Die Gestalt
Den
Gegensatz von Ordnung und Chaos haben wir auf unbewußter
Ebene verinnerlicht: Alles Geordnete dünkt uns edler, "höher"
als das Chaotische. Wir sind fähig zur Gestaltwahrnehmung.
"Ihre Aufgabe ist es, Beziehungen aufzufinden, die zwischen
Sinnesdaten oder auch zwischen höheren Einheiten der Wahrnehmung
bestehen."
[1]
Uns ist evident, daß ein Auto, als
geordnete Einheit betrachtet, mehr ist als die Summe von Blech
und Reifen. Auch "der Mensch besitzt Gestalt, insofern
er als der konkrete, der faßbare einzelne begriffen wird"
[2]
und nicht bloß als anatomisches Sammelsurium.
Immer wenn verschiedene Einzeldinge sich zu einem neuen Ganzen
vereinen, indem sie durch eine geordnete Struktur miteinander
verbunden sind, spricht unsere Gestaltwahrnehmung sie sofort
als Ganzes höherer Ordnung an. Die stammesgeschichtlich
ererbte Fähigkeit zur Gestaltwahrnehmung
[3]
"kategorisiert, sie trägt
Ordnung in die Erscheinungen und hilft uns so, in der Welt
zurechtzukommen."
[4]
Ohne ihre Abstraktionsleistung
könnten wir buchstäblich vor lauter Bäumen den Wald nicht sehen,
obwohl er als einheitliches Wirkungsgefüge unzweifelhaft
da ist. Die Gestaltwahrnehmung hilft uns, in sich konstante
Gegenstände als solche wahrzunehmen.
[5]
So
erkennen wir mit Ernst Jüngers
berühmten Worten: "Ein Mensch ist mehr als die Summe seiner
Atome, der Glieder, Organe und Säfte, aus denen er besteht,
eine Ehe ist mehr als Mann und Frau, eine Familie mehr als
Mann, Frau und Kind. Eine Freundschaft ist mehr als zwei Männer,
und ein Volk mehr, als durch das Ergebnis einer Volkszählung
oder durch eine Summe von politischen Abstimmungen zum
Ausdruck gebracht werden kann." Geistern minderen Ranges
fehlt für dieses Mehr das Auge.
[6]
Ganz richtig führt Dürig
im Sinne Jüngers zur Familie aus: "Die Gemeinschaft einer
Ehe ist nicht nur die 'Summe' zweier Größen, die auch namensrechtlich
als solche erkennbar und wiederum 'scheidbar' bleiben müßten,
sondern - spätestens, wenn das Kind hinzutritt - ein 'Mehr'
und ein 'aliud' im Verhältnis zur Summe ihrer Teile."
[7]
Das
Ganze ist darum mehr ist als die Summe seiner Teile, weil das
aufeinander bezogene Zusammenwirken an sich selbständiger
Systeme zu einem Gesamtsystem neuer, und zwar höherer
Art mit gänzlich neuen Systemeigenschaften führt.
[8]
Die Entstehung einer Ganzheit aus
verschiedenen Teilen ist das wichtigste schöpferische Prinzip
der Evolution.
[9]
Diesem Prinzip unterliegen wir Menschen
allein schon, indem jeder mehr ist als ein Ersatzteillager
nicht aufeinander bezogener Organe, sondern ein ganzer
Mensch. Wir unterliegen diesem Prinzip aber auch hinsichtlich
unseres sozialen Zusammenlebens: Dieses wird durch eine
uns verbindende Ideen, Kultur, Sitte und Sprache aufrecht
erhalten. Wenn verwandte Menschen zu einem solchen Ganzen zusammenwirken,
nennt man das mit Comte
[10]
, analog dem anatomischen Aufbau
des Menschen, organisch. "Wesentlich am Organischen
ist die lebendige Einheit des Ganzen, widergespiegelt
von seinen Teilen, die wiederum Eigenleben besitzen; die
gleichzeitige Freiheit und Dienstschaft der Teile, die Wechselwirkung
zwischen ihnen und dem Ganzen. Das Leben des Ganzen, gesichert
durch den Dienst der Teile, das der Teile behütet von der Kraft
und der Macht des Ganzen."
[11]
Dabei
gilt stets: "Einer organischen Konstruktion gehört
man nicht durch individuellen Willensentschluß, also durch
Ausübung eines Aktes der bürgerlichen Freiheit, sondern
durch eine tatsächliche Verflechtung an."
[12]
Diese Verflechtung ist die bestimmte
Beziehung, in der die Angehörigen einer Gruppe untereinander
stehen aufgrund der natürlichen Eigenschaft des Menschen
als homo socialis:
als gemeinschaftsfähiges Wesen. Die Verflechtung mit anderen
aufgrund sozialer Strukturen befähigt die Gruppe zu qualitativ
höheren Leistungen, als sie einem einzelnen prinzipiell
möglich wären. Hauptleistungen sind das Handeln in Gemeinschaft
und der sich ansammelnde Wissenserwerb durch Tradition.
"Wenn wir die Attribute 'niedriger' und 'höher' in erstaunlich
gleichem Sinne auf Lebewesen wie auf Kulturen anwenden,
so bezieht sich diese berechtigte Wertung unmittelbar auf
den Gehalt an unbewußtem oder bewußtem Wissen, der diesen
lebenden Systemen eignet, gleichgültig, ob er durch Selektion,
Lernen oder explorative Forschung erworben wurde und ob
er im Genom, im Gedächtnis des Einzelwesens oder in der Tradition
einer Kultur aufbewahrt wurde."
[13]
Radbruch
hat die in uns angelegte Gegensätzlichkeit der Werte des freien
Eigenwillens und der sozialen Einordnung klar erkannt und
beide durch die Kultur als dritte Wertkategorie verbinden wollen.
Er sah diese in ganz ähnlicher Weise wie Lorenz als Gemeinschaftswerk.
Kern der Gesellschaft sei ein Vertragsverhältnis. Die Gesamtheit habe man sich als Organismus nach Art des Körpers zu denken,
die Gemeinschaft kultureller Wertschöpfung aber nach Art einer Bauhütte.
"Die Ideale dieser drei sozialen Formen des menschlichen
Zusammenlebens sind schlagwortmäßig ausgedrückt: Freiheit,
Macht, Kultur. Das individualistische Ideal, die Freiheit,
hat parteipolitisch in den liberalen, in den demokratischen
und in den sozialistischen Parteien Gestalt gefunden,
...
die überindividualistische, organische Lehre ist dagegen
die Grundlage der autoritären oder konservativen Parteien,
nach welcher der Staat, das Ganze, nicht um der Glieder willen,
sondern die Glieder um des Ganzen willen da sind."
[14]
Wer die liberale Idee verabsolutiert,
löst Volk und Staat auf. Wer das organische Volks- und Staatsdenken
verabsolutiert, begründet einen Kollektivismus. Wer dagegen
beide Werte, Freiheit und Gemeinschaft, für menschlich schlechthin
und für unverzichtbar hält, muß sich vor der absoluten
Gesellschaft und vor dem absoluten Staat hüten. Er muß
diese gegensätzlichen Werte verbinden und versöhnen.
Fortsetzendes
Kapitel: Der individuelle Normgeltungsanspruch