wahlen dem Wähler darzustellen und für
ihre Ziele zu werben." Weil sich dies auf Mitgliederzugang und
Spendenaufkommen auswirke, müsse der Gesetzgeber den nicht im Bundestag
vertretenen Parteien bei der Berechnung der Staatsquote einen Ausgleich
schaffen und ihren Wahlerfolg stärker gewichten als die bisherige
Parteienfinanzierung.
Zur Chancengleichheit für neue Parteien fehlt aber nicht nur
die Gleichbehandlung bei der ohnehin fragwürdigen Staatsfinanzierung der
Parteien und ihrer Wahlkämpfe. Direkt und gravierend verfassungswidrig
wird gegen die Chancengleichheit verstoßen, wo die Parteien alle verfügbaren
staatlichen und halbstaatlichen Mittel zur Niederhaltung aufkommender Konkurrenz
mißbrauchen. Das Beispiel verschiedener rechter Parteien, wie auch immer man
zu ihnen sonst stehen mag, hat gezeigt, wie neue Parteien gegen geltendes
Recht in Hunderten von Fällen flächendeckend von CDU- und SPD-parteifrommen
Stadtverwaltungen bewußt rechtswidrig
an der Nutzung öffentlicher Hallen und Versammlungsstätten
gehindert und wie sie von Parteibuchbürokraten, teilweise wider besseres
Wissen, als verfassungsfeindlich oder extremistisch verunglimpft und auf
das übelste beschimpft werden. Einen Höhepunkt erreichten diese Angriffe am
23.9.93 im Landtag von Baden-Württemberg, als der Abgeordnete Weimer
(SPD) über den Abgeordneten
Wilhelm
(Republikaner) in einem Zwischenruf
rief: "Wieso Kollege? Das ist doch kein Mensch!"
Die widerrechtliche Verweigerung städtischer Hallen und
Lokale, die allen anderen Parteien sofort zur Verfügung stehen, bricht sich
zwar ständig an der festen Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte, die das
Gebot der Chancengleichheit noch hüten. Daß aber immer erst ein einstweiliges
Anordnungsverfahren angestrengt werden muß, wenn eine Partei sich ihrer
Pflicht aus dem Parteiengesetz entsprechend versammeln und einen
Parteitag abhalten will, ist kein Zufall. Es beweist die systematische Diskriminierung
durch die Etablierten und ihre Statthalter in den Kommunen. Sie ist den
höchsten Vertretern der Rechtsprechung bestens bekannt: Der ehemalige
Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Ernst Benda,
gab den ständigen offenen
Rechtsbruch mit den kritischen Worten zu, entweder müßten solche Parteien
verfassungsrichterlich überprüft (und gegebenenfalls verboten) werden,
"oder sie sind wie jede andere Partei zu behandeln. Alle Versuche, sich
um diese klare Alternative zu drücken, sind zu Recht gescheitert, wie vor allem
die wiederholten Bemühungen, solche Gruppierungen vom Zugang zu
öffentlichen Einrichtungen für die Abhaltung von Parteitagen oder Wahlversammlungen
auszuschließen. Es gibt keine rechtliche Grundlage dafür, Parteien, die man
aus nur zu verständlichen Gründen nicht mag, anders als jede andere politische
Gruppierung zu behandeln." "Im Kampf gegen rechts" aber
"gelten grundsätzliche Erwägungen der Rechtskultur offenbar
nichts."
Immer häufiger bekommt unser
Rechtsstaat Aussetzer, wo es gegen "Rechte" geht. In seiner Ansprache
zum Pressegespräch des Bundesverwaltungsgerichts am 17.2.94 meinte dessen
Präsident Everhardt Franßen,
die Flut verwaltungsrichterlicher
Entscheidungen zugunsten rechter Parteien rechtfertigen zu müssen: Solange
eine Partei nicht vom BVerfG verboten sei, dürfe sie nicht benachteiligt
werden. "Daß dies die zuständigen Verwaltungen oder Entscheidungsgremien
in der Regel wissen, darf", so Franßen, "ebenso als bekannt vorausgesetzt
werden, wie der Umstand, daß sie sich manchmal scheuen, diesem Wissen entsprechend
zu handeln."
Nicht mit richterlicher Hilfe korrigierbar ist die Diskriminierung
im Staatsfernsehen ARD und ZDF. In den parteihörigen Medien setzen sich
Beschimpfung und Verleumdung der Parteien fort, deren Vertreter nicht in
den Aufsichtsräten der Medien sitzen. Die tatsächlichen politischen
Forderungen dieser Parteien werden verschwiegen und ihnen andere, gar nicht
vertretene Positionen untergeschoben, ohne daß sie zu Wort kommt und damit
eine Chance hätte, die Falschbehauptungen richtigzustellen. Darin liegt ein
Element der Diskriminierung und macht die Berichterstattung zur Agitation.
Obwohl alle einschlägigen Rundfunkgesetze ausgewogene Berichterstattung
verlangen, kamen z.B. Republikaner bis zum Frühjahr 1992 nicht selbst zu
Wort und auch danach nur höchst selten und kurz. Während neo-nationalsozialistische
Halbstarke - volkspädagogisch abschreckend wegen des baren Unsinns
ihrer Rede - in politischen Magazinsendungen genüßlich vorgeführt werden
und ihre Sprüche klopfen dürfen, sind zum Beispiel Republikaner offenbar zu
gefährlich, als daß man sie auszustrahlen riskieren könnte. Nach informellen
Absprachen zwischen den Intendanten darf kein Republikaner seine Meinung
im Fernsehen vertreten und Programmpunkte vortragen, weil man dann nicht
mehr behaupten könnte, die Partei hätte außer dummen Sprüchen kein Programm.
Die Noelle-Neumannsche
Schweigespirale wird
operativ eingesetzt und gegen die als gefährlich eingeschätzte Konkurrenzpartei
gewandt: Die Politiker, die allabendlich in ihren Staatskarossen zu Sitzungen
auffahren, hält der Fernsehzuschauer für real. Wer nicht auffährt und eintrifft,
ist irreal - es gibt ihn einfach nicht. Die Ikone Bildschirm ersetzt für den
sich "in der ersten Reihe" wähnenden Zuschauer die Realität;
und in dieser Realität dürfen Störenfriede
nicht vorkommen.
Die Verfügungsmacht über die Medien ist eine der tragenden
Spielregeln des Systems, durch die es für seinen dauernden Selbsterhalt
sorgt. Wenn Parteipolitiker und ihre Journaille sich gegenseitig Vorlagen
geben, steht jede Konkurrenz sofort im Abseits, die nicht über die Mikrophone
verfügt. Ihre grundgesetzlich garantierte Freiheit, bei diesem Spiel
mitzumischen, ist so hilfreich wie die Freiheit der Menüwahl bei Tische, wo
der Fuchs und die Gans miteinander tafeln. Mit dem Zugriff auf das Fernsehen
und mit seinem parteipolitischen Mißbrauch haben die Kartellparteien das
ausschlaggebende Machtinstrument der modernen Mediengesellschaft in
der Hand. Sein Einsatz beseitigt die Chancengleichheit vollständig und
trifft damit den Nerv der FdGO. Diese Grundordnung, so juristisch verschroben
sich ihre Definition durch das BVerfG auch anhören mag, bildet in sich ein
ausgewogenes und durchdachtes Ganzes. Man kann nicht einzelne ihrer Elemente
beliebig beseitigen, ohne das Funktionieren des Ganzen zu stören. Die
fehlende Chancengleichheit für Andersdenkende, die dem Postenverteilungskartell
mit Wertüberzeugungen entgegentreten und sich im Fernsehen ständig als
Extremisten oder Schlimmeres abqualifiziert finden, führt bei einer
wachsenden Zahl nachdenklicher Bürger zu einem fortschreitenden Legitimitätsverlust
des Parteiensystems und fördert die Radikalisierung.
Die Schlußfolgerungen jeder Wissenschaft werden von nicht
mehr hinterfragbaren Axiomen geprägt. Bei den Staats- und Gesellschaftswissenschaften
sind das Annahmen über die Natur des Menschen. Die Hauptrichtungen des
politischen Denkens unterscheiden sich schon im Ansatz durch ihr optimistisches,
skeptisches oder pessimistisches Menschenbild. Wer an die natürliche Güte
des Menschen glaubt, meint, keinen Staat als Tugendwächter nötig zu haben.
Der staatsfeindliche Radikalismus wächst in dem gleichen Grade wie der Glaube
an das radikal Gute im Menschen.
Je mehr Schlechtigkeit man seinen Mitmenschen
hingegen zutraut, desto eher rechtfertigt man Gesetze und einen starken
Staat über ihnen; denn "Tugend", sagte schon Wilhelm Busch
so nett, "will ermuntert
sein; Bosheit kann man schon allein!"
Nach der Doktrin des Liberalismus soll angeblich die Summe aller
privaten Egoismen zum Gemeinwohl führen, wenn man ihnen freien Lauf läßt.
Im Parlament würden die Sonderinteressen
durch Meinungsaustausch und Diskussion koordiniert und zu einem Ausgleich
gebracht, bis sie sich mit dem Interesse des Gemeinwesens als Ganzem
identisch wären. Diese pluralistische Harmonielehre, welche die Resultante
des Interessendrucks mit dem Gemeinwohl gleichsetzt, wird von Liberalen wie
ein Dogma aufrechterhalten.
Es vermag im Gemeinwohl nichts anderes zu
sehen als ein "Kräfteparallelogramm der Sonderinteressen."
Ihre Grundüberzeugung vom Menschen fußt
auf einem schönfärberischen Menschenbild, dessen sich in polemischer
Absicht vornehmlich diejenigen bedienen, die von staatlichen Schutzgesetzen
für ökonomisch und sozial Schwache nur persönliche Nachteile befürchten:
die Eigentümer von Kapital. "Der Staat ist den Eigentümern ein
notwendiges Übel, und man muß jedes Übel so klein machen als möglich."
Also duldet der Liberale den Staat allenfalls
als in Diensten der Gesellschaft stehendes, mißtrauisch kontrolliertes
Übel. Tatsächlich hingegen ist das Gemeinwohl nicht die Summe der addierten
Einzelwohle und bleibt ein aliud und
ein Eigenwert im Verhältnis zum Einzelinteresse.
Nun gehören die bewußten Bösewichte unter uns ebenso zu
den Seltenheiten wie die selbstlosen Tugendbolde. Weder eine Diktatur
zur Niederhaltung des prinzipiell Bösen im Menschen, noch ein offen staatsfeindlicher
Anarchismus zur besseren Entfaltung des Guten ließe sich durch empirische
anthropologische Beobachtung stützen. Die Erfahrung macht vielmehr
skeptisch und lehrt vielmehr, daß wir "zu allem fähig" und insoweit
mit freiem Willen zum einen und zum anderen ausgestattet sind. Unsere
stammesgeschichtlich ererbten Anlagen lassen uns allerdings in bestimmten
Situationen zu bestimmten Handlungen neigen, die sich teilweise in der
modernen Welt als problematisch erweisen können.
Insoweit hat Arnold Gehlen
den Mensch zu Recht als Mängelwesen bezeichnet.
Zu den "Mängeln" gehören neben der
Aggression das Dominanzstreben und eine Neigung, das eigene Wohlergehen
und die kurzfristige Vergrößerung des persönlichen Erfolgs für wichtiger
zu nehmen als das Gemeinwohl und damit die Grundlage der eigenen
Existenz. "Der Mensch ist nicht böse von Jugend auf, er ist gut genug für die Elf-Mann-Sozietät, aber nicht 'gut
genug', um sich für ein anonymes, persönlich nicht bekanntes Mitglied der
Massensozietät so einzusetzen, wie für das persönlich bekannte und eng
befreundete Individuum"
Sein Verstand predigt erst einmal Selbstsucht,
und darum sind die meisten Menschen dann am scharfsinnigsten, wenn es darum
geht, sich von ethischen Verpflichtungen freizusprechen.
Das auf ein abstraktes Gemeinwohl gerichtete altruistische Handeln kommt also nicht als angeborene
Verhaltensweise von allein, sondern bedarf der "sozialen Abstützung"
durch Institutionen
die das Wohl des Ganzen wahren und Einzelegoismen,
wo nötig, in ihre Schranken weisen. Die Summe dieser Institutionen nennen
wir Staat. Dessen Funktionieren hängt davon ab, daß seine Amtsträger tatsächlich
gemeinwohlorientiert handeln, denn von der Förderung dieses Wohls und
dem In-Schach-Halten der Egoismen hängt seine Existenzberechtigung ab. Wenn
Vertreter von Einzel- und Teilinteressen den Staat und seine Amtsträger dazu
veranlassen, nicht mehr das Gemeinwohl als Maßstab zu nehmen, sondern Parteiinteressen,
muß man das im weitesten Sinne als Korruption bezeichnen. Der Liberalismus
ist immer in Gefahr, dieser eigennützigen Tendenz zu erliegen. In Deutschland
ist sie zum System erhoben worden. Die maßgeblichen Vertreter des Gemeinwohls
sind nämlich in einer Person regelmäßig auch Funktionäre organisierter
Gruppeninteressen und sollen zwei Herren gleichzeitig dienen, was sie natürlich
nicht können.
Das Gemeinwohl nimmt aber Schaden, wenn der Staat mit seinen
Institutionen nur mißtrauisch kontrollierter Untergebener gesellschaftlicher
Parteiungen ist. Seine Diener tragen Parteibuch und Parteigesinnung.
Der Liberalismus erhebt den Staat nicht zum fürchterlichen Leviathan,
sondern erniedrigt ihn im Gegenteil zum gefesselten Gulliver. Sechs
konservative Jahrhunderte mögen es gerade zwei Generationen erlauben,
liberal zu sein.
Ist der für den Zusammenhalt des Ganzen notwendige
Grundbestand an Gemeinwohlorientierung durch Generationenwechsel
aufgezehrt, kommen Führungseliten zur Macht, die den Staat nur noch als
Selbstbedienungsladen ansehen. Diese Toskana-Fraktion drängt seit einigen Jahren massiv an die Schaltstellen der Macht und verdrängt
die Restbestände älterer Politiker, die in ihrer Jugendzeit noch gelernt
hatten, daß Gemeinnutz vor Eigennutz geht.
Heute wird die fehlende Gemeinwohlorientierung allgemein beklagt. Der Bürger kann Entscheidungen von
Amtsträgern nur akzeptieren, wenn er darauf vertrauen darf, daß diese auf
dem Gemeinwohl und nicht auf privaten Interessen beruhen. Das Vertrauen
des Volkes in seine Repräsentanten ist die entscheidende Legitimationsgrundlage
und -voraussetzung einer repräsentativen Demokratie.
Ohne dieses Vertrauen denaturiert sie zu
einem inhaltslosen, technokratischen System. Diese Inhaltsleere und die ausdrückliche Weigerung
des "pluralistischen" Liberalismus zu überindividueller Sinnstiftung
haben den Weg in die Korruption unentrinnbar vorgezeichnet: Blind gemacht
für die Belange des ganzen Volkes, wurde der Bürger in einer Jeder-gegen-jeden-Gesellschaft
auf sich selbst zurückgeworfen. "In einem als 'liberal' mißverstandenen
Individualismus kapseln sich Individuen und Kleingruppen voneinander ab, um
ohne Rücksicht auf die Interessen der größeren Gemeinschaft ihre Eigeninteressen
durchzusetzen."
Massenhaft produzierte das System den Menschentyp,
den es zu seinem Funktionieren braucht: den Steuerzahler, den Kunden,
den Wähler, den Verbraucher - den Untertan. In einer anonymen
Massengesellschaft anonymer Mächte, deren Walten er immer weniger begreift,
fehlt ihm das Ethos, sich konstruktiv als bewußter Teil eines größeren
Ganzen zu verstehen - und umso leichter wird er manipulierbar.
Die Parteien haben ihre Beute so gesichert, daß werden muß
wie sie, wer an ihr Anteil haben will.
"Was ist das für ein System," fragt
der Radikaldemokrat Stubbe-da Luz verzweifelt, "in dem sich mit Erfolg
nur solche Menschen zeitweise zu widersetzen vermögen, die aus demselben
Holz geschnitzt sind wie die Funktionäre?"
Das Sozialschmarotzertum,
die Vorteilnahme auf Kosten anderer, wurde
zur Existenzfrage für Millionen. Der Fehler liegt im System: Die heutige
liberale Zerrform der "Demokratie" steht am Kulminationspunkt
einer Schwingung,
der sich auf die Formel "Du bis alles,
dein Volk ist nichts" bringen läßt und dem das frühere "Du bis
nichts, dein Volk ist alles" dialektisch gegenübersteht. Diese liberale
Eigensüchtigkeit kann erst überwunden werden, wenn der im Egoismus als
alleinigem Prinzip liegende Extremismus als solcher allgemein durchschaut
wird. Das wird die Stunde der systemüberwindenden Reformen im Sinne
Scheuchs
sein, in der das Feudalsystem
"auf Bundesebene beseitigt" und durch eine freiheitliche, dem Gemeinwohl
und den Einzelinteressen gleichermaßen verpflichtete Volksherrschaft ersetzt
wird, die zwischen den Extremen des Untertanenstaates und der totalen
Feudalgesellschaft ein ausgewogenes Mittelmaß findet.
Der extreme Liberalismus möchte den Staat gegen Null tendieren
sehen, weil er auf die sich ausbalancierende Kraft des Wettbewerbs organisierter
Gruppeninteressen baut. Sie sollen sich nach seiner "pluralistische
Harmonielehre" gegenseitig in Schach halten und auspendeln.
Dieses Interessenvertretungsmodell
behauptet scheinheilig, was den Sonderinteressen der jeweiligen Majorität
förderlich sei, könne dem Gemeinwohl nicht schaden: "Was für General Motors
gut ist, ist auch gut für Amerika."
Der Staat tritt hier nur noch als Agentur
beim Ausgleich der widerstreitenden Interessen in Erscheinung und muß
sich von Fall zu Fall besonders rechtfertigen, wenn er übergeordnete Gesichtspunkte
zur Geltung bringen will.
Ja, man geht sogar so weit, so etwas wie ein
Gemeinwohl überhaupt zu leugnen und mit dem sophistischen Gedankenkurzschluß
zu bestreiten, was das Gemeinwohl sei, hinge ja doch nur davon ab, wer die
Macht habe, es zu definieren. Letztlich sei das Gemeinwohl eine reine Fiktion.
Die Aufgabe einer staatlichen Verfassung reduziert sich nach dieser Sicht
auf ein bloßes Konfliktregulierungssystem zum wechselseitigen Interessenausgleich.
Demgegenüber läßt sich sehr wohl und sehr leicht feststellen, welche politische
Maßnahme, z.B. auf ökonomischen Gebiet, wem nützt. Unter demokratischen
Prämissen kann Gemeinwohl nur bedeuten, als Bezugsgröße möglichst alle Angehörigen
des Volkes zu wählen, nicht hingegen nur eine Teilgruppe oder gar Fremde.
Durch Ausschaltung dieses Gemeinwohlbegriffs ist die BRD
heute die institutionalisierte Arena aller derer, die sich machtvoll organisieren
und die Unorganisierbaren als ihre Schäfchen in den trockenen Pfründenpferch
treiben können. Es herrscht das Gesetz des ökonomisch Stärkeren und Listigeren.
Wie sagte schon Carl Schmitt:
Heute - 1923 also - erscheine
das Parlament selbst als riesige Antichambre vor den Büros oder Ausschüssen
unsichtbarer Machthaber. Die Selbstrechtfertigung dieses Systems läßt sich
vereinfacht auf die vulgärliberale Behauptung reduzieren, die Resultante
des Interessendrucks sei identisch mit dem Gemeinwohl. Der inneren Logik des
Liberalismus folgend soll das zuallererst auf ökonomischem Gebiet gelten.
Einer Nachprüfung hält diese These allerdings nicht stand
und erweist sich als ideologisches Vorurteil:
Es führt bereits das Mit- und Gegeneinander der Parteien und Verbände keineswegs
zu einer höheren Harmonie und Ausgewogenheit. "Mit Theodor Eschenburg
gilt: 'Was nicht organisiert
ist, ist ungeschützt.' Der Druck der organisierten Kräfte ist deshalb
auch in der Summe alles andere als ausgewogen. Dieses Ungleichgewicht infiziert
die gesamte politische Willensbildung. Die organisationsstarken Verbände
haben nicht nur im Wege der Tarifautonomie direkte Rechtsetzungsmacht,
sondern mittels Geld, Sachverstand und Wählerstimmen auch Einfluß auf die
Politik.
"
Wir haben gesehen, daß es in der Natur jedes einzelnen Menschen
einen offenbar arterhaltenden und deshalb angeborenen Antrieb gibt, zunächst
sein eigenes Wohl zu fördern und das der Allgemeinheit als für die Existenz
des Individuum sekundär wichtig hintanzustellen. Wir haben uns auch mit
letztlich darauf zurückführbaren inneren Gesetzmäßigkeiten jeder
politischen Organisationsbildung befaßt; sie neigt zu oligarchischen
Herrschaftsstrukturen und unterliegt der Tendenz zur Verselbständigung
und Verfestigung. Das Zusammenwirken beider Faktoren, des natürlichen
menschlichen Egoismus und des u.a. aus dem Dominanztrieb folgenden ehernen
Gesetzes der Oligarchisierung, führt zwangsläufig nach einiger Zeit zu
feudalen Herrschaftsstrukturen. Anstatt das Wohl der Allgemeinheit
durchzusetzen, bilden die Herrschenden kleine Machtgruppen zur Förderung
des Wohles ihrer Mitglieder. Von ursprünglich politischem Wollen denaturieren
sie mit der Zeit zu ökonomisch motivierten Kartellen zur Verteilung von Posten
und Pfründen und werden zu eigenwirtschaftlichen Interessengruppen;
ein dem schon in der Antike bekannten Verfall der Aristokratie zur Oligarchie
vergleichbarer Vorgang. Auf den ökonomischen Sektor herabgesunken,
treffen sich die oligarchischen Grüppchen mit den dort ohnehin schon vorhandenen
Sonderinteressengruppen, mit denen sie personell von Anfang an teilidentisch
sein können. So erzeugen die Alleingeltung des Ökonomischen
und das blinde Walten seiner Gesetze in einer vom Liberalismus beherrschten
Gesellschaft einen "modernen Feudalismus"
,
der die Armen schlimmer unterdrücken kann als sein wenigstens noch von
christlichen Sittlichkeitsideen begleiteter mittelalterlicher Vorgänger.
Der im politischen Raum festzustellenden Gegensatz zwischen
dem Allgemeinwohl und den Einzelinteressen findet seine verblüffende systematische
Entsprechung in volkswirtschaftlichen Untersuchungen, die sich die
Frage nach der Gemeinverträglichkeit eigennütziger Intererssenorganisation
gestellt haben. Die Mechanismen der Förderung des eigenen Wohls und
die Organisationenbildung zur Durchsetzung von Gruppeninteressen gegen
das Allgemeinwohl wirken sich volkswirtschaftlich in derselben Weise aus
wie im politischen Bereich. Während diese Wirkungszusammenhänge im Politischen
den Handlungsspielraum einengen und zu mangelnder Vertretung des Gemeinwohls
zugunsten von Sonderinteressen führen,
haben sie im Ökonomischen eine entscheidende
Minderung von Wachstum und Effizienz der Volkswirtschaft zugunsten
kleinerer Vorteile von Einzelinteressen zur Folge.
Amerikanische Ökonomen, namentlich Mancur Olson,
kamen diesen Gesetzmäßigkeiten
durch die Erforschung der Gründe für sogenannte Wirtschaftswunder auf die
Spur. Wie es häufig ist, fanden sie hinter einem scheinbaren Wunder ein
allgemein wirkendes Gesetz. Das Wunder hatte darin bestanden, daß die
Volkswirtschaften verschiedener Staaten seit Beginn der Industrialisierung
auffällig unterschiedliche Wachstumsraten aufwiesen. Während England im
19. Jahrhundert noch einen extrem hohen Zuwachs erwirtschaftete, ließ dieser
bis in unsere Tage immer weiter nach. Deutschland dagegen war in der ersten
Hälfte des 19.Jahrhunderts arm, holte aber nach der Gründung des Zollvereins
und 1871 des Deutschen Reiches so schnell auf, daß es um 1914 England überholte. Nach dem 2.Weltkrieg lag die jährliche
Wachtstumsrate bis 1960 bei 6,6% (dagegen England 2,3%, Japan 6,8%), bis 1970
nur noch bei 3,5% (E. 2,3%, J. 9,4%) und sank bis 1978 auf 2,4% (E. 2,0%, J.
3,8%). Mancur Olsons eingehende und hier nicht im Detail darstellbare Untersuchungen
haben einen direkten Zusammenhang zwischen der Bildung und Verfestigung
ökonomischer Sonderinteressengruppen und sinkendem Wirtschaftswachstum
ergeben. Dieser Ursachenzusammenhang war mutatis mutandis in allen entwickelten
Ländern nachzuweisen:
Stabile Gesellschaften mit unveränderten Grenzen neigen dazu,
im Laufe der Zeit eine steigende Zahl vom "Kollusionen", d.h. Organisationen
für kollektives Handeln, zu akkumulieren, also wirtschaftliche Sonderinteressengruppen
und Verteilungskoalitionen. Diese sind auf innergesellschaftliche Kämpfe
um die Verteilung von Einkommen und Vermögen ausgerichtet. Für Deutschland
wären dies namentlich Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften oder berufsständische
Kammern. Sie werden bei unveränderten äußeren Bedingungen mit der Zeit
gesetzmäßig mächtiger. Schwach waren sie hingegen noch in der Anfangsphase
der Industrialisierung, die im 19.Jahrhundert für England früher liegt als
für Deutschland. Während die Interessengruppen in England, ungestört von
gesellschaftlichen Umbrüchen, an Macht gewannen, wurden sie in Deutschland
1933 zerschlagen oder gleichgeschaltet, und was an ihre Stelle trat, wurde
1945 erneut aufgelöst und bildete sich erst nach und nach neu.
Der Zweck von Interessenverbänden besteht darin, das Wohl
ihrer Gruppenmitglieder zu fördern. Dafür bieten sich theoretisch zwei
denkbare Wege an: nämlich eine Vergrößerung der gesamten volkswirtschaftlichen
Verteilungsmasse oder die Erlangung eines größeren Anteiles an ihr. So
könnten zum Beispiel 1 Mio. Angehörige einer Gruppe in das Gesamtwohl des
z.B. 1oo Millionen zählenden Volkes investieren. Jeder Handschlag, der das
Vermögen der 1oo Mio. vermehrt, zahlt sich für jeden Gruppenangehörigen
zu 1/1oo aus; ihm kommt also nur diese Quote persönlich zugute.
Der zweite Weg ist der Kampf um eine höhere Quote an der
volkswirtschaftlichen Gesamtverfügungsmasse, ohne diese selbst zu erhöhen,
oder gar unter Inkaufnahme ihrer direkten Verringerung. Solche Anstrengungen
zahlen sich für die Gruppenmitglieder direkt und voll aus. So vermehrt ein
erfolgreicher Lohnstreik das Vermögen eines ÖTV-Müllwerkers selbst dann,
wenn er als Haushaltsvorstand später selbst höhere Müllgebühren zahlen
muß. Den Vorteil durch reines Verteilungsinteresse gelenkten Handelns haben
die Gruppenmitglieder voll, wohingegen sie etwaigen Nachteil für das Ganze
nur anteilig als Angehörige der weit größeren Allgemeinheit tragen müssen.
"Kurz gesagt, die typische Organisation für kollektives Handeln in
einer Gesellschaft hat wenig oder gar keinen Anreiz, irgendein bedeutendes
Opfer im Interesse der Allgemeinheit zu bringen [...] Sie kann den Mitgliederinteressen
am besten dienen, wenn sie nach einem größeren Anteil am Sozialprodukt
für sie strebt [...] In praktischer Hinsicht bestehen keine Schranken
für die Höhe der sozialen Kosten, die eine solche Organisation im Zuge des
Strebens nach einem größeren Anteil am Sozialprodukt der Gesellschaft aufzuerlegen
für zweckmäßig erachtet."
Ob der dabei gewonnene soziale Nutzen für die Gemeinschaft
als ganze die sozialen Kosten rechtfertigt, darauf nimmt die Interessengruppe
also keine Rücksicht.
Um ihren Mitgliedern den schnellsten Vorteil
zu verschaffen, wird sie ihre Anstrengungen und Geldmittel nicht daran setzen,
die Volkswirtschaft als Ganzes effizienter und den Verteilungskuchen
damit größer zu machen, obwohl ihre Mitglieder letztlich auch davon
profitieren würden. Der anteilige Nutzen am Vermögenszuwachs des Ganzen
läge aber für jedes Gruppenmitglied weit unter dem anteiligen Aufwand, den
es investieren müßte.
Da die Konzentration auf Umverteilungsfragen die Bedeutung
von gemeinsamen Interessen im Bewußtsein der Menschen verringert, machen
sie das Leben zwieträchtiger; es kann niemand gewinnen, ohne daß ein
anderer mindestens ebensoviel verliert. Der bloße Zeitablauf führt bei stabilen
Gesellschaften nach Olsons Erkenntnissen zu einer institutionellen Sklerose,
also gewissermaßen einer Verkalkung der Gesamtgesellschaft, die immer
unbeweglicher und ineffizienter wird. Die Anpassung an sich verändernde
Umstände und neue Technologien verzögert sich. Die unkritische Überzeugung,
Koalitionsfreiheit, Selbstorganisation gesellschaftlicher Gruppen
und die Institutionalisierung von Interessengruppen seien auch nach langer
Lebensdauer per se nur nützlich für das Ganze, ist demnach falsch.
Es ist daher wenigstens so viel Staat erforderlich, daß die
institutionelle Sklerose in gemeinverträglichen Grenzen gehalten und
ein Gleichgewicht zwischen berechtigten Sonderinteressen und dem Allgemeinwohl
erzielt werden kann. Die ihrer Natur nach dem Gemeinwohl abträglichen
ökonomischen Sonderinteressen dürfen sich nicht vollständig durchsetzen.
Es ist die Grundüberzeugung der liberalen "Laissez-faire"-Ideologie,
daß jene Regierung am besten ist, die am wenigsten regiert; die Märkte
würden das Problem lösen, wenn die Regierung sie nur in Ruhe ließe. In den
volkstümlichsten Darstellungen dieser Ideologie gibt es einen Monodiabolismus,
und der Teufel ist immer der Staat. Wenn dieser Teufel in Ketten gehalten
würde, gäbe es einen fast utopischen Mangel an Sorgen um andere Probleme.
In Wahrheit findet aber oft auch dann kein freier Wettbewerb statt, wenn die
Regierung nicht interveniert. Der Staat ist keineswegs die einzige Ursache
von Zwang oder sozialem Druck in der Gesellschaft.
Aus der Welt zu schaffen sind Gruppenegoismen allerdings
prinzipiell nicht, weil interessenorientiertes Handeln der Natur des Menschen
entspricht. Konservative Konzepte müssen das als gegeben hinnehmen,
halten sie sich doch selbst ihren anthropologischen Realismus zugute. Es
gilt daher Wege aufzuzeigen, die Verbändeegoismen zu zähmen und gemeinwohlkonform
in das Verfassungssystem zu integrieren. Da die erkannten Mängel ganz
überwiegend struktur- und systembedingt sind, gilt es, deshalb, die
Strukturen zu ändern.
Dagegen wäre der Versuch einer Unterdrückung
bürgerlicher und wirtschaftlicher Interessenvertretung mit dem natürlichen
Bedürfnis des Menschen nach Gruppenbildung und seiner zu achtenden Freiheit,
sich mit Menschen gleichen Interesses zu verbinden, unvereinbar.
Der Liberalismus wird weltanschaulich totalitär. Die
besondere Gefährlichkeit des Parteienstaates beruht auf der ideologischen Homogenität
seiner Staatsparteien und dem von ihnen ausgeübten Gesinnungsdruck. Nach
Kelsen
möchte die liberale Demokratie
gern "der Ausdruck eines politischen Relativismus und einer wunder-
und dogmenbefreiten, auf den menschlichen Verstand und den Zweifel der
Kritik gegründeten Wissenschaftlichkeit"
sein. In einem säkularisierten, weltanschaulich
neutralen Staat dürfte es liberaler Ansicht nach keine freiheitliche demokratische Staatsreligion geben.
Es gibt sie dennoch. "Aus dem
'Verfassungspatriotismus' wird eine geradezu religiös verklärte 'Verfassungsmystik'."
Das Dilemma des Liberalismus besteht darin, daß er wohl
seiner Selbsteinschätzung nach pluralistisch sein möchte, so daß moralische
oder religiöse Dogmen quer zu seiner kritisch-rationalistischen Eigenrechtfertigung
zu liegen scheinen, daß die Einlösung seines Pluralismusversprechens
aber zu seiner faktische Selbstaufgabe führen würde. Die liberale Demokratie
sieht sich mit ihrer Eigenrechtfertigung im entschiedenen Gegensatz
zur "totalitären Diktatur",
welche "die Rechtfertigung der richtigen Politik durch Rückgriff auf erste, wahre Prinzipien" will.
Sie möchte die "Dogmatisierung
des politischen Irrtums" verhindern und lehnt offiziell "eine positive, inhaltliche
Normierung und Festschreibung des sozialen Lebens nach vorgefaßten
...
Postulaten" ab.
Der Liberalismus stünde gegenüber konkurrierenden Ideologien
wehrlos da, wenn er ihnen, getreu seiner Selbstrechtfertigung, nur "liberal"
und pluralistisch gegenübertreten und sich selbst kritisch-rationalistisch
betrachten würde. Tatsächlich sieht er alle anderen Phänomene mit
kritisch-rationalistischen, aufgeklärten Augen, nur sich selbst nicht. Wie jedes
Herrschaftssystem würde er untergehen, wenn er die geistigen Grundlagen
seiner Macht nicht mit Gesinnungsdruck verteidigen, würde, wo sie angegriffen wird. Die weltliche Macht über die
Menschen behält er nur durch die spirituelle Kontrolle über ihren Glauben.
Trotz liberal-aufklärerischer Attitüde muß auch der Liberalismus an sich
selbst glauben, weil sich die liberale
Ratio nicht mit sich selbst begründen kann. Darum muß er mit seinen eigenen
Prämissen in Konflikt kommen und diese mit quasi-religiöser Inbrunst verteidigen,
sobald sie grundsätzlich in Frage gestellt werden.
Keine Herrschaft hält sich dauernd, die ihren Untertanen
nicht die Frage beantworten kann, welchen Sinn ihr Gehorsam eigentlich hat.
Diese Sinnstiftung ist Aufgabe von Herrschaftsideologien. Derartige
Ideengebäude gründen auf konkreten erwünschten Einzeltugenden, zum Beispiel
der Treue zum Königshaus in der Monarchie, der virtù in der Republik oder der Gottesfurcht im klerikalen Staat.
Soziologisch betrachtet fungieren derartige metaphysischer Gebote als
Mittel der Herrschaftstechnik. Sie verordnen den Beherrschten eine Ethik,
unter deren Geltung nicht nur die Herrschenden weiter herrschen und die Beherrschten
weiter beherrscht bleiben, sondern sich darüber hinaus des Beherrschtwerdens
erfreuen und es als ethisch anstößig empfinden, überhaupt die Frage nach der
Legitimation der Herrschaft aufzuwerfen oder gar gegen sie anzukämpfen. Dem
juristischen Verbot des weiteren Kampfes um die Macht folgt das moralische:
Der Unterlegene soll eine Wiederaufnahme des Kampfes noch nicht einmal
mehr denken dürfen. Der endgültigen Durchsetzung der etablierten Macht folgt
die Moralisierung des Politischen. Dem Unterlegenen wird eingeredet, daß es
moralisch böse und ethisch anstößig
sei, um Macht zu kämpfen, ja daß es überhaupt keine existentielle Feindschaft
gibt, die das Kämpfen lohnen würde. Das Friedlichkeitsgebot ist die Waffe
des Siegers, und die Wiederaufnahme des Kampfes zum Gedankenverbrechen;
schließlich zum Tabu. Dieses kann unter den Bedingungen des Medienstaates errichtet,
durchgesetzt und instrumentalisiert werden.
Während die Obrigkeit der mittelalterlichen Feudalgesellschaft
ihre Untertanen glauben machte, ihre Herrschaft beruhe auf Gottes Willen,
steht die intellektuelle Raffinesse moderner liberaler Herrschaftsrechtfertigung
den altvorderen Vorbildern in nichts nach. Es geht heute um die Wahrung der gesellschaftlichen
Macht der ökonomisch jeweils Stärksten. Diese bedarf zu ihrer Legitimierung
des Glaubens der vielen Schwächeren,
das möglichst unkontrollierte Walten rein ökonomischer Faktoren führe
über eine Art Kräftebalance zur Harmonie und auch ihrem, der Schwächeren,
Gedeihen. Durch kritisch-rationalistisches Infragestellen aller nicht
ökonomisch begründeten menschlichen Gemeinschaften sollen diese entlegitimiert
und schließlich zerstört werden. So gerät der von den Bindungen an Volk und
Familie "befreite" Deutsche umso sicherer unter die Herrschaft
des internationalen Geldes und findet sich als Verbraucher wieder.
Wie sich der real existierende Liberalismus aus dem ihm
eigentlich verhaßten Arsenal seiner ideolgischen Gegner bewaffnet, zeigt sich
bereits in seinen äußeren Alltagsformen. Politische Reden werden "wie
ein moralisch-rhetorisches Hochamt begangen", in dem "die Liturgie
vom guten Menschen zelebriert wird"
Nicht zufällig entfernt sich der deutsche
Alltag seit einigen Jahren wieder von jener nüchternen Nachkriegszeit, in
der die vom NS-System noch wirklich Betroffenen von Pathos und Aufmärschen, Fahnen, Schwüren, Hymnen und Fackelzügen
die Nase voll hatten. Die nachgeborenen Betroffenen ahmen in steigendem Maße wieder die äußeren Formen religiöser Kulthandlungen
nach, wie sich auch bereits die Aufmärsche und Feierstunden der Nationalsozialisten
und der Kommunisten bewußt der äußeren Formen religiöser Kulthandlungen
bedient hatten. So ist es kein Zufall, wenn wir evangelische Pastoren an
der Spitze von Lichterketten marschieren sehen. Diese gehören zur Familie
der Fackelzüge und Bußprozessionen und gehen letztlich auf vorchristlich-archaische
Kulthandlungen zurück. Es ist auch kein Zufall, wenn CDU-Strategen die Stigmatisierung politischer Gegner
anstreben. In diesen Zusammenhang gehören die gebetsmühlenartig wiederholten
Betroffenheitslitaneien ebenso wie der gesellschaftliche Bann für Ungläubige.
Jede Herrschaftsrechtfertigung ist eben in ihrem Kern Religion. "Alle
prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische
Begriffe."
Daher ist jedes System nur im Kern seiner
metaphysischen Letztrechtfertigung erfolgreich angreifbar. Diese wird es
diese mit quasireligiöser Inbrunst verteidigen und dabei mit den Waffen
der Ketzerverfolgung zurückschlagen müssen, oder es wird untergehen.
Es genügt nicht, die Handlungen des
Abweichlers zu verbieten. Auf Dauer läßt sich ein System nur verteidigen,
wenn es alle Taten und die Gesinnung desjenigen verflucht, der es abschaffen will.
Im diesem Lichte betrachtet entpuppt sich der angeblich aufgeklärte,
säkularisierte Deutsche des ausgehenden 20. Jahrhunderts als ebenso
anfällig für das Pathos der heute dominanten humanitaristischen Zivilreligion
wie sein mittelalterlicher Vorfahre für die christliche Religion. Jedes
Zeitalter hat seine eigenen Mythen. Heute erfüllt der Glaube, daß alle Gewalt vom Volk komme, eine ähnliche Funktion
wie früher der Glaube, daß alle obrigkeitliche Gewalt von Gott komme.
Robert Michels
sprach 1911 treffend vom Gott der Demokratie. Zu den Dogmen der humanitaristischen
Zivilreligion gehören neben der Souveränität des Volkes ein egalitaristisches
Verständnis der Menschenrechte, und ähnliche Gedankenkonstrukte. Sie werden
von ihren Gläubigen mit derselben Wut verteidigt, über die Voltaire
im März 1737 an Friedrich
schrieb: "Alle Theologen aller Länder (sind) Leute, die von heiligen
Schimären trunken sind, (und) ähneln jenen Kardinälen, die Galilei verdammten..."
So zeigt sich heute der theologische Kern der humanitaristischen Menschenrechts-
und Demokratietheorie, der alle Säkularisierungen überstanden hat.
Über die christlichen engen Verwandten
unserer Demokratiegläubigen schrieb Friedrich der Große
an Voltaire am 4.11.1736: "Was die Theologen
angeht, so scheint es, als ähnelten sie sich alle im allgemeinen, gleich
welcher Religion oder Nation sie angehören; stets ist es ihr Bestreben,
sich über die Gewissen eine despotische Autorität anzumaßen."
Die Gläubigen unserer Zeit verteidigen ihre Moral mit demselben
quasireligiösen Fanatismus wie die Gläubigen aller Zeiten ihre jeweiligen
Götter. Friedrich
hatte sie in einem Brief an
Voltaire am 6.7.1737 so charakterisiert: "In Deutschland fehlt es nicht
an abergläubischen Leuten, auch nicht an von Vorurteilen beherrschten
und bösartigen Fanatikern, die umso unverbesserlicher sind, als ihnen
ihre tumbe Unwissenheit den Gebrauch der Vernunft verbietet. Es steht
fest, daß man im Dunstkreis solcher Untertanen vorsichtig sein muß. Selbst der
ehrenhafteste Mensch ist verschrien, wenn er als Mann ohne Religion gilt.
Religion ist der Fetisch der Völker. Wer auch immer mit profaner Hand an sie
rührt, er zieht Haß und Abscheu auf sich." Ebenso verfahren die modernen Demokratiegläubigen,
die Betroffenen, bei wirklichen oder eingebildeten Angriffen auf
ihren Gott. Wer mit profaner Hand an die vergötterte Demokratie rührt oder sie gar anzweifelt, stößt sich selbst aus
der Gemeinschaft der Guten so
sicher aus wie jeder Ketzer in irgend einem Zeitalter. Wer das nicht glaubt,
kann ja einmal öffentlich bekennen, kein Demokrat oder nicht betroffen zu sein, und warten, was dann
passiert: Er zieht unweigerlich die soziale Reaktion des Mobbing
auf sich: die Gruppenhatz. Er wird erfahren,
was das Wort Sündenbock eigentlich
bedeutet und was es heute heißt, einer zu sein: Wie in allen Zeiten der Sündenbock
rituell geschlachtet wurde, um symbolisch die Sünden der Gemeinschaft der
Rechtgläubigen auf sich zu ziehen und jene zu erlösen, fühlt sich der moderne Betroffene gleich besser, wenn in einer
Talkschau, der Mitternachtsmette der liberalen Diskursgesellschaft, mit
gehörig betroffener Miene der Neonazi beschworen, verdammt und ausgetrieben wurde. Oh Herr, ich danke dir, daß ich
nicht so scheußlich bin wie jener! In Sodom und Gomorrha soll es leider keinen
Gerechten mehr gegeben haben. Im Liberalismus gibt es nur Gerechte:
Pharisäer - Selbstgerechte - sagte man früher.
Wie die Hohepriester aller Religionen Sündenböcke brauchen,
benötigt der liberale Staat den seinen: Es ist der sogenannte Neonazi. Ob jemand Neonazi ist, bestimmt
er freilich ebensowenig selbst wie irgendein anderer historischer Sündenbock.
Heute bestimmen die Massenmedien nach ihren Bedürfnissen, wer Neonazi ist. Vor den Richterstühlen
der modernen Dreifaltigkeit aus Fernsehmoderatoren, Staatsparteien und
Verfassungsschutz gilt wieder das Wort Friedrichs des Großen: "Wir haben
hier eine Sekte Seeliger, die den Presbyterianern in England ausgesprochen
ähnelt und sogar noch unerträglicher ist, weil sie in strenger Rechtgläubigkeit
ohne Einspruchsrecht alle jene der Verdammung überantwortet, die nicht
ihre Ansichten teilen." Damit hatte er auf Voltairs Satz geantwortet:
"Es wird eines Ihrer größten Geschenke an die Menschheit sein, wenn Sie
Aberglauben und Fanatismus unter Ihren Sohlen zertreten, nicht zulassen,
daß ein Mensch in Robe andere Menschen verfolgt, die nicht so denken wie
er."
Der Liberalismus mußte zwangsläufig totalitär werden, sobald
eine wachsende und nicht mehr ohne weiteres beherrschbare Zahl seiner
Untertanen mit ihren Interessen in Konflikt zu den Interessen derjenigen
kam, welche durch den liberalen Status quo bevorzugt werden. Die liberale
Auffassung vom Staat als großem Betrieb führt zur Öffnung der Grenzen und zur
Privatisierung wichtiger Lebensbereiche wie demjenigen der öffentlichen
Sicherheit, widerspricht aber den Bedürfnissen vieler Bürger. Die Beispiele
ließen sich beliebig vermehren. Dem Pochen von immer mehr Bürgern auf gegen
den Liberalismus gerichteten persönlichen und nationalen Interessen kann
dieser nur noch damit begegnen, daß er es als ketzerisch brandmarkt, seine Abweichler
stigmatisiert oder als Neonazis dämonisiert. Der Kultus der Staatsreligion
Liberalismus mit seinen von Pastoren angeführten Lichterketten und
Betroffenheitsriten, seinen Tabuzonen und Exorzismen wird sich allerdings
nur halten können, wenn es dem Liberalismus gelingt, die Anzahl seiner Gegner
rechtzeitig durch Masseneinwanderung in die Minorität zu drängen und weiterhin
sozial und politisch auszuschalten.