Der Fanatiker
Zuweilen
identifiziert sich jemand mit seinen normativen Idealen so stark,
daß er seine eigene Existenz mit ihrer Durchsetzung stehen und
fallen sieht. Dann wird er zum Fanatiker und lebt nur noch für
sein fanum, sein Heiliges.
Mit fanaticus bezeichneten
die Römer einen von schwärmerischer Raserei Ergriffenen. Vor
allem persönlichkeitsschwache Menschen neigen dazu, ihre
eigene innere Leere dadurch zu kompensieren, daß sie eine bestimmte
fixe Idee zu ihrem alleinigen Lebensinhalt machen und ihr Weltbild
nur noch auf die Durchsetzung dieser Idee stützen. Sie versetzen
sie wie einen Fixstern in ein dazu erfundenes Jenseits und erhöhen
subjektiv ihre eigene Bedeutung dadurch, daß sie als Streiter
für das mit der Idee identifizierte Gute gegen irgendein Böses
auftreten. Die "glühende Überzeugung" von einer "heiligen
Verpflichtung" ist häufig der "rettende Strohhalm
für das versinkende Ich."
[1]
Die überwertige fixe Idee wird schließlich
zum Mittelpunkt der eigenen Existenz, für die und aus der allein
der Fanatiker noch lebt.
Eine
solche Persönlichkeitsstruktur bringt den Typus des fanatischen
Parteigängers hervor. Seine Organisation ist ihm "Lebensinhalt
und Mittelpunkt rastloser Tätigkeit für die revolutionären
Ziele. Viele Mitglieder verschreiben sich der einmal als
richtig erkannten Sache bis zur Selbstpreisgabe. Der Glaube
an die Erkennbarkeit des »Wahren« und »Guten« bringt eine
dualistische Weltsicht hervor, in der nur Gut und Böse,
Wahrheit und Lüge, Freund und Feind ihren Platz haben."
[2]
Es
ist also typisches Merkmal des normativistischen Fanatikers, daß
er unfähig ist, seine Ideen gedanklich in Frage zu stellen.
Er projiziert sein eigenes Selbst vollständig auf seinen Glaubensinhalt
und ist sich des Mechanismus nicht bewußt, daß dessen Normen
nichts als transzendierte Abbilder seines eigenen Ichs und seiner
Wünsche, Ängste und Hoffnungen sind. Die "Quelle seiner Kraft
liegt darin," sich als Vertreter "eines mächtigen, herrlichen
unzerstörbaren Ganzen" zu fühlen. Sein Glaube dient der
"Identifikation, in dem das Individuum als Individuum zu
bestehen aufhört und Teil eines Ewigen wird."
[3]
So bildet dem religiösen Menschen christlicher
Prägung sein Gott den Zentralwert, auf den er sein Sein ausrichtet.
Gegenüber der Hoffnung auf ein Aufgehen seiner Seele, also seines
Ichs, im Paradies ordnete er alle anderen möglichen Werte unter.
Das Paradies ist der jenseitige Raum, in dem sein Gott allumfassend
anwesend ist. Zu den Werten untergeordneter Bedeutung zählt
auch sein diesseitiges leibliches Leben. Das jenseitige Seelenheil
hat in jedem Fall Vorrang. Im Lichte des idealen, paradiesischen
Jenseits erscheint das Diesseits als unvollkommenes Abbild,
als Jammertal und letztlich zu überwindendes Durchgangsstadium.
Das
Ewige und Unzerstörbare, mit dem der Fanatiker eins werden möchte,
ist häufig ein Kollektiv konkreter Menschen wie ein Volk oder
ein gedachtes Kollektiv wie die
Arbeiterklasse. Wer bescheidener ist, dem reicht im Zweifelsfall
auch ein Fußballverein. In jedem Fall sucht ein solcher Fanatiker
in einem Gemeinschaftserlebnis die kollektive Nestwärme, deren
er bedarf, weil sein Selbstbewußtsein nicht erträgt, die Last
des Lebens und der persönlichen Verantwortung allein zu tragen.
Der Gegentypus zum Kollektivisten ist der Individualist.
Während es diesem, mit Nietzsche
gesprochen, in der Nähe zu vieler Menschen stinkt, bedarf jener
geradezu des kollektiven Kuschelgefühls. Während sich ein
Willensstarker wie Nietzsche einmalig und in seinen geistigen
Möglichkeiten unbegrenzt fühlt, schwärmte Jung von der "Aufhebung
von Einmaligkeit und Begrenztheit des Einzelwesens."
[4]
Motiv des kollektivistischen Fanatikers ist ein harmoniebedürftiges
Gemeinschaftsfühlen, das die Gegensätze zwischenmenschlichen
Ringens in einer kollektiven Überexistenz aufhebt und das schwache
Individuum von der Verantwortung entlastet. Je nach Geschmack
erfüllt aber nicht nur ein Massenaufmarsch mit Fahnenschwenken
diesen Wunsch. Der einzelne kann sich auch dann mit der Gemeinschaft
eins fühlen, wenn er sie in seiner Vorstellung in einen riesigen
Diskutierclub freundlicher Mitbürger verwandelt, aus dessen
allseitiger Verständigung eine kollektive Meinung hervorgeht,
als deren Urheber sich jeder Teilnehmer fühlen darf.
Fanatiker
können ganz verschiedene Werte verabsolutieren. In manchen Zeiten
hatten Menschen bestimmten Standes ihr Dasein ganz auf ihre persönliche
Ehre ausgerichtet: Ihr ordneten bekanntermaßen Offiziere den
Wert ihres Lebens unter, wenn sie nach hoffnungslosen Spielschulden
oder aus irgend einem anderen Anlaß Selbstmord begingen. Ein
Anlaß für die Beendigung des eigenen Lebens besteht für jemanden,
der eine solche Werthaltung einnimmt, immer dann, wenn die persönliche
Ehre nur durch die Selbsttötung wieder hergestellt werden kann.
"Ehre ist mehr als Leben," formulierte diese Werthaltung
knapp E.J.Jung.
[5]
Ist es nicht der Selbstmord, so doch die
Inkaufnahme des eigenen Todes in einem waghalsigen Duell
oder einer ähnlichen lebensgefährlichen Veranstaltung, wenn
es unehrenhaft wäre, das Leben nicht zu wagen. Ebenso großzügig
mit dem Leben anderer geht der gehörnte Ehemann um, der zur Wiederherstellung
seiner Ehre wahlweise den Nebenbuhler oder die Ehefrau oder beide
erschießt.
Das
Leben als Wert steht auch für den überzeugten Pazifisten im Hintergrund.
Wer dem Frieden als alleinigem Wert huldigt und diese Entscheidung
auch tatsächlich bis zur letzten Konsequenz praktiziert, verteidigt
sich und die Seinen nicht gegen gewalttätige Angriffe auf
ihr Leben. Die Gretchenfrage nach dem zentralen Leitwert eines
Menschen stellt sich spätestens immer im tragischen Konfliktsfall,
wenn die Befolgung der aus einem Werte abgeleiteten Tugend die
Befolgung der aus einem anderen Wert abgeleiteten Tugend unmöglich
macht.
Der
unbedingte, aus einem alleinigen Prinzip entwickelte Wahrheitsanspruch
ist ein typisches Merkmal fanatischen Denkens. Er bezieht sich
nicht auf das im täglichen Erleben faktisch Nachprüfbare, sondern
auf dessen Interpretation im Lichte der selbstgesetzten Werte
und Normen. Unter der Geltung einer einheitlichen Ideologie,
also eines kohärenten, von einem Zentralwert ausgehenden Gedankengebäudes,
ist Wahrheit jede Interpretation
der Umwelt aus den Kategorien der eigenen Weltsicht. "Für
'die' Wahrheit", spottet Kondylis,
"kann man allerdings sterben - aber nur für die eigene,
d.h. für jene, die sich mit der eigenen Identität deckt, so daß
Verteidigung 'der' Wahrheit und Verteidigung der eigenen Identität
letztlich zusammenfallen."
[6]
Weil der Angriff auf seine Wahrheit den Fanatiker existentiell trifft, kennt er in ihrer
Verteidigung kein Pardon: "Wer sich selbst im Besitze unumstößlicher
Wahrheiten wähnt, kann dem Andersdenkenden nicht mit Toleranz
begegnen."
[7]
"»Es ist unmöglich,«" zitiert Johann
Braun
aus dem 'Gesellschaftsvertrag' von Rousseau
, "»mit Leuten, die man für verdammt hält, in Frieden zu
leben.« Wo ein Teil der Bürger in einem Teil der anderen
...
nicht Rechtsgenossen, sondern Feinde erblickt, die den Lebensentwurf,
den man für sich selbst hegt, gefährden," kann "existentielle
Feindschaft auch auf dem Boden des Rechtsstaates jederzeit
aufbrechen."
[8]
Daß
ein anderer sich für andere Grundwerte entscheiden und die Welt
ganz anders sehen könnte, ist dem fanatischen Ideologen unbegreiflich.
Er erklärt das - nicht ohne Gruseln - zum "falschen Bewußtsein"
[9]
. Sein Unwerturteil über Andersdenkende fällt
noch moderat aus, wenn er sein Normengebäude bloß weltlich
als Ethik vertritt, dagegen unnachsichtig, wenn er es religiös
überhöht und sich einbildet, seine Ideen seien göttlichen Ursprungs,
und dieser Gott wache eifersüchtig über ihre Einhaltung. Im
ersten Fall erscheint der Verstoß gegen die werthaltige Norm
als bloße Untugend, im letzteren Fall als Sünde. Der Glaubende
kann dann zum unbarmherzigen Vollstrecker der Gebote seines
Gottes werden, und der Moralist zum Scharfrichter im Namen seiner
Moral.
fortsetzendes
Unterkapitel: Der Universalist