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Auszug aus: Klaus Kunze, Mut zur Freiheit, 1998, S.64 1998
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DIE GESTALT

Die Gestalt

Den Ge­gen­satz von Ord­nung und Chaos haben wir auf unbe­wuß­ter Ebene verin­nerlicht: Alles Geord­nete dünkt uns edler, "höher" als das Chao­tische. Wir sind fä­hig zur Gestalt­wahr­neh­mung. "Ihre Auf­gabe ist es, Bezie­hungen aufzufin­den, die zwi­schen Sinnesdaten oder auch zwischen höheren Einheiten der Wahr­nehmung beste­hen." [1] Uns ist evi­dent, daß ein Auto, als geordnete Einheit be­trachtet, mehr ist als die Summe von Blech und Rei­fen. Auch "der Mensch be­sitzt Ge­stalt, in­sofern er als der konkrete, der faßbare einzelne be­griffen wird" [2] und nicht bloß als anatomi­sches Sammelsurium. Immer wenn ver­schiedene Ein­zeldinge sich zu ei­nem neuen Gan­zen vereinen, in­dem sie durch ei­ne geordnete Struktur mit­ein­ander ver­bunden sind, spricht unsere Ge­stalt­wahr­neh­mung sie so­fort als Ganzes hö­herer Ord­nung an. Die stammes­ge­schichtlich er­erbte Fähigkeit zur Gestalt­wahr­­nehmung [3] "ka­te­go­ri­siert, sie trägt Ordnung in die Er­schei­nun­gen und hilft uns so, in der Welt zurecht­zu­kommen." [4] Ohne ihre Abstrak­­tionslei­stung könnten wir buch­stäblich vor lauter Bäumen den Wald nicht sehen, obwohl er als einheitli­ches Wirkungs­gefüge unzwei­felhaft da ist. Die Ge­staltwahr­neh­mung hilft uns, in sich kon­stante Gegenstände als sol­che wahrzu­neh­men. [5]

So erkennen wir mit Ernst Jüngers berühmten Worten: "Ein Mensch ist mehr als die Summe sei­ner Ato­me, der Glie­der, Or­gane und Säfte, aus de­nen er be­steht, ei­ne Ehe ist mehr als Mann und Frau, eine Fa­milie mehr als Mann, Frau und Kind. Eine Freund­schaft ist mehr als zwei Män­ner, und ein Volk mehr, als durch das Er­geb­nis ei­ner Volks­­zählung oder durch eine Summe von poli­ti­schen Ab­stim­mun­­gen zum Aus­druck ge­bracht wer­den kann." Gei­stern minderen Ran­ges fehlt für die­ses Mehr das Au­ge. [6] Ganz richtig führt Dürig im Sinne Jüngers zur Familie aus: "Die Ge­mein­schaft ei­ner Ehe ist nicht nur die 'Summe' zweier Größen, die auch namens­rechtlich als solche erkennbar und wiederum 'scheidbar' bleiben müßten, sondern - spä­te­stens, wenn das Kind hinzutritt - ein 'Mehr' und ein 'aliud' im Ver­hält­nis zur Summe ihrer Teile." [7]

Das Ganze ist darum mehr ist als die Summe sei­ner Teile, weil das auf­ein­an­der be­zogene Zu­sam­menwir­ken an sich selb­stän­­di­ger Sy­ste­me zu ei­nem Ge­samt­sy­stem neuer, und zwar höhe­rer Art mit gänz­lich neu­en Sy­stem­­ei­gen­schaf­ten führt. [8] Die Entstehung einer Ganz­heit aus ver­schiedenen Tei­len ist das wich­tigste schöpferi­sche Prinzip der Evo­­lu­tion. [9] Diesem Prinzip unter­liegen wir Menschen allein schon, in­­dem jeder mehr ist als ein Ersatzteillager nicht aufein­ander be­zo­ge­ner Organe, son­dern ein ganzer Mensch. Wir unter­liegen diesem Prin­zip aber auch hinsichtlich un­seres so­­zialen Zusammenle­bens: Dieses wird durch eine uns verbindende Ideen, Kultur, Sitte und Spra­che auf­­recht erhalten. Wenn verwandte Menschen zu einem solchen Ganzen zu­sam­menwirken, nennt man das mit Comte [10] , ana­log dem ana­to­mi­­schen Auf­bau des Menschen, or­ga­nisch. "Wesentlich am Or­ga­ni­schen ist die le­ben­­dige Ein­heit des Gan­zen, wider­ge­spiegelt von sei­nen Tei­len, die wie­­derum Ei­genleben besit­zen; die gleichzei­tige Frei­heit und Dienst­­schaft der Teile, die Wech­­selwirkung zwi­schen ihnen und dem Gan­­zen. Das Leben des Gan­zen, gesichert durch den Dienst der Teile, das der Teile behütet von der Kraft und der Macht des Gan­­zen." [11]

Da­bei gilt stets: "Einer or­gani­schen Kon­struktion ge­hört man nicht durch indi­vi­duellen Willensent­schluß, also durch Ausübung ei­nes Aktes der bür­ger­li­chen Frei­heit, sondern durch eine tatsächliche Verflech­tung an." [12] Diese Ver­flech­tung ist die be­stimmte Beziehung, in der die Angehörigen ei­ner Grup­pe un­tereinander ste­hen auf­grund der na­türlichen Ei­genschaft des Men­schen als homo socialis: als ge­mein­schafts­fähiges Wesen. Die Verflech­tung mit ande­ren aufgrund so­zia­ler Strukturen befähigt die Gruppe zu quali­tativ höhe­ren Lei­stun­gen, als sie einem einzelnen prin­zipiell mög­lich wären. Haupt­lei­stun­gen sind das Han­deln in Ge­meinschaft und der sich ansam­melnde Wissens­­er­werb durch Tra­di­tion. "Wenn wir die Attribute 'niedriger' und 'hö­­her' in er­staunlich glei­chem Sinne auf Lebe­wesen wie auf Kultu­ren an­­­wenden, so be­zieht sich die­se be­rech­tigte Wertung unmit­telbar auf den Gehalt an unbewuß­tem oder bewuß­tem Wis­sen, der diesen le­ben­den Syste­men eig­net, gleich­gül­tig, ob er durch Selektion, Lernen oder ex­­plorative For­schung er­worben wurde und ob er im Genom, im Gedächtnis des Einzel­we­sens oder in der Tradition ei­ner Kultur auf­be­wahrt wurde." [13]

Radbruch hat die in uns angelegte Gegensätzlichkeit der Wer­te des fre­ien Ei­genwil­lens und der sozialen Einordnung klar er­kannt und beide durch die Kultur als dritte Wertkategorie verbinden wol­­len. Er sah die­se in ganz ähnli­cher Weise wie Lo­renz als Ge­mein­­schafts­werk. Kern der Gesellschaft sei ein Ver­trags­verhältnis. Die Ge­samtheit habe man sich als Organismus nach Art des Körpers zu den­ken, die Ge­meinschaft kul­tureller Wert­schöp­fung aber nach Art ei­ner Bau­hütte. "Die Ideale dieser drei sozialen For­­men des mensch­­li­chen Zusam­men­lebens sind schlagwort­mäßig aus­gedrückt: Frei­­heit, Macht, Kul­tur. Das indivi­dualistische Ideal, die Frei­­heit, hat par­tei­po­li­tisch in den li­beralen, in den demo­kratischen und in den so­zia­li­sti­schen Par­tei­en Gestalt ge­funden, ... die über­in­di­vi­­dua­listische, or­ga­ni­sche Lehre ist dage­gen die Grundlage der auto­ri­tä­ren oder kon­ser­va­tiven Par­tei­en, nach welcher der Staat, das Gan­ze, nicht um der Glie­­der willen, son­dern die Glieder um des Gan­zen wil­len da sind." [14] Wer die liberale Idee verabsolutiert, löst Volk und Staat auf. Wer das organische Volks- und Staats­den­ken verabso­lutiert, be­gründet einen Kol­­lek­tivis­mus. Wer da­ge­gen beide Werte, Frei­heit und Ge­mein­schaft, für mensch­lich schlecht­hin und für un­ver­zicht­bar hält, muß sich vor der ab­solu­ten Ge­sell­schaft und vor dem ab­so­lu­ten Staat hüten. Er muß diese gegensätzlichen Werte verbinden und versöhnen.

 

Fortsetzendes Kapitel: Der individuelle Normgeltungsanspruch

 



[1] Lorenz, Der Abbau des Menschlichen, S.133.

[2] Ernst Jünger, Der Arbeiter, S.34.

[3] Vgl. Lorenz, Gestaltwahrnehmung als Quelle wissenschaftlicher Erkenntnis.

[4] Eibl-Eibesfeldt, Der Mensch, das riskierte Wesen, S.55 f., 62.

[5] Lorenz, Der Abbau des Menschlichen, S.67 f., 91.

[6] Ernst Jünger, Der Arbeiter, S.35.

[7] Dürig in Maunz-Dürig, Komm.zum GG, Art.2 Rdn.42.

[8] Lorenz, Die Rückseite, S.48. Ders.: Der Abbau des Menschlichen, S.133.

[9] W.H.Thorpe, Science, Man and Morals, zit. nach Lorenz, Rückseite, S.50 f.

[10] Comte, Die Soziologie, 7.Kap., S.127.

[11] E.J.Jung, Herrschaft, S.286.

[12] Ernst Jünger, Der Arbeiter, S.119.

[13] Lorenz, Die Rückseite des Spiegels, S.45.

[14] Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie, GRGA S.145 f. (146); Ihm folgte wörtlich BVerfG Urteil vom 23.10.1952, E Bd.2 S.15 f. (16).

Bibliographische Angaben zu den zitierten Werken siehe Literaturverzeichnis