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Der Prinzipienreiter

Auszug aus: Klaus Kunze, Mut zur Freiheit, 1998, S.73 ff.

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Jeder kennt Kleists Querulanten Michael Kohlhaas, der das Prinzip der Ge­rech­tig­keit ad absurdum führte und auf das Rad geflochten wur­de. Alle Prin­zipi­enreiter möchten das Zusammenleben einem star­ren Prinzip unter­werfen und übersehen da­bei, daß bloße Prinzipien ih­rer Natur nach formal sind und keine Antworten auf konkrete Fragen ge­ben können. Jede zwi­schenmenschli­che konkre­te Lage kann im Lich­te un­terschiedlicher Prinzipien betrachtet werden. Ein Prin­zip ist der Inbegriff der Forde­rungen, die eine Lage an uns richtet, wenn wir sie allein unter einem iso­lierten Ge­sichtspunkt betrachten. Diese ver­schiedenen möglichen Perspektiven der Betrachtung entstammen dem Bedürfnis, die Wirk­lichkeit in Sachgebiete zu kate­gorisie­ren, um sie bes­ser zu verstehen. Jedes auto­nome Sachgebiet formuliert auf­grund seiner eige­nen Unterscheidungskriterien sein formales Prinzip.

So unterscheidet das Ökonomische zwischen Gewinn- und Ver­lust­­­brin­gendem und stellt die Maxime auf, prinzipiell gewinnbringend zu handeln. Dagegen for­dert das Moralische uns ab, gut zu handeln und nicht böse; das Ästhetische ver­wirft Häßliches und strebt nach dem Schönen; die Gerechtig­keit spricht jedem das Seine zu und er­klärt für ungerecht, Gleiches ungleich zu behandeln; und die Kriterien des Politischen unterscheiden den Freund vom Feinde und errichten das Prinzip, sich gegen diesen selbst zu erhal­ten. [1] Keines dieser Prin­­zipien kann uns auch nur in einem einzigen Fall ei­ne kon­krete Ant­wort auf eine bestimmte Einzelfallfrage ge­ben. So ist es eine ty­­pi­sche Leer­­formel, wenn Tho­­mas von Aquin als Grundgebot des Na­­tur­­rechts be­zeich­nete: "Das Gute ist zu tun und ihm nach­zufolgen, und das Bö­se ist zu mei­­den." Alle Prinzipien sind zunächst nichts­sagend und inhalts­leer. Wer sich auf solche Leerfor­meln beruft, formuliert nur Phrasen. Nie­mand wider­spricht ihm, weil jeder sie mit sei­nem ei­ge­nen In­halt füllt.

Diesen Wert­in­halt, nämlich zum Beispiel unser Gerechtes, be­stim­men wir, in­dem wir das for­ma­le Ge­rech­tig­keits­prin­zip - Glei­ches gleich zu be­handeln - mit un­serer ganz per­sön­li­chen Welt­an­schau­ung  kombinieren: Kraft de­ren be­stim­men wir, wel­che inhaltlichen Fra­gen bei­spiels­weise für ei­ne Gleich- oder Un­gleich­be­hand­lung aus­schlag­­ge­bend sein sol­len. [2] Ebenso gewinnt das mo­ralische Prin­zip, Gutes zu tun, erst konkreten Sinn, wenn wir näher bestimmte Tu­gen­den auf unsere Lage anwenden. Es gibt kein Gutes an sich, nichts an sich Nützliches, keinen Feind an sich und nichts schlecht­hin Ge­rech­tes. Aus Prinzipien wie "der Gerechtigkeit allein kann man ... fer­tige Rechts­sätze nicht ableiten," denn sie setzt einen externen Maßstab vor­aus. [3] Prinzipien­reiter sehen das nicht ein, weil sie das formale Prin­zip nicht von ihrem ge­willkürten Inhalt unter­schei­den können oder wol­len. Selbstbe­wußt erklären sie ihr Gutes zum Guten an sich, ihren Feind zum Feind an sich und ihr Recht zum Recht an sich. Das letz­te hat unter anderem die fatale Ne­ben­folge, daß abweichendes Recht nicht als anderes Recht er­scheint, son­dern als überhaupt kein Recht, als Unrecht schlechthin.

 Im Alltag pflegen die verschiedenen Grundprinzipien ge­gen­ein­an­der zu strei­ten. Wir befinden uns in dauerndem Zielkonflikt zwischen dem, was uns nützlich er­scheint, aber unmoralisch; was gerecht ist, aber unbarmherzig; oder böse, aber ver­lockend. Der Prinzipienreiter hat diesen täglichen Ziel­konflikt ein für allemal gelöst: Es gibt ihn nicht mehr für den, der die Welt nur mit moralischen Augen be­trach­tet; für den Politi­ker, der alles in den Freund-Feind-Gegensatz preßt; für den Geldgieri­gen, der sich nur für das Nützliche interessiert; für den Linksideolo­gen, der das Weltgeschehen auf die gegen­sätzlichen Prinzipien von Kapital und Arbeit re­duzie­ren will oder für den rei­nen Ästheten. Ein und derselbe Vorfall kann aus Sicht ver­schie­de­ner Prinzi­pien völ­lig ver­schieden betrachtet und gewer­tet werden. So emp­fand Ernst Jün­ger die Reichs­­kri­stall­­nacht in erster Linie als un­äs­the­tisch. Wehr­lose heim­zu­su­chen galt ihm als häßlich. Es entbehrte der Form und des Sti­les. Jünger zu­folge treffen sich aber das Ästhe­ti­sche und das Mo­ra­li­sche auf ei­nem sehr niedrigen Punkt [4] in ihrer Zu­­stim­mung oder Ab­leh­nung ei­nes Phä­nomens.

Zu bedauern ist, wer vor lauter Moral nicht mehr im Stande ist, das Schöne vom Häßlichen zu unterscheiden, vor lauter Geldgier das Anständige nicht mehr vom Un­anständigen unterscheiden will oder ein anderes Prinzip auf Kosten der übrigen zu Tode reitet. In ge­wis­sem Umfang aber muß jeder sich auf Präferenzen festlegen. Diese be­grün­den prinzipielle Vorentschei­dungen für geschlossene Welt­bilder: Das nur Mo­ralische liegt dem theologi­schen Weltbild zu­grun­de. Wer auf den Besitz sei­ner mate­riellen Güter Wert legt, er­gänzt sein öko­no­­mi­­sches Welt­bild mit einer Ei­gentumsmora­l: So ist Li­bera­lismus die Öko­­no­mie plus eine bestimmte Mo­ral. Diese besagt, daß niemand dem ande­ren etwas wegnehmen darf. Wer auch gerne Gü­ter hätte, die sich aber leider in den Hän­den anderer befinden, ver­sieht die Öko­no­mie da­ge­gen mit einer in­halt­lich anderen, der Gleichheitsmoral: Auch der So­zia­lismus ist Öko­no­mie plus Moral; sie besagt, daß alle gleich viel ha­ben sol­len. Auch andere poli­tische Anschauungen lassen sich auf die spezifische Kombination ein­zelner Prinzipien zurückführen. Der Na­tionalsozialismus entstand auf Grundlage des Poli­tischen, das man mit soziald­arwinistischen Sollens­vorstel­lungen von einem Na­tur­recht des rassisch Höheren gegen Niedere füllte.

Anders der Faschismus: Das Ästhetische, nämlich die mo­nu­men­ta­le Form, die he­roische Ge­ste, ein bestimmter Stil machte sein in­ner­stes Wesen aus [5] und ver­band sich mit dem Politischen. Auf eine kur­ze Formel ge­bracht be­steht das We­sen des Menschen für den mo­ra­li­sierenden Theologen darin, Geist zu sein und einem morali­schen Ideal zu dienen. Der säkulari­sier­te Mo­ralist verlegt die­ses Ideal bloß in den Menschen hinein und behaup­tet, inner­stes Wesen des Men­schen sei die ihm imma­nente Moral; folglich ist der nicht Moralische ein Unmensch. Der militante Dezisionist widerspricht ihm nicht darin, daß der Mensch schlechthin ein innerstes Wesen habe, doch sei dies nicht die Moral, sondern sein Wille. Sie alle ver­treten Teil­wahrhei­ten, und aus biographischen Gründen neigen die extremen Ver­treter je­des die­ser Men­schen­bilder dazu, jeweils ihr persönlich­stes inner­stes Erle­ben als Maßstab für einen Menschen schlechthin zu ma­chen, den es nicht gibt.

Fortsetzendes Kapitel: Der Extremist



[1] Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, S.26.

[2] Chaim Pe­rel­man, Über die Ge­rech­tig­keit, S.28, 43.

[3] Gustav Radbruch, Der Zweck des Rechts, GRGA, Bd.3, S.39 (41).

[4] Ernst Jünger, Interview, in: ZDF-Sendung von Böhm/Hochhuth am 28.3.1995.

[5] Armin Mohler, Der faschistische Stil, in: Liberalenbeschimpfung, S.79 ff.