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Auszug aus: Klaus Kunze, Mut zur Freiheit, 1998, S.64 1998
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ORDNUNG UND CHAOS

Ordnung und Chaos

Während der Normativist an eine nicht hinterfragbare Ordnung glaubt, der Mensch und Kosmos unterworfen sind und die es allen­falls zu vollstrec­ken gilt, muß der Dezi­sionist erst die Vorfra­ge ent­schei­den, ob er sich und die Welt über­haupt einer Ord­nung un­ter­wer­fen will. Wer Ordnung we­der schaf­fen noch sich ent­schließen kann, sich irgend einer Ordnung zu un­ter­werfen, landet in der nack­ten Be­lie­bigkeit der indivi­duellen Willkür. Es gibt immer einzelne, die be­wußt aus der Abwesenheit jedweder Ordnung ihren Vorteil zu ziehen su­chen. Wenn wir der fil­mischen Selbst­dar­stellung Ame­ri­kas Glauben schen­­ken dürfen, hatte sein "wilder Westen" be­vor­zugt jenen aso­zia­len Typus des Glücksritters ange­lockt, der die Welt gerne in einen Hob­bes 'schen Krieg aller gegen alle verwandeln möch­te. Solche Men­schen haben sich bewußt ge­gen jede Ordnung ent­schieden. Sie leben vom Chaos und fühlen sich wohl in ihm.

Diejenigen Dezisionisten dagegen, die sich für eine bestimmte Ord­nung der menschlichen Verhältnisse ent­scheiden, treffen sich mit den Nor­­mativi­sten im Kampf für eine Ordnung gegen das Cha­os. Dabei kann die konkrete Ord­nung, für die der Normenbenutzer sich ent­schieden hat, dieselbe sein, an die der Normen­die­ner glaubt. Nur han­delt jener, mit Worten Mohlers , immer "im Namen des 'Ganzen', im Na­men der uni­ver­sa­len Ord­nung" und dient ihr. Der Normenbenut­zer dient nie­mandem. Auf der Grundlage des ontologi­schen  No­mi­na­lis­mus hält er nur sich selbst und kon­krete Men­schen­grup­pen für wirk­lich exi­stie­rend. Alle idealen Ord­nungen sind Ausge­burten der Vor­stel­lungs­kraft.

Darum han­delt er bescheiden im eigenen Namen, nicht aber im Namen von Göt­tern oder Fik­tio­nen wie Seinsordnungen oder dem Menschen an sich. Ihn entmutigt es durchaus nicht, allein im Chaos zu stehen und ge­ord­nete, ge­formte Wirklichkeit im­mer wieder neu schaf­fen zu müs­sen. Gerade aus die­sem ewigen Konflikt, der im­mer­wäh­ren­den Auf­gabe und Auf­forde­rung zur schöpferischen Gestal­tung, be­zieht er seine Zuversicht. Es macht ihm ganz einfach Spaß, sich stets neu mit dem Verfall und mit entgegenste­henden Men­schen und Mäch­ten aus­einanderzusetzen, wie das Kind am Mee­resstrand nicht müde wird, kurz vor der Flut noch seine Sandburg zu bauen, ge­rade damit die Wellen an ihr knab­bern können und obwohl es ge­nau weiß, daß mor­gen nichts mehr von ihr zu sehen sein wird.

Der Normendiener hingegen braucht den Glauben an eine mensch­li­chem Geist prinzipiell erkennbare vorgegebene Seinsordnung. Er wird, so münze ich Mohlers Worte über den Universalisten und den No­minalisten um, "niemals begreifen, wes­halb der" Dezisio­nist "durch das Komplexe der Wirk­lichkeit kei­neswegs gelähmt wird. Im Ge­gen­teil: daß er die Wirklichkeit als Chaos erfährt, reizt ihn, die­sem Chao­ti­schen et­was Gestaltetes ge­gen­überzu­stellen. Die Antwort auf das un­endliche Chaos ist die über­sichtliche, in sich geschlossene Form." [1] Sie ist es, die vom Me­nschen bleibt. In­dem wir das vorge­fundene Chaos willkürlich formen und gestalten, verwirklichen wir uns als schöp­ferische Menschen. Der Dezisionist hält darum die Tä­tig­keit des For­mens an sich und ihr Er­geb­nis: die ästhetische Form selbst, für wirklich; Moral­vorstel­lungen da­gegen für Einbildung. Sei­nem Leben eine gestaltete Form zu geben liegt ihm am Herzen; nicht das morali­sie­rende Räsonnement. Wenn sowieso nichts anderes von uns bleibt und nichts über uns hinausweist, kann es nur noch darum gehen, wie wir le­ben und was wir schaffen und hin­terlassen. -

Das Weltbild von normativistischen und von dezisionisti­schen Ver­tre­­tern des Ord­nungsdenkens beruht auf unterschiedli­chen Denk­struk­turen: Sie be­antworten die Frage unterschiedlich, ob erst das Ei da war oder die Henne. Dem Verhältnis zwi­schen Ei und Henne ent­spricht hier das zwischen einer normativen Ordnung und ihrem Schöp­fer. Für den Dezisionisten muß zum Legen normativer Eier im­mer eine dezisio­nistische Henne da sein, weil es ei­ne Seinsordnung ohne Schöpfer ebenso­wenig geben kann wie ein Ei ohne Henne. Für den Normativisten dagegen ist klar, daß kein Schöpfer eine Ord­nung schaf­fen kann, der nicht zuerst selbst aus einer un­vordenkli­chen Sein­s­­ord­­nung hervorgegangen ist, geradeso wie auch die Lege­henne zuvor aus ei­nem Ei geschlüpft sein muß. Diese Frage, wer zuerst da war, läßt sich hin­sichtlich des kosmologischen Urgrundes alles Seien­den nicht mit Mitteln der Logik beantwor­ten. Anders im Bereich mensch­­li­­chen Zusammen­lebens: Wir Menschen und unsere haarigen Vor­­fah­ren existieren nach­ge­wie­se­ner­maßen seit Zeiten, in denen diese ge­wiß noch keinerlei moralische Bedenken hatten.

So verschieden die Denkstile der Normativisten und der Dezi­sionisten ist, so ver­blüffend oft läuft ihr Denken aber auf dieselben Denk­­inhalte, also auf dieselbe kon­kre­te Ord­­nung hinaus. Nur leiten sie die einen aus meta­physi­schen, also jen­sei­ti­­gen An­nahmen her, die an­­de­ren aus dies­seitigen, also phy­­si­schen Voraus­set­zun­gen. Schon die An­tike war sich die­ser Ge­gen­posi­tionen bewußt, wenn sie Nomos und Physis un­terschied. Nüìïò kommt von íÝìåéí und ist stamm­ver­wandt mit Nahme und nehmen. Am Beginn aller Ordnung stand für die noch nomadischen Griechen das Nehmen von Weide­land. Seine Auf­teilung begründete die Ordnung. Nomos be­zeichnete jetzt das Zu­ge­teilte und Fest­ge­setz­te, die An­ord­nung und schlechthin die Ord­nung. Für Nor­mati­visten ist ihre Ordnung etwas Heiliges. Schon alt­grie­chische Auf­klä­rer schie­den dagegen den realen Kern von seiner idealen Hülle: "Nomos wird Gegen­satz zu Physis, wird 'bloßes' Gel­ten, 'reine' Setzung, bloßer Befehl." [2] Nach Hip­pias seien wohl alle im blo­ßen Mensch­sein phy­sisch gleich; unser No­mos sei aber je­weils ver­schieden. [3] Damit formulierte er eine dezisionistische Grund­an­nah­me.

Bis heute blieb es Merkmal aufklärerischen Denkens, das ideale und für alle Menschen verschiedene Geistige vom allgemein­mensch­li­chen realen Sein streng zu unterscheiden. Allen Menschen gemein sind bloß ihre Physio­logie und unter­geord­nete Instinkte. Das Mit­­telal­ter aber überlieferte aus dem anti­ken Erbe vor­nehm­lich die für die christ­li­che Me­taphy­sik grund­le­gende pla­­toni­sche Ideen­­lehre und mit ihr die spe­ku­la­tive Idee eines von den Ge­set­zen eines per­sönlichen Gottes erfüll­ten Kosmos. Die­se Lehre trieb mit dem Natur­recht eine späte Blüte, das von einer all­gemeinen, idea­­len Wertordnung aus­­geht: In ihr verorten Mo­ra­listen bis heute ihre Vor­­ur­teile und Wün­sche von einer an­geblichen Natur des Menschen schlecht­hin. Je­­der­mann soll sich ihr unterwerfen, sonst gilt er als Un­mensch oder Extremist.

Das naturwissenschaftliche Weltbild

Seit der Re­naissance gingen Wissenschaftler zunehmend ohne wer­ten­des Vor­ver­ständ­nis em­pirisch vor. Ihnen wurde evi­dent, daß das Universum ei­nem in sich wi­der­spruchs­freien Satz von Na­tur­­gesetzen unterworfen ist. So sah Galilei die Na­tur als ein voll­kom­men ge­ord­ne­tes Gan­zes an: Sie handele mit Not­wen­dig­keit und ver­letze nie ihre ei­ge­nen Ge­­setze. [4] Damit hat er das Credo jedes na­tur­wis­sen­schaftlich Den­ken­den formu­liert. Er betrachtet die Menschen als Teil des Natürlichen und den kausal wirkenden Naturgesetzen unterworfen.

Die Normativismen behaupten: Allem Sein liegt eine unvor­denk­li­che, sinn­volle Ordnung zugrunde. Ihr seien wir unterworfen. Die mo­der­ne Na­tur­wissen­schaft dage­gen lehrt: Am Anfang war das Chaos. Alles Stoffliche un­ter­liegt nämlich dem Ge­setz des Ord­nungs­ver­­lu­stes, der Entropie: es ­ten­diert immer zum Un­ge­ord­ne­ten, Chao­ti­schen. Ihm wohnt keine erkennbare Quelle sinnvoll ordnender In­for­ma­tion in­ne. Im chaoti­schen nur Materiellen waltet keine hei­lige Ordnung. - Auf die­­ser Vorstellung baut der Dezisionismus auf: Nur ein personales Be­­wußtsein kann Sinn stiften und Ordnung schaffen. Als hoch­dif­fe­ren­ziertes Endprodukt der Evolution vermag das erst der Mensch.

Vor unse­ren Zeiten gab es nur blindes Walten natürlicher Kräfte. Dem Zerfall und der Auf­lö­sung ent­ge­gen wirkt nämlich das Gesetz der Kau­­sali­tät: Aus dem kos­­mi­schen Urchaos bil­deten sich pla­ne­ta­rische Sy­steme, aus dem Urmeer Ein­zeller und aus haarigen Höh­len­wil­den zur Ge­mein­schafts­­bil­dung fä­hige homines sa­pien­tes. Es entstan­den also im­­mer dif­feren­zier­tere Strukturen, die mehr auf ihre Um­­welt be­­­zo­ge­ne Infor­ma­tionen ent­hiel­ten als die ih­nen vor­ange­gan­ge­­nen. Sie ver­körperten da­­mit je­weils die "intel­li­gen­­te­re", ge­ord­ne­tere Seins­­form. "Leben frißt ne­gative En­tro­­pie. ... Alle leben­­den Systeme sind so be­schaffen, daß sie Energie an sich zu rei­ßen und zu spei­­chern ver­mö­­gen." [5] Sie sind so konstru­iert, daß sie "in akti­ver Aus­ein­­­an­der­­set­zung mit ihrer Umwelt eine positive Ener­gie­­bi­lanz erwirt­schaften." [6] Wir sind die jüng­­sten Ab­kömm­lin­ge, die Spit­ze dieser Py­rami­de, und ver­­­kör­pern so ein Höchstmaß an Ord­nung. Wer Ord­­­­nung als Prinzip ver­­tritt, ver­wirk­licht damit sich selbst: ein Seins­prin­zip nämlich, das of­­fen­kundig - aufgrund von Naturgesetzen - in uns ist.

Die Fragen, ob ein Ord­nungs­prinzip die Welt im Inner­sten zusam­men­hält und woher diese Ordnung etwa kommt, sind nur spekulativ zu be­ant­worten. Schon als Frage­formulierungen entstammen sie unserem Er­­fah­rungs­horizont und setzen bereits menschliche Denkmaßstäbe vor­­aus. Denen muß das kos­mi­sche Geschehen aber durchaus nicht un­ter­lie­­gen. Letzte Sinn­fragen stellen sich al­lenfalls hinter der Ord­nung in sich wi­der­­spruchs­freier Naturge­setze, die sich in uns ver­­körpert, aber nicht in ihr. "Unsere Bestimmung war nicht aus­gemacht," faßt Monod die philo­sophi­sche Quintes­senz des naturwissen­schaftlichen Welt­bil­des zu­sammen, "bevor nicht die menschliche Art hervor­trat, die als ein­zige in der belebten Natur ein logisches Sy­stem symbolischer Ver­stän­­digung benützt." Dieses "einmalige Er­eignis" solle uns vor jeg­li­chem Anthro­po­zen­trismus warnen. Der alte Bund zwi­schen Mensch und mythisie­renden Onto­lo­gien sei zerbro­chen. "Der Mensch weiß end­­lich, daß er in der teil­nahms­losen Uner­meßlich­keit des Uni­ver­sums al­lein ist, aus dem er zufäl­lig her­aus­trat. Nicht nur sein Los, auch seine Pflicht steht nir­gendwo ge­schrieben." [7]

Diese Auffassung ist strikt naturwissenschaftlich und darum anti­me­­ta­phy­si­sch, anti-teleologisch und anti-normativistisch. Damit for­mu­liert sie Denk­voraus­setzun­gen des Dezisionismus. Sie setzt ihren Ehr­geiz nicht in Speku­la­tionen über letz­te Sinn­fragen, sondern macht die erkennbare Ord­nung des Kos­mos zum Gegenstand wis­sen­schaft­li­cher Beobachtung und Er­for­schung. Gäbe es Götter, würde sie diese zäh­len, messen oder wie­gen wol­len. Zu Göt­tern zu beten, die nie ant­wor­ten, kommt ihr nicht in den Sinn. Der Nach­weis eines Schöp­fer­got­tes würde mehr Fragen auf­­wer­fen als be­antwor­ten. Das na­tur­wis­sen­schaftliche Weltbild, so nimmt Monod die zen­tralen Aus­sa­gen des De­zisionismus vorweg, zerstört alle sinnvoll-werthaften Ontogenien, auf de­nen die normativistische (Monod formuliert "animi­­sti­sche") Tradition be­­ru­hen sol­l: die Werte, die Moral, die Pflich­ten, Rechte und Verbote. Wenn der Mensch "diese Botschaft in ihrer vollen Be­deutung auf­nimmt," muß er "endlich aus seinem tausend­jährigen Traum erwachen und seine totale Verlas­sen­heit, seine radikale Fremd­heit er­ken­nen. Er weiß nun, daß er einen Platz wie ein Zi­geuner am Ran­de des Universums hat, das für sei­ne Musik taub ist und gleich­gültig gegen seine Hoffnungen, Lei­den oder Ver­brechen." [8] Wer sich dadurch nicht ent­mutigen läßt, sondern gerade darin seine Frei­heit zur Sinngebung sieht, ist Dezi­sio­nist.

Die erkennbare Welt ge­horcht dem Gesetz des bloß Kausalen. Ni­co­lai Hart­mann hat - Kant [9] fol­­gend - auf die häufige Verwechselung des bloß Zweckmä­ßigen mit dem Zwecktätigen hin­gewiesen. Weil wir Menschen Zwecke setzen und Dinge als Mittel benutzen, meinen wir überall im Zweckmäßigen das Ergeb­nis einer Zwecktä­tigkeit zu se­hen. Das Zweckmä­ßige kann aber allein durch blindes Walten der Kau­sali­tät entstehen: So war das Organische aus dem Anorganischen ent­standen, und so ver­lief die ganze biologische Evolution. Daß es ei­ne Zweck­mäßigkeit ohne Zweck­tätig­keit gibt, "ist eine ganz ein­fache, in sich evidente Ein­sicht." [10]

Hartmann sieht keinen Grund, warum bei der unüberseh­baren Man­nig­fal­tig­keit dessen, was zufällig zustandekommt, nicht dann und wann auch etwas Zwecktaugli­ches entstehen sollte. Das folge einfach aus den Ge­setzen der Stati­stik. Einmal ent­standen hebt sich aber das Zweck­mäßige da­durch vom Un­zweckmäßigen ab, daß es längeren Bestand hat. Die Zweck­mäßig­keit ei­nes Gebildes in sich selbst, etwa sei­ner Teile füreinander, bedeu­tet eben, daß es Bestand hat, Gleich­ge­wicht und Stabilität. [11] Die moderne Mo­lekular­biologie und Bio­che­mie führen die Entstehung des Lebens und seine Evolution auf drei Na­turgesetze zurück, durch welche Hartmanns philoso­phi­sche Er­wä­gun­gen bestä­tigt werden. Sie bilden in ih­rem Zusammenwirken "das ka­te­goriale Novum der organischen Determina­tion". [12] Sie beruht auf der autono­men Mor­phogenese, der reproduktiven Invarianz und der Tele­onomie. Die erste: der sponta­ne Aufbau komplexerer Struk­tu­ren mit hö­he­rem Infor­mations­ge­halt, findet sich auch bei Kri­stallen und ist eher ein Me­­chanismus als eine speziell biologische Fähigkeit. Das Gesetz der In­varianz besagt für Orga­nis­men, daß jede Generation ihren ge­ne­ti­schen Code unver­ändert an die fol­gende weitergibt. [13] Teleo­­nomie ist die von Hart­mann er­kannte Zweck­mäßig­keit, diese Sta­bi­lität des Ge­noms zu erhalten. Monod de­finiert Teleo­nomie als die Über­tragung des für die Art charak­teristi­schen Invarianzge­halts von einer Ge­ne­ra­tion auf die nächste. [14] Damit meint er, daß bei der Repro­dukti­on der Ge­­nerationen die arterhaltenden Eigenschaften durch erfolgreiche Fort­­pflan­zung belohnt werden.

Teleonomie als biologischer Terminus ist damit eine rein kausale Ka­te­go­rie. Sie folgt nämlich der strengen Notwendigkeit kausal deter­­mi­nierender Prozesse: Die Se­lektionstheorie sieht die Invarianz ge­ne­­ti­scher Eigenschaf­ten als ursprüng­lich an. Te­leonomie ist hingegen eine sekundäre Eigen­schaft. [15] Aufgrund der Invarianz können Arten über Jahrmillionen genetisch völlig stabil bleiben. Die invariante Re­pro­­­duktion weist allerdings Ausrut­scher aus: die gele­gentlichen Mu­ta­tionen. Wann sie auftreten, unterliegt dem Zufall, ist aber statistisch quan­­tifi­zierbar. Solche Zu­fälle werden durch den Invari­anz­me­cha­nis­mus "eingefangen, konserviert und repro­duziert," sofern sie te­leo­nom sind. Nicht der Arterhaltung zwecktaugliche Mutatio­nen pflan­zen sich nicht fort. So verwandelt die Invarianz den Zufall mit Mo­­nods Wor­ten "in Ordnung, Regel, Notwendigkeit", und er re­sü­miert: "Aus einem völlig blinden Spiel kann sich per de­finitionem alles ergeben, auch das Se­hen." Wir erken­nen also hinter der bio­lo­gi­schen Ter­mi­no­lo­gie Mon­ods sehr deutlich, daß die auto­nome Mor­pho­­genese, die In­va­rianz und die Teleo­no­mie rein kausale Wirkkräfte sind. Ohne sich der philosophischen Be­griff­lich­keit von Kausalität und Finalität zu be­die­nen, betont der Biologe, daß Zufall und Not­wen­­­digkeit "objektive" Ge­ge­ben­heiten und keines­falls "projektiv ge­plan­­te" Abläufe sind. Was am Menschen biolo­gisch geworden ist, ist höchst zweckmäßig im Sinne Hartmanns, aber nicht Ergebnis einer zweck­tätigen Handlung. Wäh­rend die Teleonomie als biolo­gischer Be­griff beinhaltet, daß die ihr unterworfenen Evolutions­prozesse rein kausal ablau­fen, be­haupten ver­schiedene Teleolo­gien, die Evolution sei ein finaler Schöp­fungs­pro­zeß. Dieses teleologische Denken ver­wirft Monod als un­wis­sen­schaft­lich. Es lasse sich mit dem Ob­jek­ti­vi­täts­postulat der Na­tur­wis­sen­schaft nicht vereinba­ren.

Monod zufolge wird jedes "Gesamtsystem schon durch unzählige Steu­­e­rungsme­chanismen zusammengehalten." Nur solche Mutationen bleiben er­halten, "die den te­leonomen" - auf seine Selbst­er­hal­tung gerichteten - "Appa­rat in seiner schon ein­ge­schlagenen Orien­tie­rung zumindest nicht schwächen, sondern viel­mehr stärken oder gar - was sicher viel seltener vor­kommt - mit neuen Möglich­keiten be­rei­chern." [16] Das Aufein­anderwirken der Teile zu ei­nem stabilen Ganzen nennt auch Konrad Lorenz ei­ne System­ei­gen­schaft. Seit Jahr­mil­liarden erzeugte der blinde, bloß kausale Zu­fall un­zählige Kombi­na­tionen ein­zelner Elemente zu­einander. Im­mer wenn zuvor von­ein­an­der un­ab­hän­gige Systeme zusammenge­schaltet werden, kommt es zu einer "Fulguration": Es entstehen völlig neue Sy­stem­ei­gen­schaf­ten, ein neues Gan­zes, das vorher selbst in Andeu­tungen noch nicht da war. [17] -

Das phy­si­ka­li­sche Den­ken des 20. Jahr­hun­derts geht von einer vier­­­di­men­sio­na­len Raum-Zeit-Vor­stel­lung aus. Be­griffe wie Raum, Zeit und Er­eig­nis sind nach Einstein "freie Schöp­fun­gen der mensch­li­chen Intel­ligenz, Werk­zeuge des Den­kens, die da­zu dienen sollen, die Er­lebnisse in Zu­sam­menhang zu brin­gen und sie dadurch besser über­schau­en zu kön­nen." Heute ver­steht die Phy­sik Ma­terialismus in ei­nem sehr um­fas­sen­den Sinn, der ener­getische Vor­gän­ge mit ein­be­zieht und sich nur vom Spi­ri­tua­lis­mus ab­grenzt; er kennt nämlich kei­ne "Geister". Materie ist nur eine ande­re Er­scheinungsformen der Energie. Diese "Dynamisierung des Materiebegrif­fes ... bedeu­tete buch­stäb­lich den Gnadenschuß auf den Substanzbegriff" [18] und entzog der Vor­stellung die Grundlage, moralische oder andere Ideen als etwas sub­stanzielles anzuse­hen.

Schon Ein­stein forderte mit Recht, "die Grund­­begriffe na­tur­wis­­senschaftli­chen Den­kens aus den pla­tonischen olym­pischen Ge­fil­den herunterzuholen und zu ver­su­chen, de­ren irdi­sche Herkunft auf­zu­decken." Für solches "phy­si­ka­li­sches wie über­haupt na­tur­wis­sen­schaft­liches Denken ist es cha­rak­te­ristisch, daß es im Prin­zip mit den 'raum­artigen' Begriffen al­lein aus­zu­kom­men trach­tet und mit ihnen alle gesetzli­chen Be­zie­hun­gen aus­zu­drücken strebt. Der Phy­siker sucht Farben und Tö­ne auf Schwin­gun­gen zu re­du­zie­ren, der Phy­sio­lo­ge Denken und Schmerz auf ner­vö­se Prozesse, der­­art, daß das Psychi­sche als solches aus dem Kau­sal-Nexus des Sei­en­den elimi­niert wird." [19] Die Wissen­schaft braucht kein Jenseits, um das Diesseits zu erklären. Sie hat das alte philosophische Leib-Seele-Problem gelöst: Sie wies die materielle Be­dingtheit mentaler Phänomene nach und "reduzierte die kognitiven Phänomene auf ihr neuronales Substrat", weshalb nach Wolf Singer , Direktor am Max-Planck-In­stitut für Hirnforschung in Frankfurt, alles darauf hindeutet, "daß die Hirn­forschung auf dem Weg ist, ihren reduktionistischen Ansatz auf alle relevanten Ebe­nen lückenlos auszudehnen. Sie wird die Phänomene neuronaler Kom­mu­ni­ka­tion auf ihre molekularen und zellulären Grundlagen zurückführen und ist dabei, Ver­­hal­tens­phänomene, einschließlich psychischer und mentaler Funktionen, durch neu­ronale Kommunikationsprozesse zu erklären." [20]

Die Philosophie hat zur Kenntnis nehmen müssen, daß sich die Sonne nicht um die Erde dreht und daß alle metaphysischen Spekulationen auf Grundlage des geozentrischen Weltbildes keinen Realitätsgehalt haben. Bis der letzte Scholastiker das wußte, vergingen freilich Jahrhunderte. Vielleicht geht es heute ein wenig schneller, bis sich unter Metaphysikern herumgesprochen haben wird, daß es keinerlei naturwissenschaftlichen Anlaß gibt, von Geistern oder Seelen zu spekulieren und Weltdeutungen auf solche Spekulationen zu gründen.

 

Fortsetzendes Kapitel: Die Gestalt



[1] Mohler, Die nominalistische Wende, hier S.194, oben S.201.

[2] Carl Schmitt, Nomos - Nahme - Name (1959), in: ders., Staat, Großraum, Nomos, S.573  (578).

[3] Kondylis, Nur Intellektuelle behaupten..., S.687; Welzel, Naturrecht, S.15 f.

[4] Galileo Galilei, Opere, VII, 43 und Brief vom 21.12.1613, zit nach Kondylis, Metaphysikkritik, S.177.

[5] Lorenz, Die Rückseite des Spiegels, S.33.

[6] Eibl-Eibesfeldt, Der Mensch, das riskierte Wesen, S.16 nach H. Hass, Das Energon, 1970.

[7] Monod, Zufall und Notwendigkeit, S.157.

[8] Monod, Zufall und Notwendigkeit, S.151.

[9] Kant, Kritik der Urteilskraft, § 84, S.385.

[10] Hartmann, Ethik, S.202.

[11] Hartmann, Teleologisches Denken, S.95.

[12] Hartmann, Ethik, S.679.

[13] Monod, Zufall und Notwendigkeit, S.33, 29 f.

[14] Monod, Zufall und Notwendigkeit, S.31.

[15] Alle Zitate dieses Absatzes: Monod, Zufall und Notwendigkeit, S.38,94 f.,23,36 ff.

[16] Monod, Zufall und Notwendigkeit, S.111.

[17] Lorenz, Die Rückseite des Spiegels, S.47 ff.

[18] Kondylis, Der Niedergang..., S.160.

[19] Einstein, Relativitätstheorie, S.89 f.

[20] Wolf Singer, Auf dem Weg nach innen, Ein kognitives System versucht sich selbst zu ergründen; 50 Jahre Hirnforschung in der Marx-Planck-Gesellschaft, Festrede in Göttingen am 26.2.1998 zum 50jährigen Bestehen, FAZ 27.2.1998.