WIR AUTONOME
von Klaus Kunze
(Erstpublikation
in: Junge Freiheit 5/1996,
nachgedruckt in "eleusis" Mitte 1996)
Lob
der Autonomie! Der steinewerfende Bürgerschreck ist gar kein Autonomer,
er ist bloß töricht. Wer dagegen als braver Bürger die staatlichen
Gesetze um des lieben Friedens willen einhält, darf sich geistig
trotzdem autonom nennen. Ungefährlich ist der Kriminelle, der die
Rechtsordnung an sich anerkennt. Gefährlich ist der dem Gesetz äußerlich
Gehorsame, der dessen metaphysische Wurzeln untergräbt. Nur er ist
der Autonome. Laßt uns von ihm reden!
Autonom
ist nicht der Anarchist, der von der Gesetzlosigkeit träumt. Gäbe
es sie, dann wäre eben die Anarchie das Gesetz, nach dem alle anzutreten
hätten. Soziale Spielregeln müssen nicht staatlich verordnet sein.
Die Regeln des Zusammenlebens bestimmt, wer die Macht dazu hat,
das für ihn und die Seinen Günstige allgemein durchzusetzen. Hält
einer für sich die Friedfertigkeit und das allgemeine Konsensprinzip
für vorteilhaft, während der andere auf größere Gewalt setzt, entscheidet
die Macht, ob der Friedliche dem Unfriedlichen den Frieden aufzwingt
oder umgekehrt. Je nach dem wird ihr weiteres Zusammensein sich
nach friedlichen oder unfriedlichen Spielregeln richten.
Jeder
Herrschende umgibt sich mit einem Wall von Gesetzen. Sie befehlen,
daß an der Herrschaft seiner Spielregeln bei Meidung von Strafe
nicht gerüttelt werden darf. Vor allem aber: Wer sie bricht, handele
unmoralisch! Wer das nicht glaubt, ist ein Autonomer. Daß er die
Gesetze einhalten muß, reicht ihm. Aber muß er darum auch an ihre
Moral glauben?
Eine
Moral steckt in jedem Gesetz. Früher war Ehebruch strafbar. Heute
ist er erlaubt. Gewandelt hat sich erst die herrschende Moral, dann
das Gesetz. In jedem Gesetz steckt ein moralisches "Du sollst!".
Gesetzesnormen unterscheiden sich von Moralbefehlen nur durch ihre
staatliche Erzwingbarkeit. Moral läßt sich nicht offen erzwingen.
Sie läßt sich aber durch Indoktrinierung andressieren. Sie läßt
sich auch durch öffentlichen Meinungsdruck und Mobbing aufrechterhalten.
Wer sich daran nicht gewöhnen mag, ist ein Autonomer.
Herrschende
sind immer autonom: Sie geben den gesetzlichen Ton an. Sie bleiben
an der Macht, solange sie die Regeln regeln. Die oberste lautet:
Wer die Regelungsmacht anzweifelt, handelt unmoralisch. Die Beherrschten
sollen an eine andere als die Beherrschermoral gar nicht ohne Gewissensbisse
denken dürfen. Darum stehen Herrschende vorwiegend auf der anderen
Seite der Barrikade: Alle Herrschaft gründet sich auf Heteronomie.
Sie hält nur, solange sie für heilig und unabänderlich gehalten
wird. Wenn die Herrschaftsideologie einmal bröselt, gibt es kein
Halten mehr. So ging es dem Ancien
régime vor 1789. So ging es auch der SED vor 1989. So geht es
nicht kalendermäßig alle 200 Jahre, sondern immer dann, wenn die
metaphysische Letztrechtfertigung einer Herrschaft nicht mehr geglaubt
wird: überall, wo es zu viele Autonome gibt.
Autonomie
ist eine Waffe wie alle Ideen. Sie sagt dem Gegner: Deine Gesetze
sind bloß so viel wert wie deine Macht. Deine Moral ist nicht wahrer
als meine Moral. Es gibt nämlich keine universale Moral für alle.
Was der Mensch soll und was er für wert schätzt, muß er allein entscheiden.
Niemandem ist der Sinn seines Lebens vorgeschrieben. Alle sind moralisch
ebenbürtig. Keiner ist mit höheren Mächten im Bunde. Wer das von
sich behauptet, der bildet es sich bloß ein, oder er lügt. Für den
Autonomen gibt es keinen Gott und keine Hölle, es sei denn, er entschiede
sich für den Glauben an sie. Für ihn gibt es auch keine moralischen
Gedankengespenster wie den Geist der Geschichte oder den Geist der
Humanität. Er glaubt noch nicht einmal an den Volksgeist, in dessen
Namen man zu regieren pflegt, seit der Glaube an die Herrschaft
von Gottes Gnaden verfassungsfeindlich ist.
Einer
der Apostel der Autonomen war Max Stirner. Er glaubte auch nicht
an all das schöne Wortgeklingel, mit dem sich die ideologische Zeitenwende
anbahnte. Damals stürzten die Aufklärer Gott und schrieben der Natur
des Menschen bisher Ihm vorbehaltene Prädikate zu wie die Sittlichkeit,
die Freiheit und die Humanität. Sie erhoben eine bestimmte Idee
vom Menschen in den Rang religiöser Verehrung. Jedem erlegten sie
die moralische Pflicht auf: "Du sollst ein ganzer, ein freier
Mensch sein." So proklamierten sie eine neue Religion, ein
neues Absolutes, ein Ideal, nämlich die Freiheit. Wie die Christen
Missionare ausgesandt hatten, weil die Menschen Christen werden
sollten, so erstanden jetzt Missionare der Freiheit. Diese könnte
dereinst, prophezeite Stirner 1844, "wie bisher der Glaube
als Kirche, die Sittlichkeit als Staat, so als eine neue Gemeinde
sich konstituieren und von ihr aus eine gleiche 'Propaganda' betreiben."
Könnte man das neue Ideal finden, gäbe es eine neue Religion, "ein
neues Sehnen, ein neues Abquälen, eine neue Andacht, eine neue Gottheit,
eine neue Zerknirschung."
Wer
zum Gehorchen notfalls bereit ist, aber nicht zerknirscht sein möchte,
schert als räudiges Schäfchen aus der Lichterkette der Moralpflichtigen
aus. Der moralische Aussteiger ist der Anfang vom Ende jeder Herrschaft.
Der Partisanenkampf gegen die soziale Vorherrschaft moralisierender
Imperative ist uralt. Immer werden Herrschende die Beherrschten
geistig binden wollen durch moralische Heteronomie. Ohne verbindlichen
Glauben an ein heiliges Allgemeingültiges können nicht Millionen
Menschen zusammenleben. Immer wird es Menschen geben, die den Zusammenhang
zwischen der Herrschaft und ihrer Ideologie durchschauen. Sobald
sie "Ihr da oben und wir hier unten" sagen, werden sie
diese Hierarchie umdrehen wollen. Wer nach oben will, muß zuerst
einmal ein Autonomer werden. Sobald er aber selbst herrscht, kann
er nur oben bleiben, wenn die anderen jetzt an seine Moral glauben
müssen. Robert Michels sah schon 1911 in jedem Revolutionär eine
Veränderung vorgehen, sobald er an die Macht kommt: Die Revolutionäre
von gestern wurden zu den Reaktionären von heute.
Autonom
zu sein ist keine neue Ideologie, keine Weltanschauung und keine
fixe Idee für alle Zeiten. Wie alle geistigen Waffen darf sie dereinst
einmal an den Nagel gehängt werden. Wer sich mit dem Zeitgeist einig
weiß und Lichterketten mag, braucht sie erst gar nicht zu führen.
Er steht auf der anderen Seite. Wem es aber unerträglich ist, wenn
ihm „betroffene“ Fernsehmatadoren Abend für Abend mit verbiesterter
Miene einreiben, was er gerade noch ohne Gewissensbisse denken darf;
und auch wer selbst entscheiden will, wen er lieben will und wen
er häßlich finden möchte, der wird sich in der Rüstkammer der Aufklärung
eindecken. Er wird sie als Autonomer wieder verlassen.
Die
Aufklärung, daß die gemeinschaftsbildenden Tugenden letztlich nicht
religiös oder sonst metaphysisch begründbar sind, hat zum Verlust
alles dessen geführt, was ein Gemeinwesen im Innersten zusammenhält.
Arnold Gehlen zufolge löste sie "die Treuepflicht zu außerrationalen
Werten auf, hob die Bindungen durch Kritik ins Bewußtsein, wo sie
verarbeitet und zerdampft wurden, und stellte Formeln bereit, die
Angriffspotential, aber keine konstruktive Kraft hatten." Das
gilt überall, wo jemand sich Entscheidungsfreiheit herausnimmt.
Nur das kritische, aufklärerische Bewußtsein vermag die erforderliche
Angriffsenergie zu entfesseln. Das zweischneidige Schwert der Autonomie
kann die Legitimität jeder Herrschaft zerstören. Das Risiko kann
nur verantworten, wer seine Existenz auf dem Spiel stehen sieht.
Er
wird niemals so töricht sein, allein gegen alle kämpfen zu wollen.
Nach einer Formulierung der selbsternannten Kreuzberger Autonomen
soll Freiheit die Zeitspanne sein, wenn der Stein aus der Faust
fliegt bis zu seinem Auftreffen. Doch das ist Freiheit nicht. Frei
ist, wer die Macht dazu hat, dauerhaft seinen Lebensentwurf zum
allgemeingültigen Maßstab zu machen. Einzelgänger können darum nie
wahrhaft frei sein: Ihre Freiheit endet an jeder Haustür jedes Nachbarn.
Das Spiel "Ich gegen den Rest der Welt" spielen gegen
die sechs Milliarden anderen Menschen nur Dummköpfe. Die Mindestanzahl
für eine erfolgversprechende Teilnahme an dem großen Spiel der Menschheitsgesellschaft
ist - ich behaupte einmal: 80 Millionen! Mannschaften, die weniger
Mitglieder zählen, nimmt keiner recht ernst.
Mannschaftsgeist
ist gefragt! Wenn wir die Wirkungen des Gemeinschaftlichen wieder
nutzbar machen wollen, muß die Auflösung der gemeinschaftsbildenden
Werte ein Ende haben. Sie sind der Mörtel, der die Bausteine unseres
Gebäudes zusammenhalten soll. Um sie sozial wirken zu lassen,
müssen wir den Vorhang der Aufklärung schließen und soziale Tugenden
verkünden und anwenden, als ob diese heilige und ewige Wahrheiten
enthielten - unsere "Wahrheiten"! Es ist praktisch unmöglich,
ein Volk von Autonomen zusammenzuhalten, die an überhaupt nichts
glauben.
Nur
mit vereinten Kräften sind wir stark. "Der Verein", riet
uns Stirner, "ist nur dein Werkzeug oder das Schwert, wodurch
Du deine natürliche Kraft verschärfst und vergrößerst; der Verein
ist für Dich und durch Dich da." Dumme Autonome halten sich
für links. Sie werden Anarchisten und verzichten auf die Annehmlichkeiten
des Gemeinschaftslebens. Schlaue Autonome denken weiter: Sie sind
keinen Deut weniger autonom, nur weil sie die Autonomie nicht auf
sich allein beziehen, sondern auf ein paar Leute mehr. Jeder dient
sich selbst am besten und nachhaltigsten, indem er sich mit anderen
zusammenschließt. Selbstbestimmung ist normative Autonomie, oder
sie ist eine Farce. Nur mit vereinten Kräften können sich Menschen
auf diesem Globus einen Freiraum schaffen, in dem sie ihrer Eigenart
entsprechend leben können.
Seine
Freunde kann man sich aussuchen, seine Verwandten nicht. Dumme Autonome
suchen sich ein paar gleichgesinnte Halbstarke und schmeißen Pflastersteine
auf Polizisten. Kluge Autonome wissen: Ein Hühnerhaufen wird immer
ohnmächtig bleiben. Treue, Opfermut und Solidarität sind keine zerebralen
Künste. Die Mutter, die sich Tag für Tag für ihre Kinder abschuftet,
der Sohn, der seine Heimat gegen eine Invasion verteidigt, der Bruder,
der für den Bruder einsteht - sie alle folgen ihrem innersten Gefühl.
Dieses sagt ihnen: Für viele habe ich mal einen Groschen übrig,
aber nur für wenige hafte ich mit meiner ganzen Existenz. Nur wo
brüderlich zusammengehalten wird, haben alle gemeinsam die Chance
zur Autonomie: Zur Selbstbestimmung gegen die Eine Welt und gegen
alle diejenigen, die sie bereits heute moralisch installieren und
die sie morgen beherrschen wollen.
Zum
Buch "Mut zur Freiheit"
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