Daß
es im Weltall nichts und niemanden gibt, der uns Sinn und Zweck
unseres Daseins vorschreibt und damit Ordnung setzt, ist
für den einen unerträglich; für den anderen aber Grundbedingung
seiner Freiheit. Wer sich für einen Ordnungsentwurf entscheidet
und sein Leben unter das eigene Gesetz stellt, ist sich der
Subjektivität seiner
Wahrheit und der Relativität seiner Ordnungsentscheidung bewußt. Sie beruht nur auf seinem Willen, denn eine
Norm als Richtschnur menschlichen Handelns existiert logischerweise
nur entweder "in uns selbst oder aber außerhalb unser.
Würde man sie in uns finden, so könnte sie nichts anders sein
als entweder die Einsicht und das Gewissen oder aber unser
Wille selbst."
[1]
Für
den frei Entscheidenden hat seine normative Ordnung ihren Sinn
nur für ihn allein. Aufdringliches Eifern ist ihm darum fremd.
Er schart keine Jünger um sich. Andersgläubige sieht er als
Neutrale, Freunde oder Feinde an, je nach Lage der Dinge,
niemals aber als Verbrecher, Ketzer oder zu vernichtende
Vertreter eines unwahren oder gar bösen Ordnungsprinzips.
Das macht ihn metaphysisch tolerant: Sein Weltbild kennt
keine Hölle, er braucht keinen Gott und keinen Teufel. Er
ist der eigentliche Autonome: der sich selbst (áõôüò) Gesetz (íüìïò) -Gebende. Führt ein Normendiener
die Fahne seiner Götter mit ins Feld und beschwört seine ewigen
und heiligen Werte, lächelt der Normenbenutzer nur milde
und erkennt in jenen Göttern die Gesichtszüge des Normativisten
wieder. Wer ihn hinter seinem Gott oder seiner Ideologie getarnt
bekämpft, ist sein Gegner. Nie aber hält er den Gott oder die
Ideologie für den eigentlichen Feind. Der Gott des Normativisten
ist ein eifersüchtiger Gott und duldet keine anderen Götter
neben sich. Der Gott des Dezisionisten sagt dagegen: "Siehe,
ich bin dein Gott, den du dir nach deinem Bilde geschaffen
hast. Du darfst dir ruhig noch mehrere von uns machen!"
In
jedem Normativismus steckt ein metaphysischer Wahrheitsbegriff,
der ihn von Anfang an intolerant macht. Das gilt auch für diejenigen
normativistischen Verfechter des Toleranzprinzips, die
offen unter dem Paradoxon antreten: "Keine Toleranz
für die Feinde der Toleranz." Wer so denkt, handelt
bereits intolerant. Die zur Norm transzendierte Toleranz
hebt sich selbst logisch auf. "Wer sich selbst im Besitze
unumstößlicher Wahrheiten wähnt, kann dem Andersdenkenden
nicht mit Toleranz begegnen."
[2]
Das gilt auch für den, der es
unumstößlich für wahr hält, daß alle tolerant sein sollen.
Überdies verschleiert der vordergründig tolerant klingende
Spruch "Keine Toleranz für die Feinde der Toleranz",
daß hinter ihm immer konkrete Wertentscheidungen des
Inhalts stehen: welche inhaltlich konkurrierenden Werthaltungen
nämlich noch toleriert werden sollen und welche nicht mehr.
Der
Normenbenutzer ist gegen Andersdenkende normativ gleichgültig
und insofern tolerant. Diese Toleranz ist ihm aber wiederum
gleichgültig: Er muß sie nicht zum normativen Prinzip erheben.
Auch erstreckt sie sich nur auf Normen, nicht auf die Menschen,
die sich ihrer bedienen. Wird der Dezisionist angegriffen
- offen oder ideologisch verbrämt - dann wird er sich nach
Kräften wehren. Keine vorgekaute Norm hindert ihn an der
freien Wahl seiner Waffen, denn gegen sich selbst ist er ja
auch tolerant und kennt hinsichtlich der Mittel zu seiner
Selbstbehauptung keine Vorurteile. Er kann daher in der
Wahl seiner normativen Waffen flexibel sein. Tolerant ist
der Normenbenutzer eben immer
nur metaphysisch. Er läßt jeden glauben, was er will, aber
nicht tun, was er will. Verstößt die Handlung eines anderen
gegen die Interessen des Dezisionisten, sieht der Dezisionist
je nach Lage der Dinge für Toleranz keinen Anlaß. Sein Credo
ist das des Verantwortungsethikers und nicht das des Gesinnungsethikers.
Der "eine sagt: Laß geschehen was da will, wenn du nur
nicht Schuld daran trägst, denn die ist Sünde vor Gott;"
der andere aber: "Sei schuldig, soviel du willst, und
trage die Schuld in Ehren, nur sorge, daß das Gute geschehe!"
[3]
Was jemand dem Verantwortungsethiker
tatsächlich antut, entscheidet, nicht aber, warum er es tut.
Entschlossenheit zum existentiellen Kampf auf der einen
- Gleichgültigkeit gegenüber dem Glauben des Gegners auf
der anderen, das ist auch die Handschrift des Dezisionisten.
Für
ihn beschränkt Feindschaft sich auf den existentiellen Fall.
Existentielle Feindschaft und metaphysische Toleranz sind
Schwestern. Jede Metaphysik erhebt den Anspruch alleiniger
Letztgeltung. Für ihr Ordnungsdenken muß der Ungläubige
immer ein Ketzer, Verbrecher und Bösewicht sein. Wer weiß,
vielleicht gar ist er überhaupt kein Mensch? "Ein unveränderlicher
Zug im menschlichen Geist," belehrt uns ein Metaphysiker,
"ist der metaphysische Trieb: der Drang ins Reich des
Übersinnlichen. Er ist der Wesenspunkt allen Menschentums."
[4]
- Schlechte Aussichten also
für Diesseitsfreunde und Andersgläubige! Geht ihnen nämlich
das wahre Menschentum ab, muß man sie in letzter Konsequenz
bekehren oder darf sie ausrotten. Demgegenüber erkennt die
bloß existentielle Feindschaft vollkommen an, daß der Feind
normativ ebenbürtig und gleichberechtigt ist: Feind ist
dann, wer mich existentiell negiert und bekämpft, nicht, wer nur meinen weltanschaulichen Lebensentwurf nicht teilt. Mein Feind ist
also, wer mich töten oder an meiner von mir gewählten Lebensform
hindern will. Wenn überhaupt, besteht die ganze Metaphysik
des Dezisionisten in der Behauptung seines freien Willens
als zentralem Wert. Er ist im Kern Selbsterhaltungswille:
Die Fortexistenz des freien Willens wollen und die eigene
Existenz wollen ist ein und dasselbe. Wer mich am Leben nach
meinem Willen hindert, ist Feind im existentiellen, also
ganz und gar diesseitigen Sinne.
Der
wirkliche Feind muß daher, mit den berühmten Worten Schmitts,
weder häßlich noch böse sein.
[5]
Es gibt keinen Grund, jemanden
als böse zu bekämpfen.
Gegensätze wie Gut und Böse bilden notwendige
Bestandteile fester Weltbilder, können aber immer nur
in einer bestimmten Perspektive, nämlich der des erlebenden
Subjekts, als solche gesehen werden.
[6]
Das Bilden von Gegensatzpaaren
ist nichts als eine "Denkform, die wie die Neigung zu
einheitlichen Erklärungsprinzipien dem Menschen offenbar
angeboren ist und gewissermaßen ein Gegengewicht gegen
sie bildet."
[7]
Der Normenbenutzer erkennt
nicht nur, daß "Gut und Böse antithetische Bestandteile
desselben Weltbildes ausmachen, das heißt nur in einer
bestimmten weltanschaulichen Perspektive als solche
angesehen werden."
[8]
Er wird schon mißtrauisch,
wenn ihm ein Gegensatzpaar aufgenötigt wird, und sucht
nach der dahinter stehenden Metaphysik: "Der Grundglaube
der Metaphysiker ist der Glaube an die Gegensätze der Werte.
...
Man darf nämlich zweifeln, erstens, ob es Gegensätze überhaupt
gibt, und zweitens, ob jene volkstümlichen Wertschätzungen
und Wert-Gegensätze, auf welche die Metaphysiker ihre Siegel
gedrückt haben, nicht vielleicht nur Vordergrunds-Schätzungen
sind, nur vorläufige Perspektiven, vielleicht noch dazu
aus einem Winkel heraus, vielleicht von unten hinauf, Froschperspektiven
gleichsam."
fortsetzendes Unterkapitel: Die
Götter bleiben in ihren Gräbern