Normsetzung als Machtanspruch
Auszug
aus: Klaus Kunze, Mut zur
Freiheit, 1998, S.53 ff.
Vorhergehendes Kapitel: Die
Gestalt
Erloschen
sind die heitern Sonnen
Die meiner Jugend Pfad erhellt;
Die Ideale sind zerronnen,
die einst das trunkne Herz geschwellt;
Er ist dahin, der süße Glaube,
An Wesen, die mein Traum gebar,
Der rauhen Wirklichkeit zum Raube
Was einst so schön, so göttlich war.
Friedrich Schiller
Der
individuelle Normgeltungsanspruch
Das
persönliche Weltbild
Identität
bildet jeder, indem er durch Welt-Anschauung eine Beziehung
zwischen sich und der Umwelt herstellt, sich als mit der Umwelt
nicht identisch bemerkt. So definiert er sich als individuelle
Person. Diese Welt-Anschauung ist notwendig subjektiv, weil
die Beziehung der Umwelt zu jedem einzelnen verschieden ist.
Die Umwelt ist zwar objektiv immer als dieselbe vorhanden,
doch sind der Betrachtungsstandpunkt und das betrachtende
Subjekt verschieden. Erkenntnis ist die Reduktion von bisher
Unbekanntem und Unerkanntem auf Bekanntes und Gekanntes,
also schließlich die Einbeziehung der jeweils betreffenden
Elemente in den vorhandenen weltbildlichen Rahmen.
[1]
Der konstitutive Akt der Weltanschauung
ist es, aus der Fülle des Umgebenden das für die Definition
der Identität Wesentliche herauszufiltern. So beruht alles,
was wir überhaupt über unsere Umwelt wissen, auf den Erfahrungen
des einzelnen Subjekts.
[2]
Die
fertige Zuordnung und Wertung führt zu einer Welt-anschauung
als komplexem Gedankengebäude. Sie ist eine Ideologie im
weitesten Sinne. Sie ist notwendig individuell und subjektiv,
weil keine zwei Menschen die Welt aus derselben Perspektive
sehen. Ohne Aufbau eines festen Weltbildes, also Abgrenzung
des Ichs von einer klassifizierten und gewerteten Umwelt,
kann niemand sein Ich bilden. Die Individuation und das Festhalten
an der Identität erfordern es, ständig ein festes Welt-Bild
aufrecht zu erhalten. In diesem Weltbild werden dem um Selbsterhaltung
kämpfenden Subjekt und den Phänomenen der Umwelt ihre
festen Plätze angewiesen.
[3]
Das Individuum betrachtet sich subjektiv
als Zentrum seiner Welt und bewertet von seinem scheinbar
festen Standort aus die bewegte Umwelt unter steter Rückbeziehung
auf sich selbst: Die Mutter bewegt sich nicht nur, sie bewegt
sich weg; der Ball liegt nicht irgendwo, er
liegt rechts von mir.
Schon das Kind kann die erlebte Welt nur begreifen und verstehen,
wenn es sie klassifiziert, durch umfassende Abstraktionsleistungen
auf das eigene Ich bezieht und wertend interpretiert.
Hobbes
hat diese Vorgänge unnachahmlich trocken und englisch nüchtern
schon vor 300 Jahren durchschaut: Das entstehende feste Weltbild
teilt die Personen und Phänomene in solche, die dem Subjekt
nützen und ihm angenehm sind und solche, die ihm schaden
und unangenehm sind. Erstere bezeichnet es als gut,
letztere als böse.
[4]
Konrad Lorenz wies auf den interessanten
etymologischen Zusammenhang zwischen dem Begriff gut und dem substantivierten Adjektiv des Gutes, also des besessenen
Eigentumes, hin.
[5]
Jeder bestimmt das Gute nach seinen eigenen
Zielen und Möglichkeiten.
[6]
Klassisch hat das Hobbes
formuliert: "Aber was auch immer das Objekt des Triebes
oder Verlangens eines Menschen ist: Dieses Objekt nennt er
für seinen Teil gut,
das Objekt seines Hasses und seiner Abneigung böse und das seiner Verachtung verächtlich
und belanglos. Denn
die Wörter gut, böse und verächtlich werden immer in Beziehung
zu der Person gebraucht, die sie benützt, denn es gibt nichts,
das schlechthin und an sich so ist. Es gibt keine allgemeine
Regel für Gut und Böse, die aus dem Wesen der Objekte selbst
entnommen werden kann."
[7]
- "Mit diesen Sätzen war die herkömmliche
theologische oder metaphysische Begründung von Moral aufgehoben.
...
Der Beginn der Neuzeit hatte
...
die Menschen auf sich selbst zurückgeworfen, von sich selbst
her mußten sie ihre Welt in der Natur und Politik wieder aufbauen."
[8]
Diese
aufbauende Tätigkeit erst schafft kraft freier Entscheidung
die verloren gegangenen Glaubensgewißheiten neu. Deutlich
hat das Nietzsche
ausgesprochen: Wer sie leistet, "fühlt sich als wertbestimmend."
Diese Art Mensch "hat nicht nötig, sich gutheißen zu lassen;
sie urteilt, 'was mir schädlich ist, das ist an sich schädlich',
sie weiß sich als das, was überhaupt erst Ehre den Dingen verleiht,
sie ist wertschaffend. Alles, was sie an sich kennt, ehrt
sie: eine solche Moral ist Selbstverherrlichung" oder
modern gesprochen: Selbstverwirklichung. So schafft er
sich seine eigene Moral, sein eigenes sittliches Gesetz,
seine Tugenden, seine Götter und Teufel: Nach dem Verlust der
alten metaphysischen Glaubensgewißheiten geboten "die
tiefsten Erhaltungsgesetze," daß jeder sich seine Tugend,
seinen kategorischen Imperativ erfinde."
[9]
Er "trägt den Maßstab in sich,"
und das macht "den Stolz und die Trauer seines Lebens aus.
...
Die bitterste Verzweifelung beruht darin, sich nicht erfüllt
zu haben, sich selbst nicht gewachsen gewesen zu sein."
[10]
Er will sich "nur selbst genügen":
"Ich bin meine Gattung, bin ohne Norm, ohne Gesetz, ohne
Muster."
[11]
Hinter diese geistige Befreiungstat führt
kein Weg mehr zurück. Für den Bereich philosophischer Reflexion
ist der Verlust des Glaubens durch Aufklärung unwiederbringlich.
Wenn
der junge Mensch sich ein zusammenhängendes Weltbild aufbaut
und der ältere sein Weltbild gegen Zweifel verteidigt, bedient
er sich der Methode des Attentismus. Diese besteht darin,
daß er von der komplexen Wirklichkeit vor allem wahrnimmt,
was in sein Weltbild paßt. Er hat seine auf sich selbst bezogenen
Kategorien bereits verinnerlicht, mit denen er die Welt wertet.
Was seine Ansichten ins Wanken bringt und ihn verunsichert,
blendet er gern aus. "Schon Kinder tun das, wenn sie bei
Angst mit beiden Händen Gesicht und Augen verdecken."
[12]
Jeder Mensch kommt mit stammesgeschichtlich
ererbten Grundbedürfnissen zur Welt wie denen nach Sicherheit,
Geborgenheit, freundlicher Zuwendung, aber auch denen nach
Steigerung der eigenen Geltung, nach Macht und Einfluß. Andere
Menschen entwickeln eher geistige oder spirituelle Bedürfnisse
und sehnen sich nach Glaubensgewißheit, Seligkeit, Trost
oder geordneter Lebensplanung. Wieder andere sind wahre Tugendbolde
und verspüren eine überwältigende Neigung, dem Guten nachzueifern:
Nur wenn sie nach der Pfadfinderregel jeden Tag etwas Gutes
tun, fühlen sie sich glücklich. So hat jeder Mensch einen anderen,
durch Grundbedürfnisse und andere Faktoren geprägten Persönlichkeitskern.
Um diesen Kern herum baut er nun ein Weltbild auf, unter dessen
Geltung er sein eigenes, bedürfnisorientiertes Verhalten
rechtfertigt.
Das
fertige Weltbild des Erwachsenen, sein Gut und Böse, seine Tugenden,
seine Moral und seine Ideologie, der Gott, an den er glaubt:
Alles das läßt einen Schluß auf seinen tiefsten Persönlichkeitskern
zu: Nenne mir deinen Gott, und ich sage dir, wer du bist! Die
Persönlichkeit ist immer zuerst vorhanden, und das Weltbild,
die Ideologie oder Religion folgen hinterher, sie bauen sich
um die Persönlichkeit herum, nie umgekehrt. Das ist der Grund
für die attentistische Vorgehensweise, und hier liegen ihre
Gefahren. Für die Abstützung eines bestimmten Weltbildes,
das für eine konkrete Person und ihre Bedürfnisse taugen soll,
eignet sich nicht jedes beliebige Ereignis und nicht jede
beliebige Idee. Aus unserer immer komplizierter werdenden
Umwelt vermag sich aber leicht jeder die Phänomene herauszusuchen,
die er für seine subjektive Gewißheit benötigt, daß seine
Weltsicht die richtige ist und daß er die Wahrheit kennt. Indessen vermag er bei notwendigerweise gezielt
selektiver Wahrnehmung und bei Ausblendung störender Faktoren
immer nur seine Wahrheit und seine Wirklichkeit wahrzunehmen.
So übersahen seit der Antike die Streiter über die Frage,
ob das Wesen des Menschen Vernunft oder Wille sei: Jeder fragte nach dem Wesen des abstrakten
Menschen, antwortete aber aus der Tiefe seines Gefühls als
individueller, konkreter Mensch zum Beispiel: Mein Verstand
ist stärker als mein Wille, also ist das Wesen des Menschen der Verstand, oder
umgekehrt.
Fortsetzendes
Unterkapitel: Der transzendierte
Machtanspruch
[2]
Konrad Lorenz, Die Rückseite des Spiegels,
S.10.
[4]
Thomas Hobbes, Leviathan, I. Teil, 6. Kap.,
S.50.
[5]
K. Lorenz, Der Abbau des Menschlichen,
S.124 f.
[6]
Cardano, Opera omnia, 1663, De summo bono
= Opera I,583 B., zit.nach Kondylis, Metaphysikkritik.
[7]
Thomas Hobbes, Leviathan,Übersetzung nach
Willms, Hobbes, S.82.
[8]
Willms, Hobbes, S.83.
[9]
Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr.260
bzw. Der Antichrist, Kap.11.
[10]
Jünger, Der Arbeiter, S.37.
[11]
Stirner, Der Einzige, S.200.
[12]
Eibl-Eibesfeldt, Der Mensch, das riskierte
Wesen, S.151.