Auszug
aus: Klaus
Kunze, Mut zur Freiheit, 1998, S.77 ff.
(Zurück zum vorangehenden Unterkapitel: Der
Prinzipienreiter)
Die
semantische Erfindung des Extremismus ist ein Kind polemischer
Bedürfnisse wie jeder politische Begriff. Den Gegner plakativ
schon mit einem Schlagwort zu diskriminieren hat Tradition.
Gegenüber seinem begrifflichen Kern führt das Wort vom Extremisten
in der parteipolitischen Arena und den Massenmedien ein Eigenleben.
Es hat wie seine Vorgängerbegriffe des Heiden, des Ketzers, des Arbeiterverräters,
des Novemberverbrechers,
des Nazis und viele andere mehr den Zweck,
sein Objekt sozial isolieren, zu diskriminieren und schon verbal
zu stigmatisieren. Im Vormärz stempelte man amtlich zu Demagogen diejenigen,
vor denen man die biedermeierlichen Bürger warnte und deren
Schriften die Zensur verbot. Heute heißt man sie Extremisten. Gegenwärtig werden mindestens drei Extremismusbegriffe
nebeneinander benutzt: Der eine ist inhaltsleer und dient
zur medialen Stigmatisierung, der zweite steht als Rechtsbegriff
synonym für "Verfassungsfeind".
Ausgangspunkt
des dritten Extremismusbegriffes ist die Totalitarismushypothese,
ein Kind der Nachkriegszeit. Wer von Extremismus spricht, sieht
sich selbst als Mittelpunkt eines selbstgeschaffenen politischen
Kosmos, von dem aus andere Positionen mehr oder weniger weit
entfernt sind, manche sogar extrem weit. Die Beobachtung
struktureller Ähnlichkeit der Herrschaftsorganisation von
Sozialismus und National-Sozialismus führte zur Totalitarismustheorie,
die besagt, daß die Extreme von rechts
und links sich phänomenologisch berühren.
Als Diktatur setzen sie ihre Parteimacht total durch und bedienen
sich typischer Organisationsstrukturen wie Massenorganisationen.
Eine verbindliche Ideologie mit Wahrheitsanspruch rundet das
Bild totalitärer Herrschaft ab. Unter dem Begriff Ideologie stellten die Schöpfer der Totalitarismustheorie sich eine
mit Wahrheitsanspruch auftretende falsche
Lehre vor, im Gegensatz zu ihrer eigenen, richtigen Lehre. Die letztgenannte erklärt für gewiß richtig und wahr,
daß es Gewißheit über Wahrheit und Richtigkeit überhaupt nicht
gebe.
Nachdem
das Bundesverfassungsgericht Anfang der 50er Jahre die national-sozialistische
SRP und die international-sozialistische KPD aufgelöst hatte,
wurden diese Ideologien nur noch in mannigfacher Verkleidung
und Abschwächung vertreten. Um einem erneuten Verbot zu entgehen,
teilweise wohl auch unter dem Eindruck gewandelter tagespolitischer
Probleme, organisierten sie sich als NPD bzw. DKP neu und
paßten sich verbal weitgehend dem Zeitgeschmack an, so daß
ihnen mit dem Totalitarismusvorwurf nicht direkt beizukommen
war. Aus dem polemischen Bedürfnis, gleichwohl selbst noch
die Rudimente ihres Denkens bekämpfen zu können, erfand man
in den 60er Jahren den Begriff des Radikalen.
Nachdem der linke Marsch durch die Institutionen massenhaft
"Linksradikale" und radikale Ökologen in Amt und
Würden befördert hatte, ging man zartfühlend zum Extremisten als Nachfolgebegriff über. Als Extremisten wurden diejenigen
Subjekte, die einen bestimmten ideologischen Standpunkt
verabsolutierten, von denjenigen Subjekten bezeichnet,
die einen anderen Standpunkt verabsolutierten.
Wie
die Begriffe des Ketzers,
des Demagogen und
viele andere gewinnt der Begriff des Extremisten also nur Sinn aus einer bestimmten weltanschaulichen Perspektive
und funktioniert nur im Rahmen des jeweils eigenen ideologischen
Koordinatensystems. Aus Sicht wertfreier, deskriptiver
Betrachtung hingegen ist er inhaltsleer. Wie der Begriff
des Heiden nur besagt,
daß einer kein Christ ist, nicht aber, woran er denn glaubt;
wie der Ketzer nur besagt, daß einer Christ ist,
aber kein rechtgläubiger;
wie der des Dissidenten nur besagt, daß einer Sozialist ist, aber kein linientreuer,
trifft auch der des Extremisten nur eine negative und keine
positive Einordnung. Er besitzt damit die gewünschte Elastizität,
mittels deren - jenseits aller verfassungsrechtlichen Definitionen
- alle in denselben Topf geworfen werden können.
Der
derzeit geltende Rechtsbegriff des Extremismus hat mit dem politikwissenschaftlichen
Begriff nichts zu tun. Juristisch gilt aufgrund der Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts und der ihr folgenden Verfassungsschutzgesetze
zur Zeit als Extremist, wer Verfassungsfeind ist.
[1]
Das ist, wer die freiheitliche demokratische Grundordnung
bekämpft, also konkret, wer einen oder mehrere derjenigen materiellen Prinzipien und Werte beseitigen will, die grundlegender
Bestandteil dieser Ordnung sind. Weil sich die Rechtsbegriffe
des Verfassungsfeindes und des Extremisten decken, ist einer
überflüssig. Weil die einschlägigen Gesetze das Wort "Extremist"
nicht kennen, sollte der Begriff nur politikwissenschaftlich
benutzt werden. Die FdGO wurde vom Bundesverfassungsgericht
aus dem Grundgesetztext abgeleitet und in ihren Einzelmerkmalen
rechtsverbindlich definiert als eine "Ordnung, die
unter Ausschluß jeglicher Gewalt- und Willkürherrschaft
eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage
der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen
Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt. Zu ihren
Grundprinzipien sind mindestens zu rechnen die Achtung vor
den Menschenrechten, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung,
die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit
der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das
Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit der Parteien
mit dem Recht auf ungehinderte Ausübung der Opposition."
[2]
Materiell ist also aus Sicht dieser Wertordnungsentscheidung
des Grundgesetzes ein Extremist, wer nicht an dieselben Werte
glaubt, die sich in diesen Grundprinzipien verkörpern, oder
der sie sogar bekämpft. Wer nicht an sie glaubt, eignet sich
aufgrund des Beamtenrechts zum Beispiel nicht zum Lehrer.
Eine Gruppierung, die andere Werte für vordringlich hält,
kann verboten werden. Handelt es sich um eine politische Partei,
kann sie verboten werden, wenn sie aggressiv-kämpferisch
auftritt.
Die
offenkundige Lücke zwischen agitatorischer, diskriminierender
und stigmatisierender Begriffsverwendung einerseits und verfassungsrechtlichen
Definitionsversuchen andererseits versucht derzeit eine "Extremismusforschung"
zu füllen, die eine Marktlücke für die sonst brotlose Kunst
politikwissenschaftlicher Studien entdeckt hat und sich der
liberalen Rechtgläubigkeit als Großinquisitor empfiehlt.
Selbst mit wissenschaftlichem Anspruch auftretende "Extremismusforscher"
erliegen regelmäßig der Versuchung, in den Anschauungen Andersdenkender
genau die Inhalte vorzufinden und als extremistisch zu verdammen,
die sie aufgrund ihrer eigenen Wertentscheidung zuvor für
Unwerte erklärt haben. Statt brauchbare Kriterien aufzustellen,
anhand deren jede politische oder philosophische Theorie unter
übergeordneten Gesichtspunkten verglichen und beurteilt
werden könnte, werden Kriterien aufgestellt und angewendet,
die nur innerhalb des wertsetzenden Koordinatensystems
des Extremismusforschers und nur aus seiner weltanschaulichen
Perspektive einen Sinn ergeben. So beweist die Extremismusforschung
im Endeffekt nur, was sie schon voraussetzt, daß es nämlich
Leute mit anderer Meinung als derjenigen der Extremismusforscher
gibt.
Ein
brauchbarer Extremismusbegriff müßte in der Lage sein, seine
Kriterien auf sich selbst anzuwenden: Den eigenen Standpunkt
muß er ebenso wertfrei beurteilen können wie einen fremden.
Extremismusforschung mit einem inhaltlichen Vorverständnis,
das den eigenen Standpunkt und die eigenen Werte von vornherein
aus der kritischen Betrachtung ausnimmt, besitzt allenfalls
den Wert weltanschaulicher Selbstvergewisserung. Fruchtbar
ist allein die Frage nach gemeinsamen Denkstrukturen,
[3]
nicht nach vom Standpunkt des Betrachters abweichenden
Denkinhalten, also nach Strukturen, auf deren Vorhandensein
der Forschende sich selbst kritisch befragen und so die Nagelprobe
wissenschaftlicher oder bloß polemischer Motivation ablegen
muß. Diese gemeinsamen Denkstrukturen sind tatsächlich der
zur Intoleranz führende Normativismus, das Ableiten eines
ideologischen Gedankengebäudes aus einer verabsolutierten
Zentralnorm, die fanatische Unterordnung des eigenen Ichs
und des Lebenswertes anderer Menschen unter eine fixe Idee
und der universalistische Geltungsanspruch eines Wertes,
an dessen Wesen die ganze Welt genesen soll. Nur diese rein
deskriptive Betrachtung ohne mitgebrachtes wertendes Vorurteil
eignet sich dazu, eine "extremistische" Denkstruktur
nicht nur beim jeweils Andersdenkenden zu entdecken. Diesem
Irrtum unterliegt dagegen jeder, der seine subjektive Wertentscheidung
objektiviert. "Die formale Struktur der objektivierten
Entscheidung läßt sich an allen bisher historisch bekannten
umfassenden kollektiven und individuellen normativistischen
Weltbildern wiedererkennen."
[4]
Als
Magd polemischer Bedürfnisse macht die Extremismusforschung
richtige Teilaussagen über ihre Gegner, ist aber unfähig, extremistische
Denkstrukturen bei den Etablierten selbst zu finden, deren Brot
sie ißt. Backes
und Jesse
teilen ihre Bösewichter traditionell in rechte
und linke ein: "Linksextreme Doktrinen" ziehen aus der Idee
der menschlichen Fundamentalgleichheit die denkbar radikalen
Konsequenzen, "indem sie die totale Befreiung des Menschen
von allen gesellschaftlichen (politischen, ökonomischen,
kulturellen) Zwängen postulieren und die Errichtung einer
herrschaftslosen Ordnung Freier und Gleicher für prinzipiell
realisierbar erachten." Damit sind sowohl der materielle
Gehalt linken Denkens überhaupt als auch die ideologische,
"extremistische" Denkstruktur treffend beschrieben.
Der
Rechtsextremismus hingegen sei "eine antiindividualistische,
das demokratische Grundaxiom menschlicher Fundamentalgleichheit
negierende Abwehrbewegung gegen die liberalen und
demokratischen Kräfte und ihr Entwicklungsprodukt, den demokratischen
Verfassungsstaat."
[5]
Ein materieller Inhalt "rechtsextremen" Denkens
jenseits der Abwehr "linker" Postulate ist damit
noch ebensowenig beschrieben wie eine ideologische Denkstruktur.
Darum führen Backes und Jesse
fort: "An die Stelle eines auf das Prinzip gleicher politischer
Rechte aller Mitglieder gegründeten Gemeinwesens soll eine
politische Ordnung treten, in der die auf Herkunft, Leistung,
nationaler, ethnischer oder rassischer Zugehörigkeit
basierende fundamentale Ungleichheit der Menschen institutionalisiert
ist." Positionen, die diese Merkmale aufweisen, müßten
sich tatsächlich als "normativistisch" beschreiben
lassen. Wer die Fiktion einer abstrakten Menschengleichheit
zum Wert erhebt, ist ebenso Normendiener und Ideologe wie
derjenige, der jenseits bestehender Gleichheiten eine
fiktive "natürliche" Ungleichheit zur transzendenten
Norm erhebt und den Anspruch an sie knüpft, aufgrund einer
"natürlichen Ungleichheit" sollten bestimmte
Menschen im Namen einer "natürlichen Ordnung" über
andere herrschen.
Infolge
begrifflicher Unschärfe vermag die auf ein vorgegebenes Rechts-Links-Schema
geeichte Extremismustheorie den wesentlichen Unterschied nicht
zu erfassen, der zwischen realistischen und idealistischen
Ordnungsideen besteht. Eine auf unterschiedlicher Leistung
beruhende Herrschaftsordnung ist die liberale des Grundgesetzes
auch, und die unterschiedliche Leistungskraft der Menschen
ist durchaus "institutionalisiert." Sie nimmt das
Faktum verschiedener Leistungsfähigkeit schlicht hin und
institutionalisiert es insofern, als es dem Individuum
grundsätzlich die Früchte seiner Leistungskraft und mit ihnen
unterschiedlichen Einfluß auf das Gemeinwesen beläßt. Sie
macht die unterschiedliche Leistung aber nicht idealistisch
zum Ausgangspunkt einer Ideologie, und daher ist sie ebensowenig
"extremistisch" wie jede andere Ordnungsidee,
welche die menschliche Ungleichheit als Faktum hinnimmt,
ohne ideologische Folgen an sie zu knüpfen.
Realistische
Ordnungsideen suchen die Menschen in ihrer Verschiedenheit
zu nehmen, wie sie sind, und rechnen mit den Menschen in ihrer
Vielfalt und Unzulänglichkeit. Idealistische hingegen setzen
auf eine Idee vom Menschen an sich und gründen darauf ihre
Ordnungsvorstellungen. Idealistisch sind daher "rechte"
Ordnungsideen, die auf eine Rassenmetaphysik die Legitimation
stützen: die einen Menschen sollten wegen "Höherwertigkeit"
über Menschen "niederer" Rasse herrschen. Idealistisch
sind ebenso "linke" Ideen, die aus transzendentem
Gleichheitsglauben die sich aus der vorgefundenen Ungleichheit
von allein ergebende Hierarchisierung beseitigen wollen.
Läßt man den Menschen unter Obwalten nur ökonomischer
Faktoren freien Lauf, differenziert sich die Gesellschaft aufgrund
unterschiedlicher Leistungsfähigkeit der einzelnen bald
von allein aus in Reiche und Arme. Läßt man ihnen unter Geltung
rein kriegerischer Bedingungen ihren Lauf, steht der beste
Kämpfer oben in der Hierarchie. Dasselbe gilt entsprechend
in allen denkbaren Bereichen menschlicher Ungleichheit.
Realistisch ist jede politische Theorie, die dieser Ausdifferenzierung
gleichgültig gegenübersteht. Fundamentalistisches Denken
möchte die Vielzahl möglicher menschlicher Lebensentwürfe
und die Pluralität der Prinzipien bewußt beseitigen und der
Welt ein Ideal als alleingültig aufzwingen. Der Idealist denkt
strukturell eingleisig immer nur in den Kriterien eines bestimmten
Sachgebiets: Er reduziert die Welt auf das Moralische, das
Ökonomische oder ein anderes Sachgebiet.
Ein
geeigneter Anknüpfungspunkt für eine allgemeingültige
Extremismushypothese läßt sich also nur durch die Definition strukturell extremistischen Denkens
finden. Dieses zeichnet sich dadurch aus, daß es die Wirklichkeit
auf ein Sachgebiet reduziert und nur nach seinen isolierten
Kriterien behandelt. Es verbindet sich mit bestimmten materiellen,
absolut gesetzten Wertinhalten. Solcher "Rigorismus der
einzelnen Werte" kann sich "bis zum Fanatismus steigern",
schrieb Hartmann
im Kapitel über die "Tyrannei der Werte".
[6]
Der Wert wird dann zum Ausgangspunkt einer Ideologie.
Diese sucht alle anderen möglichen Kriterien, für die
andere Menschen sich entschieden haben, gänzlich aus dem
sozialen Leben zu tilgen. Das ist der Kern jeder extremistischen
Haltung. Extremisten waren die Ideologen kommunistischer Provenienz,
indem sie die elementaren Bedürfnisse nach individueller Freiheit
und nationaler Einheit und auszutilgen und die Menschen auf
ihre soziale Komponente zu reduzieren suchten. Extremisten waren
erst recht die nationalsozialistischen Ideologen, indem auch
sie die individuelle Freiheit unter grundsätzlichen Verdacht
der Schädigung des Volksganzen stellten und die Menschen letztlich
auf ihre rassische Zugehörigkeit reduzierten. Extremismus finden
wir aber auch, wo in den geistigen Chefetagen unserer Zeit alles
Nationale und alles Sozial(istisch)e unter Extremismusverdacht
gestellt und ein liberaler Kosmopolitismus zur Staatsräson
erhoben wird.
fortsetzendes
Kapitel: Der
politische Normgeltungsanspruch