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Der Tugendbold

Auszug aus: Klaus Kunze, Mut zur Freiheit, 1998, S.64 1998
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La Mettrie gehörte zu den modernsten Denkern des 18. Jahr­hun­derts. Trotz sei­nes zeitbedingten Ho­ri­zon­tes hat er Ein­sichten der Phy­­siologie und Psy­cholo­gie in er­staunlichem Ma­ße vor­weg­ge­nom­men. Nach Eibl-Eibesfeldt könn­ten ethische Nor­men in Soll­mu­­stern ge­netisch fest­ge­schrie­ben sein. Er wies auf Hinweise in Stu­dien ame­ri­kanischer Soziobio­lo­gen hin, nach de­nen normgerech­tes Ver­­halten durch En­dorphin­aus­schüt­tung belohnt wer­de. Da­bei han­delt es sich um Hirn-Opioide: vom Organismus im Zen­tral­ner­ven­sy­stem erzeugte Sub­stan­zen, die an­ge­nehme Ge­fühls­zustände wie Wohl­­­beha­gen aus­lö­sen. [1] Der Arzt La Mettrie hatte das schon 1748 ge­­ahnt und Ge­fühle als "Modifikationen unseres Or­ga­nis­mus" be­zeich­net. "Das Emp­fin­den, das uns glücklich macht, hängt eben­so von der Mischung, der Zir­kula­tion und dem Spiel flüs­si­ger und fester Stof­­fe ab wie die Ge­nia­lität oder Be­schränktheit un­se­res Geistes." Die Wir­­kung von Opia­ten nennt La Mettrie aus­drücklich als Beweis. [2]

1748 floh der Atheist La Mettrie vor den Behörden nach Sans­souci, wo er nach seiner Façon schreiben wollte. Sein Anliegen war die Be­frei­ung der Men­schen von dem, "was man als Schuldgefühle be­­­zeichnet", die er vor al­lem auf "frühe Prägun­gen" zurückführte, "die einst das Ge­­­wis­sen gebildet hatten." Um diesen Schuld­komplex zu knacken, erklärte er auf nominalisti­scher Grund­la­ge: "Wie man be­stimm­ten Zusam­menhängen zwischen Ideen, die man sich angeeig­net hat, den Na­men Wahrheit gab und ei­ner im all­ge­mei­­nen als angenehm emp­fundenen Modi­fika­tion des Ner­­­ven­sy­stems den Namen Glück, so gab man glei­cherweise den Na­men Tu­gend sol­chen Handlun­gen, die dem politischen wie dem ge­sell­­schaft­li­chen Le­ben von Vorteil sind. La­ster und Verbrechen schließ­lich sind Na­­men für Hand­lun­gen, die das eine wie das andere unter­graben und schä­­­di­gen." Der Ver­bre­cher stelle sein Interesse über das der All­ge­mein­heit und müsse nur aus die­sem prakti­schen Grund be­straft wer­den, weil sonst "das ganze Ge­bäu­de der Gesellschaft nicht mehr stabil wä­re und zu­sam­men­fiele." Gut und Böse wie auch Tu­gen­den und La­ster beruhten auf will­kür­li­chen Konventionen. Mit ihnen mo­­bi­li­siere man die Ein­bil­dungs­kraft der Menschen, "um sie über de­ren Ge­fühle zu mani­pu­lie­ren. Auf diese Wei­se bewirkt ein bloßes Hirn­­ge­spinst etwas Positi­ves in der Rea­li­tät." [3] Das höchste Glück sei zwar das Genießen kör­per­li­cher und geistiger Wonnen ohne schlechtes Gewis­sen; es gebe da aber auch ein paar seltsame Käuze, die nach ein­ge­bil­de­ten Tugen­den glück­lich leb­ten. So glaubten man­che "an ein jen­sei­ti­ges Leben" und "geben sich zweifel­los verführe­rischen Einbildungen hin, die sie über das Ster­ben trösten, und dies tun sie umso in­tensiver, je unglücklicher sie in die­sem Leben sind. Wenn sie dann ein ebenso red­liches wie from­mes Leben führen, ist ihre Hoff­nung größer als ihre Furcht. Sie sind zwar betrogen, aber zu ihrem Vorteil." Auch bei der Tu­gend sei "das letzte Ziel immer die Lust", [4] die sich eben auch durch das Befolgen von Tugen­den einstellen könne.

Die moderne Forschung teilt offenbar die Meinung, von der Norm ab­wei­chen­des Verhalten erfülle uns auf chemischem Wege mit je­­nem Unbeha­gen, das wir schlechtes Gewissen nennen. Das hilft uns lei­­der nicht bei der ent­scheidenden Frage weiter, wel­che konkreten Tu­­­gen­den wir annehmen sollen. Anscheinend schüttet un­ser Kör­per Opio­ide aus, wann immer wir meinen, un­seren Tugenden zu fol­gen, und zwar ziem­lich unbeeindruckt da­von, was an­deren Leuten und an­de­ren Kul­turen für tugendhaft gilt. Mancher steigert sich ge­ra­dezu in ei­nen Tu­gendrausch hinein. "Es gibt Menschen, die von ih­rer Tu­gend ge­­ra­de­zu trunken sind, Tugendbolde gewis­sermaßen." Vor allem öf­fent­lich zur Schau gestellte Tugendhaftigkeit spornt gewaltig an, sich "auf die Spit­ze der Rangpyramide der Tugendhaften zu stel­len," [5] selbst wenn wir "in der Regel nur sehr dürftige Helden der Tu­gend sind" und von ihr am meisten haben, "wenn wir sie an die gro­ße Glocke hängen. Kaum jemand tut etwas Gutes, wenn dies ver­bor­gen bleibt." [6]

fortsetzendes Unterkapitel: Der Fanatiker



[1] Eibl-Eibesfeldt, Der Mensch, das riskierte Wesen, S.81 f., 177.

[2] La Mettrie, Über das Glück, S.19,24 f.,27 f.

[3] La Mettrie, Über das Glück, S. 54,11,72,46.

[4] La Mettrie, Über das Glück, S. 38, 68.

[5] Eibl-Eibesfeldt, der Mensch, das riskierte Wesen, S.177, 178.