Der transzendierte Machtanspruch
Auszug aus:Klaus
Kunze, Mut zur Freiheit, 1998, S.56 ff.
(Vorheriges Unterkapitel: Normsetzung
als Machtanspruch)
Zur
Befriedigung seiner Bedürfnisse muß jeder sich mit seiner Umwelt
auseinandersetzen. Jeder Mensch sucht die Umwelt so zu beeinflussen,
daß ihre Bedingungen ihm günstig sind. Diese Umweltbedingungen
sind die Gesetze der Natur und des menschlichen Zusammenlebens.
Weil menschliche Gesetze im Gegensatz zu Naturgesetzen veränderbar
sind, sucht jeder sie seinen Interessen anzupassen, um einen
Wettbewerbsvorteil zu erringen. Der Anspruch an die soziale
Umwelt auf diese Befriedigung äußert sich als Machtanspruch,
also als Versuch der Dominanz über andere. Dominanzstreben
ist das Bemühen um Anpassung der Mitwelt an die eigene Bedürfnislage,
also der Kampf um die Durchsetzung des individuellen Geltungsanspruches.
Solche
Macht- bzw. Geltungsansprüche konstituieren in ihrem Gegeneinander
geradezu die soziale Lebenswelt.
[1]
Das Dominanzstreben ist angeboren und
ein zentraler Schlüssel zum Verständnis menschlichen Verhaltens.
[2]
Nietzsche
hat diesen heute anthropologisch nachgewiesenen, also genetisch
verankerten Dominanztrieb in Anlehnung an Stirner
[3]
metaphorisch als Willen zur Macht bezeichnet.
[4]
Heute ist der Begriff Geltungsanspruch statt des martialisch klingenden Machtanspruch üblich. Der Sinn ist derselbe.
Mit
einem Bündel sich ergänzender, auf ihn und seine Bedürfnisse
zugeschnittener Normen, also generalisierender Ansprüche
an die gesamte Umwelt, wie diese sich ihm gegenüber gefälligst
verhalten soll, tritt jeder Mensch ins soziale Leben ein. Indem
er seine Identität gegenüber seiner Umwelt begründet und
in Beziehung zu ihr tritt, sucht er notwendigerweise Sollensregeln
aufzustellen und diese Beziehung zu normativieren. Er muß
also mit dem Anspruch auftreten, die Umwelt solle sich nach
gleichbleibenden und ihm günstigen Regeln richten. Das
Interesse an einer an den eigenen Bedürfnissen orientierten
Umwelt mag je nach den mannigfaltigen denkbaren Grundbedürfnissen
ein materielles oder spirituelles sein, ein körperliches oder
politisches, ein moralisches oder hedonistisches. Das Normenbündel,
welches einen Kranken im Zusammenleben mit seinen Mitmenschen
begünstigt, sieht notwendig anders aus als dasjenige eines
Gesunden, das einer Frau anders als das eines Mannes, das eines
Sprachgewandten anders als das eines Stotterers, das eines
Intellektuellen anders als das eines Arbeiters. Der eine
hat primär materielle Wünsche, der zweite sucht spirituelle
Geborgenheit, der dritte Macht, der vierte womöglich sexuelle
Erfüllung, der fünfte Sicherheit. Der Pluralität menschlicher
Eigenschaften entspricht die Vielfalt von Menschen erzeugter
Weltanschauungen, die zur Abstützung dieser Eigenschaften
ersonnen wurden. Weil jeder einzelne anders ist, sind die
Bedürfnisse jedes einzelnen anders gemischt als die seines
Nächsten. Darum baut jeder um sie herum eine andere Welt-Anschauung
auf. Wer seinem Gott ins Gesicht blickt, sieht gewöhnlich nur
sein Spiegelbild.
Der
Machtanspruch äußert in seiner Grundform als Befehl, wirksamer
aber als Normgeltungsanspruch. Formal kann sich ein Befehl
nämlich an ein individuelles Gegenüber richten oder an alle:
Man bedient sich entweder bloß des Einzelbefehls an einen
Mitmenschen oder des abstrakt-generellen Befehls an alle Mitmenschen.
Solche verallgemeinerten Befehle sind Normen. Die Intensität
des Anspruchs an die Umwelt, sich gefälligst nach meinen Spielregeln
zu richten, ist also verschieden. Befehle können in qualitativ
unterschiedlicher Weise vorgetragen werden. In modal schwächerer
Form tritt sie in Erscheinung als Dezisionismus und in stärkerer
Form als Normativismus. Der Dezisionist will zunächst nichts
weiter, als daß sein konkretes Gegenüber tut, was er gerade
von ihm verlangt. Sein Dominanzstreben ist konkret und einzelfallbezogen,
diesseitig und gegenständlich: "Du Gesunder mußt
mir Krankem jetzt und hier helfen!" Wenn der Normenbenutzer
Gehorsam für eine von ihm gesetzte Ordnung fordert, braucht
dieser Gehorsam nur ein formaler zu sein. Er verlangt von
niemandem, an seinen Gott zu beten, an den er ja selbst nicht
wirklich glaubt. Der Befehlsmodus des Dezisionisten ist konkret
und individuell.
Der
Normativist generalisiert und verallgemeinert: Er will sich
in seiner sozialen Umwelt besonders nachhaltig durchsetzen,
indem er seinen Einzelfallbefehl in Form eines allgemeinen
Imperativs kleidet, etwa: "Jeder Gesunde muß jedem Kranken
helfen!" So wird aus dem Einzelfallbefehl eine allgemeine
Regelung. Wenn der Normativist die soziale Macht hat, gültige
Gesetze zu schaffen,
positiviert er seinen Imperativ, indem er ihn formell
als Gesetz verkündet. Ein Gesetz im allgemeinen Sinne
ist immer ein vom menschlichen Willen erzeugter Imperativ,
und zwar in Form einer abstrakten und generellen Anordnung
für menschliches Verhalten.
[5]
Die Intensität des kategorischen Geltungsanspruchs
wächst weiter, wenn der Normativist seinen Befehl religiös
oder ethisch überhöht: "Liebe deinen Nächsten!"
Wer dann nicht gehorcht, wird mit einem ethisch-moralischen
oder religiösen Unwerturteil verdammt. Der echte Normendiener
verlangt von allen Mitmenschen, sich nicht nur nach seinen
in Gesetzesform gegossenen Ideen und Normen zu richten;
er verlangt ihnen auch ab, an seine Metaphysik zu glauben,
sie für heilig zu halten und sich ihr innerlich zu unterwerfen.
Er ist sich nicht mehr bewußt, daß diese nichts als sein eigenes
Ich ausdrücken. Er glaubt an die Realität dieser Ideen und
ist von ihr umso überzeugter, je weniger er zur kritischen
Reflexion ihres subjektiven Ursprungs fähig ist.
Mein
Ideal über deines zu stellen ist immer gleichbedeutend wie mich
über dich zu stellen. Gehorche
meinem Gott! bedeutet allemal Gehorche
mir! Wen ich zur Anerkennung meiner Ideale zwinge, über
den übe ich Macht aus. In umgekehrter Richtung unterwerfe ich
mich geistig und damit vollständig, wenn ich mir fremde Ideale
aufzwingen lasse. Es kann dafür nur einen einzigen, und zwar
einen existentiellen Grund geben: Mit der Entscheidungsmacht
über ein gemeinsames Ideales muß der Entscheidende die Verantwortung
für mein Wohl und Wehe übernehmen kraft des unlösbaren Zusammenhanges
von Schutz und Gehorsam. Wer mir meine geistigen Waffen nimmt,
muß mich mit den seinen schützen. "Macht wird nur dadurch
zum Recht, daß sie als eine verantwortlich gebundene Funktion
gegenüber einem anvertrauten Lebensganzen begriffen wird."
[6]
Gefährlich ist es aber, einer feindseligen
moralischen Macht unterworfen zu sein. Jede Ideologie kann
dem Schutze der Glaubensunterworfenen ebenso dienen wie ihrer
Ausplünderung oder auch ihrer Vernichtung.
Je
nach dem, aus welcher Sphäre der letzte Geltungsgrund gewonnen
wird, kann der Befehl
in Gestalt nackter Willkür verbleiben; oder er kann die Form
einer konventionellen Tugendregel annehmen ("Man
tötet keine anderen Menschen."), die Form eines
religiösen Gottesgebots ("Du
sollst nicht töten!"), oder die Gesetzesform ("Wer einen anderen Menschen tötet, ohne Mörder zu sein,
wird mit Freiheitsstrafe
...
bestraft."). Der Inhalt
ist in jedem Fall derselbe und nur der Modus verschieden.
So könnte, aus Sicht eines Kranken, ein Einzelbefehl dezisionistisch lauten: "Hilf mir, arbeite für mich,
ernähre mich, behause mich!" Viel nachhaltiger wäre
es für ihn, gleich allen Mitmenschen generell normativierend zu befehlen: "Helft Kranken, arbeitet für sie mit, ernährt
sie, behaust sie!" Gelingt dieser Befehl, entsteht
so aus dem nackten Einzelfallbefehl eine normativierende
Regelung, weil viele gleichartige Fälle geregelt werden.
Aus
jedem individuell Wertgeschätzten folgen die Bildung eines
Wertes und eines entsprechenden Unwertes. "Jeder Wert
ist die Schätzung einer Sache im Vergleich mit einer anderen,
also ein Vergleichungsbegriff, mithin relativ, und diese Relativität
macht eben das Wesen des Begriffs Wert aus."
[7]
Sie mögen "noch so hoch und heilig
gelten, als Werte gelten sie immer nur für etwas oder für
jemanden.
...
Wer ihre Geltung behauptet, muß sie geltend machen. Wer sagt,
daß sie gelten, ohne daß ein Mensch sie geltend macht, will
betrügen."
[8]
Ist das Wertgeschätzte ein überindividuelles
Verhalten, folgen aus ihm notwendig ein Gebot und ein Verbot:
Aus dem Wert folgt die Norm. In jeder Norm steckt der Anspruch,
im praktischen Anwendungsfall solle ein angenommener Wert
respektiert werden. Jede Norm verkörpert auch ein ethisches
Prinzip, das sich als Tugendgebot formulieren läßt. Metaphysisch
überhöht wird der Anspruch des Individuums zur Moralforderung.
Befiehlt der Staat, wird die Norm zum Gesetz.
[9]
"
Die
werthaltige Moral bezieht sich auf den sie empfindenden Menschen
selbst zurück. Wendet sie sich nach außen, mutiert sie zur
Norm. Moralische Werte sind demzufolge nicht außerhalb, sondern
in uns. Und soweit sie transzendent sind, sind sie nicht als
"Wesenheiten" real. Weil es Transzendentes
nur in unserer Vorstellung gibt, sind sie lediglich immanent.
Während wir ihnen zu dienen glauben, dienen wir in Wahrheit
nur uns selbst. Unsere Haltung zum Wert ist mit den Worten
Sombarts
[10]
nicht Opfer, sondern Anspruch, wir dienen
ihnen nicht, wir nutzen sie für unseren Machtanspruch. Das
ist der Anspruch an unsere Umwelt, uns zu respektieren,
wie wir uns in unseren gesetzten Werten widerspiegeln und
in den aus ihnen folgenden Normen den Anspruch auf soziale
Geltung erheben. "Ohne die objektive Evidenz"
eines Wertes "für Andersdenkende auch nur im geringsten
zu vermehren", führt der normativistische Wertglaube
zu nichts als einem "Moment der Selbstverpanzerung",
einem neuen "Vehikel der Rechthaberei, das den Kampf nur
noch schürt und steigert."
[11]
Komplexe
weltanschauliche Regelwerke mit aufeinander bezogenen Tugenden
in einer festen gedanklichen Ordnung nennen wir Ideologien.
Ihre Normen stehen im Dienste des menschlichen Machtanspruchs.
Sie widerspiegeln in erster Linie das Ich dessen, der sie
aufstellt, und seine individuellen Bedürfnisse. So gibt die
Moral eines Jeden ein sicheres "Zeugnis dafür ab, wer
er ist, das heißt, in welcher Rangordnung die innersten Triebe
seiner Natur zueinander gestellt sind."
[12]
Normen wie die Menschenwürde oder ein Menschenrecht
auf körperliche Unversehrtheit sind zunächst einmal nichts
anderes als der transzendierte Geltungsanspruch eines menschlichen
Subjekts, das ein Bedürfnis danach verspürt, geachtet und
von niemandem körperlich verletzt zu werden. Menschenrechte
sind "Bedürfnisse, die aus der angeborenen Veranlagung
des einzelnen entspringen und befriedigt werden müssen."
[13]
Das Bedürfnis ihrer Respektierung ist ein
Faktum, ebenso wie die Tatsache, daß jeder diese Respektierung
von jedem beansprucht.
Ein
erhobener Anspruch ist aber noch kein Recht. Hobbes
hatte unter Würde ganz nüchtern den Wert verstanden, den seine
Mitmenschen dem einzelnen zumessen: Jeder könne seinen eigenen
Wert so hoch einschätzen wie er wolle; "wirklich bestimmt
wird er nur durch das Urteil anderer."
[14]
Auch für Pufendorf
folgt die menschliche Würde aus seiner Selbstachtung und dem
Anspruch an seine Mitmenschen, als Mensch geachtet zu werden.
[15]
Zum Staatsfundamentalwert wird die Menschenwürde
unter Geltung der liberalen Weltanschauung, die jedem
Individuum denselben prinzipiell unendlichen Wert beimißt.
Das Metaphysische der Menschenrechte und der Menschenwürde
besteht also darin, daß konkrete Geltungsansprüche und ein
bestimmtes Menschenbild transzendiert werden. So rechtfertigt
sich die flapsige Bemerkung des Amerikaners Alasdaire MacIntyre,
wer an sie glaube, könne auch gleich an Hexen und Einhörner
glauben.
Zu
Rechten werden die Menschenrechte erst durch einen normstiftenden
Gesetzgeber, der den Anspruch gesetzlich anerkennt und staatliche
Durchsetzung verspricht. Indem der Gesetzgeber den ethischen
Wert der Menschenwürde und die aus ihr folgenden Menschenrechte
in das positive Verfassungswerk übernommen hat, hat er sie
erst zum Rechtswert erhoben und zum verbindlichen Gesetz gemacht.
[16]
Idealtypisch erweist sich das anhand Art.1 Abs.1 GG, in dem
sich das deutsche Volk zunächst metaphysisch zu transzendenten
"unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten bekennt (!)"
und diese erst in Abs.2 positiviert, indem es sie als Grundrechte
zu den Staat bindenden positiven Gesetzen erklärt. Vor allem
anderen steht der individuelle Wille, der sich in Form eines
generalisierenden Befehls an alle kleidet. Dieser Wille
des Gesetzgebers hat sich in der verfassungsmäßigen Wertentscheidung
[17]
geäußert.
Die
axiomatischen Grundannahmen einer jeden Weltanschauung sind
nicht hinterfragbar, und ihre Geltung ist subjektiv. "Die
höchsten Zwecke und Werte des Rechts," so der Kern von
Radbruchs
Rechtsphilosophie, "sind nicht nur verschieden nach
Maßgabe der sozialen Zustände der verschiedenen Völker und
Zeiten, sie werden auch subjektiv von Mensch zu Mensch verschieden
beurteilt, je nach Rechtsgefühl, Staatsauffassung und Parteistandpunkt.
Die Entscheidung kann nur aus der Tiefe der eigenen Persönlichkeit
geschöpft, kann nur Gewissensentscheidung sein."
[18]
Es gibt keine universalisierbare Ethik ohne
Metaphysik. Diese kann aber jeder nur in sich erzeugen, darum
ist sie subjektiv und relativ. Also gelten alle Werte erst
kraft positiver Entscheidung für sie.
Wer
die Grundwerte seines Rechtssystems dagegen als objektive
Gegebenheiten hinstellen möchte, wird jede Rechtstheorie
als positivistisch verwerfen, die darauf hinweist, wie
relativ die Gültigkeit jedes Wertes und jedes werthaltigen
Rechtssystems ist, weil sie hinter jeder Rechtsetzung einen
gewillkürten, subjektiven Wert sieht. Wo der Normenbenutzer
Werte benötigt, positiviert er sie durch willkürliche
Setzungen. Aus solchem ethischen
Positivismus folgt aber rechtstheoretisch kein Gesetzespositivismus.
Dieser gehorcht blind dem jeweils gesetzten Recht. Seine
normative Komponente
[19]
besteht darin, der strikten formellen Gesetzlichkeit
an sich absoluten Rang einzuräumen. Er fragt darum nicht
nach den politischen Ursachen und Folgen des Legalen. Gerade
das ist aber die entscheidend Frage. Der Wertepositivist
befreit den Rechtsbegriff von allem normativistischen
Ballast, auch dem legalistischen. Er wertet damit das
Politische als eigenberechtigten Aspekt menschlichen
Daseins auf. Jeder Kampf gegen ein Recht, in dem sich Machtansprüche
in moralisierender Form niederschlagen, ist ein politischer
Kampf und kann nur politisch geführt werden.
Die
Gretchenfrage der Rechtstheorie ist immer die nach der Möglichkeit
gesetzlichen Unrechts. Für den naturrechtlichen Normativisten
wächst dem Rechtsbegriff durch seine moralische Macht
ein "unbeschreibliches Pathos" zu, "das in
diesem Namen vibriert."
[20]
Er schöpft seine Kraft, einem formalgesetzlich
begründeten, aber für verbrecherisch gehaltenen Befehl nicht
nachzukommen, aus der Überzeugung, dieser sei überhaupt kein Recht. Wer dagegen
hinter jedem willkürlich positivierten Wert den befehlenden
Menschen sieht, für den begründet sowieso keine menschliche
Norm ein transzendentes Sollensprinzip. Er hat es leichter,
weil ihn normatives Rechtspathos kalt läßt. Mit der Positivierung
eines gegnerischen Wertes und der Aufforderung zum Gesetzesgehorsam
ist für ihn der Kampf noch lange nicht zu Ende. Daß etwas Recht ist, nimmt ihn nicht moralisch in die Pflicht. Er fühlt sich
allenfalls zu einem formalen Gesetzesgehorsam bemüßigt.
Innerlich bleibt er frei in seiner Entscheidung für andere
Werte und zum Kampf für sie. Darum fühlt er auch keine Moralpflicht,
den für verbrecherisch gehaltenen Gesetzesbefehl zu befolgen.
Aber nicht weil dieser gar kein Recht sei, sondern gerade weil
er ihn durchschaut als nichts
als einen Befehl, faßt er Mut zum Ungehorsam. Ob er
diesem Mut die Tat folgen läßt, hängt von der konkreten Lage
ab. Bewußter Ungehorsam ist der erste Schritt zum Bürgerkrieg.
Er lohnt sich nur für den, dem das Gesetz noch weniger Recht
und Frieden schenkt als selbst die offene Gesetzlosigkeit.
Für
den Normendiener gilt immer nur: eine Vernunft, ein wahres
Recht, ein Gott. Wer
den Glauben nicht teilt, ist unvernünftig, ist im Unrecht und
ist gottlos. So stellt er etwa "den Rechtsstaat als den Gegenbegriff zu einem Nicht-Rechtsstaat
im Sinne von Unrechtsstaat (Machtstaat, Gewaltstaat, Willkürstaat,
Polizeistaat) hin und hat es dann natürlich leicht, den Rechtsstaat
über einen solchen Widersacher triumphieren zu lassen."
[21]
Tatsächlich gibt es alle diese schönen Vorstellungen
wie Gott, Recht oder Vernunft im Plural: In jedem Kopf sehen
sieht Gott, und in jedem Staat sieht Recht anders aus. Wer alle Gesetze und Normen als Produkte willentlicher
Setzung erkannt hat und zudem an keine Götter glaubt,
hat alle Brücken zu jeder Form eines Naturrechts hinter sich
abgebrochen.
Weil
Gesetze letztlich Befehle sind, kann es auch kein natürliches
Recht ohne Gesetzgeber geben. Dieser ist für die Naturrechtler
Gott, indem er persönlich diejenigen Gesetze gab, denen
alle Obrigkeit unterworfen ist,
[22]
oder indem er wenigstens die Natur nebst
ihren Gesetzen schuf, aus denen die Aufklärung das Naturrecht
ableitete. Auch das Naturrecht konnte also erst gelten,
nachdem sich jemand für seine Geltung entschieden hat,
weil er will, daß die
Vernunft oder die Natur herrscht. Die Norm aller menschlichen
Handlungen könne nichts anderes sein "als der Wille
bzw. das Gesetz Gottes", und Hauptzweck seien der
Ruhm des Schöpfers selbst und seine Sichtbarmachung.
Nebenzweck sei die menschliche Glückseligkeit.
[23]
Die Naturrechtslehre sah als "notwendige
Voraussetzung" ihrer "vernünftigen",
"der Natur und Veranlagung des Menschen" entsprechenden
Gesetze, "daß es einen Gott gibt, der
...
den Menschen die Verpflichtung auferlegt hat,"
diese Gebote zu befolgen.
[24]
Grotius
hielt sein Naturrecht zwar für so vernünftig, daß es selbst
dann gelten müsse, wenn es keinen Gott gebe; aber gerade das
sei für Gott der Grund, es zu gebieten! Ein Gesetz ohne Gesetzgeber?
Das kam auch den Naturrechtlern nie in den Sinn, jedenfalls
nicht offiziell. Wer das Naturrecht als ohne Gott bestehend
auffaßt und ein Gesetz ohne Gesetzgeber annimmt, schneidet
ihm nach Meinung von Heineccius
den Lebensnerv durch.
[25]
Bis heute steht hinter allem Naturrecht
bis hinein in Urteile der höchsten Bundesgerichte nach dem
Eingeständnis des ersten BGH-Präsidenten "unausgesprochen
die Vorstellung, das schlechthin Verbindliche der Ordnung
der Werte und des daraus entspringenden naturrechtlichen
Sollens beruhe auf göttlicher Setzung."
[26]
Wer
an einen göttlichen Normsetzer glaubt, mag mit dem Naturrecht
selig werden. Für die Ungläubigen aber gilt: Immer sind es
konkrete Menschen, die sich, ihr Sein und ihr Selbst in
positiven Werten definieren. Wem es gelingt, diese Wertsetzungen
in Form staatlicher Normen zu allgemeinen Gesetzen zu erheben,
hat seinem Machtanspruch erfolgreich Geltung verschafft.
Dieser richtet sich auf die allgemeine Durchsetzung dessen,
was der einzelne jeweils für Gottes Willen, der menschlichen
Natur entsprechend oder sonst für recht und billig hält. Ohne
Macht setzt niemand seine Moral durch: Man muß Macht haben,
um moralisch handeln zu können. Wer auf sie verzichtet,
liefert die Welt den Bösewichtern aus.
[27]
"Selbst diejenigen, welche am lautesten
die Humanität predigen, wissen sehr wohl, daß die Gewalt
ihnen nötig wäre, und jedermann weiß, daß sie bei Gelegenheit
auch davon Gebrauch machen."
[28]
Konkretes Recht schafft, wer ein sinndeutendes
Weltbild entwirft und die Macht hat, dieses Weltbild als
staatliches Recht zu setzen - nicht umgekehrt. Rechtsetzung
und -anwendung stellt als Gleich- oder Ungleichsetzung von nur teilweise Gleichem und
Ungleichem immer einen "Akt der Macht" dar,
[29]
einen verallgemeinernden Befehl.
Jeder
beurteilt seine Umwelt aus seiner Welt-Anschauung durch die
Brille seines Gottes. Der höchste Grad gesellschaftlicher Dominanz
ist die normative. Sie ist von demjenigen erreicht, der frei
darüber entscheidet, welche Spielregeln des Zusammenlebens
zu gelten haben, und der selbst darin frei ist, die selbstgesetzten
Spielregeln wieder zu ändern. Er kann das souverän, weil
Gesetze Befehle sind und niemand seinen eigenen Befehlen unterworfen
ist, die doch nur seinem eigenen Willen folgen.
[30]
Die Macht hat, wer die Regeln regelt. Es
geht nicht Macht vor Recht; sondern: Wer die Macht hat, macht
das Recht. Nur er ist wahrhaft frei von Bindungen: er bindet
selbst. Oder mit den Worten Carl Schmitts:
Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.
[31]
Nach einem revolutionären Umsturz pflegt
die siegreiche Revolution nichts eiliger zu haben, als eine
neue Rechtsordnung zu schaffen. Ihre Macht schafft neues Recht.
Im 20. Jahrhundert hatten wir das in Deutschland des öfteren.
Ein scheinbares Paradoxon entsteht nur, wenn man Recht als Inbegriff einer vorgegeben, ewigen Ordnung ansieht und
sich wundert: Macht soll nicht vor Recht gehen, und doch muß
man zugeben: Die siegreiche Macht schafft einen neuen Rechtszustand.
fortsetzendes Unterkapitel:
Der
Tugendbold
[1]
Habermas, Faktizität und Geltung, S.23
und ebd.Fußnote 6 nach Husserl.
[2]
Eibl-Eibesfeldt, Der Mensch, das riskierte
Wesen, S.165 ff.
[3]
Max Stirner, Der Einzige, 2.Abtl.: Ich,
II. Der Eigner, 1. Meine Macht, = S.204 ff.
[4]
Nietzsche, Der Antichrist, Kap.2.
[5]
Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht Bd.I, §
24 II a).
[6]
Ernst Rudolf Huber, Bau und Gefüge des
Reiches, 1941, S.51 f., zit nach - G.Maschke, in: C.Schmitt,
Staat, Großraum, Nomos, S.361.
[7]
Schopenhauer, Über das Fundament der Moral,
§ 8; Ethik, Werke Bd.7 S.194.
[8]
Carl Schmitt, Die Tyrannei der Werte, S.55.
[9]
Vgl. Hobbes, Lehre vom Körper; I.Teil ,
6.Kap., Ziff.7 = S.63.
[10]
Sombart, Der proletarische Sozialismus
I, 1924, 87.
[11]
Carl Schmitt, Die Tyrannei der Werte, S.58.
[12]
Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr.6.
[13]
Lorenz, Der Abbau des Menschlichen, S.153.
[14]
Hobbes, Leviathan, 1.Teil, 10. Kapitel,
S.81 f.
[15]
Pufendorf, De officio hominis, I. Kap.7,
§ 1, = S.78 f.
[16]
Dürig in Maunz-Dürig, Komm.zum GG, Art.1
Rdn.1.
[17]
Dürig in Maunz-Dürig, Komm.zum GG, Art.1
Rdn.8.
[18]
Radbruch, Der Relativismus in der Rechtsphilosophie,
GRGA, Bd.3, S.17.
[19]
Vgl.C.Schmitt, Über die drei Arten...,
S.18.
[20]
Radbruch, Der Zweck des Rechts, GRGA Bd.3,
S.39 (43).
[21]
Carl Schmitt, Was bedeutet der Streit um
den "Rechtsstaat?" (1935), in: ders., Staat, Großraum,
Nomos, S.120.
[22]
Bodin, Six Livres, Buch I, 8. Kapitel,
S.37.
[23]
Heineccius, Elementa iuris, Buch I, Kap.III,
§ 67 = S.62; ebd. § 62 = S.59, § 77 Fußnote = S.69.
[24]
Pufendorf, De officio hominis, 1.Buch,
Kap.3, § 10, S.48.
[25]
Heineccius, Elementa iuris, Kap.I, § 14
= S.31.
[26]
[26]
Weinkauff, Der Naturrechtsgedanke..., NJW 1960,
1689 (1691).
[27]
Machiavelli, Discorsi, II. Buch, 2. Kapitel,
S.172.
[28]
Romieu, Der Caesarismus, S.164.
[29]
Kaufmann, Grundprobleme der Rechtsphilosophie,
S.230.
[30]
Bodin, Six Livres, Buch I, 8.Kap., S.25
f.
[31]
Carl Schmitt, Politische Theologie, S.11.