Während
der Normativist an eine nicht hinterfragbare Ordnung glaubt,
der Mensch und Kosmos unterworfen sind und die es allenfalls
zu vollstrecken gilt, muß der Dezisionist erst die Vorfrage
entscheiden, ob er sich und die Welt überhaupt einer Ordnung
unterwerfen will. Wer Ordnung weder schaffen noch sich
entschließen kann, sich irgend einer Ordnung zu unterwerfen,
landet in der nackten Beliebigkeit der individuellen Willkür.
Es gibt immer einzelne, die bewußt aus der Abwesenheit jedweder
Ordnung ihren Vorteil zu ziehen suchen. Wenn wir der filmischen
Selbstdarstellung Amerikas Glauben schenken dürfen, hatte
sein "wilder Westen" bevorzugt jenen asozialen
Typus des Glücksritters angelockt, der die Welt gerne in einen
Hobbes
'schen Krieg aller gegen alle verwandeln möchte. Solche Menschen
haben sich bewußt gegen jede Ordnung entschieden. Sie leben
vom Chaos und fühlen sich wohl in ihm.
Diejenigen
Dezisionisten dagegen, die sich für eine bestimmte Ordnung
der menschlichen Verhältnisse entscheiden, treffen sich mit
den Normativisten im Kampf für eine Ordnung gegen das Chaos.
Dabei kann die konkrete Ordnung, für die der Normenbenutzer
sich entschieden hat, dieselbe sein, an die der Normendiener
glaubt. Nur handelt jener, mit Worten Mohlers
, immer "im Namen des 'Ganzen', im Namen der universalen
Ordnung" und dient ihr. Der Normenbenutzer dient niemandem.
Auf der Grundlage des
ontologischen
Nominalismus hält er nur sich selbst und konkrete Menschengruppen
für wirklich existierend. Alle idealen Ordnungen sind Ausgeburten
der Vorstellungskraft.
Darum
handelt er bescheiden im eigenen Namen, nicht aber im Namen
von Göttern oder Fiktionen wie Seinsordnungen
oder dem Menschen an sich.
Ihn entmutigt es durchaus nicht, allein im Chaos zu stehen und
geordnete, geformte Wirklichkeit immer wieder neu schaffen
zu müssen. Gerade aus diesem ewigen Konflikt, der immerwährenden
Aufgabe und Aufforderung zur schöpferischen Gestaltung,
bezieht er seine Zuversicht. Es macht ihm ganz einfach Spaß,
sich stets neu mit dem Verfall und mit entgegenstehenden Menschen
und Mächten auseinanderzusetzen, wie das Kind am Meeresstrand
nicht müde wird, kurz vor der Flut noch seine Sandburg zu bauen,
gerade damit die Wellen an ihr knabbern können und obwohl
es genau weiß, daß morgen nichts mehr von ihr zu sehen sein
wird.
Der
Normendiener hingegen braucht den Glauben an eine menschlichem
Geist prinzipiell erkennbare vorgegebene Seinsordnung. Er wird,
so münze ich Mohlers
Worte über den Universalisten und den Nominalisten um, "niemals
begreifen, weshalb der" Dezisionist "durch das Komplexe
der Wirklichkeit keineswegs gelähmt wird. Im Gegenteil:
daß er die Wirklichkeit als Chaos erfährt, reizt ihn, diesem
Chaotischen etwas Gestaltetes gegenüberzustellen. Die
Antwort auf das unendliche Chaos ist die übersichtliche, in
sich geschlossene Form."
[1]
Sie ist es, die vom Menschen
bleibt. Indem wir das vorgefundene Chaos willkürlich formen
und gestalten, verwirklichen wir uns als schöpferische Menschen.
Der Dezisionist hält darum die Tätigkeit des Formens an sich
und ihr Ergebnis: die ästhetische Form selbst, für wirklich;
Moralvorstellungen dagegen für Einbildung. Seinem Leben
eine gestaltete Form zu geben liegt ihm am Herzen; nicht das
moralisierende Räsonnement. Wenn sowieso nichts anderes von
uns bleibt und nichts über uns hinausweist, kann es nur noch
darum gehen, wie wir leben und was wir schaffen und hinterlassen. -
Das
Weltbild von normativistischen und von dezisionistischen Vertretern
des Ordnungsdenkens beruht auf unterschiedlichen Denkstrukturen:
Sie beantworten die Frage unterschiedlich, ob erst das Ei da
war oder die Henne. Dem Verhältnis zwischen Ei und Henne entspricht
hier das zwischen einer normativen Ordnung und ihrem Schöpfer.
Für den Dezisionisten muß zum Legen normativer Eier immer eine
dezisionistische Henne da sein, weil es eine Seinsordnung
ohne Schöpfer ebensowenig geben kann wie ein Ei ohne Henne.
Für den Normativisten dagegen ist klar, daß kein Schöpfer eine
Ordnung schaffen kann, der nicht zuerst selbst aus einer unvordenklichen
Seinsordnung hervorgegangen ist, geradeso wie auch die
Legehenne zuvor aus einem Ei geschlüpft sein muß. Diese Frage,
wer zuerst da war, läßt sich hinsichtlich des kosmologischen
Urgrundes alles Seienden nicht mit Mitteln der Logik beantworten.
Anders im Bereich menschlichen Zusammenlebens: Wir Menschen
und unsere haarigen Vorfahren existieren nachgewiesenermaßen
seit Zeiten, in denen diese gewiß noch keinerlei moralische
Bedenken hatten.
So
verschieden die Denkstile der Normativisten und der Dezisionisten
ist, so verblüffend oft läuft ihr Denken aber auf dieselben
Denkinhalte, also auf dieselbe konkrete Ordnung hinaus.
Nur leiten sie die einen aus metaphysischen, also jenseitigen
Annahmen her, die anderen aus diesseitigen, also physischen
Voraussetzungen. Schon die Antike war sich dieser Gegenpositionen
bewußt, wenn sie Nomos und Physis unterschied. Nüìïò kommt von íÝìåéí und ist stammverwandt mit Nahme und nehmen. Am Beginn aller Ordnung stand für die noch nomadischen Griechen
das Nehmen von Weideland. Seine Aufteilung begründete die
Ordnung. Nomos bezeichnete jetzt das Zugeteilte und Festgesetzte,
die Anordnung und schlechthin die Ordnung. Für Normativisten
ist ihre Ordnung etwas Heiliges. Schon altgriechische Aufklärer
schieden dagegen den realen Kern von seiner idealen Hülle:
"Nomos wird Gegensatz zu Physis, wird 'bloßes' Gelten,
'reine' Setzung, bloßer Befehl."
[2]
Nach Hippias seien
wohl alle im bloßen Menschsein physisch gleich; unser Nomos
sei aber jeweils verschieden.
[3]
Damit formulierte er eine dezisionistische
Grundannahme.
Bis
heute blieb es Merkmal aufklärerischen Denkens, das ideale und
für alle Menschen verschiedene Geistige vom allgemeinmenschlichen
realen Sein streng zu unterscheiden. Allen Menschen gemein sind
bloß ihre Physiologie und untergeordnete Instinkte. Das Mittelalter
aber überlieferte aus dem antiken Erbe vornehmlich die für
die christliche Metaphysik grundlegende platonische
Ideenlehre und mit ihr die spekulative Idee eines von den
Gesetzen eines persönlichen Gottes erfüllten Kosmos. Diese
Lehre trieb mit dem Naturrecht eine späte Blüte, das von einer
allgemeinen, idealen Wertordnung ausgeht: In ihr verorten
Moralisten bis heute ihre Vorurteile und Wünsche von einer
angeblichen Natur des Menschen schlechthin. Jedermann soll
sich ihr unterwerfen, sonst gilt er als Unmensch oder Extremist.
Das naturwissenschaftliche Weltbild
Seit
der Renaissance gingen Wissenschaftler zunehmend ohne wertendes
Vorverständnis empirisch vor. Ihnen wurde evident, daß
das Universum einem in sich widerspruchsfreien Satz von
Naturgesetzen unterworfen ist. So sah Galilei die Natur
als ein vollkommen geordnetes Ganzes an: Sie handele mit
Notwendigkeit und verletze nie ihre eigenen Gesetze.
[4]
Damit hat er das Credo jedes
naturwissenschaftlich Denkenden formuliert. Er betrachtet
die Menschen als Teil des Natürlichen und den kausal wirkenden
Naturgesetzen unterworfen.
Die
Normativismen behaupten: Allem Sein liegt eine unvordenkliche, sinnvolle Ordnung
zugrunde. Ihr seien wir unterworfen. Die moderne Naturwissenschaft
dagegen lehrt: Am Anfang war das Chaos. Alles Stoffliche unterliegt
nämlich dem Gesetz des Ordnungsverlustes, der Entropie:
es tendiert immer zum Ungeordneten, Chaotischen. Ihm
wohnt keine erkennbare Quelle sinnvoll
ordnender Information inne. Im chaotischen nur Materiellen
waltet keine heilige Ordnung. - Auf dieser Vorstellung baut
der Dezisionismus auf: Nur ein personales Bewußtsein kann
Sinn stiften und Ordnung schaffen. Als hochdifferenziertes Endprodukt der Evolution vermag
das erst der Mensch.
Vor
unseren Zeiten gab es nur blindes Walten natürlicher Kräfte.
Dem Zerfall und der Auflösung entgegen wirkt nämlich das
Gesetz der Kausalität: Aus dem kosmischen Urchaos bildeten
sich planetarische Systeme, aus dem Urmeer Einzeller und
aus haarigen Höhlenwilden zur Gemeinschaftsbildung fähige homines sapientes.
Es entstanden also immer differenziertere Strukturen,
die mehr auf ihre Umwelt bezogene Informationen enthielten
als die ihnen vorangegangenen. Sie verkörperten damit
jeweils die "intelligentere", geordnetere
Seinsform. "Leben frißt negative Entropie.
...
Alle lebenden Systeme sind so beschaffen, daß sie Energie
an sich zu reißen und zu speichern vermögen."
[5]
Sie sind so konstruiert, daß
sie "in aktiver Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt
eine positive Energiebilanz erwirtschaften."
[6]
Wir sind die jüngsten Abkömmlinge,
die Spitze dieser Pyramide, und verkörpern so ein Höchstmaß
an Ordnung. Wer Ordnung als Prinzip vertritt, verwirklicht
damit sich selbst: ein Seinsprinzip nämlich, das offenkundig
- aufgrund von Naturgesetzen - in uns ist.
Die
Fragen, ob ein Ordnungsprinzip die Welt im Innersten zusammenhält
und woher diese Ordnung etwa kommt, sind nur spekulativ zu beantworten.
Schon als Frageformulierungen entstammen sie unserem Erfahrungshorizont
und setzen bereits menschliche Denkmaßstäbe voraus. Denen
muß das kosmische Geschehen aber durchaus nicht unterliegen.
Letzte Sinnfragen stellen sich allenfalls hinter der Ordnung
in sich widerspruchsfreier Naturgesetze, die sich in uns
verkörpert, aber nicht in ihr. "Unsere Bestimmung war
nicht ausgemacht," faßt Monod
die philosophische Quintessenz des naturwissenschaftlichen
Weltbildes zusammen, "bevor nicht die menschliche Art
hervortrat, die als einzige in der belebten Natur ein logisches
System symbolischer Verständigung benützt." Dieses
"einmalige Ereignis" solle uns vor jeglichem Anthropozentrismus
warnen. Der alte Bund zwischen Mensch und mythisierenden Ontologien
sei zerbrochen. "Der Mensch weiß endlich, daß er in
der teilnahmslosen Unermeßlichkeit des Universums allein
ist, aus dem er zufällig heraustrat. Nicht nur sein Los,
auch seine Pflicht steht nirgendwo geschrieben."
[7]
Diese
Auffassung ist strikt naturwissenschaftlich und darum antimetaphysisch,
anti-teleologisch und anti-normativistisch. Damit formuliert
sie Denkvoraussetzungen des Dezisionismus. Sie setzt ihren
Ehrgeiz nicht in Spekulationen über letzte Sinnfragen,
sondern macht die erkennbare Ordnung des Kosmos zum Gegenstand
wissenschaftlicher Beobachtung und Erforschung. Gäbe es
Götter, würde sie diese zählen, messen oder wiegen wollen.
Zu Göttern zu beten, die nie antworten, kommt ihr nicht in
den Sinn. Der Nachweis eines Schöpfergottes würde mehr Fragen
aufwerfen als beantworten. Das naturwissenschaftliche
Weltbild, so nimmt Monod
die zentralen Aussagen des Dezisionismus vorweg, zerstört
alle sinnvoll-werthaften Ontogenien, auf denen die normativistische
(Monod
formuliert "animistische") Tradition beruhen
soll: die Werte, die Moral, die Pflichten, Rechte und Verbote.
Wenn der Mensch "diese Botschaft in ihrer vollen Bedeutung
aufnimmt," muß er "endlich aus seinem tausendjährigen
Traum erwachen und seine totale Verlassenheit, seine radikale
Fremdheit erkennen. Er weiß nun, daß er einen Platz wie ein
Zigeuner am Rande des Universums hat, das für seine Musik
taub ist und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden oder
Verbrechen."
[8]
Wer sich dadurch nicht entmutigen
läßt, sondern gerade darin seine Freiheit zur Sinngebung sieht,
ist Dezisionist.
Die
erkennbare Welt gehorcht dem Gesetz des bloß Kausalen. Nicolai
Hartmann
hat - Kant
[9]
folgend - auf die häufige Verwechselung des bloß Zweckmäßigen
mit dem Zwecktätigen hingewiesen. Weil wir Menschen Zwecke
setzen und Dinge als Mittel benutzen, meinen wir überall im
Zweckmäßigen das Ergebnis einer Zwecktätigkeit zu sehen.
Das Zweckmäßige kann aber allein durch blindes Walten der Kausalität
entstehen: So war das Organische aus dem Anorganischen entstanden,
und so verlief die ganze biologische Evolution. Daß es eine
Zweckmäßigkeit ohne Zwecktätigkeit gibt, "ist eine ganz
einfache, in sich evidente Einsicht."
[10]
Hartmann
sieht keinen Grund, warum bei der unübersehbaren Mannigfaltigkeit
dessen, was zufällig zustandekommt, nicht dann und wann auch
etwas Zwecktaugliches entstehen sollte. Das folge einfach aus
den Gesetzen der Statistik. Einmal entstanden hebt sich aber
das Zweckmäßige dadurch vom Unzweckmäßigen ab, daß es längeren
Bestand hat. Die Zweckmäßigkeit eines Gebildes in sich selbst,
etwa seiner Teile füreinander, bedeutet eben, daß es Bestand
hat, Gleichgewicht und Stabilität.
[11]
Die moderne Molekularbiologie
und Biochemie führen die Entstehung des Lebens und seine Evolution
auf drei Naturgesetze zurück, durch welche Hartmanns
philosophische Erwägungen bestätigt werden. Sie bilden
in ihrem Zusammenwirken "das kategoriale Novum der organischen
Determination".
[12]
Sie beruht auf der autonomen
Morphogenese, der reproduktiven Invarianz und der
Teleonomie. Die erste: der spontane Aufbau komplexerer Strukturen
mit höherem Informationsgehalt, findet sich auch bei Kristallen
und ist eher ein Mechanismus als eine speziell biologische
Fähigkeit. Das Gesetz der Invarianz besagt für Organismen,
daß jede Generation ihren genetischen Code unverändert an
die folgende weitergibt.
[13]
Teleonomie ist die von Hartmann
erkannte Zweckmäßigkeit, diese Stabilität des Genoms zu
erhalten. Monod
definiert Teleonomie als die Übertragung des für die Art
charakteristischen Invarianzgehalts von einer Generation
auf die nächste.
[14]
Damit meint er, daß bei der
Reproduktion der Generationen die arterhaltenden Eigenschaften
durch erfolgreiche Fortpflanzung belohnt werden.
Teleonomie
als biologischer Terminus ist damit eine rein kausale Kategorie.
Sie folgt nämlich der strengen Notwendigkeit kausal determinierender
Prozesse: Die Selektionstheorie sieht die Invarianz genetischer
Eigenschaften als ursprünglich an. Teleonomie ist hingegen
eine sekundäre Eigenschaft.
[15]
Aufgrund der Invarianz können
Arten über Jahrmillionen genetisch völlig stabil bleiben. Die
invariante Reproduktion weist allerdings Ausrutscher aus:
die gelegentlichen Mutationen. Wann sie auftreten, unterliegt
dem Zufall, ist aber statistisch quantifizierbar. Solche
Zufälle werden durch den Invarianzmechanismus "eingefangen,
konserviert und reproduziert," sofern sie teleonom sind.
Nicht der Arterhaltung zwecktaugliche Mutationen pflanzen
sich nicht fort. So verwandelt die Invarianz den Zufall mit
Monods
Worten "in Ordnung, Regel, Notwendigkeit", und er
resümiert: "Aus einem völlig blinden Spiel kann sich per definitionem alles ergeben, auch das
Sehen." Wir erkennen also hinter der biologischen
Terminologie Monods
sehr deutlich, daß die autonome Morphogenese, die Invarianz
und die Teleonomie rein kausale Wirkkräfte sind. Ohne sich
der philosophischen Begrifflichkeit von Kausalität und Finalität
zu bedienen, betont der Biologe, daß Zufall und Notwendigkeit
"objektive" Gegebenheiten und keinesfalls "projektiv
geplante" Abläufe sind. Was am Menschen biologisch
geworden ist, ist höchst zweckmäßig im Sinne Hartmanns,
aber nicht Ergebnis einer zwecktätigen Handlung. Während die
Teleonomie als biologischer Begriff beinhaltet, daß die ihr
unterworfenen Evolutionsprozesse rein kausal ablaufen, behaupten
verschiedene Teleologien, die Evolution sei ein finaler Schöpfungsprozeß.
Dieses teleologische Denken verwirft Monod als unwissenschaftlich.
Es lasse sich mit dem Objektivitätspostulat der Naturwissenschaft
nicht vereinbaren.
Monod
zufolge wird jedes "Gesamtsystem schon durch unzählige
Steuerungsmechanismen zusammengehalten." Nur solche
Mutationen bleiben erhalten, "die den teleonomen"
- auf seine Selbsterhaltung gerichteten - "Apparat
in seiner schon eingeschlagenen Orientierung zumindest nicht
schwächen, sondern vielmehr stärken oder gar - was sicher viel
seltener vorkommt - mit neuen Möglichkeiten bereichern."
[16]
Das Aufeinanderwirken der Teile
zu einem stabilen Ganzen nennt auch Konrad Lorenz
eine Systemeigenschaft. Seit Jahrmilliarden erzeugte der
blinde, bloß kausale Zufall unzählige Kombinationen einzelner
Elemente zueinander. Immer wenn zuvor voneinander unabhängige
Systeme zusammengeschaltet werden, kommt es zu einer "Fulguration":
Es entstehen völlig neue Systemeigenschaften, ein neues
Ganzes, das vorher selbst in Andeutungen noch nicht da war.
[17]
-
Das
physikalische Denken des 20. Jahrhunderts geht von einer
vierdimensionalen Raum-Zeit-Vorstellung aus. Begriffe
wie Raum, Zeit und Ereignis sind nach Einstein
"freie Schöpfungen der menschlichen Intelligenz, Werkzeuge
des Denkens, die dazu dienen sollen, die Erlebnisse in Zusammenhang
zu bringen und sie dadurch besser überschauen zu können."
Heute versteht die Physik Materialismus in einem sehr umfassenden Sinn, der energetische
Vorgänge mit einbezieht und sich nur vom Spiritualismus abgrenzt; er kennt nämlich keine "Geister".
Materie ist nur eine andere Erscheinungsformen der Energie.
Diese "Dynamisierung des Materiebegriffes
...
bedeutete buchstäblich den Gnadenschuß auf den Substanzbegriff"
[18]
und entzog der Vorstellung
die Grundlage, moralische oder andere Ideen als etwas substanzielles
anzusehen.
Schon
Einstein
forderte mit Recht, "die Grundbegriffe naturwissenschaftlichen
Denkens aus den platonischen olympischen Gefilden herunterzuholen
und zu versuchen, deren irdische Herkunft aufzudecken."
Für solches "physikalisches wie überhaupt naturwissenschaftliches
Denken ist es charakteristisch, daß es im Prinzip mit den
'raumartigen' Begriffen allein auszukommen trachtet und mit ihnen alle gesetzlichen Beziehungen
auszudrücken strebt. Der Physiker sucht Farben und Töne
auf Schwingungen zu reduzieren, der Physiologe Denken
und Schmerz auf nervöse Prozesse, derart, daß das Psychische
als solches aus dem Kausal-Nexus des Seienden eliminiert
wird."
[19]
Die Wissenschaft braucht kein
Jenseits, um das Diesseits zu erklären. Sie hat das alte philosophische
Leib-Seele-Problem gelöst: Sie wies die materielle Bedingtheit
mentaler Phänomene nach und "reduzierte die kognitiven
Phänomene auf ihr neuronales Substrat", weshalb nach Wolf
Singer
, Direktor am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt,
alles darauf hindeutet, "daß die Hirnforschung auf dem
Weg ist, ihren reduktionistischen Ansatz auf alle relevanten
Ebenen lückenlos auszudehnen. Sie wird die Phänomene neuronaler
Kommunikation auf ihre molekularen und zellulären Grundlagen
zurückführen und ist dabei, Verhaltensphänomene, einschließlich
psychischer und mentaler Funktionen, durch neuronale Kommunikationsprozesse
zu erklären."
[20]
Die
Philosophie hat zur Kenntnis nehmen müssen, daß sich die Sonne
nicht um die Erde dreht und daß alle metaphysischen Spekulationen
auf Grundlage des geozentrischen Weltbildes keinen Realitätsgehalt
haben. Bis der letzte Scholastiker das wußte, vergingen freilich
Jahrhunderte. Vielleicht geht es heute ein wenig schneller,
bis sich unter Metaphysikern herumgesprochen haben wird, daß
es keinerlei naturwissenschaftlichen Anlaß gibt, von Geistern
oder Seelen zu spekulieren und Weltdeutungen auf solche Spekulationen
zu gründen.