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Der politische Normgeltungsan­spruch

Auszug aus: Klaus Kunze, Mut zur Freiheit, 1998, S.81 ff.
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Zum Recht wird der Normgeltungsan­spruch unter Geltung einer Rechts­­ord­nung. Recht ist eine Be­zie­hung zwi­schen Personen: Es ist die durch den Stifter dieser Ord­nung verbürgte Freiheit des einen, auch ge­gen den Willen des anderen etwas be­stimm­tes zu tun oder zu un­­­­­ter­las­sen. Ein Recht hat nie­mand allein aus sich selbst, sondern erst dann, wenn ein Dritter ihm Recht gibt. Aus sich selbst hat jeder al­len­falls die Macht zu ei­nem bestimm­ten Han­deln. Ein immanentes "Recht" dagegen "aus der Na­tur der Sache" anzu­neh­men, ist immer Me­­taphysik. Niemand hat Rechte "von Natur aus". Sie ist nichts als ein Gegensatzbegriff zum Menschen­werk: der Kultur. Man kann die "Na­­tur" drehen und wenden wie man will: Ihr wohnt kein Recht in­ne.

Moral- oder Rechts­ord­nungen sind In­begriffe von Be­zie­hun­gen vie­­ler Per­­so­nen un­ter­ein­an­der. Kauf­mann [1] weist auf Tho­mas hin, der be­reits for­mu­liert hat­te: "Ordo non est sub­stan­tia, sed re­­la­tio" - Ord­nung ist eine Be­zie­hung, keine Sub­stanz. Dem ent­spricht die je­dem Ju­­risten ge­läufige Vor­stel­lung, nach der ein Rechts­­an­spruch wie ein ima­­­gi­nä­res Band zwi­schen zwei Per­so­nen oder ein dingliches Recht zwi­­­schen ei­ner Person und einer Sa­che schwebt. Nur hängt die­ses Band nicht wie ein Möbiusstreifen im Un­endli­chen, son­dern es hat im­­mer einer die Leine in der Hand, und der andere hat sie um den Hals.

Schon gar nicht ist Ordnung etwa eine metaphysische Wesenheit, eine Entität, wie Carl Schmitt 1934 in Anlehnung an Santi Romano in völ­liger Abkehr von seiner bis­herigen dezisionistischen Theorie be­haup­tet hatte. Die­se Wendung hatte einen kon­servativen, pole­mi­schen Hintersinn, der sich ge­gen den revolutionären Willkür­an­spruch des Na­­tio­nalsozialismus mit seiner Rücksichtslosigkeit gegen­über be­ste­hen­den Ord­nungen wand­­te: Die Entität Ordnung selbst sei es, welche die Re­geln bewege wie Spiel­fi­guren. Die Rechtsordnung sei an kon­kre­te Normal­begriffe ge­­bunden, die aus sich selbst heraus Normen her­vorbringe. [2] Eine selbst über dem Wil­len des Füh­rers geisternde me­ta­physische We­sen­heit namens Ordnung war aber gar zu leicht als sä­ku­larisierte Va­rian­te katholischen Ord­nungs­den­kens zu durch­schau­en und fand damals kei­nen Anklang. Auf dieser Idee einer sich stän­dig selbst re­pro­du­zie­ren­den Ordnung beruhen auch die funk­tio­na­li­sti­schen Sy­stemtheori­en. Für Marxens Geschichtsteleo­logie erschien die bür­gerliche Gesell­schaft als anonym herrschendes System. Es stufte sei­ne Akteure zu einer Art Schachfiguren herab und entzog sich ih­rem Einzelwillen. Ganz ähn­lich redu­ziert Luhmann gesellschaftliche Vor­gänge auf selbst­­­referentielle Sy­stemkreis­läufe. Solche Ordnungs- und System­theo­rien vermögen aber immer nur ei­nen Teil der kom­ple­xen Wirk­lichkeit zu be­schreiben: die Funk­tionsmechanis­men in­nerhalb ei­ner aus­­differen­zierten Gesamtge­sellschaft. Die handelnden Perso­nen selbst werden aus­geblendet. Bei aller Begrenz­theit der Norm­set­zungs­­macht des einzelnen sind es aber immer konkrete Men­schen und Men­­schen­grup­pen, die über andere herr­schen oder doch mit ihnen in ge­ordnete Bezie­hungen treten. Im sozialen Kampf um die Vor­herr­schaft sind es konkrete Me­nschen, die ihre Machtansprüche vor­tra­gen, in­dem sie ihr persönliches Weltbild durchzu­set­zen suchen.

Das ideologische Weltbild

Ideologisch im engeren Sinne ist ein Weltbild, das den Kosmos, die menschli­che Exi­stenz und die Sinnhaftigkeit des Daseins aus ei­nem allei­ni­gen axioma­tischen Prin­zip ableitet. Axiome sind nicht hin­ter­­fragbare und nicht objektivier­bare Wert­setzun­gen. Es entspricht ih­rem Wesen, daß sie nur ange­wendet, nicht aber bewiesen werden kön­­nen. Sie verkörpern somit den Er­kennt­nis­mo­­dus des Glaubens ge­gen­über dem des Wissens. Im Lichte der ge­glaub­­ten Grundannah­me ent­­schlüs­seln sich dem Ideologen alle zwi­schen­­menschlichen Pro­ble­me wie durch Zauberhand. Die fixe Idee führt zum Glauben an ein die Welt regierendes Grundprinzip. Mit die­sem Schlüssel las­sen sich schein­bar alle Türen öffnen. So in den Be­sitz "der Wahrheit" ge­setzt zu sein, "bedeutet, ein Netz der Ver­traut­heit über die ganze Ewigkeit gewor­fen zu haben. Es gibt keine Über­raschungen, keine Unbekann­ten." [3]

Wer sein Weltbild auf ein axiomatisches Prinzip stützt, das er in der ihn um­ge­ben­den Wirklichkeit vergeblich sucht, muß sich eines meta­­physi­schen Kniffs bedie­nen: Das theologische Weltbild verlegte seine Sein­sprinzipien in ein eigens dazu ge­schaffe­nes Jenseits. Tran­s­zendente Werte in diesem enge­ren Sinne erfor­dern immer ein dua­li­sti­sches Weltbild, in dem das Diesseits einem Jenseits unterwor­fen ist. So trennte man etwa sauber den Leib von der Seele: Das eigent­liche We­sen des Menschen sei ein Geist. Seit der Aufklä­rung bemühte man das Jenseits immer we­niger und ging zu ei­nem monisti­schen Weltbild über. Zwar glaubte man nicht mehr an eine Person namens Gott, doch seine ewigen und heiligen Werte rettete man, in­dem man sie ins Dies­­seits hineinverleg­te: Jetzt galten diese metaphysischen Prinzi­pien als der Natur immanent. Man suchte im Men­schen nach seinem Wesen, für das man, je nach Bedarf, das Gute, das Bö­se, die Vernunft oder an­dere Eigen­schaften erklärte.

Alle Ideologien bauen sich um eine metaphysische Idee herum auf: Der Meta­physi­ker stellt sich einen Zentralwert vor und leitet von ihm eine be­stimmte subjek­tive Wirk­­lichkeit ab. Ihr wider­sprechende Ideen hält er für nicht wahr. Da­gegen ste­hen die eher na­tur­wis­sen­schaft­lich inspirierten Welt­­bilder, die auf rea­li­sti­schen An­nah­men gründen. Sie gehen empi­risch vom phä­no­me­no­lo­gisch Vorge­fundenen aus, be­ziehen alle Deu­­tungs­­­ver­su­che im­mer wie­­der selbst­kritisch auf die vorgefun­dene Wirk­­lichkeit zu­rück und ver­­wer­fen jede weltfremde Idee. Der ty­pi­­sche Ideolo­ge dagegen ver­wan­­delt jede Wirklichkeit in etwas Recht­fer­ti­gungsbedürftiges [4] und ten­­­den­ziell Unvoll­kommenes. Er ist mit keinem konkreten wirklichen Men­schen zu­frie­den, son­dern jagt ewig dem Spuk eines idealen Men­schen an sich oder ande­ren Ge­dankengespenstern nach. Er denkt sich einen Ideal­menschen und be­merkt ent­setzt, daß er diesem über­haupt nicht ähnelt, sondern ihm ganz fremd gegen­übersteht. Diese "Entfremdung" oder dua­listische "Entzweiung" führt zwangsläufig zum Be­dürfnis nach religiöser Tröstung. [5] Es gibt keine echte Religi­on oder Ideo­lo­gie oh­ne Entfrem­dung, nämlich der Gefühls­erfah­rung: Erlebtes Sein und idealisiertes Seh­nen klaffen auseinander. - Ange­sichts von Wi­der­sprü­chen zwi­schen Rea­li­tät und Idee fällt dem Ideologen nur ein: "Um ­so schlim­­mer für die Reali­tät."

Im schlimmsten Fall vermag der Ideologe die wirklichen Menschen in ih­rer rea­len Beschränktheit nur noch als Menschenmaterial anzusehen. Oder er vergleicht die stei­gende Anzahl nicht von metaphysischem Glau­ben erfüllter Menschen mit dem "Gewimmel der Würmer, das sich bei der Zersetzung von Organismen bildet. ... Dem Rückgang und Abstieg der im höheren Sinn be­fruchtenden und formgeben­den [transzendenten, meta­physischen] Kräfte steht ein unbegrenztes Wuchern der [bloß irdisch-rea­len] »Materie«, des Formlo­sen, des Massenmenschen gegen­über." [6] Für alle Ideologen sind eben arme Schweine alle die Menschen, die sich "nur" am Dies­seits orientieren: Ir­gendwie scheint bei ihnen in den Augen von Meta­physikern ein entscheiden­des Lichtlein im Kopf nicht zu brennen: Sie sind nicht vom richtigen Glau­ben oder vom wahren Geist erfüllt.

Niemand kann sich orientieren, bevor er der Welt sein persönliches ge­dankli­ches Koordinatensystem übergestülpt hat. Dessen Maßstäbe fin­den sich aber ebensowe­nig in der beurteilten Welt vor, wie die Län­gen- und Breiten­grade etwa auf der Erd­kugel. Mit ihm deutet er die Ereignisse und verortet sich selbst in einem Dasein mit einem sinn­haften Mittelpunkt. Die­ser Mittel­punkt ist selbstge­setzt und von der sub­jektiven Perspektive ab­hängig - seiner höchstpersönlichen Welt­­anschauung oder Ideologie. Zum Phänomen der Ent­fremdung kommt es, wenn die reale Position ei­nes Men­schen von seiner idealen hoffnungslos ab­weicht. Hier liegt die seeli­sche Ur­sache für alle Meta­physik: Sie ist das verzwei­felte Bemühen einer unglückli­chen Exi­stenz, sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf des Diesseits ins ideale Jen­seits zu ziehen. Jeder Unglückliche vermag sich leicht ein idea­les Dasein des Glücks vor­zustellen, in dem seine Wünsche sich er­füllen. Er entwirft eine irreale Weltdeu­tung, ein gedankliches Ko­or­di­natensy­stem, in dessen Licht betrachtet sein Ich mit einer idea­li­sier­ten Sinnhaf­tigkeit ver­schmilzt. Diese wird künftig seine Wahrheit sein. Was ihr real entgegenzu­ste­hen scheint, kann nur Lüge und muß ganz unwirk­lich sein. Entfrem­dung aber ist die schmerzlich emp­fun­de­ne Abweichung sei­ner realen Stellung in der Welt mit der idea­len. Je ent­fernter der ideale Fixpunkt von der Wirklich­keit ist, desto fa­na­ti­scher kämpft der Ideologe gegen diese an. Mit seiner Ideologie ver­tei­digt er seine Identität: seine gei­stige Existenz.

Mit verzweifelter Wut sucht er die Phänomene der Wirklichkeit auszu­rot­ten, die sein idealisiertes Selbst bedrohen. Logische Bedin­gung je­des po­siti­ven Ideals ist ein negatives Anti-Ideal. Jeder Ideolo­ge braucht darum ei­nen metaphysischen Feind, ein Gegenprinzip des Bösen. Nur die Exi­stenz dieses Bösen erklärt die schreckliche nor­ma­tive Unordnung, die das reale Diesseits gegenüber dem idealen Jen­seits kenn­zeich­net. Der Feind ist "also nicht nur die Negation, son­dern auch der Existenzgrund des Ausbaus eige­ner Macht, und deshalb muß er auch, so paradox dies auch sein mag, gleichzeitig im Zaume gehal­ten und am Leben erhal­ten werden." [7] Der Meta­physiker braucht sei­nen Feind. Ohne ihn wäre ihm nicht nur seine Ent­fremdung vom Ideal un­­erklärlich. Gäbe es kein metaphysisches Ge­genprinz­ip, dann gäbe es auch keine Hoff­nung auf endliches Verschmelzen von Ideal und Wirk­lichkeit. Erst durch die Vernich­tung des Feindes in der Reali­tät wird die Entfremdung aufgehoben: Ideal und Wirk­lichkeit decken sich wie­der, der Entfremdete wird wieder eins mit sich selbst, nämlich mit seinen ei­genen Ideen. So verspricht die Metaphysik ihm "eine kom­pakte, unzer­setz­bare Ganz­heit. Sie gibt dem Menschen die Ge­bor­genheit einer Festung mit Seh­schlitzen und Schieß­schar­ten." [8] We­he dem, der in ihr Schußfeld gerät: Der Ketzer, der Kapitalist, der Ju­de, der Nazi und wie auch immer sie ge­nannt wurden, die histo­risch schon ein­­mal die Vorlage für ein metaphysisch verstandenes Feind­bild abgeben mußten. Die Ausrot­tung dieses Feindes mit bestem Gewissen ist im­mer die letzte, kon­se­quente Folge nor­mativer Wahn­ideen.

Die gedankliche Folgerichtigkeit eines geschlossenen Weltbildes ist un­abhän­gig da­von, ob das Ausgangsaxiom ein reales Phänomen ist oder ein ein­gebildetes. Die Ver­nunft kann den Rationalisten nicht da­vor schüt­zen, ra­tio­nalistische Luft­schlösser zu bauen. Vom Stand­punkt des gläubi­gen Katho­liken kann man genauso logisch und in sich wi­derspruchsfrei die Welt er­klä­ren wie vom Stand­punkt des Marx­is­mus. Es ist daher grund­sätz­lich unmög­lich, mit Mitteln externer Ver­nunft ein ko­hä­ren­tes Weltbild zu wider­legen. Wer das nicht glaubt, kann ja einmal mit einem Zeu­gen Jeho­va disku­tieren und ihn darauf hin­weisen, Jehova könne nicht die Welt vor 7000 Jah­ren ge­schaffen haben, weil das Alter von Sau­rier­knochen nach der Ra­dio­kar­bon­me­tho­de auf über 65 Millionen Jahre zu be­stimmen ist. Man wird un­wei­ger­lich zur Antwort be­ko­m­men, Gott habe die Kno­chen bei Er­schaf­fung der Welt vor 7000 Jah­ren schon genau in diesem Zustand in der Erde pla­ziert. Wer ein trans­zendentes Weltbild hat und an ein Jenseits glaubt, hat eben mit "Wun­dern" keine Probleme, weil sie Bestandteil sei­nes Weltbildes sind. Niemand lächele über die wundergläubigen Zeu­gen Jehovas, ohne sich die kritische Frage beantwortet zu ha­ben, an welche Wun­der er selbst glaubt. Je­weils vom Standort eines axio­mati­schen Aus­gangs­prinzips gibt es in­nerhalb eines Weltbildes über­­haupt nichts, was nicht restlos erklärbar wä­re, jedenfalls für den­jeni­gen, der dran glaubt. So ge­hört die Vorstellung zum eisernen Be­stand des demokrati­schen Ideen­krei­ses, daß das Volk einen ge­mein­samen Willen haben könne, die von Rousseau so genannte vo­lon­té générale. Dagegen glaubt der po­li­ti­sche Li­beralismus an die Idee von der Ver­tret­barkeit der Volks­in­ter­essen, und die Dis­kurs­theo­rie an die Wahr­heitsfindung durch Kom­munikation.

Auf alleiniger Grundlage der vielfältigen, miteinander un­ver­ein­ba­ren mögli­chen Prinzipien, Axiomen und Wertgrundsätze läßt sich kein wert­hal­ti­ger über­greifender Standpunkt gewinnen, von dem aus diese Werte be­urteilt werden können. Jeder von ihnen führt, rationalistisch zu einem Gedankenge­bäude ausent­wic­kelt, zu einer an­de­ren Vor­stel­lung darüber, in welcher Weise Men­schen zu­sammenleben sollten. Moral­begriffe sind nicht nur von Kul­tur zu Kultur ver­schieden, sie sind auch inhalt­lich "in hohem Maße va­ge" und stehen untereinan­der in einem Spannungs­ver­hält­nis. [9] Jede ge­sell­schaftliche Sol­lens­ord­nung hat andere ideelle Voraussetzungen und darum ande­re Konse­quenzen. Soweit ihre Prä­mis­sen aus dem Ideen­himmel stam­men, kann man keines mit ei­nem der ande­ren wi­derlegen, weil sowieso al­len­­falls eines von meh­re­ren widersprechen­den Prinzipien ob­­jektiv rich­­tig sein kann.

Eine für alle Menschen verbindliche Mensch­heits­mo­ral empfeh­len uns dage­gen die­jenigen Moralisten wie Jürgen Ha­ber­mas [10] , die mei­nen, es gebe schlecht­hin verallge­meinerungsfähige Inter­essen. Gä­be es diese, hät­ten wir allerdings einen übergreifen­den, objek­ti­vier­ba­ren B­e­zugspunkt ge­fun­den, von dem aus die ver­schie­de­nen welt­an­schau­li­­chen Ent­wür­fe gleichmäßig be­urtei­len könnten. Ha­ber­mas' uni­ver­sa­li­­stische Moral klei­det sich in die Form un­bedingter und katego­rischer Im­­pe­rative aus Sicht ei­ner vor­ge­stell­ten welt­wei­ten, uneinge­schränk­ten Kommu­ni­ka­ti­ons­gemein­schaft. We­der aber hat diese Fik­tion eine rea­le Ent­spre­chung, noch gibt es schlecht­­hin ver­­all­­ge­mei­ne­rungs­fä­hige Inter­es­sen. Gegen wen sollten diese sich konkret rich­ten? Der Be­griff des In­ter­es­ses setzt ein Gegenein­ander zweier Sub­jekte vor­aus. Ein Sub­jekt na­mens Mensch­heit gibt es aber nur als fik­ti­ves Ab­strak­tum. Die tat­säch­lichen Inter­es­sen­gegensätze finden in­ner­halb die­ses Ab­strak­tums statt. Es strei­ten die Interessen der ei­nen Men­schengruppe ge­gen die von an­deren. Darum ist es eine An­ma­ßung, solche Gruppen- oder Völ­­ker­interessen im Na­men eines Ab­strak­tums Menschheit vor­zu­tra­gen. Wer das beginnt, will mit den Wor­ten Carl Schmitts be­trü­gen. [11] Wer ei­nen An­spruch im Namen der Mensch­heit vorträgt, grenzt näm­lich alle Gegner dieses An­spruchs mit ihren In­teressen aus der Mensch­heit aus und darf sie ent­spre­chend behan­deln.

Die Herrschaftsideologie

Gesetzes- und Verfassungssysteme ver­kör­pern religiöse oder sittli­che Ideale. Alle Rechts­­ord­nungen bein­hal­ten solche immanente, nicht hin­­ter­frag­bare Prin­zi­pien, Werte und Normen. Diese machen es den Rechts­an­wendern zur Pflicht, be­stimm­te morali­sche Ideale we­nig­stens an­­nä­he­rungs­wei­se zu ver­wirk­li­chen. [12] Mit ihnen sind sie aber nicht zum Nenn­wert ihrer eigenen idealisti­schen Ein­schätzung zu neh­men. Vielmehr die­nen sie je nach Be­darf wech­selnden Ein­rich­tun­gen zur Er­rei­chung irdischer Zwecke: [13] "Das Recht kann von der Politik nicht getrennt wer­den, denn es ist ein wesent­liches In­strument der Politik. Seine Erzeugung so­wohl wie seine Anwendung sind politi­sche, und das heißt von Werturteilen be­stimmte Funktionen." [14] Jedes po­li­ti­sche System braucht eine letzte meta­physische Begrün­dung, um da­mit die be­ste­hen­de Form der Herr­schaft und der Macht­aus­übung ideo­logisch zu le­gi­ti­­mie­ren. [15]

Zwi­­schen der Moral und einem Recht, in dem sich deren Prin­zipien ver­kör­­pern, besteht ein not­wendiger Zusam­men­hang. Sittliche Werte wie Bil­lig­keit oder Ge­rech­tigkeit sind nur Wor­te für wertgeschätzte mensch­liche Ei­gen­­schaf­ten . [16] Wenn man sie als Naturrecht be­zeich­nen will, führen sie "zwar den Namen Ge­setze", sind es aber "nicht im ei­gentlichen Sinn des Wortes"; sondern "nur allge­meine Wahr­hei­ten darüber, was zur Er­haltung des Men­schengeschlechts er­for­­derlich ist. Ein ei­gent­liches Ge­setz hängt al­lein von dem ab, der im Be­sitz der höch­sten Ge­walt ist." [17] Recht umfaßt im­mer eine normative und eine positive Komponente zugleich: Seine ideell-normativen Elemente be­zeichnete man als Naturrecht [18] . Das staat­lich ge­setzte: das posi­tive Recht ist dagegen immer Gesetzesrecht. Alles Recht ist also ein sich aus ei­ner menschlichen Wert­vor­­stel­lung ergebender, von einer Herr­schafts­macht positivierter und mit staat­lichen Sank­tions­mit­teln durch­ge­­setz­ter allgemein­gültiger Befehl. Wert­vorstellungen "werden erst zum Ge­setz, wenn der Staat sie zu beobachten gebietet." Folglich sind die na­tür­li­chen Gesetze in den bür­gerlichen ent­halten." [19] Em­pi­risch be­trachtet fun­giert Recht da­her im­mer nur als die po­liti­sche Form, deren sich die po­­liti­sche Wert­set­zungsmacht be­dient. Wie Kant in der Ein­lei­tung zur 'Metaphysik der Sitten' ausführte, spiegeln sich in den recht­­li­chen Geset­zen das Mo­ralische, in der Le­ga­lität die Mo­ra­­li­tät, in den Rechts­pflichten die Tu­gend­pflich­ten usw. Die auf­ein­an­der be­zo­ge­­nen und in ein ge­dank­lich zu­sam­men­hän­gen­des Sy­stem ge­brach­ten Ein­­zel­werte bilden eine Mo­ral­lehre, Einzel­tu­genden ei­ne Tu­gend­lehre oder Ideo­lo­gie und ein­zelne Got­tesgebote eine Religion. Im staat­li­chen Gesetz spie­gelt sich nur die subjektive mensch­liche Moral und nicht eine objektive Mo­ral­ord­nung, weil es eine Moral an sich ohne ei­nen menschlichen Wert­set­zer nicht gibt.

Nicht der Anspruch legitimiert ein Gesetz, Ausfluß göttlicher Offen­ba­rung der Wahrheit zu sein, sondern der gültige staatliche Wil­lens­akt. [20] Wer immer mit au­tori­tativem Gehabe eine trans­zendente Mo­ral beschwört, will damit meist sei­nen An­spruch auf Gehorsam fe­stigen. Weil wir das Gepäck von 2500 Jahren Phi­lo­so­phie­ge­schich­te mit uns tragen, sind alle we­sentli­chen Gedan­ken schon ein­mal von ir­gend je­man­dem vor uns durchdacht wor­den, mei­stens von ei­nem alten, neuer­dings auch von einem jüngeren Grie­chen. Das Ge­dan­ken­kon­­strukt ei­ner Moral oder Ge­rechtig­keit an sich, der wir uns un­ter­zu­ord­nen hätten, ent­springt der Ideen­gläu­big­keit Platons. So­kra­tes fol­gend er­klärte seine Ideen­lehre die Begriffe für realer als die Din­­ge. Die transzendenten Ideen allein könnten von allen Menschen glei­cher­ma­ßen gebildet wer­den, und die Dinge seien nur ihr Abbild. Wie die na­türlichen Dinge stün­den die Ideen in einer Hier­archie. Ober­­ste Idee sei das sittlich Gute an sich: Gott. Aus ihr lei­ten sich jede Moral und jede Ethik ab, und an ihr sei jedes Ge­setz zu mes­sen. Auf dieser dua­li­sti­schen Tren­nung zwi­­schen "höherer" idea­ler Ge­rech­­tig­keit und ir­di­schem Gesetz be­ruht es immer, wenn je­mand seine Ideen von einem idea­len Recht ge­gen ein staatliches Ge­setz ins Feld führt. Er sieht im­mer einen qua­li­ta­ti­ven "Unterschied zwi­schen Recht und Gesetz. Das eine bezieht sich auf Ge­rechtigkeit, das andere auf Be­­fehl. Denn ein Gesetz ist nichts an­deres als eine An­ord­nung des Sou­veräns, der seine" Macht ge­braucht. Diese Macht ist seine "Frei­heit ge­gen­­über den po­sitiven Geset­zen." [21]

Ohne Glauben an metaphysische Transzendenz oder Immanenz fal­len Recht und Ge­setz im­mer in eins zusammen: In jedem Gesetz steckt eine Mo­ral. Eine für alle Men­schen vor je­dem mensch­li­chen Ge­­setz gültige Moral, die sich in einer Art Na­tur­recht ver­kör­pert, kann es nur durch die Vorstel­lung ge­ben, au­ßerhalb des Dies­seits ge­be es ein Jen­seits. Dort hal­ten sich al­le schö­nen Ideen auf, und von dort kom­men jene geheimnisvol­len Be­feh­le verborge­ner Mäch­te, die be­rufenen Pro­phe­ten dann und wann den wahren Inhalt der na­tür­li­chen Ge­rech­tig­keit offen­baren. Wer dran glaubt, verlegt durch die­sen Kunst­­griff sei­ne Normen in eine un­zu­gäng­li­che Sphäre und ent­zieht sie damit li­stig dem Zugriff seiner Gegner. [22] So gibt es für ihn al­les Recht dop­pelt, aber Quelle ist immer das platonische Gu­te [23] : Aus dem trans­zendenten na­türli­chen folgt das positivierte ge­setz­­liche Recht. Ent­spricht das posi­tivierte Ge­setz dem natürlichen oder ver­nünf­­ti­gen, ist es le­gitim. Dann gilt: "Eine Rechts­ord­­nung kann nur le­gi­­­tim sein, wenn sie mo­ra­lischen Grund­sätzen nicht wi­der­spricht. Dem positiven Recht bleibt, über die Legitimitäts­kom­po­nente der Rechts­­­­geltung, ein Be­zug zur Moral einge­schrie­ben." [24] So ist auch der Dis­kurstheoretiker Ha­ber­mas, wie jeder Mo­ralist, auf Metaphysik an­ge­wiesen, aus der er seine Mo­ral schöpft. Es gibt keine andere Quel­le für eine all­ge­mein­gül­tige Mo­ral. Dabei ist es nur eine argu­men­­ta­­tion­s­tech­nische Ne­ben­­­sa­­che, ob er seine Werte in ein trans­zen­den­tes Jenseits ver­legt oder in­tui­tiv im­manente Werte erfühlt. Vom Glau­ben an die eigene Me­­ta­phy­­­­­sik und ih­ren jeweili­gen angeblichen In­halt hängt der Wert jeder Theo­­­­rie ab, die ein Na­tur­recht ge­gen das ge­setz­te Recht aus­spielt: Wer daran glaubt, wird mit ihr selig.

 Al­lein diese zweck­bezo­gene Be­trach­tung politi­scher Ord­nungs­vor­­stel­lun­gen er­öff­net den nüch­ter­nen Blick auf die Dop­pel­funk­tion jeder Sy­stem­bil­dung: Ei­nerseits gibt sich ein Staat ei­ne Rechts­ordnung zu dem Zweck, den effizienten Schutz nach außen zu ga­ran­tie­ren. Lei­stet ein Ge­meinwesen das nicht, geht es in äu­ßerer Ge­fahr zu­­­grun­de wie 1806 das Heilige Römi­sche Reich Deutscher Na­tion. An­­­derer­seits dient das Verfas­sungssystem auch in­nerstaatlich dem Zweck, eine bestimmte gesell­schaft­liche Ordnung aufrecht­zuer­hal­ten. Sei­ne herr­schenden Gruppen er­rich­ten und verteidi­gen ein System zur Ab­­si­che­rung ihrer in­ner­ge­sell­schaft­li­chen Macht. [25] Zu ihm ge­hö­ren ne­­ben dem rein fak­ti­schen Herr­­schafts­in­­stru­men­ta­rium alle kon­kre­ten Ge­­set­zes- und Ver­fas­sungs­­be­stim­mun­­­gen, de­ren sich die Grup­pe zur Er­­hal­tung ih­rer Macht be­dient. Nach einer Einsicht Humes kommt keine Partei oh­ne ein Sy­stem von phi­­­lo­so­phi­schen oder spe­ku­lativen Grund­sät­zen aus, die sie an ih­re po­li­ti­schen und prakti­schen an­schließt. Dar­um hat jede ein solches Lehr­­­ge­bäu­de errichtet, um ihre Ab­sich­ten und Hand­lun­gen ab­zu­schir­men. [26]

Eine meta­phy­sische Recht­fer­ti­gung läßt sich im Fun­dus der Gei­stesge­schichte für jede be­liebige Herr­schaft leicht fin­den. Die Re­quisi­tenkam­mern mensch­­licher Phanta­sie bersten von Glau­bens­leh­ren und hoch­tönen­den Wort­hülsen, die sich, wenn sie nicht schon eigens zur Stabi­lisie­rung der Herr­schaft konkreter Men­schen er­sonnen wur­den, doch be­stens dazu eignen. Kluge Ge­setzgeber las­sen darum schon nach Be­obachtung Ma­chiavellis nicht nur die guten Gründe ih­res Werkes für sich sprechen, son­d­ern nehmen zur Gottheit ihre Zu­flucht, weil ihre Gesetze dann leich­ter an­ge­nom­men wer­den. [27] Das "be­­le­ben­de Prinzip jeder Regierung", ihre "Grundlage" und ihr "Wi­der­­halt", ist der feste Glaube der Re­gierten an ein "Ganzes von an­er­kann­­ten Doktri­nen." [28] Die rechtsförmige Herr­schaft kann sich, wenn sie von den Beherrsch­ten willig angenommen werden soll, nicht allein auf of­fenkundig willkürliche Ent­schei­­dungsmacht stützen. "Das Recht ent­­lehnt seine bindende Kraft viel­mehr dem Bünd­nis, das die Po­si­ti­vi­tät des Rechts mit dem An­spruch auf Legi­timität ein­geht." [29]  

Jede stabile Herrschaftsordnung muß ihren Doktrinen die dauernde An­er­ken­nung sichern. Aus Sicht einer Doktrin, also einer kohärenten Wer­teord­nung, erscheint je­de ihr entsprechende Aussage als wahr und jede ihr wider­sprechende als falsch. Wie sehr das für jede Herr­schaftideologie gilt, schil­derte Donoso plastisch anhand der katholi­schen: "Die Freiheit in der Wahrheit ist ihr heilig, die im Irrtum ist ihr ebenso ver­ab­scheuungswürdig wie der Irr­tum selbst; in ihren Augen ist der Irr­tum ohne Rechte ge­boren und lebt ohne Rechte, und dies ist der Grund, weshalb sie ihm nach­spürt, ihn verfolgt bis in die geheim­sten Schlupf­winkel des menschlichen Gei­stes; wes­halb sie ihn auszu­rotten sucht. Und diese ewige Illegitimität, diese ewige Nackt­heit und Blöße des Irrtums ist sowohl ein religiöses als auch ein po­li­ti­sches Dogma. Zu allen Zeiten haben es alle irdischen Gewalten ver­kün­det: Alle ir­di­schen Gewal­ten haben das Prinzip, auf dem sie be­ru­hen, der Dis­kus­sion entzogen; alle haben das diesem Prinzip ent­ge­gen­ste­hende Prin­zip Irrtum genannt und haben es jeder Legi­timität und jeden Rechtes ent­klei­det." [30]

So­zio­logisch betrachtet sind Ideen, Gedankengebäude, Ideologien und Welt­an­schauungen nichts als Waffen im zwi­schenmenschlichen Macht­­kampf. Inner­halb eines Volkes gibt es verschiedene Menschen mit ver­schie­denen In­teres­sen, Bedürf­nissen und demzufolge Welt-An­schau­­ungen. Im Kampf um Macht und In­teressen führen diese Ideo­lo­gien einen Stell­vertre­terkrieg. Scheinbar tobt der Streit um philo­so­phi­sche, meta­physische oder ethische Fragen. Tatsächlich ver­birgt sich hinter der Geltung jeder Ethik oder Philo­so­phie handfeste Inter­es­­sen­politik. Die sozio­logische Methode sucht den für bestimmte Ideen und intellek­tuelle Gestal­tungen typischen Per­sonen­kreis, der aus sei­ner Interessenlage heraus zu be­stimm­ten ideologi­schen Resul­ta­ten kommt. [31] Ethi­sche Fragen begründen gera­dezu politische Macht­­­ansprü­che und ihre Legi­timi­tät. Nach Max Weber durchdringen sich in sozialen Ord­nun­gen Ideen und Interessen. Begünstigt ist, wer dem an­de­ren seine Ideolo­gie, seine Spielregeln, seine Ethik dik­tiert. Je­­der Berufung auf an­geb­lich hö­he­res als das von Men­schen ge­setz­­te Recht oder auf eine me­ta­phy­sische Ge­rech­tigkeit set­zen wir die skep­­­­ti­­sche Frage ent­ge­gen, wem sie kon­kret nützt. Wem die "Deu­tung der Ora­kel der Gerechtigkeit an­ver­traut ist", wird er­fah­rungs­ge­mäß "die­se Göttin be­we­gen können, nichts zu antwor­ten, was wi­der den ei­ge­nen Vorteil ist." [32] So seufzte v.Hip­pel re­si­gnierend, nach Ver­­lo­ren­ge­hen der "hö­heren Rechts­­stufen" des göttli­chen und des Na­­tur­rechts seien "end­lich nur noch der Rechts­be­griff als leere Form und Tar­nung blo­ßer In­ter­essen wie poli­ti­scher Macht üb­rig" ge­blie­­ben. [33]

Mit der Be­to­nung der Zweck­haf­tig­­keit des Rechts neh­men wir in der Neu­zeit aber nur die schon von Thrasymachos ins Feld geführ­te Beob­­ach­tung auf, nach der "jeg­li­che Re­gierung die Gesetze nach dem gibt, was ihr vor­teil­haft ist: die De­mo­kratie de­mo­kra­tische, die Ty­ran­nei ty­ran­ni­sche und die an­de­ren ebenso. Und indem sie so ge­setz­ge­ben, zeigen sie also, daß die­ses ihr In­ter­esse (óýìöåñïí) Recht (äßêáéïí) zu sein habe für die Re­gier­ten. Und den die­ses Über­tre­ten­den stra­fen sie als außer­halb des Ge­set­zes Stehenden und un­recht Han­­delnden." In allen Staa­ten werde zum Recht ge­macht, was der be­ste­­­henden Regie­rung nütze. [34] Äßêáéïí kann Recht be­deuten, aber auch Ge­rechtigkeit oder das Gerechte. Je­de andere Überset­zung als Recht würde das Argument des Thra­­sy­ma­chos grob miß­verstehen, weil er ja gerade bestreitet, daß Recht mehr ist als gesetz­tes Recht, und eben nicht behaup­tet, das Recht sei Ge­rech­tig­keit oder eine trans­zendente Art Gerechtes. Für Pla­ton als Idea­listen war nur das ide­ale Recht überhaupt Recht. Ari­sto­te­les erkannte dagegen schon, daß äßêáéïí (Recht) in der Oli­gar­chie, De­mo­kra­tie usw. "in gewissem Grade" etwas ganz ver­schie­denes be­deu­tet. [35]

Gesetz und Moral sind eben zweierlei: "Sie sollten nicht ar­cha­ische und über­holte Rechts­vor­stel­lun­gen des Aure­lius Augu­sti­nus oder des hei­ligen Au­gu­stin aus 'De Civi­tate Dei' zitie­ren," emp­fahl da­her ein Rich­ter am Bun­des­ge­richts­hof bitter be­dau­ernd: "Recht hat mit Mo­ral nichts zu tun. Recht ist das, was durch­zu­set­zen man die politi­sche Macht hat und was dem Vol­ke nützt, wobei der Nutzen des Volkes von denen be­stimmt wird, die die Macht ha­be­n." [36] Politische Kämpfe sind nur vom Standpunkt ethi­scher, also ideo­logi­scher Überlegenheit aus zu ge­winnen. Jede Welt­anschauung ist in ihrem funk­­tiona­len Kern Herr­schafts­ideolo­gie und kann daher nur ver­stan­den wer­den, wenn sie in ihrer konkreten hi­sto­ri­schen La­ge, und je­de ein­zelne po­li­ti­sche Be­griff­lichkeit, wenn sie in ihrer si­tua­ti­ons­be­ding­ten po­le­mi­schen Funk­tion er­faßt wird. [37] Wer sich be­herrscht fühlt und sich befreien möchte, muß das Wech­selspiel zwi­schen faktischer Herrschafts­macht und über­wöl­ben­der Herr­schafts­­ideo­logie eben­so durchschauen wie jeder, der selbst gern herr­schen möchte. Herrschen bedeutet, die Spielre­geln des Zu­sam­menle­bens so zu set­zen, daß die an­deren zu tun haben, was die ei­nen wol­len. Weil die "herrschaftslose" Gesellschaft immer ei­ne Uto­pie bleiben wird und wir alle diesen Ge­setzmä­ßigkei­ten unterworfen sind, mag sich je­der frei aus­su­chen, ob er lieber Ham­mer oder Am­boß sein möchte.

Herr­schafts­ideologien sind abstrakte Ideen­ge­bäu­de und vermitteln Ak­zep­tanz von Herr­schaft: Solange die einen tat­säch­lich an sie glau­ben, ge­hor­chen sie "freiwillig" den anderen. So gehorchen Mon­ar­chi­sten im Glauben an das König­tum dem Mon­archen, Marxisten im Glauben an den Diamat oder den Fort­schritt ihrem Par­tei­se­kre­tär, Mus­lime im Glau­ben an Allahs Willen dem Imam und De­mokraten im Glauben an die De­mo­kratie gewissen Parteivertre­tern. Es ge­hört zu den er­folg­reichen Herr­schafts­tech­ni­ken, den Beherrschten das glück­li­che Gefühl zu schen­ken, ihr Gehorsam die­ne Gott oder stehe we­nig­stens mit einem uni­versa­len Gesetz in Ein­klang, zum Bei­spiel der Na­tur, der Humani­tät, dem Weltfrieden, dem hi­sto­ri­schen Sieg des So­zia­­lis­mus oder der De­mo­kratie. Darum pfleg­te man früher von Got­­tes Gna­den und heute im Namen des Vol­kes zu herr­schen, immer jedoch im Namen einer metaphysi­schen Totalität. Es wa­ren und sind die glück­li­chen Skla­ven der Frei­heit größ­ter Feind. "Je para­diesi­scher das vor­ge­gau­kelte Trug­bild, um so schmerz­loser die see­lische Ver­­skla­vung." [38] Wer dagegen selbst sittlich be­grün­det frei ent­schei­den will, darf an kei­ne anbefohlenen me­ta­phy­si­schen Nor­men glauben. Wenn er sich so überge­stülp­ten Fremdethiken verwei­gert, darf er sich ge­trost "Auto­no­mer" nen­nen.

Unter Be­ru­fung auf gött­li­ches oder Na­tur­recht herrschen be­quem dieje­ni­gen, die jeweils die De­fi­ni­tions­­macht be­sit­zen, welche kon­kre­ten Forde­run­gen der angebe­tete Gott an die Be­herrsch­ten richtet oder welchen kon­kre­ten Inhalt das Na­tur­recht angeb­lich hat. [39] Die norma­tivistische Fiktion läßt ihren In­ter­pre­ten ge­tarnt im Hintergrund. Sie soll seine Macht über die­je­ni­gen rechtfer­tigen, die an seine Nor­men glauben, wie schon Spinoza scharf­sinnig erkannte. Der Kult ewi­ger Göt­­ter hat den Angebe­teten selbst nur Psal­men­schall und Op­fer­rauch ge­­bracht, seinen Mana­gern aber ge­wöhn­lich so­ziale Pri­vi­le­gien und eine unauffälli­ge Herr­schaft. Muß der Untertan nur dem Gesetz gehor­chen, bleibt er doch wenigstens geistig frei. Muß er aber an die im Gesetz steckende Moral glauben, verliert er die Freiheit und das Recht, anders zu denken.

Normativi­sten wie Welzel irren, wenn sie dem Naturrecht ausreichende Kraft zu­schreiben, dem Men­schen eine in­nere Zuflucht vor grenzenloser irdischer Macht zu bieten. Wo eine Macht grenzenlos werde, müsse er ihr restlos anheim­fallen: nicht nur phy­­sisch, son­dern auch geistig. [40] Die Erfahrung lehrt aber, daß ge­­rade von der Indoktrinie­rung durch normative Wahrhei­ten die größ­­ten Gefah­ren aus­gehen. Erst wenn der Mensch Befreiung aus der Knecht­­schaft noch nicht einmal mehr ohne Gewissensbisse den­ken kann, wird Herrschaft total. Die nor­mativen Instru­mente geistiger Ver­­­knechtung lassen sich nur wie Spinn­weben zerrei­ßen, wenn sie alle als Hirn­­­­gespinste durch­schaut werden. Ge­genideologien helfen da nicht: Mit selbst­gesponnenen Ge­­weben al­lein lassen sich die Ge­spen­ster nicht dauer­haft bannen: So befreit uns das Natur­recht aus dem einen Ge­spinst nur, um uns in ei­nem anderen wie­der ein­zu­fangen.

Die ethi­schen Maßstäbe für die Gebote seiner Weltanschauung pflegt je­der nach sei­nem Eigeninteresse aus­zu­wäh­len. Er hält ge­wöhn­lich diejeni­gen Ge­sichts­punkte oder ab­strak­ten Werte für aus­schlag­ge­bend für die Fra­ge, ob zwei­er­lei gleich sei, die gerade ihm nützen. Jeder erhebt seinen Machtan­spruch also am wirksamsten, in­dem er eine Norm aufstellt und in ihrem Na­men und für sie einen Gel­tungsan­spruch er­hebt. Der praktische Erfolg ist von der Trans­zendie­rung der Norm abhängig. Nie­mand ge­horcht gern einem ande­ren Menschen, nur weil dieser das will. Einer Idee gehor­chen Men­schen da­gegen gern, denn die gewünschte philister­hafte Selbstge­rech­tigkeit stellt sich erst ein, wenn man sich mit seinem Han­deln im Ein­klang mit den Ge­bo­ten ei­nes verehrten Gottes oder einer Tugend­lehre oder der Ver­nunft schlecht­hin glaubt. Wer seine Gesetze wohlbeach­tet wissen und auch die Herzen seiner Un­tertanen zwin­gen will, muß die Gesetze im Namen Gottes verkünden und nach au­ßen hin seine eige­ne Inter­pre­tati­onsmacht verschlei­ern. Wer real herr­schen will, muß scheinbar der Norm dienen. [41] Den Zu­sammenhang zwischen dienen­der, vor­gescho­bener Norm und herr­schendem, dahinter stehe­ndem Norm­schöpfer muß er freilich ver­leugnen und verber­gen. Er muß die norma­tivisti­sche Fiktion aufrecht er­hal­ten. Um nicht als wertset­zen­der Macher einer heiligen Idee entlarvt zu werden, greift er in die übliche Trickkiste aller Mo­ralisten, indem er etwa die Norm mit sich selbst be­grün­det: Dann befiehlt es das Sollen selbst. Oder er schreibt ihre Letzt­geltung auch ei­ner uni­versalen Vernunft zu­: Wer möchte schon als un­­vernünftig gelten? Notfalls stopft der Verweis auf Gott je­dem vor­lau­ten Frager - "Ei, warum soll  ich eigentlich?" - den frechen Mund. 

Die normativistische Fiktion bedient sich immer derselben Me­thode, in Gestalt welcher konkreten Idee der Machtanspruch sich auch verkörpert. Um sie zu durch­schauen, müssen wir uns einer em­pi­rischen Begriffsstra­tegie be­dienen und die nor­ma­tive Kom­po­nente auf ihren konkreten menschlichen Ur­heber zu­rück­führen. Wenn wir den normativen Schleier zerreißen und hinter ihm seinen mensch­li­chen Urheber erken­nen, wird die­ser natürlich em­pört auf­­schreien, uns Ungläubige nennen und verurteilen - im Na­men seiner Norm natür­lich, und mit einem Wortschwall, der von ihm selbst ablenken soll. Das liest sich dann zum Beispiel bei Habermas so: Die "empi­rische Be­griffsstra­tegie ... tilgt ... aus dem Kon­zept der Macht genau jene norma­ti­ve Autori­tät, die der Macht durch ihre in­­terne Verbin­dung mit legitimem Recht zu­wächst." [42] Es stellt allerdings eine Tautologie dar, auf die Legi­timität ei­nes Rechts hinzu­wei­sen, das norma­tive Au­to­rität besitzt. Es ist ge­rade Merkmal der Legitimität, der bloßen Ge­setzlichkeit - der Legalität - die hö­here Weihe zu geben. Alle Nor­men sind legitim, an deren letzte Be­grün­dung durch hei­lige Prinzipien die Be­herrschten glauben. So funk­tioniert jede dem Faustrecht ent­wach­sene Herrschaft. Wenn die Un­tertanen erst einmal an den Gott glau­ben, in des­sen Namen sie be­herrscht werden, mag man die Herr­schaft von Men­schen über Men­schen im Namen der nor­ma­ti­ven Au­tori­tät getrost als legitim be­zeich­nen. Die entscheidende Frage aber: Welche Techni­ken der In­dok­trination und Be­einflussung von Massen sind es, die im 20.Jahrhundert Millio­nen­scha­ren von Gläubigen in trun­­kenem Wahne ihre Heils­rufe ertö­nen ließen? - Diese Frage wird ge­wöhnlich erst nach dem Ende einer Herr­schaft gestellt. Erst wenn alle lodern­den Fackeln und brennenden Kerzen verlo­schen sind, wird der Kopf wieder klar. Warten wirs also ab!

fortsetzendes Unterkapitel: Die benutzte Norm

 



[1] Arthur Kaufmann, Grundprobleme der Rechtsphilosophie, S.221 in Fußnote 43 m.w.N.

 

[2] Carl Schmitt, Über die drei Arten..., S.23 f.

 

[3] Eric Hoffer, Der Fanatiker, S.70.

 

[4] Odo Marquard, Abschied, S.17; Spinoza, Ethik, IV.Vorrede, S.187.

 

[5] Vgl. Günter Rohrmoser, Der Ernstfall, S.395.

 

[6] So Julius Evola, Revolte gegen die moderne Welt, 3.Ausgabe Rom 1969, deutsche 2.Aufl. Vilsbiburg 1993, S.207.

 

[7] Panajotis Kondylis, Macht und Entscheidung, S.63, 61.

 

[8] Rüdiger Safranski, Wieviel Wahrheit braucht der Mensch? S.151.

 

[9] Ralf Dreier, Der Begriff des Rechts, NJW 1986, 890 (893).

 

[10] Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, S.200.

 

[11] Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, S.55.

 

[12] Dreier, Der Begriff des Rechts, NJW 1986, 890 (892).

 

[13] Paul de Lagarde, Deutsche Schriften, S.138 (S.323 ff. der Gesamtausg. v. 1903).

 

[14] Kelsen, Was ist die Reine Rechtslehre? S.152.

 

[15] Rüthers, Ideologie und Recht im System­wech­sel, S.47.

 

[16] Hobbes, Leviathan, 2.Teil, 26.Kap., Viertens (S.230).

 

[17] Hobbes, Leviathan, 1.Teil, Ende 15.Kap.(S.142); Pufendorf, De officio.., S.13.

 

[18] Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S.165.

 

[19] Hobbes, Leviathan, 2. Teil, 26. Kap., S.230.

 

[20] Thomas Hobbes, Leviathan, 2.Teil, 26.Kap.: Auctoritas, non veritas facit legem.

 

[21] Jean Bodin, Six Livres, Buch I, 8.Kap., S.36 f.

 

[22] Kondylis, Macht und Entscheidung, S.63.

 

[23] Habermas, Faktizität und Geltung, S.136.

 

[24] Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, S.137.

 

[25] Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, S.66 nach Hobbes.

 

[26] David Hume, Of the Original Contract, zit. nach Levy, David Hu­me, Cri­ti­cón 1980,4.

 

[27] Niccolo Machiavelli, Discorsi, I.Buch, 11. Kapitel, S.45.

 

[28] Auguste Romieu, Der Caesarismus, S.38.

 

[29] Habermas, Faktizität und Geltung, S.57.

 

[30] Donoso Cortés, Essay, S.22.

 

[31] Carl Schmitt, Politische Theologie, S.57, nach Max Weber. Bei­den folgt Kondylis, Macht und Entscheidung, 1984.

 

[32] Samuel von Pufendorf, De statu Imperii Germanici, S.165.

 

[33] Ernst von Hippel, Der Rechtsgedanke in der Geschichte, S.6.

 

[34] Zitiert nach Platon, Politeia, 1.Buch, B.Hauptteil, II. ,12., 338e.

 

[35] Aristoteles, Po­litik, 3.Buch, 9., =1280a. Ebenso a.a.O. 1318a.

 

[36] Falk Frhr.v.Maltzahn, Leserbrief, FAZ 27.5.1994.

 

[37] Kondylis, Konservativismus, S.16, Macht und Entscheidung, S.50 ff., 99.

 

[38] Edgar Julius Jung, Die Herrschaft der Minderwertigen, S.250.

 

[39] Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, S.66.

 

[40] Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S.239.

 

[41] Kondylis, Macht und Entscheidung, S.56.

 

[42] Habermas, Faktizität und Geltung, S.351.