Der Prinzipienreiter
Jeder
kennt Kleists
Querulanten Michael Kohlhaas, der das Prinzip der Gerechtigkeit ad absurdum führte und auf das Rad geflochten wurde. Alle Prinzipienreiter
möchten das Zusammenleben einem starren Prinzip unterwerfen
und übersehen dabei, daß bloße Prinzipien ihrer Natur nach
formal sind und keine Antworten auf konkrete Fragen geben können.
Jede zwischenmenschliche konkrete Lage kann im Lichte unterschiedlicher
Prinzipien betrachtet werden. Ein Prinzip ist der Inbegriff
der Forderungen, die eine Lage an uns richtet, wenn wir sie
allein unter einem isolierten Gesichtspunkt betrachten. Diese
verschiedenen möglichen Perspektiven der Betrachtung entstammen
dem Bedürfnis, die Wirklichkeit in Sachgebiete zu kategorisieren,
um sie besser zu verstehen. Jedes autonome Sachgebiet formuliert
aufgrund seiner eigenen Unterscheidungskriterien sein formales
Prinzip.
So
unterscheidet das Ökonomische zwischen Gewinn- und Verlustbringendem
und stellt die Maxime auf, prinzipiell gewinnbringend zu handeln.
Dagegen fordert das Moralische uns ab, gut zu handeln und nicht
böse; das Ästhetische verwirft Häßliches und strebt nach dem
Schönen; die Gerechtigkeit spricht jedem das Seine zu und erklärt
für ungerecht, Gleiches ungleich zu behandeln; und die Kriterien
des Politischen unterscheiden den Freund vom Feinde und errichten
das Prinzip, sich gegen diesen selbst zu erhalten.
[1]
Keines dieser Prinzipien kann uns auch
nur in einem einzigen Fall eine konkrete Antwort auf eine
bestimmte Einzelfallfrage geben. So ist es eine typische
Leerformel, wenn Thomas von Aquin
als Grundgebot des Naturrechts bezeichnete: "Das
Gute ist zu tun und ihm nachzufolgen, und das Böse ist zu
meiden." Alle Prinzipien sind zunächst nichtssagend
und inhaltsleer. Wer sich auf solche Leerformeln beruft, formuliert
nur Phrasen. Niemand widerspricht ihm, weil jeder sie mit
seinem eigenen Inhalt füllt.
Diesen
Wertinhalt, nämlich zum Beispiel unser Gerechtes, bestimmen wir, indem wir
das formale Gerechtigkeitsprinzip - Gleiches gleich
zu behandeln - mit unserer ganz persönlichen Weltanschauung kombinieren: Kraft deren bestimmen wir, welche inhaltlichen
Fragen beispielsweise für eine Gleich- oder Ungleichbehandlung
ausschlaggebend sein sollen.
[2]
Ebenso gewinnt das moralische Prinzip,
Gutes zu tun, erst konkreten Sinn, wenn wir näher bestimmte
Tugenden auf unsere Lage anwenden. Es gibt kein Gutes an sich,
nichts an sich Nützliches, keinen Feind an sich und nichts schlechthin
Gerechtes. Aus Prinzipien wie "der Gerechtigkeit allein
kann man
...
fertige Rechtssätze nicht ableiten," denn sie setzt einen
externen Maßstab voraus.
[3]
Prinzipienreiter sehen das nicht ein, weil
sie das formale Prinzip nicht von ihrem gewillkürten Inhalt
unterscheiden können oder wollen. Selbstbewußt erklären
sie ihr Gutes zum Guten an sich, ihren Feind zum Feind an sich
und ihr Recht zum Recht an sich. Das letzte hat unter anderem
die fatale Nebenfolge, daß abweichendes Recht nicht als anderes
Recht erscheint, sondern als überhaupt kein Recht, als Unrecht
schlechthin.
Im
Alltag pflegen die verschiedenen Grundprinzipien gegeneinander
zu streiten. Wir befinden uns in dauerndem Zielkonflikt zwischen
dem, was uns nützlich erscheint, aber unmoralisch; was gerecht
ist, aber unbarmherzig; oder böse, aber verlockend. Der Prinzipienreiter
hat diesen täglichen Zielkonflikt ein für allemal gelöst: Es
gibt ihn nicht mehr für den, der die Welt nur mit moralischen
Augen betrachtet; für den Politiker, der alles in den Freund-Feind-Gegensatz
preßt; für den Geldgierigen, der sich nur für das Nützliche
interessiert; für den Linksideologen, der das Weltgeschehen
auf die gegensätzlichen Prinzipien von Kapital und Arbeit reduzieren
will oder für den reinen Ästheten. Ein und derselbe Vorfall
kann aus Sicht verschiedener Prinzipien völlig verschieden
betrachtet und gewertet werden. So empfand Ernst Jünger
die Reichskristallnacht in erster Linie als unästhetisch.
Wehrlose heimzusuchen galt ihm als häßlich. Es entbehrte
der Form und des Stiles.
Jünger zufolge treffen sich aber das Ästhetische und das
Moralische auf einem sehr niedrigen Punkt
[4]
in ihrer Zustimmung oder Ablehnung eines
Phänomens.
Zu
bedauern ist, wer vor lauter Moral nicht mehr im Stande ist,
das Schöne vom Häßlichen zu unterscheiden, vor lauter Geldgier
das Anständige nicht mehr vom Unanständigen unterscheiden will
oder ein anderes Prinzip auf Kosten der übrigen zu Tode reitet.
In gewissem Umfang aber muß jeder sich auf Präferenzen festlegen.
Diese begründen prinzipielle Vorentscheidungen für geschlossene
Weltbilder: Das nur Moralische liegt dem theologischen Weltbild
zugrunde. Wer auf den Besitz seiner materiellen Güter Wert
legt, ergänzt sein ökonomisches Weltbild mit einer Eigentumsmoral:
So ist Liberalismus die Ökonomie plus eine bestimmte Moral.
Diese besagt, daß niemand dem anderen etwas wegnehmen darf.
Wer auch gerne Güter hätte, die sich aber leider in den Händen
anderer befinden, versieht die Ökonomie dagegen mit einer
inhaltlich anderen, der Gleichheitsmoral: Auch der Sozialismus
ist Ökonomie plus Moral; sie besagt, daß alle gleich viel
haben sollen. Auch andere politische Anschauungen lassen
sich auf die spezifische Kombination einzelner Prinzipien zurückführen.
Der Nationalsozialismus entstand auf Grundlage des Politischen,
das man mit sozialdarwinistischen Sollensvorstellungen von
einem Naturrecht des rassisch Höheren gegen Niedere füllte.
Anders
der Faschismus: Das Ästhetische, nämlich die monumentale
Form, die heroische Geste, ein bestimmter Stil machte sein
innerstes Wesen aus
[5]
und verband sich mit dem Politischen. Auf
eine kurze Formel gebracht besteht das Wesen des Menschen
für den moralisierenden Theologen darin, Geist zu sein und
einem moralischen Ideal zu dienen. Der säkularisierte Moralist
verlegt dieses Ideal bloß in den Menschen hinein und behauptet,
innerstes Wesen des Menschen sei die ihm immanente Moral;
folglich ist der nicht Moralische ein Unmensch. Der militante
Dezisionist widerspricht ihm nicht darin, daß der Mensch schlechthin
ein innerstes Wesen habe, doch sei dies nicht die Moral, sondern
sein Wille. Sie alle vertreten Teilwahrheiten, und aus biographischen
Gründen neigen die extremen Vertreter jedes dieser Menschenbilder
dazu, jeweils ihr persönlichstes innerstes Erleben als Maßstab
für einen Menschen schlechthin zu machen, den es nicht gibt.
Fortsetzendes
Kapitel: Der
Extremist