Zum
Recht wird der Normgeltungsanspruch unter Geltung einer Rechtsordnung.
Recht ist eine Beziehung zwischen Personen: Es ist die
durch den Stifter dieser Ordnung verbürgte Freiheit des einen,
auch gegen den Willen des anderen etwas bestimmtes zu tun
oder zu unterlassen. Ein Recht hat niemand allein
aus sich selbst, sondern erst dann, wenn ein Dritter ihm Recht
gibt. Aus sich selbst hat jeder allenfalls die Macht zu
einem bestimmten Handeln. Ein immanentes "Recht"
dagegen "aus der Natur der Sache" anzunehmen,
ist immer Metaphysik. Niemand hat Rechte "von Natur
aus". Sie ist nichts als ein Gegensatzbegriff zum Menschenwerk:
der Kultur. Man kann die "Natur" drehen und wenden
wie man will: Ihr wohnt kein Recht inne.
Moral-
oder Rechtsordnungen sind Inbegriffe von Beziehungen
vieler Personen untereinander. Kaufmann
[1]
weist auf Thomas
hin, der bereits formuliert hatte: "Ordo
non est substantia, sed relatio" - Ordnung
ist eine Beziehung, keine Substanz. Dem entspricht die
jedem Juristen geläufige Vorstellung, nach der ein Rechtsanspruch
wie ein imaginäres Band zwischen zwei Personen oder
ein dingliches Recht zwischen einer Person und einer Sache
schwebt. Nur hängt dieses Band nicht wie ein Möbiusstreifen
im Unendlichen, sondern es hat immer einer die Leine
in der Hand, und der andere hat sie um den Hals.
Schon
gar nicht ist Ordnung etwa eine metaphysische Wesenheit, eine
Entität, wie Carl Schmitt
1934 in Anlehnung an Santi Romano in völliger Abkehr von
seiner bisherigen dezisionistischen Theorie behauptet hatte.
Diese Wendung hatte einen konservativen, polemischen Hintersinn,
der sich gegen den revolutionären Willküranspruch des Nationalsozialismus
mit seiner Rücksichtslosigkeit gegenüber bestehenden Ordnungen
wandte: Die Entität Ordnung selbst sei es, welche die Regeln bewege wie Spielfiguren.
Die Rechtsordnung sei an konkrete Normalbegriffe gebunden,
die aus sich selbst heraus Normen hervorbringe.
[2]
Eine selbst über dem Willen des Führers
geisternde metaphysische Wesenheit namens Ordnung war aber gar zu leicht als säkularisierte Variante katholischen
Ordnungsdenkens zu durchschauen und fand damals keinen
Anklang.
Auf dieser Idee einer sich ständig selbst reproduzierenden
Ordnung beruhen auch die funktionalistischen Systemtheorien.
Für Marxens
Geschichtsteleologie erschien die bürgerliche Gesellschaft
als anonym herrschendes System. Es stufte seine Akteure zu
einer Art Schachfiguren herab und entzog sich ihrem Einzelwillen.
Ganz ähnlich reduziert Luhmann
gesellschaftliche Vorgänge auf selbstreferentielle Systemkreisläufe.
Solche Ordnungs- und Systemtheorien vermögen aber immer
nur einen Teil der komplexen Wirklichkeit zu beschreiben:
die Funktionsmechanismen innerhalb einer ausdifferenzierten
Gesamtgesellschaft. Die handelnden Personen selbst werden
ausgeblendet. Bei aller Begrenztheit der Normsetzungsmacht
des einzelnen sind es aber immer konkrete Menschen und Menschengruppen,
die über andere herrschen oder doch mit ihnen in geordnete
Beziehungen treten. Im sozialen Kampf um die Vorherrschaft
sind es konkrete Menschen, die ihre Machtansprüche vortragen,
indem sie ihr persönliches Weltbild durchzusetzen suchen.
Das
ideologische Weltbild
Ideologisch
im engeren Sinne ist ein Weltbild, das den Kosmos, die menschliche
Existenz und die Sinnhaftigkeit des Daseins aus einem alleinigen
axiomatischen Prinzip ableitet. Axiome sind nicht hinterfragbare
und nicht objektivierbare Wertsetzungen. Es entspricht
ihrem Wesen, daß sie nur angewendet, nicht aber bewiesen
werden können. Sie verkörpern somit den Erkenntnismodus
des Glaubens gegenüber dem des Wissens. Im Lichte der geglaubten
Grundannahme entschlüsseln sich dem Ideologen alle zwischenmenschlichen
Probleme wie durch Zauberhand. Die fixe Idee führt zum Glauben
an ein die Welt regierendes Grundprinzip. Mit diesem Schlüssel
lassen sich scheinbar alle Türen öffnen. So in den Besitz
"der Wahrheit" gesetzt zu sein, "bedeutet,
ein Netz der Vertrautheit über die ganze Ewigkeit geworfen
zu haben. Es gibt keine Überraschungen, keine Unbekannten."
[3]
Wer
sein Weltbild auf ein axiomatisches Prinzip stützt, das er
in der ihn umgebenden Wirklichkeit vergeblich sucht, muß
sich eines metaphysischen Kniffs bedienen: Das theologische
Weltbild verlegte seine Seinsprinzipien in ein eigens dazu
geschaffenes Jenseits. Transzendente Werte in diesem engeren
Sinne erfordern immer ein dualistisches Weltbild, in dem
das Diesseits einem Jenseits unterworfen ist. So trennte
man etwa sauber den Leib von der Seele: Das eigentliche Wesen
des Menschen sei ein Geist. Seit der Aufklärung bemühte man
das Jenseits immer weniger und ging zu einem monistischen
Weltbild über. Zwar glaubte man nicht mehr an eine Person
namens Gott, doch seine ewigen und heiligen Werte rettete
man, indem man sie ins Diesseits hineinverlegte: Jetzt
galten diese metaphysischen Prinzipien als der Natur immanent.
Man suchte im Menschen nach seinem Wesen, für das man, je
nach Bedarf, das Gute, das Böse, die Vernunft oder andere
Eigenschaften erklärte.
Alle
Ideologien bauen sich um eine metaphysische Idee herum auf:
Der Metaphysiker stellt sich einen Zentralwert vor und leitet
von ihm eine bestimmte subjektive Wirklichkeit ab. Ihr
widersprechende Ideen hält er für nicht wahr. Dagegen stehen
die eher naturwissenschaftlich inspirierten Weltbilder,
die auf realistischen Annahmen gründen. Sie gehen empirisch
vom phänomenologisch Vorgefundenen aus, beziehen alle
Deutungsversuche immer wieder selbstkritisch auf
die vorgefundene Wirklichkeit zurück und verwerfen
jede weltfremde Idee. Der typische Ideologe dagegen verwandelt
jede Wirklichkeit in etwas Rechtfertigungsbedürftiges
[4]
und tendenziell Unvollkommenes. Er
ist mit keinem konkreten wirklichen Menschen zufrieden,
sondern jagt ewig dem Spuk eines idealen Menschen an sich
oder anderen Gedankengespenstern nach. Er denkt sich einen
Idealmenschen und bemerkt entsetzt, daß er diesem überhaupt
nicht ähnelt, sondern ihm ganz fremd gegenübersteht. Diese
"Entfremdung" oder dualistische "Entzweiung"
führt zwangsläufig zum Bedürfnis nach religiöser Tröstung.
[5]
Es gibt keine echte Religion oder Ideologie
ohne Entfremdung, nämlich der Gefühlserfahrung: Erlebtes
Sein und idealisiertes Sehnen klaffen auseinander. - Angesichts
von Widersprüchen zwischen Realität und Idee fällt dem
Ideologen nur ein: "Um so schlimmer für die Realität."
Im
schlimmsten Fall vermag der Ideologe die wirklichen Menschen
in ihrer realen Beschränktheit nur noch als Menschenmaterial
anzusehen. Oder er vergleicht die steigende Anzahl nicht
von metaphysischem Glauben erfüllter Menschen mit dem "Gewimmel
der Würmer, das sich bei der Zersetzung von Organismen bildet.
...
Dem Rückgang und Abstieg der im höheren Sinn befruchtenden
und formgebenden [transzendenten, metaphysischen] Kräfte
steht ein unbegrenztes Wuchern der [bloß irdisch-realen]
»Materie«, des Formlosen, des Massenmenschen gegenüber."
[6]
Für alle Ideologen sind eben arme Schweine
alle die Menschen, die sich "nur" am Diesseits
orientieren: Irgendwie scheint bei ihnen in den Augen von
Metaphysikern ein entscheidendes Lichtlein im Kopf nicht
zu brennen: Sie sind nicht vom richtigen Glauben oder vom
wahren Geist erfüllt.
Niemand
kann sich orientieren, bevor er der Welt sein persönliches
gedankliches Koordinatensystem übergestülpt hat. Dessen
Maßstäbe finden sich aber ebensowenig in der beurteilten
Welt vor, wie die Längen- und Breitengrade etwa auf der
Erdkugel. Mit ihm deutet er die Ereignisse und verortet sich
selbst in einem Dasein mit einem sinnhaften Mittelpunkt.
Dieser Mittelpunkt ist selbstgesetzt und von der subjektiven
Perspektive abhängig - seiner höchstpersönlichen Weltanschauung
oder Ideologie. Zum Phänomen der Entfremdung kommt es, wenn
die reale Position eines Menschen von seiner idealen hoffnungslos
abweicht. Hier liegt die seelische Ursache für alle Metaphysik:
Sie ist das verzweifelte Bemühen einer unglücklichen Existenz,
sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf des Diesseits ins
ideale Jenseits zu ziehen. Jeder Unglückliche vermag sich
leicht ein ideales Dasein des Glücks vorzustellen, in dem
seine Wünsche sich erfüllen. Er entwirft eine irreale Weltdeutung,
ein gedankliches Koordinatensystem, in dessen Licht betrachtet
sein Ich mit einer idealisierten Sinnhaftigkeit verschmilzt.
Diese wird künftig seine Wahrheit sein. Was ihr real entgegenzustehen
scheint, kann nur Lüge und muß ganz unwirklich sein. Entfremdung
aber ist die schmerzlich empfundene Abweichung seiner
realen Stellung in der Welt mit der idealen. Je entfernter
der ideale Fixpunkt von der Wirklichkeit ist, desto fanatischer
kämpft der Ideologe gegen diese an. Mit seiner Ideologie verteidigt
er seine Identität: seine geistige Existenz.
Mit
verzweifelter Wut sucht er die Phänomene der Wirklichkeit
auszurotten, die sein idealisiertes Selbst bedrohen. Logische
Bedingung jedes positiven Ideals ist ein negatives Anti-Ideal.
Jeder Ideologe braucht darum einen metaphysischen Feind,
ein Gegenprinzip des Bösen. Nur die Existenz dieses Bösen
erklärt die schreckliche normative Unordnung, die das reale
Diesseits gegenüber dem idealen Jenseits kennzeichnet.
Der Feind ist "also nicht nur die Negation, sondern
auch der Existenzgrund des Ausbaus eigener Macht, und deshalb
muß er auch, so paradox dies auch sein mag, gleichzeitig im
Zaume gehalten und am Leben erhalten werden."
[7]
Der Metaphysiker braucht seinen Feind.
Ohne ihn wäre ihm nicht nur seine Entfremdung vom Ideal unerklärlich.
Gäbe es kein metaphysisches Gegenprinzip, dann gäbe es auch
keine Hoffnung auf endliches Verschmelzen von Ideal und Wirklichkeit.
Erst durch die Vernichtung des Feindes in der Realität wird
die Entfremdung aufgehoben: Ideal und Wirklichkeit decken
sich wieder, der Entfremdete wird wieder eins mit sich selbst,
nämlich mit seinen eigenen Ideen. So verspricht die Metaphysik
ihm "eine kompakte, unzersetzbare Ganzheit. Sie gibt
dem Menschen die Geborgenheit einer Festung mit Sehschlitzen
und Schießscharten."
[8]
Wehe dem, der in ihr Schußfeld gerät:
Der Ketzer, der Kapitalist, der Jude, der Nazi und wie auch
immer sie genannt wurden, die historisch schon einmal
die Vorlage für ein metaphysisch verstandenes Feindbild abgeben
mußten. Die Ausrottung dieses Feindes mit bestem Gewissen
ist immer die letzte, konsequente Folge normativer Wahnideen.
Die
gedankliche Folgerichtigkeit eines geschlossenen Weltbildes
ist unabhängig davon, ob das Ausgangsaxiom ein reales Phänomen
ist oder ein eingebildetes. Die Vernunft kann den
Rationalisten nicht davor schützen, rationalistische Luftschlösser
zu bauen. Vom Standpunkt des gläubigen Katholiken kann
man genauso logisch und in sich widerspruchsfrei die Welt
erklären wie vom Standpunkt des Marxismus. Es ist daher
grundsätzlich unmöglich, mit Mitteln externer Vernunft
ein kohärentes Weltbild zu widerlegen. Wer das nicht glaubt,
kann ja einmal mit einem Zeugen Jehova diskutieren und
ihn darauf hinweisen, Jehova könne nicht die Welt vor 7000
Jahren geschaffen haben, weil das Alter von Saurierknochen
nach der Radiokarbonmethode auf über 65 Millionen Jahre
zu bestimmen ist. Man wird unweigerlich zur Antwort bekommen,
Gott habe die Knochen bei Erschaffung der Welt vor 7000
Jahren schon genau in diesem Zustand in der Erde plaziert.
Wer ein transzendentes Weltbild hat und an ein Jenseits glaubt,
hat eben mit "Wundern" keine Probleme, weil sie
Bestandteil seines Weltbildes sind. Niemand lächele über
die wundergläubigen Zeugen Jehovas, ohne sich die kritische
Frage beantwortet zu haben, an welche Wunder er selbst glaubt.
Jeweils vom Standort eines axiomatischen Ausgangsprinzips
gibt es innerhalb eines Weltbildes überhaupt nichts, was
nicht restlos erklärbar wäre, jedenfalls für denjenigen,
der dran glaubt. So gehört die Vorstellung zum eisernen Bestand
des demokratischen Ideenkreises, daß das Volk einen gemeinsamen
Willen haben könne, die von Rousseau
so genannte volonté générale. Dagegen glaubt der
politische Liberalismus an die Idee von der Vertretbarkeit
der Volksinteressen, und die Diskurstheorie an die Wahrheitsfindung
durch Kommunikation.
Auf
alleiniger Grundlage der vielfältigen, miteinander unvereinbaren
möglichen Prinzipien, Axiomen und Wertgrundsätze läßt sich
kein werthaltiger übergreifender Standpunkt gewinnen,
von dem aus diese Werte beurteilt werden können. Jeder von
ihnen führt, rationalistisch zu einem Gedankengebäude ausentwickelt,
zu einer anderen Vorstellung darüber, in welcher Weise
Menschen zusammenleben sollten. Moralbegriffe sind nicht
nur von Kultur zu Kultur verschieden, sie sind auch inhaltlich
"in hohem Maße vage" und stehen untereinander
in einem Spannungsverhältnis.
[9]
Jede gesellschaftliche Sollensordnung
hat andere ideelle Voraussetzungen und darum andere Konsequenzen.
Soweit ihre Prämissen aus dem Ideenhimmel stammen, kann
man keines mit einem der anderen widerlegen, weil sowieso
allenfalls eines von mehreren widersprechenden Prinzipien
objektiv richtig sein kann.
Eine
für alle Menschen verbindliche Menschheitsmoral empfehlen
uns dagegen diejenigen Moralisten wie Jürgen Habermas
[10]
, die meinen, es gebe schlechthin verallgemeinerungsfähige
Interessen. Gäbe es diese, hätten wir allerdings einen
übergreifenden, objektivierbaren Bezugspunkt gefunden,
von dem aus die verschiedenen weltanschaulichen Entwürfe
gleichmäßig beurteilen könnten. Habermas' universalistische
Moral kleidet sich in die Form unbedingter und kategorischer
Imperative aus Sicht einer vorgestellten weltweiten,
uneingeschränkten Kommunikationsgemeinschaft. Weder
aber hat diese Fiktion eine reale Entsprechung, noch gibt
es schlechthin verallgemeinerungsfähige Interessen.
Gegen wen sollten diese sich konkret richten? Der Begriff
des Interesses setzt ein Gegeneinander zweier Subjekte
voraus. Ein Subjekt namens Menschheit gibt es aber nur als fiktives Abstraktum. Die tatsächlichen
Interessengegensätze finden innerhalb dieses Abstraktums
statt. Es streiten die Interessen der einen Menschengruppe
gegen die von anderen. Darum ist es eine Anmaßung, solche
Gruppen- oder Völkerinteressen im Namen eines Abstraktums Menschheit vorzutragen.
Wer das beginnt, will mit den Worten Carl Schmitts
betrügen.
[11]
Wer einen Anspruch im Namen der Menschheit
vorträgt, grenzt nämlich alle Gegner dieses Anspruchs mit
ihren Interessen aus der Menschheit aus und darf sie entsprechend behandeln.
Die
Herrschaftsideologie
Gesetzes-
und Verfassungssysteme verkörpern religiöse oder sittliche
Ideale. Alle Rechtsordnungen beinhalten solche immanente,
nicht hinterfragbare Prinzipien, Werte und Normen. Diese
machen es den Rechtsanwendern zur Pflicht, bestimmte moralische
Ideale wenigstens annäherungsweise zu verwirklichen.
[12]
Mit ihnen sind sie aber nicht zum Nennwert
ihrer eigenen idealistischen Einschätzung zu nehmen. Vielmehr
dienen sie je nach Bedarf wechselnden Einrichtungen
zur Erreichung irdischer Zwecke:
[13]
"Das Recht kann von der Politik nicht
getrennt werden, denn es ist ein wesentliches Instrument
der Politik. Seine Erzeugung sowohl wie seine Anwendung sind
politische, und das heißt von Werturteilen bestimmte Funktionen."
[14]
Jedes politische System braucht eine
letzte metaphysische Begründung, um damit die bestehende
Form der Herrschaft und der Machtausübung ideologisch
zu legitimieren.
[15]
Zwischen
der Moral und einem Recht, in dem sich deren Prinzipien verkörpern,
besteht ein notwendiger Zusammenhang. Sittliche Werte wie
Billigkeit oder Gerechtigkeit sind nur Worte für wertgeschätzte
menschliche Eigenschaften
.
[16]
Wenn man sie als Naturrecht bezeichnen
will, führen sie "zwar den Namen Gesetze", sind
es aber "nicht im eigentlichen Sinn des Wortes";
sondern "nur allgemeine Wahrheiten darüber, was zur
Erhaltung des Menschengeschlechts erforderlich ist. Ein
eigentliches Gesetz hängt allein von dem ab, der im Besitz
der höchsten Gewalt ist."
[17]
Recht umfaßt immer eine normative und
eine positive Komponente zugleich: Seine ideell-normativen
Elemente bezeichnete man als Naturrecht
[18]
. Das staatlich gesetzte: das positive
Recht ist dagegen immer Gesetzesrecht. Alles Recht ist also
ein sich aus einer menschlichen Wertvorstellung ergebender,
von einer Herrschaftsmacht positivierter und mit staatlichen
Sanktionsmitteln durchgesetzter allgemeingültiger
Befehl. Wertvorstellungen "werden erst zum Gesetz,
wenn der Staat sie zu beobachten gebietet." Folglich
sind die natürlichen Gesetze in den bürgerlichen enthalten."
[19]
Empirisch betrachtet fungiert Recht
daher immer nur als die politische Form, deren sich die
politische Wertsetzungsmacht bedient. Wie Kant
in der Einleitung zur 'Metaphysik der Sitten' ausführte,
spiegeln sich in den rechtlichen Gesetzen das Moralische,
in der Legalität die Moralität, in den Rechtspflichten
die Tugendpflichten usw. Die aufeinander bezogenen
und in ein gedanklich zusammenhängendes System gebrachten
Einzelwerte bilden eine Morallehre, Einzeltugenden
eine Tugendlehre oder Ideologie und einzelne Gottesgebote
eine Religion. Im staatlichen Gesetz spiegelt sich nur
die subjektive menschliche Moral und nicht eine objektive
Moralordnung, weil es eine Moral an sich ohne einen menschlichen
Wertsetzer nicht gibt.
Nicht
der Anspruch legitimiert ein Gesetz, Ausfluß göttlicher Offenbarung
der Wahrheit zu sein, sondern der gültige staatliche Willensakt.
[20]
Wer immer mit autoritativem Gehabe eine
transzendente Moral beschwört, will damit meist seinen
Anspruch auf Gehorsam festigen. Weil wir das Gepäck von
2500 Jahren Philosophiegeschichte mit uns tragen, sind
alle wesentlichen Gedanken schon einmal von irgend jemandem
vor uns durchdacht worden, meistens von einem alten, neuerdings
auch von einem jüngeren Griechen. Das Gedankenkonstrukt
einer Moral oder Gerechtigkeit an sich, der wir uns unterzuordnen
hätten, entspringt der Ideengläubigkeit Platons.
Sokrates
folgend erklärte seine Ideenlehre die Begriffe für realer
als die Dinge. Die transzendenten Ideen allein könnten von
allen Menschen gleichermaßen gebildet werden, und die
Dinge seien nur ihr Abbild. Wie die natürlichen Dinge stünden
die Ideen in einer Hierarchie. Oberste Idee sei das sittlich
Gute an sich: Gott. Aus ihr leiten sich jede Moral und jede
Ethik ab, und an ihr sei jedes Gesetz zu messen. Auf dieser
dualistischen Trennung zwischen "höherer"
idealer Gerechtigkeit und irdischem Gesetz beruht
es immer, wenn jemand seine Ideen von einem idealen Recht
gegen ein staatliches Gesetz ins Feld führt. Er sieht immer
einen qualitativen "Unterschied zwischen Recht und
Gesetz. Das eine bezieht sich auf Gerechtigkeit, das andere
auf Befehl. Denn ein Gesetz ist nichts anderes als eine
Anordnung des Souveräns, der seine" Macht gebraucht.
Diese Macht ist seine "Freiheit gegenüber den positiven
Gesetzen."
[21]
Ohne
Glauben an metaphysische Transzendenz oder Immanenz fallen
Recht und Gesetz immer in eins zusammen: In jedem Gesetz
steckt eine Moral. Eine für alle Menschen vor jedem menschlichen
Gesetz gültige Moral, die sich in einer Art Naturrecht
verkörpert, kann es nur durch die Vorstellung geben, außerhalb
des Diesseits gebe es ein Jenseits. Dort halten sich alle
schönen Ideen auf, und von dort kommen jene geheimnisvollen
Befehle verborgener Mächte, die berufenen Propheten
dann und wann den wahren Inhalt der natürlichen Gerechtigkeit
offenbaren. Wer dran glaubt, verlegt durch diesen Kunstgriff
seine Normen in eine unzugängliche Sphäre und entzieht
sie damit listig dem Zugriff seiner Gegner.
[22]
So gibt es für ihn alles Recht doppelt,
aber Quelle ist immer das platonische Gute
[23]
: Aus dem transzendenten natürlichen
folgt das positivierte gesetzliche Recht. Entspricht das
positivierte Gesetz dem natürlichen oder vernünftigen,
ist es legitim. Dann gilt: "Eine Rechtsordnung kann
nur legitim sein, wenn sie moralischen Grundsätzen
nicht widerspricht. Dem positiven Recht bleibt, über die
Legitimitätskomponente der Rechtsgeltung, ein Bezug
zur Moral eingeschrieben."
[24]
So ist auch der Diskurstheoretiker Habermas,
wie jeder Moralist, auf Metaphysik angewiesen, aus der
er seine Moral schöpft. Es gibt keine andere Quelle für
eine allgemeingültige Moral. Dabei ist es nur eine argumentationstechnische
Nebensache, ob er seine Werte in ein transzendentes
Jenseits verlegt oder intuitiv immanente Werte erfühlt.
Vom Glauben an die eigene Metaphysik und ihren jeweiligen
angeblichen Inhalt hängt der Wert jeder Theorie ab, die
ein Naturrecht gegen das gesetzte Recht ausspielt: Wer
daran glaubt, wird mit ihr selig.
Allein
diese zweckbezogene Betrachtung politischer Ordnungsvorstellungen
eröffnet den nüchternen Blick auf die Doppelfunktion
jeder Systembildung: Einerseits gibt sich ein Staat eine
Rechtsordnung zu dem Zweck, den effizienten Schutz nach außen
zu garantieren. Leistet ein Gemeinwesen das nicht, geht
es in äußerer Gefahr zugrunde wie 1806 das Heilige Römische
Reich Deutscher Nation. Andererseits dient das Verfassungssystem
auch innerstaatlich dem Zweck, eine bestimmte gesellschaftliche
Ordnung aufrechtzuerhalten. Seine herrschenden Gruppen
errichten und verteidigen ein System zur Absicherung
ihrer innergesellschaftlichen Macht.
[25]
Zu ihm gehören neben dem rein faktischen
Herrschaftsinstrumentarium alle konkreten Gesetzes-
und Verfassungsbestimmungen, deren sich die Gruppe
zur Erhaltung ihrer Macht bedient. Nach einer Einsicht
Humes
kommt keine Partei ohne ein System von philosophischen
oder spekulativen Grundsätzen aus, die sie an ihre politischen
und praktischen anschließt. Darum hat jede ein solches
Lehrgebäude errichtet, um ihre Absichten und Handlungen
abzuschirmen.
[26]
Eine
metaphysische Rechtfertigung läßt sich im Fundus der
Geistesgeschichte für jede beliebige Herrschaft leicht
finden. Die Requisitenkammern menschlicher Phantasie
bersten von Glaubenslehren und hochtönenden Worthülsen,
die sich, wenn sie nicht schon eigens zur Stabilisierung
der Herrschaft konkreter Menschen ersonnen wurden, doch
bestens dazu eignen. Kluge Gesetzgeber lassen darum schon
nach Beobachtung Machiavellis
nicht nur die guten Gründe ihres Werkes für sich sprechen,
sondern nehmen zur Gottheit ihre Zuflucht, weil ihre Gesetze
dann leichter angenommen werden.
[27]
Das "belebende Prinzip jeder Regierung",
ihre "Grundlage" und ihr "Widerhalt",
ist der feste Glaube der Regierten an ein "Ganzes von
anerkannten Doktrinen."
[28]
Die rechtsförmige Herrschaft kann sich,
wenn sie von den Beherrschten willig angenommen werden soll,
nicht allein auf offenkundig willkürliche Entscheidungsmacht
stützen. "Das Recht entlehnt seine bindende Kraft vielmehr
dem Bündnis, das die Positivität des Rechts mit dem Anspruch
auf Legitimität eingeht."
[29]
Jede
stabile Herrschaftsordnung muß ihren Doktrinen die dauernde
Anerkennung sichern. Aus Sicht einer Doktrin, also einer
kohärenten Werteordnung, erscheint jede ihr entsprechende
Aussage als wahr und jede ihr widersprechende als falsch.
Wie sehr das für jede Herrschaftideologie gilt, schilderte
Donoso
plastisch anhand der katholischen: "Die Freiheit in
der Wahrheit ist ihr heilig, die im Irrtum ist ihr ebenso
verabscheuungswürdig wie der Irrtum selbst; in ihren Augen
ist der Irrtum ohne Rechte geboren und lebt ohne Rechte,
und dies ist der Grund, weshalb sie ihm nachspürt, ihn verfolgt
bis in die geheimsten Schlupfwinkel des menschlichen Geistes;
weshalb sie ihn auszurotten sucht. Und diese ewige Illegitimität,
diese ewige Nacktheit und Blöße des Irrtums ist sowohl ein
religiöses als auch ein politisches Dogma. Zu allen Zeiten
haben es alle irdischen Gewalten verkündet: Alle irdischen
Gewalten haben das Prinzip, auf dem sie beruhen, der Diskussion
entzogen; alle haben das diesem Prinzip entgegenstehende
Prinzip Irrtum genannt und haben es jeder Legitimität und
jeden Rechtes entkleidet."
[30]
Soziologisch
betrachtet sind Ideen, Gedankengebäude, Ideologien und Weltanschauungen
nichts als Waffen im zwischenmenschlichen Machtkampf. Innerhalb
eines Volkes gibt es verschiedene Menschen mit verschiedenen
Interessen, Bedürfnissen und demzufolge Welt-Anschauungen.
Im Kampf um Macht und Interessen führen diese Ideologien
einen Stellvertreterkrieg. Scheinbar tobt der Streit um
philosophische, metaphysische oder ethische Fragen. Tatsächlich
verbirgt sich hinter der Geltung jeder Ethik oder Philosophie
handfeste Interessenpolitik. Die soziologische Methode
sucht den für bestimmte Ideen und intellektuelle Gestaltungen
typischen Personenkreis, der aus seiner Interessenlage
heraus zu bestimmten ideologischen Resultaten kommt.
[31]
Ethische Fragen begründen geradezu politische
Machtansprüche und ihre Legitimität. Nach Max Weber
durchdringen sich in sozialen Ordnungen Ideen und Interessen.
Begünstigt ist, wer dem anderen seine Ideologie, seine
Spielregeln, seine Ethik diktiert. Jeder Berufung auf angeblich
höheres als das von Menschen gesetzte Recht oder auf
eine metaphysische Gerechtigkeit setzen wir die skeptische
Frage entgegen, wem sie konkret nützt. Wem die "Deutung
der Orakel der Gerechtigkeit anvertraut ist", wird
erfahrungsgemäß "diese Göttin bewegen können,
nichts zu antworten, was wider den eigenen Vorteil ist."
[32]
So seufzte v.Hippel
resignierend, nach Verlorengehen der "höheren
Rechtsstufen" des göttlichen und des Naturrechts
seien "endlich nur noch der Rechtsbegriff als leere
Form und Tarnung bloßer Interessen wie politischer Macht
übrig" geblieben.
[33]
Mit
der Betonung der Zweckhaftigkeit des Rechts nehmen
wir in der Neuzeit aber nur die schon von Thrasymachos
ins Feld geführte Beobachtung auf, nach der "jegliche
Regierung die Gesetze nach dem gibt, was ihr vorteilhaft
ist: die Demokratie demokratische, die Tyrannei tyrannische
und die anderen ebenso. Und indem sie so gesetzgeben,
zeigen sie also, daß dieses ihr Interesse (óýìöåñïí) Recht (äßêáéïí)
zu sein habe für die Regierten. Und den dieses Übertretenden
strafen sie als außerhalb des Gesetzes Stehenden und unrecht
Handelnden." In allen Staaten werde zum Recht gemacht,
was der bestehenden Regierung nütze.
[34]
Äßêáéïí
kann Recht bedeuten, aber auch Gerechtigkeit
oder das Gerechte.
Jede andere Übersetzung als Recht würde das Argument des Thrasymachos grob mißverstehen,
weil er ja gerade bestreitet, daß Recht mehr ist als gesetztes Recht, und eben nicht behauptet, das
Recht sei Gerechtigkeit oder eine transzendente Art Gerechtes. Für Platon
als Idealisten war nur das ideale Recht überhaupt Recht.
Aristoteles
erkannte dagegen schon, daß äßêáéïí (Recht) in der Oligarchie, Demokratie
usw. "in gewissem Grade" etwas ganz verschiedenes
bedeutet.
[35]
Gesetz
und Moral sind eben zweierlei: "Sie sollten nicht archaische
und überholte Rechtsvorstellungen des Aurelius Augustinus
oder des heiligen Augustin aus 'De Civitate Dei' zitieren,"
empfahl daher ein Richter am Bundesgerichtshof
bitter bedauernd: "Recht hat mit Moral nichts zu tun.
Recht ist das, was durchzusetzen man die politische Macht
hat und was dem Volke nützt, wobei der Nutzen des Volkes
von denen bestimmt wird, die die Macht haben."
[36]
Politische Kämpfe sind nur vom Standpunkt
ethischer, also ideologischer Überlegenheit aus zu gewinnen.
Jede Weltanschauung ist in ihrem funktionalen Kern Herrschaftsideologie
und kann daher nur verstanden werden, wenn sie in ihrer
konkreten historischen Lage, und jede einzelne politische
Begrifflichkeit, wenn sie in ihrer situationsbedingten
polemischen Funktion erfaßt wird.
[37]
Wer sich beherrscht fühlt und sich befreien
möchte, muß das Wechselspiel zwischen faktischer Herrschaftsmacht
und überwölbender Herrschaftsideologie ebenso durchschauen
wie jeder, der selbst gern herrschen möchte. Herrschen bedeutet,
die Spielregeln des Zusammenlebens so zu setzen, daß
die anderen zu tun haben, was die einen wollen. Weil die
"herrschaftslose" Gesellschaft immer eine Utopie
bleiben wird und wir alle diesen Gesetzmäßigkeiten unterworfen
sind, mag sich jeder frei aussuchen, ob er lieber Hammer
oder Amboß sein möchte.
Herrschaftsideologien
sind abstrakte Ideengebäude und vermitteln Akzeptanz
von Herrschaft: Solange die einen tatsächlich an sie glauben,
gehorchen sie "freiwillig" den anderen. So gehorchen
Monarchisten im Glauben an das Königtum dem Monarchen,
Marxisten im Glauben an den Diamat oder den Fortschritt ihrem
Parteisekretär, Muslime im Glauben an Allahs Willen
dem Imam und Demokraten im Glauben an die Demokratie gewissen
Parteivertretern. Es gehört zu den erfolgreichen Herrschaftstechniken,
den Beherrschten das glückliche Gefühl zu schenken, ihr
Gehorsam diene Gott oder stehe wenigstens mit einem universalen
Gesetz in Einklang, zum Beispiel der Natur, der Humanität,
dem Weltfrieden, dem historischen Sieg des Sozialismus
oder der Demokratie. Darum pflegte man früher von Gottes
Gnaden und heute im Namen des Volkes zu herrschen, immer
jedoch im Namen einer metaphysischen Totalität. Es waren
und sind die glücklichen Sklaven der Freiheit größter
Feind. "Je paradiesischer das vorgegaukelte Trugbild,
um so schmerzloser die seelische Versklavung."
[38]
Wer dagegen selbst sittlich begründet
frei entscheiden will, darf an keine anbefohlenen metaphysischen
Normen glauben. Wenn er sich so übergestülpten Fremdethiken
verweigert, darf er sich getrost "Autonomer"
nennen.
Unter
Berufung auf göttliches oder Naturrecht herrschen bequem
diejenigen, die jeweils die Definitionsmacht besitzen,
welche konkreten Forderungen der angebetete Gott an die
Beherrschten richtet oder welchen konkreten Inhalt das
Naturrecht angeblich hat.
[39]
Die normativistische Fiktion läßt ihren
Interpreten getarnt im Hintergrund. Sie soll seine Macht
über diejenigen rechtfertigen, die an seine Normen glauben,
wie schon Spinoza
scharfsinnig erkannte. Der Kult ewiger Götter hat den
Angebeteten selbst nur Psalmenschall und Opferrauch gebracht,
seinen Managern aber gewöhnlich soziale Privilegien
und eine unauffällige Herrschaft. Muß der Untertan nur dem
Gesetz gehorchen, bleibt er doch wenigstens geistig frei.
Muß er aber an die im Gesetz steckende Moral glauben, verliert
er die Freiheit und das Recht, anders zu denken.
Normativisten
wie Welzel
irren, wenn sie dem Naturrecht ausreichende Kraft zuschreiben,
dem Menschen eine innere Zuflucht vor grenzenloser irdischer
Macht zu bieten. Wo eine Macht grenzenlos werde, müsse er
ihr restlos anheimfallen: nicht nur physisch, sondern
auch geistig.
[40]
Die Erfahrung lehrt aber, daß gerade
von der Indoktrinierung durch normative Wahrheiten die größten
Gefahren ausgehen. Erst wenn der Mensch Befreiung aus der
Knechtschaft noch nicht einmal mehr ohne Gewissensbisse
denken kann, wird Herrschaft total. Die normativen Instrumente
geistiger Verknechtung lassen sich nur wie Spinnweben
zerreißen, wenn sie alle als Hirngespinste durchschaut
werden. Gegenideologien helfen da nicht: Mit selbstgesponnenen
Geweben allein lassen sich die Gespenster nicht dauerhaft
bannen: So befreit uns das Naturrecht aus dem einen Gespinst
nur, um uns in einem anderen wieder einzufangen.
Die
ethischen Maßstäbe für die Gebote seiner Weltanschauung pflegt
jeder nach seinem Eigeninteresse auszuwählen. Er hält
gewöhnlich diejenigen Gesichtspunkte oder abstrakten
Werte für ausschlaggebend für die Frage, ob zweierlei
gleich sei, die gerade ihm nützen. Jeder erhebt seinen Machtanspruch
also am wirksamsten, indem er eine Norm aufstellt und in
ihrem Namen und für sie einen Geltungsanspruch erhebt.
Der praktische Erfolg ist von der Transzendierung der Norm
abhängig. Niemand gehorcht gern einem anderen Menschen,
nur weil dieser das will. Einer Idee gehorchen Menschen
dagegen gern, denn die gewünschte philisterhafte Selbstgerechtigkeit
stellt sich erst ein, wenn man sich mit seinem Handeln im
Einklang mit den Geboten eines verehrten Gottes oder einer
Tugendlehre oder der Vernunft schlechthin glaubt. Wer seine
Gesetze wohlbeachtet wissen und auch die Herzen seiner Untertanen
zwingen will, muß die Gesetze im Namen Gottes verkünden und
nach außen hin seine eigene Interpretationsmacht verschleiern.
Wer real herrschen will, muß scheinbar der Norm dienen.
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Den Zusammenhang zwischen dienender,
vorgeschobener Norm und herrschendem, dahinter stehendem
Normschöpfer muß er freilich verleugnen und verbergen.
Er muß die normativistische Fiktion aufrecht erhalten.
Um nicht als wertsetzender Macher einer heiligen Idee entlarvt
zu werden, greift er in die übliche Trickkiste aller Moralisten,
indem er etwa die Norm mit sich selbst begründet: Dann befiehlt
es das Sollen selbst.
Oder er schreibt ihre Letztgeltung auch einer universalen Vernunft zu: Wer möchte schon als unvernünftig
gelten? Notfalls stopft der Verweis auf Gott jedem vorlauten
Frager - "Ei, warum soll ich eigentlich?" - den frechen Mund.
Die
normativistische Fiktion bedient sich immer derselben Methode,
in Gestalt welcher konkreten Idee der Machtanspruch sich auch
verkörpert. Um sie zu durchschauen, müssen wir uns einer
empirischen Begriffsstrategie bedienen und die normative
Komponente auf ihren konkreten menschlichen Urheber zurückführen.
Wenn wir den normativen Schleier zerreißen und hinter ihm
seinen menschlichen Urheber erkennen, wird dieser natürlich
empört aufschreien, uns Ungläubige nennen und verurteilen
- im Namen seiner Norm natürlich, und mit einem Wortschwall,
der von ihm selbst ablenken soll. Das liest sich
dann zum Beispiel bei Habermas so: Die "empirische Begriffsstrategie
...
tilgt
...
aus dem Konzept der Macht genau jene normative Autorität,
die der Macht durch ihre interne Verbindung mit legitimem
Recht zuwächst."
[42]
Es stellt allerdings eine Tautologie dar,
auf die Legitimität eines Rechts hinzuweisen, das normative
Autorität besitzt. Es ist gerade Merkmal der Legitimität,
der bloßen Gesetzlichkeit - der Legalität - die höhere Weihe
zu geben. Alle Normen sind legitim, an deren letzte Begründung
durch heilige Prinzipien die Beherrschten glauben. So funktioniert
jede dem Faustrecht entwachsene Herrschaft. Wenn die Untertanen
erst einmal an den Gott glauben, in dessen Namen sie beherrscht
werden, mag man die Herrschaft von Menschen über Menschen
im Namen der normativen Autorität getrost als legitim
bezeichnen. Die entscheidende Frage aber: Welche Techniken
der Indoktrination und Beeinflussung von Massen sind es,
die im 20.Jahrhundert Millionenscharen von Gläubigen in
trunkenem Wahne ihre Heilsrufe ertönen ließen? - Diese
Frage wird gewöhnlich erst nach dem Ende einer Herrschaft
gestellt. Erst wenn alle lodernden Fackeln und brennenden
Kerzen verloschen sind, wird der Kopf wieder klar. Warten
wirs also ab!
fortsetzendes
Unterkapitel: Die benutzte
Norm