Lange Str.28, 37170 Uslar, Inhaberin Heike Kunze
Telefon 05574-658, Telefax 05571-6327, Postkasten
 

Auszug aus: Klaus Kunze, Mut zur Freiheit, 1998, S.64 1998
(Zurück zum vorangehenden Unterkapitel:
Determinismus und teleologisches Denken
)


DAS WAGNIS DER WILLENSFREIHEIT

Das Wagnis der Willensfreiheit

Entscheidungsfreiheit ist immer ein Wagnis, das glücken oder miß­lingen kann. Je nach moralischem oder nicht moralischem Standpunkt gilt dieselbe Handlung als ge­rechtfertigt oder als Verbrechen. So war die versuchte Ausrot­tung der Juden aus reli­giöser Sicht ein Verbre­chen satanischer Größe. Die Ingenieure der Vernichtung da­ge­gen sa­hen sie offensichtlich als eine Art Ungezieferbeseitigung an und mein­ten in ih­rem normativen Übereifer, die Welt vom Bösen an sich zu säubern - ihrem "Bösen". Die Nationalsoziali­sten waren nämlich aus­ge­prägte Normativisten und Ideologen: Sie suchten "ein meta­phy­si­­sches Wahnsystem in die Wirk­lich­keit umzu­setzen" [1] durch Ver­nich­­tung der Juden als Inkarnation des metaphysisch Bösen und die Herr­schaft der Arier als Inbegriff des Hö­heren. Treu normativistisch lei­teten sie aus dem Sein des biologischen Fressen-und-Ge­fres­sen­werdens das Sollen der Aus­merzung des Lebens­untauglichen und Minderwertigen ab.

Weil die normative Gläubigkeit an die geschichtliche Sendung des Fü­h­­rers und die Unfehlbarkeit seiner Befehle als Ent­schei­dungs­den­ken miß­­ver­standen wurde, mußten die Nationalsozialisten aus­ge­rech­net als Argument ge­gen den De­­zi­­­sio­nis­­mus herhal­ten: Nach Be­kannt­wer­­den und un­ter dem fri­­schen Ein­­druck von Eu­tha­na­sie und Ju­den­ver­­fol­­gungen erlebte der seit Nietz­­sche ver­trocknende und ab­ster­ben­de Mo­ralis­mus in Deut­sch­­land eine Auf­er­ste­hung. 1958 ver­­öf­fent­lich­te Krockow eine an­ti-de­­­zi­sio­nisti­sche Streit­­schrift, einen mo­­dernen An­­ti-Machiavell ge­wis­ser­maßen, mit dem er die de­zi­sio­ni­sti­schen Teu­­fel Schmitt , Jün­ger und Hei­deg­ger ein für al­le­mal aus­trei­ben und die frei­en Geister ban­nen woll­te. Den letz­ten und tiefsten Sün­denfall sieht er so: "Der Mensch kann ver­su­chen, nicht nur die ihm vor­ge­ge­be­nen Ordnungen durch bewuß­te Ori­en­tie­rung an uni­ver­sa­len Nor­men um­zuformen, sondern alle trans­zen­den­ten Nor­mie­run­gen über­haupt ab­zu­werfen, um sich einzig auf sich selbst, das Wagnis und die Wür­de seiner je ei­ge­­nen Ent­schei­dung zu stellen.  ... Aber auch die Last der Exi­stenz müß­­te aufs äu­ßer­ste zu­­neh­men. Denn nach Ab­wurf aller au­toritativen Bindun­gen fän­de der Mensch sich, norma­tiv ge­se­hen, in ein 'Nichts' ge­­­stellt. Und es ist nur zu verständlich, wenn er, ver­­zwei­felnd an die­sem Ex­pe­ri­ment mit der Frei­heit, pa­nik­ar­tig flüch­tet zu je­der über­le­ge­­nen Macht, die sich nur ir­gend als bin­den­de, die Ent­­schei­dung ab­neh­­­mende an­bie­tet." [2] - Frei­heit ist eben nichts für schwa­­che Herzen.

Ein Argument für die seinsmäßige Wirklichkeit der hinter Kroc­kows Sün­den­leh­re stehenden religiösen Ideen ist durch den Hin­weis auf die Gefähr­lichkeit der Frei­heit nicht ge­won­nen. Auch wird sich am Genuß der Freiheit nicht hindern lassen, wer alle Mo­ral für kon­ven­tionelle Übung hält. Wie ein roter Fa­den zieht sich durch die Religions­geschichte die Angst, mit Gott auch Sitten und Mo­ral ab­zu­schaf­­fen. Wer nicht in der Furcht des Herrn lebt, lautet das letzte Ar­gu­­ment aller Mo­ral­phi­lo­sophen, wird nicht nur frei zum Gu­ten, son­dern auch zum Bösen.

Doch kann es ein ernst­haftes Ar­gu­ment sein, es müsse Moral geben, weil es nicht sein dürfe, daß es sie nicht gibt? "Es gibt kein ge­bräuch­li­cheres und gleich­zei­tig ver­werf­li­che­res Ver­fah­ren," verwahrte sich schon Hume , "als in phi­lo­so­phi­schen Streit­fra­gen zu versuchen, die Wi­derlegung einer An­sicht durch den Vor­wand ih­rer ge­fähr­lichen Fol­gen für Religion und Sitt­­lichkeit zu er­rei­chen." [3] Nicht in erster Linie die Moral müßten wir erfinden, wenn es sie nicht gäbe, sondern die Freiheit. Vor die be­wußte Wahl gestellt, frei zu sein oh­ne Mo­ral oder mo­ra­lisch ohne Freiheit, pfle­gen Men­schen ge­wöhn­lich die Freiheit zu wäh­len. Die zentrale Stel­lung des Be­griffs der Ent­schei­dung", er­kennt Krockow richtig, "ist keine zu­fäl­li­ge. Denn darin, daß der Mensch sich ent­scheiden kann, liegt seine Wür­­de; in­dem er sich ent­scheidet - oder der Ent­schei­dung ausweicht - trägt er Ver­ant­wor­­tung. Wir rech­nen ihm zu. Wenn die Möglichkeit der Ent­schei­dung verdeckt oder ge­­leugnet wird, wenn der Mensch nur als Werk­zeug über ihn hin­weg­grei­fender Mäch­te verstanden wird, dann entfällt auch jede Mög­lich­keit, ihm Wür­de zuzuerkennen." [4]

Aber nicht unsere Wertschätzung der Freiheit ist ausschlagge­bend, son­dern die evidente Er­fah­rung, daß wir die Entscheidungsfrei­heit tatsächlich haben. Schon Ock­ham sah die Freiheit als eine durch Ver­nunft­gründe nicht beweis­bare Erfah­rungstatsa­che an. Es gibt keine Beob­achtungen, mit denen diese Er­fahrung wider­legt werden könnte. Der Wille ist der nicht kausal aus sich selbst ableitbare Kern jedes "Vo­­lun­tarismus". Nietzsche hat das dich­te­risch hübsch einmal so aus­­ge­drückt, "wir freien Geister" hätten einen "Über­­schuß an freiem Wil­len" [5] , auf­grund dessen wir uns unsere Nor­men selbst schaffen. Als postulierter Kern seines Den­kens ist der freie Wille dem De­zi­sio­­ni­sten selbst unmittelbar evi­­dent. Einem La Mettrie, der die Men­schen für Ma­schinen hielt, unfähig zum frei­en Willen und ihren Trie­ben unter­worfen, würde er nur kühl ant­wor­ten: "Daß du keinen frei­en Wil­­len hast, glaube ich dir gern, aber zwei­fe­le bitte nicht an mei­nem." So ge­se­hen sind wir nicht nur zur freien Ent­schei­dung berechtigt; sondern auch "ver­ur­teilt": Das Wertbe­wußtsein de­ter­­miniert den Men­schen nicht, "son­dern läßt ihm Spielraum, für oder ge­­gen den gefühlten Wert zu ent­scheiden. Hier al­so liegt der Punkt sei­ner Frei­heit, und zugleich die Be­grenzung sei­ner Freiheit. Er ist zur Ent­­schei­dung gezwungen; es ist nicht für ihn ent­schieden. Er muß entschei­den." [6]

Es ist müßig, wenn Mo­ralisten über die Sünd­haf­tig­keit räsonieren oder die Ent­schei­dungs­freiheit theo­retisch an­er­kennen - der Würde we­gen - sie aber mit einem spitzfindigen Ta­schen­spie­ler­trick gleich wie­der in der Ver­sen­kung ver­schwin­den las­sen: "Sicher kannst du dich frei entscheiden, aber ange­sichts der schlimmen Er­fah­run­gen, wo­hin das alles führen kann, sollst du dich na­tür­lich für ein Leben ent­scheiden, daß ich für mo­ra­li­sch oder gott­gefällig halte." So ver­steht der naturrechtli­che Norma­tivist unter sittlicher Autonomie aus­drück­lich nicht, der Mensch dürfe "das sittlich und rechtlich Sein­sol­lende selbst (autonom) setzen." Er soll sich viel­mehr "in freier Selbst­verant­wor­tung" zu einem Gesollten entschließen, "das ihm in den Grund­zü­gen vor­ge­ge­ben ist." [7] Soll das Freiheit sein? "Alles, was Sol­lenscha­rakter hat, kann eben­des­wegen nicht Freiheitscharak­ter tragen." [8] Auch Schopen­hauer hat es als "hand­greifli­chen Wider­spruch" durch­schaut, "den Willen frei zu nen­nen und doch ihm Ge­setze vor­zu­schrei­ben, nach denen er wollen soll: - »wollen soll!« - hölzernes Eisen!" [9] Nein, es gibt nur ei­ne Freiheit, und das ist die un­geteilte gan­ze. Wer sie will, kann sie sich nehmen, und wer sie ver­schmäht, be­sitzt sie den­noch.

Der Mensch eine Maschine?

Darwin hatte den Menschen in einen stam­mes­ge­schicht­lichen Zu­sam­­men­hang gestellt. Später wurde nachgewiesen, daß wir eine gan­ze Reihe in­stink­tiver Ver­hal­tensabläufe mit unseren tie­rischen Ah­nen und den heu­ti­gen Pri­maten gemein haben. Daraufhin tat sich eine merk­­wür­dige Al­lianz zu­sammen und verkürzte die Er­geb­nisse der Ver­­hal­tens­for­schung auf diejeni­gen Instinkt­hand­lungen und funk­tio­na­­len Ab­­läufe, die uns angeboren sind. Den einen Flü­gel dieser Al­li­anz bil­deten die­jeni­gen Morali­sten, welche die ganze An­thropologie mit der Behaup­tung in Mißkredit bringen woll­ten, sie reduziere den Men­­­schen auf ein Tier, das gar nicht moralisch han­deln müsse und kön­ne, weil es nur auf angeborene Schlüssel­reize reagiere. Auf diese Wei­­­se ent­schuldige die Verhaltensforschung die Ag­gression und jedes an­­de­re unmora­lische Verhalten und müsse deshalb abgelehnt werden. Den an­de­ren Flügel der Allianz bilden bezeichnenderweise jene phi­lo­so­phisch und nicht naturwissen­schaft­lich inspi­rierten An­thropologen, die ge­ra­de das tatsächlich glauben und daraus ge­sellschaftspolitische Schlüsse zie­­­hen möchten. Diese Schlüsse füh­ren zu politischen Mo­del­len, die der Frei­heit des einzelnen kei­nen Stellenwert einräumen, weil er an­geb­­­­­lich sowieso nur schlimme Sachen machen und sich nie von seinen In­­stinkten befreien könne. Das könne nur durch strenge Auf­sicht staat­­­licher und gesellschaftli­cher In­sti­tu­tio­­nen ver­hin­dert werden. Kurz: Der Mensch sei an sich böse, und des­­halb müsse er streng be­­auf­­sich­tigt wer­den.

Dieses Vorurteil: die Bio­lo­gie er­kläre den Menschen zum Spiel­ball an­ge­bore­ner Ver­hal­tens­pro­gramme, ist schier unaus­rott­bar. [10]   Tat­säch­­­lich dage­gen betont die Ver­haltensforschung, daß die Fähigkeit zur freien Willensent­schei­dung kei­neswegs von stammesge­schichtlich er­­erbten Instinkten aus­ge­schlos­sen wird. Im Ge­gen­­teil: er wird durch sie überhaupt erst frei. Jeder kennt die an­schau­lichen Bei­spiele der Ver­­haltens­forschung, zum Bei­spiel weibliche Formen als "Aus­lö­se­reiz" für männliches Sexual­ver­halten, das be­rühm­­te "Kind­chen­sche­ma" - also große Augen, Stubsnase und hohe Stirn - als Auslö­ser für Brut­­pfle­geverhalten, auf den wir bei Kätzchen so sicher an­sprechen wie bei Kindern, und viele an­dere. Niemand aber muß auf den "Aus­lö­ser" hin das angeborene Ver­hal­tensprogramm ab­lau­­fen las­sen. Es bil­det nur die jeder­zeit durch den Willen kor­ri­gier­ba­re Basis unseres Ver­­hal­tens. Wir müssen uns nicht ständig be­wuß­te Ge­danken über alles und jedes machen, weil ein Teil un­seres tägli­chen Ver­hal­tens­­reper­­toires instinktiv ab­rollt. Nie­mand muß erst nach­den­ken, ob er einen Bekann­ten auf der Straße beim Grüßen anlächelt. Das be­sorgt ein an­geborenes Ver­hal­tens­pro­gramm für ihn, wenn - ja wenn - er das Lä­­cheln nicht willentlich unter­drückt, was er jeder­zeit kann. Ge­rade die­­se Ver­hal­tensprogramme ent­la­sten uns. Sie halten uns durch ihre Funk­­tio­nen den Kopf frei für die Gedanken­gänge und Ent­schei­dungen, die wir be­wußt treffen wol­len.

Die moderne Naturwissenschaft hat auch die intuitive Vermutung bestätigt, daß grundlegende Moralvorstellungen, die sich bezeichnenderweise in allen mensch­lichen Kulturen finden, auf der Arterhaltung dienenden Verhaltensprogrammen be­ru­hen. Daß ich ein hilflos am Straßenrand liegendes, weinendes Kleinkind auf­nehme und beschütze, ist nicht erst Gebot der Moral: Ich könnte den zwingenden Drang dazu kaum unterdrücken. Dieser Drang ist genetisch in mir fixiert. "Aus evolutions­­theoretischer Sicht ... hat sich alles, was wir heute als moralisch oder unmoralisch ansehen, allmählich entwickelt und dient in erster Linie dem Überleben. So wie die Verhaltensforschung einen entscheidenden Beitrag zu einer Naturalisierung des (menschlichen) Denkens und Erkennens leistet, so leistet sie analog dazu also auch einen wichtigen Beitrag zu einer Naturalisierung der Moral." [11] Doch wenn auch "unser gesamtes moralisches wie auch kognitives Verhalten evolutiv durch Mutation und Selektion entstanden ist und somit in unseren Genen verankert ist", gehört zu unserem Verhaltensrepertoire auch die freie Entscheidung gegen die angestammte Moral. Es sind nämlich durchaus "beide Fähigkeiten, also sowohl das Aufstellen eines hohen ethischen Gebots wie auch das situationsbedingte Durchbrechen eben desselben, in verschiedensten Varianten in unseren Genen angelegt." [12] Wir können darum den Forschungsergebnissen der Genetik, der Soziobiologie und der Hirnforschung zwar glauben, welche Gehirn­regionen bei welchen Gefühlen aktiv sind, welche zwischenmenschlichen Situa­tionen sie auslösen und warum ein genetischer Code für moralanaloge Handlungen der Arterhaltung dient. Daß aus diesem empirischen Sein ein normatives Sollen folge, sagt uns die Biologie aber ausdrücklich nicht. Es bleibt eine "irrige Vorstellung, ... man könnte irgend etwas normativ Verbindliches aus der Biologie ableiten." [13] Sie erklärt uns nicht zu genetisch determinierten Sklaven unserer Triebe, und nimmt uns weder die Last der freien Entscheidung ab noch die Lust auf diese Freiheit.

Die dezisionistische Theorie wäre falsch, gäbe es uns anbefohlene Normen aus irgendeinem Ideenhimmel. Es wäre aber auch ein entscheidender Einwand gegen ihre Richtigkeit, unsere Biologie ließe uns für freie Willensentscheidungen keinen Raum. Vielleicht hätte uns gar ein Gott geschaffen: mitsamt einer unveränderlichen genetischen Anlage zum moralisch "Guten"? Das wäre wahrlich ein Deus ex machina durch die Hintertür. - Doch "keine Angst!", beruhigt uns wieder die Biologie, "die Evolutionstheorie hat gerade auch für dieses starke menschliche Bedürfnis bestens vorgesorgt, denn was sie feststellt, ist nichts anderes, als daß ein jeder lebender Organismus, von der unscheinbarsten Amöbe bis zum gescheitesten aller Affen, die von allen äußeren Einflüssen gänzlich unabhängige Freiheit besitzt, auf die Umwelt so zu reagieren, wie es seinem Wesen nach am klügsten und, bis auf den heutigen Tag, am bewährtesten ist. ... Wer das einmal verstanden hat, wird die Erforschung des Phänomens Leben nicht mehr als bloß materialistisch geistlose Biologie betrachten. Aus einer vermeintlichen Fremdbestimmung durch antro­po­morph bösartig anmutende selbstsüchtige Gene, die uns arme 'Vehikeln' wie maschinenhafte Marionetten gleichsam schicksalhaft  dirigieren, wird in dieser erweiterten evolutionären Perspektive eine autonom unabhängige Selbstbestimmung eines jeden Lebewesens, realisiert durch sein kognitiv selbstorganisatorisches Genom." [14]

Es kann also überhaupt keine Rede davon sein, die Na­tur­wis­sen­schaft stelle den Menschen als eine Art Pawlowschen Hund dar, der wil­lenlos sei­nen Trieben unter­worfen sei. Sie betont vielmehr mit Geh­len, daß er von Na­tur aus ein Kul­turwesen und nicht ein nur trieb­haf­­tes Wesen ist. Jeder weiß, daß wir uns bewußt gegen in­stinktive An­­triebe weh­ren und diese völlig unter­drücken können, wenn wir uns für ein Welt­bild entschieden haben, das den einen oder anderen Antrieb zur Untu­gend oder Sünde erklärt. Die früh­christli­chen Säu­len­hei­­ligen verneinten bewußt ihren an­gebore­nen Trieb, in Ge­mein­schaft mit anderen zu­sammen­leben. Spätere Mön­che und Non­nen entschie­den sich für ein Leben ohne Part­ner­bin­dung und Fa­mi­lie. Wer die Verhaltens­for­schung oder die So­zio­bio­lo­gie nur halb zur Kenntnis nimmt und die angebo­rene Fähigkeit zum fre­ien Willen leug­net, hat Schwierigkeiten mit der Deu­tung solchen Ver­haltens und kann es allenfalls als ir­gend­wie ge­stört oder krank­haft erklären.

Gerade Lorenz als Wegbereiter der ver­gleichenden Ver­hal­tens­for­schung wird nicht müde, in Anlehnung an die Kate­go­rien­leh­re Nicolai Hart­manns die Unter­schied­lichkeit des Menschen ge­genüber der ihn um­ge­­benden Natur zu beto­nen. Je­weils die höhere Seinsschicht weist alle Grund­mer­kmale der nied­rigeren auf, geht aber kategorial über sie hin­aus. Es ist also falsch, ein Haus sei nichts als Steine oder eine Stadt nichts als Häuser. Es ist ebenso falsch, ein Mensch sei nichts als ein Tier oder ein Tier nichts als ein Haufen von Körper­zellen. Wie es unsere Eitelkeit nicht beleidigt, daß wir Beine ha­ben - ob­wohl Frö­sche auch Beine haben - darf es uns auch nicht kränken, daß wir er­erb­te Ver­hal­tenspro­gramme ge­mein­sam ha­ben mit unse­ren na­hen tie­ri­­schen An­ver­wandten. Was uns von ih­nen un­ter­scheidet, ist un­sere Fä­hig­­keit, diesen Pro­grammen nicht zu fol­­gen kraft der gei­sti­gen Lei­stung des freien Willens. Das Denken - der so­genannte Geist - kann nicht un­ab­hän­gig über unserer physio­logischen Be­schaf­fen­heit schwe­ben, über­la­gert diese aber kategorial. Das hat entscheidende Aus­wir­kun­gen auf die Kausalität: Hartmann hatte betont, die Ontologie müs­se die äußere Wirk­lichkeit phäno­menge­recht be­schreiben. Wir dürfen da­nach keinem Ereignis oder Phänomen Seinskate­go­rien zuschreiben, die ihm nicht innewohnen. Lorenz folgt Hart­mann und weist die zwangs­läu­fi­gen Fehlschlüsse auf, die bei Verstößen ge­gen die Re­geln phä­nom­engerech­ter Kategorial- und systemge­rechter Kausa­lanalyse eintreten müssen. Sol­chen Fehlschlüssen waren jene Deter­ministen aufgeses­sen wie La Mettrie und Schopenhauer :

La Mettrie hatte den Menschen für "nichts als" eine Maschine ge­halten [15] und meinte, sein Verhalten anhand der Regeln der Mecha­nik erklären zu kön­nen: "Wenn ich Gutes tue oder Böses, wenn ich am Morgen tugendhaft bin und laster­haft am Abend; immer liegt der Grund in meinem Blut. Es macht mich heiter, ernst, unter­neh­mungs­lu­stig oder übermütig. ... Es kann langsam flie­ßen oder schnell, stoc­ken oder sich zersetzen. Und davon, ob es diesen oder jenen Weg nimmt, hängen meine Ge­danken ab, die im Mark mei­nes Gehirns ge­bil­det und in meine Nerven einge­speist werden, hängt ab, ob ich etwa in einem Park nach rechts oder links abbiege. Dennoch glaube ich hin­terher, ei­ne 'freie' Wahl getrof­fen zu haben - und bin stolz auf meine 'Freiheit'. Doch auch die freiesten unserer Handlungen gleichen den ge­nann­ten. Wir sind einer unaus­weislichen Determina­tion unter­worfen, aber wir wol­len auf keinen Fall Skla­ven sein! Welche Narren sind wir doch!" [16] Gera­de ebenso führt Scho­pen­hauer alles Verhalten zu­rück auf äußere Gründe und Mo­tive un­seres Han­delns und auf un­se­­ren angeborenen Charakter. Bei­des zusammen determi­niere voll­stän­­dig unsere kon­kreten Ent­scheidungen: "Wie jede Wir­kung in der un­­be­leb­ten Natur ein notwendiges Pro­dukt zweier Fak­toren ist, nämlich der hier sich äu­ßernden allgemeinen Naturkraft und der diese Äuße­­rung hier hervor­rufenden ein­zelnen Ur­sache; gerade so ist je­de Tat ei­nes Menschen das not­wendige Produkt seines Cha­rakters und des ein­­getretenen Motivs. Sind diese beide gegeben, so er­folgt sie un­aus­bleib­lich." [17]

Welche Zie­le das im ein­zel­nen sind, hängt natürlich auch von seiner Er­zie­hung, In­dok­tri­na­tion und Ge­wöh­nung an kulturelle Nor­men ab. Die grund­sätzli­che Fä­hig­keit zur freien Wert­ent­scheidung wird aber nicht da­durch aus­ge­schlos­sen, daß sich viele lieber für das Vertrau­te ent­schei­den; eben­so­­we­nig durch die Er­fahrung, daß manche Leute mit ih­rem freien Wil­­l­en so wenig an­zufangen wis­sen wie ein Nicht­­schwim­mer mit sei­nen Glied­ma­ßen, die ihn zum Schwimmen an sich be­fä­hi­gen. Wer sich selbst Ziel, Maß, Wert und Sinn zumißt, ist frei. Der Mensch ist der ein­zige nachweis­bare Träger dieses Ver­mö­gens. 

 La Mettrie und Scho­pen­hauer leiten unzulässiger­weise die Regeln für das höhe­re Sy­stem des menschlichen Geistes aus den­je­nigen her, die nur für nie­dere Systeme gelten. "Es ist hier der Fehler der Ge­biets­­überschreitung" be­gangen. [18] Wenn "ein radi­ka­ler Mecha­ni­­zis­mus das ganze Weltgeschehen mit den Gesche­henskategorien der klassi­schen Mechanik erklären" will, würden deren Gesetz­lich­keiten dazu ein­­fach nicht ausreichen. "Wenn der Mechani­zist gleichzeitig die höheren Eigenge­setzlichkei­ten vernachlässigt oder gar leug­net, durch die sich die höheren Schichten von den tie­feren ab­setzen und über sie erheben, so entsteht der leicht einzusehende, aber schier unausrott­bare Fehler der Grenz­überschreitung »nach oben«. Alle soge­nann­ten »Ismen«, wie Mechanizismus, Biologismus, Psy­chologismus usw., ma­ßen sich an, die für die höheren Schichten kennzeichnenden und ihnen allein eige­nen Vorgänge und Gesetz­lichkeiten mit den Gesche­henskate­gorien der tiefe­ren zu er­fassen, was ein­fach nicht geht" [19]

 Zwar beruht alles organische Leben auf anorganischer Chemie. Es un­ter­liegt de­ren Regeln, aber es geht in seinen Eigengesetzlichkeiten weit über sie hinaus. Aus dem Anorganischen folgte bloß die Mög­lichkeit der Entste­hung von Leben. Das Anorgani­sche war not­wen­di­ge, aber nicht hinreichende Be­dingung für das Leben. Hinzutreten mußten optimale physikalische Be­din­gungen und der Zufall, der in un­serem Sonnen­system Leben nur auf der Erde zuließ. Der Zufall ist der akausale Motor der Evolu­tion, und die Selek­tion ar­beitet kausal an seinen Pro­dukten. [20] Sie brachte aus dem Anorgani­sche das Leben mit seinen biologischen Eigengesetzlich­keiten hervor, und dieses wie­der das geistige Leben. Seine Ge­setze schließen jede Re­duk­tion ei­nes Wil­len­s­entschlusses auf bloß chemische, mechanische oder in­stinkt­ge­bundene Kau­sali­tät aus.

Das Denken hat den Men­schen zum Be­wußtsein sei­ner selbst geführt und re­flek­tiert sich selbst - das ist neu. In seiner praktisch unzertrennbaren Ein­heit von Den­ken, Fühlen und Wollen bildet der Mensch ein System höherer Art. Syste­me höherer Inte­grations­ebene sind aber aus ei­nem niedrigeren nicht de­duzier­bar. [21] "Jeder höhe­re De­terminationstypus ist dem niederen ge­genüber durchaus neue Formung, die sich über ihm erhebt": ein "kategoriales No­vum". [22] Es bildet ein neues Ge­samt­sy­stem eigener Art mit aufein­ander be­zo­ge­nen Subsystemen, eine hö­here Einheit, ein eigenes Funk­ti­ons­subjekt: eine Gestalt. Um ein höchst ent­wickeltes System handelt es sich bei der Ganzheit des menschlichen Ichs, die sich zu­weilen mehr ihres Wil­lens und zu­weilen mehr ihrer Vernunft bedient. Es ist prinzi­piell nicht kausal vor­her­seh­bar, wel­chen konkre­ten Inhalt ein menschlicher Wille und welchen Inhalt ein Denk­pro­zeß haben wird - auch wenn Herrn Scho­­penhau­er "der Verstand stille steht" bei der Vorstellung, hier das "ab­solut Zufäl­lige" am Werke zu se­hen.

Die menschliche Persönlichkeit und ihr Wille bilden ein höheres "System", des­sen Gesetzlichkeiten sich aus denen ihrer biologischen oder chemischen Grundlage grund­sätzlich nicht deduzieren lassen. Wohl gehorcht unserer Körper den Gesetzen aller Chemie, wohl be­wegen sich unsere Gliedmaßen mechanisch, wohl sind unsere physio­logischen und psychischen Bedürfnisse kausal erklärbar: Und doch stehen wir als Per­sönlichkeit über diesen Kausali­täten der niederen Seinskategorien. Worin - wenn nicht in der Freiheit und Ver­ant­wort­lichkeit - könnte das Wesen des Mensc­hen sonst beste­hen? Was am Men­schen chemisch ist, unterliegt den Regeln der Che­mie. Was an ihm me­chanisch ist, unterliegt den Gesetzen der Mechanik. Was an ihm organisch ist, un­terliegt den Regeln der Biologie und der Me­di­zin. Dem allen unterliegt aber nicht das geistige Sein des Menschen. Das Höhere baut auf dem Nie­de­ren auf, nicht umgekehrt. "Da­rum gibt es keine Personalität und keine Teleo­logie ohne Be­wußt­sein, kein Be­wußt­sein ohne organisches Le­ben, kein orga­nisches Le­ben ohne kausales Naturgefüge ... , keine Kausal­mechanik ohne ma­the­ma­ti­sche Gesetzlichkeit, kein mathemati­sches Sein oh­ne ontologisch pri­märe Grundverhält­nisse." [23]

Das menschliche Denken bildet ein höheres Funktionssystem und unter­­liegt spe­zifi­schen Eigen­gesetz­lichkeiten. Diese Persönlichkeit stellt ein un­teil­bares Ganzes dar von Körper, Denken, Fühlen, Er­ken­nen und Wollen. Diese sind menschliche Fähigkeiten und Tätigkeiten, aber nicht das "Wesen des Men­sc­hen" oder "Dinge an sich". Eine Per­­son sei nur Verstand oder nur Geist oder nur Wille, ist so ab­surd wie die Be­haup­tung, das eigentliche We­sen des Au­tos sei der Motor oder sei das Lenk­rad oder sei das Fahren. Alle kom­­ple­xen Gebilde hö­herer Ordnung beziehen alle Kom­po­nen­ten der niede­ren Ord­nun­gen in sich ein und assimilieren sie in ihr We­sen. [24] - Weder mit den Ge­setzen der Mathematik, der Me­chanik, der Che­­mie, der Ana­tomie oder der Medizin allein sind darum die Abläufe vor­herzusagen, die im mensch­lichen Verstande stattfinden. Daher las­­sen diese sich auch nicht rück­wärts­blickend kausal aus jenen er­klä­ren. Der Wille kann nicht auf den ererb­ten Charakter eines Men­schen und auf ihn ein­wir­ken­de Reize reduziert wer­den. Die heutige Vor­stellung von den Gren­zen des Kausalen erlaubt es durchaus, uns den Willen wie auch den Verstand vorzustellen als wirklich frei, als nicht kau­sal determiniert, als System hö­herer Art. Es bewegt sich bewußt in der chaoti­schen Sphäre des Zufalls und instrumentiert das bloß Kausale in fina­ler Vor­aussicht. -

Doch beherrschen unsere Instinkte nicht praktisch doch? Ist frei, wer dem Se­xualtrieb unterworfen, der Aggression und vielen anderen In­stinkten? Kon­rad Lo­renz als Naturwissenschaftler hat immer wieder betont, wie sehr teleo­nome Ver­­hal­tens­wei­sen in allen Kulturen als wert­­voll betrachtet wer­den, aso­ziale da­gegen als wertwidrig. Sie ähneln ein­an­der auffallend auch im Ver­gleich der hi­storischen Epo­­chen. Wir wer­­den keine Kultur und kein hi­stori­sches Volk finden, das nicht die Mut­terliebe als idealen Wert verklärt hat. Ent­­­sprechende Be­fun­de las­sen sich für eine Vielzahl von Werten erhe­ben und von ihren an­ti­­the­ti­schen Spiegelbildern: den Unwerten. Wir kön­nen geradezu Tu­­gend­ka­ta­loge aufstellen, die Tugenden und Un­­­tu­genden ka­te­go­ri­sie­ren und eine "Wertetafel" errichten. Aus die­sen Über­ein­stim­mun­gen zieht Lo­renz den Schluß, daß unsere Wert­urteile Ver­hal­tens­weisen mit ar­ter­halten­dem Nut­zen stabili­sieren. Am Bei­spiel der Mut­ter­liebe ist das unmit­telbar ein­sichtig. Ohne müt­ter­liche Liebe und Auf­­opfe­rungs­bereit­schaft wä­ren wir Mensc­hen ver­mutlich als Art aus­ge­storben. Liegen Wer­ten al­so so etwas wie In­stinkt­­pro­gramme zu­grunde, und: Könn­ten wir sie, "bloß in­stinkthaft fest­­ge­legt", noch für wertvoll hal­ten? In wel­cher Bezie­hung stehen sie letzt­­lich zu un­se­rem Willen?

Die treibende innere Kraft, etwas als wertvoll oder gerecht einzu­schät­zen, ist im­mer ein Gefühl. [25] Ein Wertgefühle hat jeder. Es ist we­sent­li­cher Be­­standteil un­se­rer seelischen Erlebniswelt. Die ge­fühls­­mä­ßigen Grund­­­­­mög­­lich­keiten beru­hen auf schon vor­mensch­li­chem Erbe: Wer einen Hund be­sitzt, würde keinen Augenblick daran zwei­­feln, daß dieser Freude und Angst emp­finden kann. Man­che mensch­­li­chen Ge­füh­le, Handlun­gen, Ursituationen und Ereignisse keh­ren im­mer wie­der. Zu ihnen ge­hören Hunger und Durst, Freude und Leid, Leben und Tod, Liebe und Haß. In diesen Ge­gen­über­stel­lun­­gen zeigt sich bereits eine Ab­straktion. Eine weitere Ab­strak­tions­lei­­stung ist es, an­genehme Phänomene als für uns gut und un­an­ge­nehme als für uns bö­se zu­sammen­zufassen. Vermutlich können wir gar nicht anders wer­ten: Zwi­schen dem uns Zuträglichen und der Wer­tung gut sowie dem uns Ab­trägli­chen und der Wertung böse besteht ein natürlicher Zu­sam­men­hang.

Grundsätzlich genauso werten wir auf höheren Abstraktionsstufen: Wir fassen Ge­genstände wie Schwert und Spieß unter Sammelbe­zeichnungen wie "Waffe" zu­sam­men, menschliche Lebenslagen und Verhaltensweisen wie Streit oder Freund­schaft, und das natürliche Verlangen nach wertender Ein­ordnung erklimmt mit uns immer hö­he­re Gipfel der Abstraktion, bis wir komplexe Interaktionsfor­men und Ordnungsideen wie Bolschewismus oder Faschismus für uns werten: nach demsel­ben Prinzip, demsel­ben Grundbe­dürfnis, uns zu orientie­ren und eine Richtschnur für unser Verhalten zu fin­den: Das Abträgli­che räumen wir beiseite oder gehen ihm aus dem Wege; das Zu­trägli­che suchen wir auf oder führen es herbei. Das Risiko eines Irr­tums oder einer unzulässigen Verallgemeinerung, die Gefahr des Abstur­zes, steigt allerdings von Ab­straktionsgipfel zu Abstraktions­gipfel. Mit dem Grad der Verall­gemeinerung nimmt aber der Realitätsgehalt ab: "Mein Dac­kel Waldi" ist allemal realer als ein gedachter "Dackel schlechthin". Dackel im allgemei­nen als bösartige Wadenbeißer zu be­zeichnen ist daher riskan­ter, als "meinen Waldi" so zu beurteilen. Je abstrakter wir den Gegen­stand unse­rer Wertung fassen, desto gerin­ger ist der Grad seiner Realität; und je ab­strakter notge­drungen unse­re Wertung in gut oder böse wird, desto weniger hat sie mit der Wirklichkeit zu tun.

Wir wollen uns also nur mit größter Vorsicht dem Phänomen der auffal­lenden Übereinstimmung von Grundwerten in allen Kulturen nähern. Lorenz hat sicher Recht: Wir können nicht anders, als ein be­stimm­ten Grundbe­dürf­nissen und Stan­dardsituationen ent­spre­chen­des Ver­hal­ten als gut und ein ab­weichendes Verhalten als böse zu be­wer­ten. Die Bereitschaft, einen Grundka­talog unver­wech­sel­barer Ge­fühle zu erleben, gehört zu einem of­fenbar "art­er­hal­ten­den sinn­­vol­len Sy­stem des menschli­chen Gesellschaftsle­bens", ist al­so teleonom. [26] Art­erhaltenden Wert in den un­vor­denk­li­chen prä­historischen Zeit­läuf­ten hatte es für unsere Vorfahren si­cher­lich, im­mer komplexere Vor­gänge als gut oder böse zu wer­ten. Das mag vor allem dem So­zial­verhalten zugute gekommen sein, dessen Funk­tionieren dem Zu­sam­menhalt von Fa­mi­lien- und Stam­mes­ver­bän­den galt. Als gut gal­ten bis in histo­rische Zeit und gelten in den mei­sten heu­tigen Kul­tu­ren so­ziale Grund­tugenden: Die Mutter­liebe, die Freun­destreue, die Hilfs­be­reit­schaft, die Ag­gressionsbereitschaft ge­­genüber Angreifern und an­­dere mehr. So mauserten sich bestimmte die Ge­mein­­schaft ­­stüt­zende Ver­hal­tens­wei­sen von instinktiven Ver­haltens­pro­­gram­men zu gera­dezu arche­typi­schen Sozial­tu­gen­den. Auf grobe Ver­­­stöße ge­gen diese "Nor­men des sozialen Verhaltens sprechen wir da­her - Lorenz zufolge - mit einer ganz an­deren Ge­fühls­qualität an. Der Mörder und der rück­­sichtslo­se Terrorist lö­sen Ge­fühle des Grauens und der Em­pö­rung aus. Wir emp­­finden sie als Un­menschen, aber keineswegs als ver­ächt­­lich oder »ge­mein«." Auch das Rechtsgefühl soll auf phy­lo­gene­tisch pro­gram­mier­ten An­la­gen beruhen, de­ren Funk­ti­on es sei, der In­fil­tra­tion durch aso­ziale Art­ge­nossen ent­ge­genzuwir­ken. Der "ame­rikanische Rechts­phi­­losoph Peter H. Sand und ebenso Al­bert Ehren­zweig kamen auf­grund ver­­gleichen­der Unter­suchungen des Grup­­pen­projekts der Cor­nell Universität 'Common Core of Legal Sy­stems' zu der be­mer­kens­wer­­ten Meinung, daß das Rechts­empfinden des normalen Menschen in an­geborenen Programmen verankert sei." So könnte sich erklären, daß wir "auf grobe Verstö­ße gegen die Nor­men des so­zialen Verhal­tens" mit besonde­rer Ge­fühlsqualität an­spre­chen. [27]

Auf die­sem schwankenden Boden allein werden wir aber keine kom­ple­xen po­li­ti­schen Ordnungsvorstellungen bauen können. Nur daß eine soziale Ord­nung nicht stabil sein wird, die un­mittelbar auf ur­­sprünglichen sozialen Un­wer­ten auf­baut, dürfte nicht zweifelhaft sein. Das Wis­sen um ein an­­gebo­renes Bedürfnis, die Welt in gut und bö­se zu sor­­tieren, hilft uns inhaltlich nicht weiter; ebenso­wenig die Ein­sicht, daß es na­­tür­liche gute soziale Tu­­genden und böse Un­tu­gen­den gibt, also so­zia­le und asoziale Ver­hal­tensmu­ster. Die Stam­mes­ge­schich­te kann uns leh­ren, mit welchen Gefühlen und Vor-Wertun­gen wir vor­aus­sicht­lich auf solche zwischenmenschliche Situa­tionen rea­gie­­ren könn­ten, die für das Le­bensumfeld steinzeitlicher Sammler- und Jäger­hor­den ty­pi­sch waren. Wir dürfen diese Werthaltungen, so­weit sie tat­säch­lich angeboren sind, aber nicht unkritisch und un­re­flek­­tiert für die moderne Mas­senkultur übernehmen. Je kom­ple­xer eine Fra­ge sozialer Wertung ist, und je weiter sie sich von den ar­che­­ty­pi­schen Fra­gestellungen vor­geschichtlicher Zeiten entfernt, de­sto grö­­ßer ist die Gefahr, durch "instinktive" Wert-Vorur­teile in eine Sack­­­gasse ge­lenkt zu werden. Zu den wirk­lich brennenden Zeit­fra­gen sagt uns die Stammesge­schichte gar nichts: Müssen wir Or­gan­handel aus ethi­schen Bedenken verbieten? Wie stehen wir zur Invitro-Fer­ti­li­sa­­­tion? Dür­­fen wir bis zu einem bestimmten Schwanger­schaftsmonat ab­­­trei­ben, oder handeln wir unmoralisch? Angeborene te­leo­nome Wert-Vor­­­urteile können uns da nicht helfen. Sollen wir vielleicht un­se­re Hal­tung zur Frage der To­desstrafe für Frau­en- oder Kinder­mör­der nur von der Ant­wort abhängig ma­chen, die unser Gefühl uns gibt?

Wie alle angeborenen Verhaltensprogramme unterliegt letztlich auch das na­türli­che Wertempfinden dem Vorrang der Willensfreiheit. Nur sie kann uns hel­fen, bei einan­der widersprechenden Antworten des angeborenen Moral­empfin­dens eine ethi­sche Abwägung vor­zu­neh­­­men. Wenn "natürlicher Wert" gegen "natürlichen Wert" streitet und unser Gefühl hin- und hergeris­sen ist, fangen die Probleme nun ein­­­­mal erst an. Im Konfliktsfall müssen wir uns über den einen oder den anderen Wert hin­wegsetzen können. Diese Entschei­dung wird viel­leicht bei einer Frau an­ders ausfal­len als bei ei­nem Mann, bei ei­nem Ledigen anders als bei einem Famili­envater, und bei einem Lei­stungs­­starken anders als bei einem Leistungsunfähigen. Im Angebot des stammesge­schichtlich Ererbten findet fast jeder, was er sucht und braucht. Es kann sich auch je­der über sein Empfinden des sozialen Gut und Böse hin­weg­setzen, wenn er nur will. Diese Erfahrung dürfte noch niemandem an sich selbst ver­borgen geblieben sein. Auch für die Geltung der­je­ni­gen Nor­men, die das "na­tür­liche Wert­­emp­fin­den" uns eingibt, können und müs­sen wir uns zunächst frei ent­schei­den.

Werte sind in uns entstehende Vorstellungen und Sollensnormen, die ihre Exi­stenz unserem zweckgerichteten Willen verdanken; nicht etwa unterlie­gen wir dem ihren. "Die Ohnmacht der Werte ist," wie Hart­mann formulier­te, "die Be­din­gung der Macht der Menschen. Durch sie gewinnt er den Spiel­raum seiner Frei­heit, wird ein der Zu­rechnung fähiges Wesen. Und da­mit erst wird er ein sittli­ches Wesen - ein Wesen, dessen Verhalten mo­ra­lisch 'gut' oder 'böse' ist." 

 

Forsetzendes Kapitel: Ordnung und Chaos



[1] Safranski, Wieviel Wahrheit braucht der Mensch? S.136 ff.

[2] Krockow, Die Entscheidung, S.4.

[3] Hume, Eine Untersuchung, 8.Abschitt, 2.Teil, S.125.

[4] Krockow, Die Entscheidung, S.2.

[5] Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr.44.

[6] Hartmann, Die Metaphysik der Probleme, S.25.

[7] Weinkauff, Der Naturrechtsgedanke..., NJW 1960, 1689 (1693).

[8] Hartmann, Ethik, S.760.

[9] Schopenhauer, Werke Bd.4, § 53, S.124.

[10] Eibl-Eibesfeldt, Wider die Mißtrauensgesellschaft, S.22.

[11] Franz M. Wuketits, Die Entdeckung des Verhaltens, Darmstadt 1995,S.159.

[12] Adolf Heschl, Das intelligente Genom, Berlin 1998, S.333, 334. Der Autor ist Geschäftsführer des Konrad Lorenz Instituts für Evolutions- und Kognitionsforschung in Altenberg.

[13] Adolf Heschl, a.a.O., S.324.

[14] Adolf Heschl, a.a.O., S.352.

[15] La Mettrie, Der Mensch als Maschine, S.77; ders.: Über das Glück, S.12 f., 71.

[16] La Mettrie, Über das Glück, S.66 f. [109].

[17] Schopenhauer, Über die Freiheit des menschlichen Willens, Ethik, Werke Bd.7, III 4. S.89.

[18] Vgl. Hartmann, Ethik, S.656; ders. ausdrücklich gegen La Mettrie S.678.

[19] Lorenz, Die Rückseite des Spiegels, S.61, vgl.Hartmann, Ethik, S.797.

[20] Monod, Zufall und Notwendigkeit, S.110.

[21] Lorenz, Die Rückseite des Spiegels, S.55.

[22] Hartmann, Ethik, S.667, 598.

[23] Hartmann, Ethik, S.681.

[24] Hartmann, Ethik, S.797.

[25] Ebenso Hartmann, Die Metaphysik der Probleme, S.22, Tammelo, Zensur durch die Toten, S.76.

[26] Lorenz, Der Abbau des Menschlichen, S.113.

[27] Lorenz, Zitate in diesem Textabsatz aus: Der Abbau des Menschlichen, S.122 f.; Die acht Todsünden, S.62,66.