Das
logische Scheinhindernis, den freien Willen zu bejahen, hatte
im
Determinismus bestanden. Die
Kausalität war eine der ganz großen geistigen Entdeckungen
gewesen: Keine Wirkung, so belehrt uns
empirische Beobachtung, geschieht ohne Grund. Dieser Grund
muß selbst wieder einen Grund haben. So können wir die Kausalität
bis in alle Ewigkeit zurückverfolgen. Die Logik läßt nämlich
- anders als die
Scholastik glaubte und Gott zu beweisen suchte - keine
prima causa zu. Während der Blick zurück für alles einen Grund sucht,
scheint in umgekehrter Blickrichtung alles von einem Grunde
vorherbestimmt zu sein - auch der menschliche Wille! "Gibt
es" nämlich, erkannte schon Augustinus, "eine feste
Ordnung der Ursachen, wodurch alles und jedes bewirkt wird,
dann geschieht auch alles und jedes schicksalhaft. Ist das
aber der Fall, so ist nichts in unserer Macht, und es gibt keine
Willensfreiheit."
[1]
Dieser deterministischen
Täuschung war auch Schopenhauer
erlegen und hatte die Willensfreiheit verneint: Unter Voraussetzung
der Willensfreiheit sei jede menschliche Handlung ein Wunder:
eine Wirkung ohne Ursache nämlich. Niemand könne alles Beliebige
wollen. Wollen könne er immer nur dasjenige, was gerade als
stärkste Regung auf ihn einwirke. Er sei gleichermaßen kausal
determiniert durch äußere Reize und charakterlich festgelegte
innere Antriebe: "Ich vermag nicht, es zu wollen, weil
die entgegenstehenden Motive viel zu viel Gewalt über mich
haben, als daß ich es könnte."
[2]
Diese
Meinung setzt schon voraus, daß alle Ereignisse Wirkungen sind
uns nichts sonst: In der empirischen Realität folge "aus
dem für Vorstellungen a priori sichern Gesetz der Kausalität": Keine Wirkung ohne Ursache.
[3]
Wer aber voraussetzt, daß alle
Ereignisse Wirkungen sind, und daraus schließt, es gebe keine
Freiheit, weil alles determiniert sei, schließt im Zirkel.
Er "beweist", was in seiner Voraussetzung schon
enthalten war: Es liegt bereits im Wesen der Wirkung begründet,
daß sie durch eine Ursache erzeugt wurde, so daß ihrem Eintreten
keine Freiheit zugrunde gelegen haben kann. Ein Ereignis kann
auch mehrere Ursachen haben kann: notwendige und hinreichende.
Der menschliche Willensentschluß beruht zwar kausal notwendig
auf gewissen Voraussetzungen - etwa daß ich körperlich existieren
muß -, die seinen Inhalt aber nicht hinreichend determinieren.
Schopenhauer
wollte sich nicht vorstellen, daß es Ereignisse ohne Ursachen
gibt: Ex nihilo nihil
fit. Wahr daran ist, daß es keine Wirkung ohne Ursache
gibt. Es gibt aber auch freies Spiel der Kräfte mit unvorhersehbaren
Folgen: Ereignisse nämlich, die zwar bestimmte notwendige
Bedingungen ihres Eintretens zu Ursachen haben, deren Eintritt
durch diese notwendigen Bedingungen aber nicht hinreichend
determiniert ist. Sie treten trotz der eingetretenen notwendigen
Bedingung vielleicht ein, vielleicht auch nicht, vielleicht
treten sie auch in einer anderen Art und Weise ein, deren
genaue Umstände nicht determiniert sind: Zufall mag man das
nennen oder auch Chaos. Wenn das Ereignis aber aus den eigenen
Gesetzmäßigkeiten eines höheren Systems hervorgegangen ist,
des geistigen nämlich, nennen wir es dessen Freiheit.
Innerhalb
der menschlichen Gesamtpersönlichkeit steht der Verstand
für das Ordnende, Determinierte: Die Vernunft unterliegt
nämlich den determinierenden Denkgesetzen. Bei ihrer Anwendung
muß das Ergebnis einer Verstandesoperation von vornherein
feststehen. Wäre der Mensch reiner Verstand und nichts sonst,
könnte er nicht frei sein. Das hatte schon Duns
gegen Thomas
vorgebracht: Wäre der Wille "der Vernunft untergeordnet,
so wäre Freiheit unmöglich. Denn jede Vernunftseinsicht
ist von ihrem Grunde wie von einer Ursache determiniert."
[4]
Nur der Wille ist das Freie
im Menschen. Darum betont seit der Antike jeder Philosoph,
der sich von einer Theologie oder Ideologie befreien wollte,
den Willen und hielt ihn für das Wesen des Menschen. Für alle
jene hingegen, deren Argumente jemanden in ein weltanschauliches
System einbinden sollten, war immer klar: das Wesen des Menschen
ist der Verstand. - Wir aber dürfen so frei sein, beides zu
benutzen.
Unser
freier Wille ist der Kern des Dezisionismus, und der Nachweis
dieser Freiheit ist seine Lebensfrage. Nicolai Hartmann
hat diesen Nachweis mit seiner Schichtenlehre und der Analyse
des
Finalnexus erbracht. Hartmann geht von verschiedenen Seinskategorien
aus: dem Anorganischen, dem Organischen, dem Seelischen und
dem geistigen Sein. Jeder Seinsstufe kommen spezifische Eigengesetzlichkeiten
zu. Das kategoriale Gesetz der Wiederkehr besagt: Den Eigengesetzlichkeiten
der jeweils niedrigeren Seinsstufe sind die höheren unterworfen,
nie aber umgekehrt.
[5]
Die "höhere Idee,"
hatte schon Schopenhauer
vorweggenommen, "überwältigt" die vorher dagewesenen,
"jedoch so, daß sie das Wesen derselben auf eine untergeordnete
Weise bestehen läßt, indem sie ein Analogon davon in sich aufnimmt."
[6]
Das geistige Leben unterliegt
allen Gesetzmäßigkeiten des Anorganischen und des Organischen
- ohne Chemie hätten wir schließlich keinen Körper, und ohne
dessen Lebendigkeit könnten wir mit unserem Gehirn nicht denken
- aber mit chemischen und biologischen Denkkategorien allein
läßt sich geistiges Leben nicht erklären. Es gehorcht eigenen
Gesetzen.
Hartmanns
Kausalanalyse besagt nun, daß wir nur insoweit kausal determiniert
sind, als wir den Naturgesetzen des Anorganischen und des Organischen
unterliegen. Kein Mensch kann sich der Kausalität entziehen,
die ihn stofflich geboren werden und biologisch leben läßt,
mit allen notwendigen und unabänderlichen Konsequenzen.
Nicht so unser geistiges Sein! Es ist nicht übertrieben zu
sagen, daß das geistige Leben des Menschen eine neue Art
von Leben sei.
[7]
Seine Wesensmerkmale sind die
Selbstreflexion unseres Denkens, das sich letzte Ziele setzen
kann und uns
final handeln läßt. Der freie Wille und seine Kraft sind von
den Gesetzlichkeiten der niedrigeren Seinskategorien kausal
abhängig, im übrigen aber akausal, weil sie eine Seinskategorie
höherer Art verkörpern. Unser zielgerichtetes Handeln vermag
Kausalfolgen niederer Seinskategorie in Gang zu setzen und
das blinde Gesetz der bloßen Kausalität auszunutzen. Unsere
Willensentschließung selbst ist der erste und einzige aufweisbare
finale Akt in der realen Welt. Es ist unstatthaft, auf ihn
die Kausalgesetze der niederen Seinsordnungen wie die des
Anorganischen oder der Biologie anzuwenden. "Ein einfacher
Kausaldeterminismus ist vollkommen neutral gegen das Einsetzen
höherer Determination"
[8]
: nämlich durch den menschlichen
Willensakt.
Es
ist prinzipiell nicht kausal vorhersehbar, welchen konkreten
Inhalt ein menschlicher Wille haben wird - auch wenn Herrn
Schopenhauer
"der Verstand stille steht" bei der Vorstellung,
hier das "absolut Zufällige" am Werke zu sehen. Diese
höhere Determination ist die vorausschauende, ziel- und zweckgerichtete
Benutzung des bloß Kausalen durch ein Bewußtsein. Nur ein Bewußtsein
kann sich ein vorher nicht existentes Geschehen vorstellen
und sich zum Ziel setzen. Es kann eine Ursachenkette ersinnen,
deren Sinn es sein soll, das gesetzte Ziel in der Wirklichkeit
zu realisieren. Hartmann
formulierte die evidente Einsicht: Nur ein Bewußtsein hat die
erstaunliche Freiheit, das noch Unwirkliche beliebig weit voraus
denken zu können. Final auf ein gesetztes Ziel hin zu handeln
erfordert immer drei Akte: Das Bewußtsein setzt den Zweck,
indem es den Zeitfluß überspringt und das Künftige vorausnimmt.
Es wählt dann die notwendigen Mittel aus, dieses Ziel zu erreichen,
indem es die Kausalfolge rückwärts von der Wirkung zu ihren
möglichen Ursachen denkt. Schließlich wendet es diese Mittel
an: Es erzeugt real eine kausale Ursachenfolge, wobei der
Sinn der angewandten Mittel ist, das vorgestellte Ziel zu
erreichen.
[9]
Finales
Handeln bedient sich also immer bewußt der Kausalität, die
ansonsten blind ist. Bis zum Auftreten des Menschen hat es
auf dieser Erde bloß kausales Handeln gegeben, aber kein finales.
Die Saurier starben schließlich nicht aus, um den Säugetieren
Platz und den Menschen möglich zu machen. In den Dingen selbst,
in aller uns umgebenden anorganischen und organischen Natur,
könnte ein verborgener Sinn nur stecken, wenn man ihn einem
personalen Gott zuschreibt, der ihn final gestiftet und die
blind ablaufende Kausalreihe durch einen Schöpfungsakt realisiert
hat. Das ist die dezisionistische Gottesvorstellung Ockhams
: Es gibt keinen Sinn ohne Sinnstifter. Es kann keine normative
Seinsordnung geben ohne eine Ordnerperson. Wer allem Dasein
einen verborgenen normativen Sinn zuschreibt, benötigt dazu
einen sinnstiftenden Gott. An ihn kann man glauben oder nicht:
Das ist zwar reine Spekulation, aber logisch unangreifbar.
Der Dezisionismus ist mit dem Christenglauben vereinbar.
Gäbe es allerdings solch einen Gott, der alle normativen Entscheidungen
bereits dezisionistisch getroffen hat, dann hätten wir Menschen
diese normative Freiheit nicht mehr: Es wäre schon alles für
uns entschieden.
Unmöglich
ist aber die Annahme, Kosmos und Mensch trügen eine werthafte,
sinnvolle oder vernünftige Bestimmung in sich und seien darum
einer normativen Ordnung unterworfen. Sinn kann es nie "an
sich", sondern nur "für jemanden" geben.
[10]
Diese Analyse des Finalnexus
durch Hartmann
verdeutlicht sofort den entscheidenden Unterschied der
Denkstruktur bei Normativisten und Dezisionisten: Dieser ist
sich seiner Zwecksetzungsmacht bewußt: Willentlich setzt er
sich ex
nihilo ein Ziel. Er bewertet, stiftet einen Sinn und nimmt
alle drei Akte des Finalnexus bewußt vor. Der Mensch allein
kann final determinieren: Er mißt dem Sein seinen Sinn zu.
Diesen gedanklichen Akt der Sinnbestimmung, der Determination,
nennen wir Dezision,
wenn er sich auf eine normative Ordnung richtet. Dezision ist
Sinnstiftung: Sie allein erzeugt die Normen. Die menschliche
Entscheidung allein normiert. Die Werte und ihr Sittengesetz
stellen keine reale Macht dar: Sie bestimmen uns nicht vorher
wie Naturgesetze.
[11]
Wir finden im bloß Kausalen
keine geistigen Normen vor, keine finalen Ziele. Diese müssen
wir uns selbst schaffen.
Wer
moralische Werte dagegen für reale Mächte außerhalb unseres
Selbst hält und ihnen die Kraft beimißt, unser Leben zweckgerichtet
zu bestimmen und uns einen Sinn vorzugeben, muß zwangsläufig
dem Menschen jede Freiheit und Verantwortlichkeit absprechen.
"»Die widerspruchslos
hingenommene Vorstellung von einer von vornherein
durchgehend
final determinierten Welt schließt ja zwingend jegliche
Freiheit des Menschen aus« und beschränkt ihn auf das Verhalten eines
Schienenfahrzeuges, das sein Ziel zwangsläufig erreicht.
Diese Vorstellung bedeutet die absolute Verneinung des
Menschen als eines verantwortlichen Wesens."
[12]
Gegen die Vorstellung des
Menschen, der einem Schienenfahrzeuge ähnlich aus einprogrammierten
Gleisen nicht heraus kann, hat sich auch Eibl-Eibesfeldt
immer wieder ausgesprochen. Er betont die Entlastungsfunktion
des Angeborenen, die uns den Kopf für unser geistiges Leben
freihält, und resümiert: "Erst über die Entlastungsfunktion
eröffnen sich uns Freiheiten."
[13]
Es ist die Freiheit, uns selbst
zu erkennen, zu definieren und uns damit selbst zum Maßstab
unserer Wertentscheidungen zu machen.
Es
wäre schrecklich zu denken, als Menschen in dieser Welt die
Fähigkeit der Sinnstiftung zu besitzen und alles Dasein schon
sinnerfüllt vorzufinden. Der Normendiener hingegen sieht
sich niemals in der Entscheidungslage, einen normativen
Sinn erst setzen zu müssen: Der ist schon da! Wie im Märchen
vom Hasen und vom Igel ist für das
teleologische Denken des Normativisten überall schon ein
letzter Sinn da: ein ôÝëïò, ein höchster Wert, eine nicht mehr hinterfragbare Norm,
eine Seinsordnung oder irgendein anderes transzendentes
Etwas. Von Hartmanns Dreischritt verzichtet er auf den entscheidenden
ersten Akt: der Dezision. Mit seinem "Verzicht auf eigene,
autonome Sinngebung vernichtet der Mensch sich selbst
moralisch und gibt sich preis."
[14]
Dieser Verzicht ist Wesensmerkmal
jedes Normativismus. Er versteht die Welt teleologisch
von einer normativen Idee her. Dadurch gelangt er zu
einer finalen Vorherbestimmung. Sein Determinismus stuft den
Menschen zu einem dienenden Rädchen im Getriebe eines final
schon festgelegten Weltlaufes herab.
Eine
Variante teleologischen Denkens ist die Vorstellung einer
Heterogonie der Zwecke. Sie liegt dem katholischen Glauben
zugrunde, dem marxistischen und dem liberalen: Katholischer
Meinung nach bedient sich Gott in seiner Weisheit des Bösen
nur, weil er es im Rahmen der Harmonie seiner Schöpfung als
Kontrapunkt braucht. Weil Gott nur Vollkommenes schaffen konnte,
dient selbst böses Handeln wider Willen nicht dem Chaos, sondern
in wunderbarer Weise der Ordnung. Kleine Bösewichter können
den Glanz der Schöpfung daher nur erhöhen, nicht aber trüben.
Der Marxismus vertritt eine säkularisierte Variante dieses
Glaubens: Jede geschichtliche Handlung, selbst das schlimmste
Ausbeutertum, treibt die innere Logik des objektiven Geschichtsprozesses
voran. Weil dieser der klassenlosen Gesellschaft zustrebt,
legten die kapitalistischen Freibeuter wider Willen den
historischen Grund für die sozialistische Revolution.
Auch
der Liberalismus kommt nicht ohne die Denkfigur der Heterogonie
der Zwecke aus: Selbst wenn ein Diskutant noch so sehr irrt,
führt doch die Quersumme der in die Debatte geworfenen Meinungen
aller zur richtigen Erkenntnis. Die Diskussion stellt sich
der Liberale nicht als ergebnisoffenen, blinden oder gar chaotischen
Kausalprozeß vor. Vielmehr ist die Wahrheit schon im Diskurs
selbst teleologisch angelegt. Wie von unsichtbarer Hand gelenkt,
kommt sie bei Ausbalancierung aller Meinungen ans Licht.
Auch das Gemeinwohl ergibt sich liberaler Idee nach ganz von
selbst daraus, daß jeder einzelne seinem Eigennutzen freien
Lauf läßt: Selbst wenn sich alle bewußt eigensüchtig verhalten,
gedeihen die egoistischen Handlungen, wie von unsichtbarer
Hand gelenkt, in ihrer Quersumme zum Besten des Ganzen. Weil
der Liberalismus nämlich dem ökonomischen Bedürfnis
derjenigen Menschen entsprungen war, die ihr Interesse
mit der Abwesenheit staatlicher und geistiger An-ordnung
verbanden, muß er sich zu der absurden Behauptung versteigen:
Die normative Ordnung eines Gemeinwohls gehe aus dem bloß kausalen
Fortwirken aller Kräfte von allein und selbst dann hervor,
wenn diese Kräfte ihr Gegenteil bezwecken.
Folgendes
Kapitel: Das Wagnis der Willensfreiheit