Die
Entscheidung für Ordnung im allgemeinen ist noch keine Entscheidung
für eine bestimmte Ordnung. Ordnungen sind alle menschlichen
Herrschaftsformen, die monarchische wie der Sozialismus,
selbst der Liberalismus ist als institutionalisierte Form
der Herrschaft der Geldhabenden eine Art Ordnung im weitesten
Sinne. Sie unterscheiden sich durch ihre verschiedenen, aufgrund
konkreter Bedürfnisse gebildeten Weltanschauungen oder Ideologien. Nachdem
die Vertreter des Ordnungsdenkens den gemeinsamen Feind des
Chaos Seite an Seite bekämpft haben, muß daher nach ihrem endlichen
Sieg der Streit darum entbrennen, welche konkrete Ordnung gelten
soll. Jetzt verlaufen die Fronten plötzlich ungewohnt: Mit
den normativistischen Vertretern reiner Lehren fechten Dezisionisten,
die an diese Lehre nicht im Sinne eines ontologischen Realismus
glauben, sie aber für höchst nützlich halten. Gegen sie beide
stehen die normativistischen Vertreter konkurrierender
Ideologien und ihre dezisionistischen Verbündeten. Es ist
ein wesentlicher Unterschied, ob einer eine Ideologie glaubt
oder ob er sie benutzt: So mag der eine sagen: "Ich entscheide
mich für ein politisches Volksbewußtsein, denn als Baustein
des Volkes brauche ich es für meine Sicherheit und mein Wohlergehen,"
oder ob einer glaubt: "Die Nation ist unsere verlockende
und fordernde Illusion, unsere Chance, die beschränkte Existenz
in einer höheren, ästhetischen Form zu überwinden, und symbolisiert
damit das, wonach jeder Mensch von Rasse strebt: das Transzendente."
[1]
- Kann man sich hübscher zu Hirngespinsten
bekennen?
Hier
trennt sich auch unser Weg von allen jenen fideistisch motivierten
Dezisionisten wie Carl Schmitt
, die auf Grundlage eines rabenschwarzen Menschenbildes niemals
auf die Idee kämen, eine andere Entscheidung als die für
ihren persönlichen Gott und seine Ordnung zu treffen: "Schmitt
sieht, wie sein großes Vorbild Donoso
, die Moderne im Zeichen des Antichristen,
...
der sich über alles erhebt, was Gott und Gottesdienst heißt,
sich selbst zum Gott aufwirft und einen Zustand des Chaos,
der Gesetzlosigkeit, der Lüge und der Bosheit herbeiführt.
Die Kräfte, deren er sich dabei bedient, sind die Prozesse
der Rationalisierung, Technisierung und Säkularisierung,
die zu einer restlosen Funktionalisierung des Daseins, zur
Erstickung aller Transzendenz in einem egalitären, gegenüber
dem Bösen indifferenten, nur auf die Befriedigung egoistischer
Bedürfnisse ausgerichteten Fürsorge- und Wohlfahrtsstaat
führen."
[2]
Damit ist deutlich umrissen, daß wir mit
Schmitt die Positionen des extremen Liberalismus ablehnen,
ihm aber nicht ins Reich seines Gottes folgen.
Der
echte Normendiener neigt zum ideologischen Fundamentalismus.
Er glaubt wirklich, daß es seine Werte unabhängig von Menschen
gibt, die sie denken. Darum wird ihm jeder radikale Dezisionist
sofort verdächtig, der sich für die Normativismen nur entschieden hat und sie funktional benutzt, zugleich aber als Produkt seines
eigenen Selbst erkennt. Dem Normativisten ist der Dezisionist
also selbst dann verdächtig, wenn dieser dasselbe Gedankengebäude benutzt, an das er als Normendiener glaubt. Damit hat der Normativist zweifellos
recht: Dem Dezisionisten ist die Anwendung der Ideologie
des Normativisten im Grunde disponibel. Er ist ein unsichererer
Kantonist als der wirklich an die Ideologie Glaubende. Pathetisches
Anrufen höherer Mächte oder ewiger Werte reizt ihn zum Lachen und nicht zur Demut. -In
der Lebenswirklichkeit vermag der Dezisionist den Normativisten
zu führen. Durch die Herrschaft über die geglaubte Norm kann
er den Normativisten lenken und beherrschen. So macht er
sich die Norm dienstbar und den Normendiener indirekt zu seinem
eigenen Diener. Es pflegt der Normendiener, wie Lenins "nützlicher
Idiot", dem Normenbenutzer unwillentlich zu folgen:
Er muß das tun, sobald er an die vom Dezisionisten erfundene
Norm glaubt. Was dem intellektuellen Erfinder nur eine
Philosophie oder dialektische Übung ist, wird von den glaubenshungrigen
Massen als Lehre aufgesaugt. Christus war ebensowenig ein
Christ wie Marx ein Marxist.
[3]
Das Erfinden von Normen, Religionen und
Ideologien ist ein erprobtes Mittel der Herrschaftstechnik.
Schon Machiavelli
war aufgefallen, daß der Fürst nicht an die offiziellen Normen
und Moralbegriffe glauben muß, er muß nur für gläubig gehalten
werden.
[4]
Durch den Glauben seiner Untertanen
aber lenkt er sie in die von ihm vorgegebene und ihm nützliche
Richtung. Für Monarchen empfiehlt sich der Untertanenglaube
an die Legitimität der Dynastie, für Parteifunktionäre der
Glauben an die jeweilige Parteidoktrin und für Stubengelehrte,
die zu nichts fähig sind als zum Debattieren und Inzweifelziehen,
der Glauben an die Wunderwirkung des Diskurses.
Der
Normenbenutzer entscheidet sich f ür eine ihm nützliche Ideologie
und schart Mitstreiter um sich. Diese müssen an die Normen,
für die der Normenbenutzer sich entschieden hat, wirklich
glauben, sonst ist ihr Kampfwert gering. Normen erfüllen eine
Funktion sozialer Disziplinierung. Daher herrscht, wer
sie aufstellt, über den, der sodann an sie glaubt. Weil menschliches
Tun zweckhaft, also sinnerfüllt ist, vermuten diese Glaubenden,
daß die Naturgesetze zweckhaft geschaffene Teile einer
normativen Wertordnung sind. An eine konkrete, als über-sinnlich
verstandene Weltordnung zu glauben, entspricht dem inneren
Bedürfnis der meisten Menschen. Darum lassen sie sich willig
indoktrinieren, sind sie doch stets auf der Suche nach sinnstiftenden
Angeboten. Wer aber über die sittliche Begründung seines
Tuns frei entscheiden will, darf an keine übersinnliche
Wertordnung als Realität glauben.
Die
Dezision hingegen läßt als harmlose Möglichkeit immerhin offen,
aus transzendentem Bedürfnis die eigene Ethik zu personifizieren,
an die Wand zu malen und zwei Kerzen daneben zu stellen. Wer
dagegen an das wirkliche Walten ihm vorgeschriebener Normen
glaubt, aufgrund deren alle Menschen in eine übersinnliche
moralische Ordnung gestellt sind und diese zu verwirklichen
haben, liefert sich denjenigen aus, die sich auf sie berufen
und zu ihrem Nutzen konkrete Verhaltensanweisungen auf
sie stützen. Vor normativistischen Fiktionen ist Vorsicht
geboten: Sie lassen ihren Interpreten getarnt im Hintergrund
und rechtfertigen seine Macht über die Gläubigen. Wir dürfen
uns die freie Entscheidung für eine unseren Bedürfnissen
entsprechende Ethik nicht entwinden lassen. Gegen sie funktionalisieren
Unfreiheit und Fremdbestimmung heute wie eh und je eine
gegen uns gerichtete Moral, deren Sprachregelungen kalte,
graue Begriffsnetze über uns werfen.
[5]
Wir sollten feinfühliger darauf achten,
ob wir durch eine Moral benutzt und fremdbestimmt werden.
Wer die Fäden dieser Moral zusammenhält, geißelt uns mit
Wahnvorstellungen von Sündhaftigkeit, Bösesein und Schuld:
Begriffen, die es nur innerhalb seiner Glaubenslehre gibt.
Ihr praktischer Sinn aber ist es, uns Gehorsam abzuverlangen,
denn Sühne oder Buße, jedenfalls aber Gehorsam, verlangen
sie alle. In
solchen Wert- und Unwertsetzungen verkörpert sich in der gegenwärtigen
historischen Lage Deutschlands der Machtanspruch derjenigen
Menschen, die aus biographischen Gründen eine Urangst vor
uns haben und die uns mit ihrer Moral fesseln und harmlos
machen wollen; aber auch der Machtanspruch derjenigen, die
uns aus Haß oder Rachsucht leibhaftig da sehen möchten, wo ihre
Hölle am tiefsten ist, und die uns von Herzen wünschen, daß
uns Angst, Scham und Verzweifelung nie wieder aus ihren Klauen
lassen.
Am heimtückischsten sind dabei jene pseudobiologistischen
Lehren, die uns allein schon aufgrund unserer Abstammung
eine metaphysische Schuld wie eine Erbsünde aufladen.
Wer an einen Gott und seine Moral glaubt, in dessen Hölle
der eigene Großvater bereits schmort, der allerdings
ist wirklich selbst schuld und verstrickt sich unentrinnbar
in einem Labyrinth von erster, zweiter und dritter Schuld.
Hier hilft nur ein geistiger Befreiungsschlag: Wir dürfen
nicht an jenen Gott und seine ganze alttestamentarische
Schuldmetaphysik glauben. Schon Pufendorf
hatte geargwöhnt: "Die Zahl der Sakramente wurde mit
Bedacht vermehrt, damit die Menschen häufiger der Priester
bedürfen.
...
Ja ich glaube, auch das Fegefeuer ist nur zu dem Zweck angezündet,
um diejenigen mit einer Abgabe belegen zu können, die der Tod
sonst von allen menschlichen Dingen befreit."
[6]
Wir werden erst frei von jenen Abgaben
sein, wenn alle moralischen Fegefeuer gelöscht sind.
Die
meisten Menschen wollen aus innerem Bedürfnis einfach
glauben und lassen sich willig indoktrinieren, weil sie stets
auf der Suche nach sinnstiftenden Angeboten sind und diese
aus sich selbst heraus selten entwickeln können. Doktrinen
"beanspruchen Verbindlichkeit, geben vor, in ihren zentralen
Aussagen die Wirklichkeit selbst zu erfassen, 'ewige' Wahrheiten
zu enthalten, vor allem einen Schlüssel für die Interpretation
des Geschichtsverlaufes sowie die Deutung von Gegenwart
und Zukunft zu präsentieren."
[7]
Eibl-Eibesfeldt
hat aufgezeigt, daß jede Doktrin bei einer Hypothese ihren
Anfang nimmt; doch der Weg von der Hypothese zur Doktrin ist
kurz. Wir brauchen Hypothesen, um für die Erklärung des Unerklärten
und damit für unsere Orientierung in der Welt einen Schlüssel
zu finden. Meinen wir einen gefunden zu haben, gibt es uns
ein Gefühl der Sicherheit, wenn er von Fall zu Fall zu passen
scheint.
Wir dürfen uns aber nicht zwanghaft an die Hypothese
klammern und müssen, mit den Worten Lorenz'
, jeden Morgen zum Frühstück bereit sein, eine Hypothese über
Bord zu werfen. Sonst sieht Eibl-Eibesfeldt
die Gefahr, daß die Hypothesen zu Doktrinen und damit zu
Gefängnissen unseres Geistes werden. Viele
lassen sich gern indoktrinieren, wenn sie nur eine triste Realität
gegen den irrealen Glauben an eine glückliche Zukunft eintauschen
dürfen. Eric Hoffer
ist ihren seelischen Beweggründen in seinem Klassiker über
den Fanatiker nachgegangen: "Für eine religiöse Bewegung
bedeutet die Gegenwart einen Ort des Exils, ein Tränental auf
dem Weg ins Himmelreich; für eine soziale Bewegung bedeutet
sie eine armselige Haltestelle auf der Straße nach Utopia."
Je unwahrscheinlicher und mit dem Erleben der täglichen Sinneswelt
unvereinbarer ein Glaube ist, desto mehr muß er sich mit doktrinärem
Gehabe gegen Kritik sichern. Sich gegenüber einer Offenbarung
"auf das Zeugnis der Sinne und des Verstandes zu verlassen,
ist Häresie und Verrat.
...
Die Fähigkeit des 'Rechtgläubigen', seine Augen zu verschließen
und seine Ohren zu verstopfen gegenüber Tatsachen, die es
nicht verdienen, daß man sie ansieht oder anhört, ist ihm eine
Quelle unerreichter Kraft und Standhaftigkeit."
[8]
Darum beweisen "für voreingenommene
Menschen, namentlich für solche, deren Herz den Verstand
besiegt hat, Ereignisse nichts. Da sie unwiderruflich
Partei dafür oder dagegen genommen haben, sind Beobachtungen
und Beweisführung gleich vergebens."
[9]
Je weniger vernünftig und nachvollziehbar
eine Doktrin ist, desto mehr Glauben verlangt sie. Ausgefeilte
Religionen mit jahrhundertealter dogmatischer Tradition
und Ideologien wie der Marxismus basieren auf in sich geschlossenen
Denkstrukturen und Glaubensannahmen. Letztlich
müssen wir die Fixierung eines Weltbildes schon im Kindesalter
als Grundbedingung dafür hinnehmen, uns in dieser Welt zu orientieren
und wirksam handelnd ins Geschehen einzugreifen. Die Annahme
einer jeden Doktrin ist eine Abstraktionsleistung des Gehirns,
die schon das Kind benötigt, um sich zurechtzufinden.
Manche
werden nie erwachsen. Die Indoktrinierung begann bereits,
als ein steinzeitlicher Vorfahre seinen Sohn vor einem niedlichen
jungen Miezekätzchen warnen mußte, weil dessen säbelzähnige
Mami nicht weit sein konnte. Jede Eingewöhnung in ein kulturelles
Milieu ist mit elterlicher Indoktrinierung verbunden, wenn
man darunter die kindlich unkritische Annahme bestimmter
Erfahrungserwartungen von Erwachsenen versteht. Die Bereitschaft
zum kulturell überlieferten Vorurteil hat sich als arterhaltend
erwiesen. Im Zeitalter hochkomplexer Ideologien und Massenbeeinflussung
ist sie aber ein problematisches Erbe. "Der Mensch ist
erstaunlich indoktrinierbar. Das macht ihn besonders
verletzbar. Denn durch Propaganda lassen sich in seinem
Hirn Strukturen aufbauen, die ihn dazu bringen, gegen seine
vitalen Eigeninteressen zu handeln."
[10]
Wer an das wirkliche Walten ihm vorgeschriebener
metaphysischer Normen glaubt, aufgrund deren alle Menschen
in eine übersinnliche moralische Ordnung gestellt sind und
diese zu verwirklichen haben, liefert sich denjenigen
aus, die sich auf sie berufen und zu ihrem Nutzen konkrete
Verhaltensanweisungen auf sie stützen.
Wir dürfen uns daher
die freie Entscheidung für eine unseren Bedürfnissen entsprechende
Ethik nicht entwinden lassen. Fremdbestimmung beginnt mit
der gegen uns gerichteten Funktionalisierung einer Moral,
deren Bann uns fesselt und bereits unsere Sprache den Geboten
seiner Rechtgläubigkeit unterwerfen will.
Un ser
nüchterner Blick auf die konkrete Funktion allen Rechtes
als von Menschen über Menschen gesetztes Recht muß alle diejenigen
unbefriedigt lassen, die nicht die Funktion jeder Idee
als Waffe im Vordergrund sehen, sondern aus dem Elfenbeinturm
esoterischer Moral- oder Gotterkenntnis her argumentieren.
Ihr Reich ist nicht von dieser Welt, und unsere Überlegungen
sind unfruchtbar für sie. Wir haben nichts, um sie zu trösten.
Bewußt hinterfragen wir hier jede metaphysische Letztrechtfertigung
des Rechts, um die Anmaßung der herrschenden Ideologie zu
durchschauen: Man verlangt uns den Glauben an ihre Moral
ab und gründet darauf den Anspruch, an ihrem Recht dürfe
in Ewigkeit niemals gerüttelt werden. Neugierig wagen wir
kritisch zu hinterfragen: Warum eigentlich? Mit welcher höheren
Weihe aus dem Arsenal der Herrschaftsideologien haben
sie sich versehen? Und vor allem: Wem nützt ihre Herrschaft?
Der
Preis dieser Desillusionierung ist manchem zu hoch: "Eine
Zerstörung jeder übergreifenden Idee, jeder geschichtstranszendenten
Norm," seufzt der liberale Graf von Krockow
, "die Zerstörung aller naturrechtlichen Universalismen
kann folgerichtig nur zu einer Reduktion aller politischen
und staatstheoretischen Probleme auf die 'Macht der Tatsachen'
bzw. die tatsächliche Macht führen."
[11]
Wie Adam und Eva vom Baume der Erkenntnis
aßen und sahen, daß sie nackt waren, läßt das Durchschauen
aller naturrechtlichen Universalismen" deren Apostel
in ihrer Machtausübung nackt dastehen, ihrer Herrschaftsideologie
entkleidet nämlich. Nicht jeder verträgt den Verlust des trügerischen
schönen Scheins und beginnt beim Erkennen seines Nacktseins
zu frösteln. Es gehört zur Grundbeschaffenheit unseres sterblichen
Seins, daß man an seiner völligen Erkennntnis zugrunde gehen
könnte, "so daß sich die Stärke des Geistes danach bemäße,
wieviel er von der 'Wahrheit' gerade noch aushielte."
[12]
Freiheit
ist schon begrifflich immer die Abwesenheit von etwas. Sie kann
nie dem genügen, der etwas vom Leben haben will. Nur wer keinen
Befehlen oder Normgeltungsansprüchen anderer Menschen unterworfen
ist, ist frei von ihnen. Es gibt keine andere politische und
persönliche Freiheit im zwischenmenschlichen Leben. Menschliche
Freiheit ist immer die Freiheit, allein über das eigene Tun
zu entscheiden und im allgemeinen selbst die Regeln aufzustellen,
denen der soziale Kontakt mit anderen Menschen unterliegt.
Sie ist die "Macht, entsprechend den eigenen Willensentscheidungen
zu handeln oder nicht zu handeln."
[13]
Der Freie unterliegt keiner sozialen
Einordnungspflicht und keinem kategorischen Imperativ.
Völlige Freiheit ermöglicht den nackten Selbstbezug auf
das eigene Ich, die ungehemmte Selbsterhaltung sowie
die Macht, den darauf gerichteten Willen auch durchzusetzen.
Wenn es überhaupt ein natürliches "Recht" und eine
natürliche Freiheit gibt, ist sie "die Freiheit eines
jeden, seine eigene Macht nach seinem Willen zur Erhaltung
seiner eigenen Natur, das heißt seines eigenen Lebens,
einzusetzen und folglich alles zu tun, was er nach eigenem
Urteil und eigener Vernunft als das zu diesem Zwecke geeignetste
Mittel ansieht."
[14]
Zwischen
der persönlichen Freiheit und der Macht eines Menschen besteht
ein notwendiger Zusammenhang: Seine Freiheit besteht in der
Abwesenheit fremder Entscheidungsmacht über ihn. Alle Macht
ist eine Fähigkeit, und ihre Ausübung ist eine Tätigkeit. Von
der Stärke dieser Macht und ihrer Ausübung hängt es ab, wie frei einer von fremder Macht
ist und wie frei er
dazu ist, anderen seinen Willen aufzuzwingen: Bei
geringer Macht ist jemand nicht frei von der Zumutung, anderen zu willfahren.
Ist er ebenso mächtig wie sie, so hat keiner Macht über den
anderen, und beide können voneinander frei sein. Aber was
hätten die Menschen davon, wenn jeder von jedem völlig frei
und aller Bindungen und aller Macht über den anderen ledig
wäre? Wir können uns die Abwesenheit jedweder Bindung aneinander
und Gebundenheit des einen Menschen durch einen anderen
Menschen allenfalls denken, wenn jeder Mensch wie Robinson
eine Insel für sich hätte. Nur und erst dann wären alle völlig
frei voneinander. Absolute Freiheit ist absolute Beziehungslosigkeit.
Wozu sollte eine solche Freiheit gut sein? Wenn keiner mehr
einen Einfluß auf den anderen ausüben könnte, wäre das die
Asozialität schlechthin. Vom völligen Freisein allein besäße
niemand etwas. Jeder wäre isoliert auf sich selbst beschränkt.
Wer könnte eine solche völlige Freiheit wollen?
Das
Zusammenleben führt zwangsläufig zu Beziehungen und Einflußnahmen.
Schon indem einer der Anwesenheit eines anderen ausgesetzt
ist, ist er nicht mehr frei von ihm. Sofort stellt sich die
Frage, wie sie miteinander umgehen. Wollen beide zufällig
in derselben Weise miteinander umgehen, braucht keiner dem anderen
etwas nachzugeben oder aufzuzwingen. Friedlich nebeneinanderher
grasende Lämmer sind frei voneinander. Will der eine unbedingt
friedlich sein, der andere aber unfriedlich, entscheidet die
Macht, ob der Friedliche dem Unfriedlichen den Frieden aufzwingt
oder ob die Macht des Unfriedlichen größer ist. Je nach dem
wird ihr weiteres Zusammensein sich nach friedlichen oder
unfriedlichen Spielregeln richten. Wenn die angewandte Macht
des einen stärker ist als die des anderen, ist der eine frei dazu, die Regeln zu bestimmen. Weil
die Freiheit von etwas bloß eine Abwesenheit ist, ein
Nichts, hat von ihr allein niemand irgend etwas. Er hat zwar
alleinige Selbstbestimmung, aber nichts sonst außer sich.
Wer Fremdbestimmung abwehren will, muß dazu ausreichend mächtig
sein. Die Freiheit zu einem zwischenmenschlichen Handeln erfordert aber mehr. Wer
mehr will als Selbstbezug, greift damit in das soziale Leben
ein.
Frei zum willkürlichen Handeln im Zusammenleben ist jeder nur je
nach dem Maße seiner ausgeübten Macht. Auf einer gedachten
Plus-Minus-Skala wie bei einem Thermometer entspräche die
Macht der Temperatur: Der Tiefpunkt im Minus wäre die völlige
Unfreiheit. Mit steigender Macht steigt das Maß an Freiheit
zum Nullpunkt, an dem man keiner fremden Macht unterliegt,
aber nichts hat außer der Selbstbestimmung. Mit weiter steigender
Macht wächst die Herrschaft über andere. Zwei
ganz unterschiedliche Charaktere wollen die volle Freiheit für
jeden Menschen: Die Anarchisten und die Egoisten. Die Anarchisten
glauben, der Mensch sei ursprünglich und an sich eine Art
friedlich grasendes Lämmchen, wenn kein Staat ihn ärgert.
Ihrer Idee nach ist der Mensch an sich gut, und wenn man ihm
freien Lauf läßt, wird sich eine Art harmonischer Ordnung
von selbst einstellen. Anarchie führe nicht zum Chaos, sondern
zur Ordnung ohne Herrschaft.
Der Anarchist teilt diese Meinung
mit dem fundamentalistischen, dem "libertären"
Liberalen. Überhaupt nicht auto-nom sind die selbsternannten
Autonomen. Áõôüò heißt selbst, und íüìïò steht für geordnete Verhältnisse.
Der Name Autonome ist eine Anmaßung. Um autonom zu sein, muß man zunächst "-nom"
sein, also irgendeine konkrete Ordnung herstellen wollen.
Die Anarchisten kämpfen im Namen einer eingebildeten idealen
Ordnung real für das Chaos.
Sie streiten das allerdings ab: Die Abwesenheit von Herrschaftsordnungen
werde eine "freie Ordnung"
[15]
ganz von selbst gebären. Der unauflösliche
Widerspruch von Freiheit und Ordnung bleibt ihnen verborgen. Aus
ganz anderen Gründen bevorzugt die seltene Gattung des reinen
Egoisten die Herrschaftslosigkeit. Zu ihr zählen exemplarisch
Nietzsche
und sein Vordenker Stirner
. Wer nichts Höheres außer seinem Selbst anerkennt und
auch im liebevollen, freundschaftlichen oder sonst geselligen
Leben keinen Wert an sich sieht, wird den Staat ebenso ablehnen
wie jede Bindung an irgendwelche selbstgesetzten oder gar
anbefohlenen Werte. Er wird formulieren: "Ich bin zu
allem berechtigt, dessen ich mächtig bin. Ich bin berechtigt, Zeus, Jehova,
Gott usw. zu stürzen, wenn Ich's kann;
kann Ich's nicht, so werden diese Götter stets gegen Mich
im Rechte und in der Macht bleiben, Ich aber werde Mich vor
ihrem Rechte und ihrer Macht fürchten in ohnmächtiger 'Gottesfurcht'."
Auch über "mein Verhältnis zu den Menschen" entscheidet
"meine Befriedigung", so daß "ich auch der Macht
über Leben und Tod aus keiner Anwandlung von Demut entsage."
-
Umgekehrt gegenüber Hobbes sah Stirner die Geselligkeit
als den menschlichen Naturzustand an, von dessen Fesseln
er sich befreien wollte: "Nimm, was Du brauchst! Damit
ist der Krieg aller gegen alle erklärt. Ich allein bestimme darüber, was ich haben will."
[16]
- Gegen diese Maxime hatte Hobbes
mit Recht eingewandt: Wenn keine Macht der Willkür des einzelnen
Schranken setze, "so wäre das Leben der Menschen nebeneinander
natürlich nicht bloß freudlos, sondern vielmehr auch höchst
beschwerlich." Der Krieg aller gegen alle müßte zum
Ende jeder Kultur, Zivilisation und aller gesellschaftlichen
Verbindungen führen; "statt dessen ein tausendfaches
Elend; Furcht, gemordet zu werden, stündliche Gefahr, ein
einsames, kümmerliches, rohes und kurz dauerndes Leben."
[17]
Die
volle Freiheit führt ins soziale Nichts. Wer sich die Freiheit
für schlechthin alles nimmt, eröffnet den Krieg Aller gegen
Alle. Die volle Freiheit kann die Lösung nicht sein. Im sozialen
Leben muß sie sich Beschränkungen gefallen lassen. Wer die
holde Freiheit nicht offen einschränken möchte, stutzt sie
einfach begrifflich zurecht: Freiheit bestehe bloß darin,
"alles tun zu können, was einem anderen nicht schadet,"
so lautet Artikel 4 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte
von 1789. Das ist eine logisch absurde Behauptung. Wie dürfte
sich als frei bezeichnen, wer anderen nicht schaden darf? Logisch
möglich und als Sollensprinzip jeder menschlichen Gemeinschaft
vertretbar wäre dagegen die Formulierung: Die Freiheit darf
eingeschränkt werden, wo ihr Gebrauch einem anderen schadet. Kant
formulierte das allgemeine Rechtsprinzip, wonach jede Handlung in abstracto Rechtens
ist, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines
jeden mit Jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz
zusammen bestehen können. Ein uneingeschränkter Freiheitsbegriff
kann aber nur lauten, daß Freiheit die Abwesenheit jedweden
normativen oder dezisionistischen Imperativs ist. Ein solchermaßen
universales Rechtsprinzip, das jedem vollständige Freiheit
ermöglichen könnte, gibt es aber in
concreto nicht. Formulierungen wie die von Kant bedeuten
im Klartext tatsächlich: Die universale Freiheit der Willkür
darf im gesellschaftlichen Kontext nur insoweit ausgeübt
werden, als sie anderen nicht schadet. Es handelt sich also
im engen Sinne nicht um eine Definition von Freiheit, sondern
um eine normative Maxime, aufgrund deren die individuelle
Freiheit im gesellschaftlichen Kontext notwendigerweise
beschränkt werden muß.Das
Freisein von sozialen Einordnungspflichten stellte sich die
Aufklärung vor, wenn sie von einem natürlichen Urzustand sprach,
in dem die Menschen sich vor Erfindung sozialer Gemeinschaften
angeblich befunden haben sollen.
Nun waren unsere Vorfahren,
seit sie einst von ihren Bäumen geklettert sein mögen, nachweislich
immer sozial lebende Wesen. Eines aber ist an der Vorstellung
vom Naturzustand richtig: Wenn und sobald wir keinerlei soziale
Normen beachten würden, fielen wir jedenfalls in einen asozialen
Zustand. Daß dies eine praktisch irrelevante Vorstellung ist,
wird angesichts der Zustände in gewissen Stadtteilen gewisser
Städte niemand behaupten können. Alles
soziale Leben richtet sich nach irgendwelchen Regeln. Jede
Erweiterung des eigenen sozialen Freiraums geht auf Kosten
der Freiräume anderer.
[18]
Wenn beide ebenbürtig sind und zufällig nach
denselben Regeln miteinander verkehren möchten, bleiben
beide frei vom Unterworfensein unter die Regeln des anderen.
Wenn sich zwei Philosophen auf einer einsamen Insel treffen
und beide nichts lieber pflegen als den herrschaftsfreien
Diskurs, sind sie ebenso frei wie zwei Piraten auf derselben
Insel, von denen jeder dem anderen den Schatz abjagen will.
"Freiheit des einzelnen Menschen ist, wenn alle einzelnen
frei sein sollen, nur soweit möglich, als sie mit der Freiheit
der anderen zugleich bestehen kann."
[19]
Frei von Fremdbestimmung könnten aber
nur dann alle sein, wenn sie einmütig dasselbe wollen würden.
Das können Menschen aber nicht. Wenn sich genügend viele, für
sich oder kollektiv, für bestimmte Regeln des Zusammenlebens
entscheiden, setzen sie damit durch ihr faktisches, an
derselben sozialen Norm orientiertes Verhalten deren Geltung
durch. Indem sie die Geltung ihrer Spielregeln durchsetzen,
herrschen sie über die übrigen, die andere Vorstellungen haben. Mächtiger
und somit freier ist immer derjenige, dessen Normen gelten,
gegenüber demjenigen, der ihnen und damit dem Willen des
Freien unterworfen ist. So ist konkrete Folge der Demokratie,
daß der demokratisch gesinnte Teil des Volkes den nicht
demokratisch gesinnten beherrscht. In der Monarchie herrscht
bekanntlich der Monarch, in der Aristokratie die Aristokraten
und in der Demokratie die Demokraten. Unfrei sind also in
der Demokratie nicht etwa diejenigen Demokraten, deren
Partei in der Wahl unterlegen ist und die vielleicht demnächst
zur Mehrheit werden. Unfrei sind nur die Anhänger prinzipiell
anderer sozialer Ordnungsentscheidungen. Unfrei ist daher
auch nicht ein monarchisch gesinntes Volk unter der Herrschaft
eines geliebten Königs, und unfrei sind nicht die Bürger
unter Herrschaft einer Diktatur, wenn sie diese Diktatur
wollen.
[20]
Unter der alleinigen Voraussetzung, daß die
Legitimität einer Herrschaft von der freien Zustimmung
ihrer Unterworfenen abängt, ist eine Herrschaftsideologie
so tauglich wie die andere. Während
sich nie nennenswert viele für das Asoziale schlechthin entscheiden,
haben Menschen doch ganz verschiedene Vorstellungen vom
konkreten Inhalt sozialer Normen. Stets streitet die politische
Freiheit des einen zur Normsetzung und Gestaltung des sozialen
Lebens gegen die der anderen. Nur wenn alle dasselbe wollten,
wären alle gleich frei. Daß alle genau dieselben Regeln wollen
könnten, ist eine Illusion. Wo alle derselben Meinung wären
und dieselbe Entscheidung treffen würden, gäbe es keine Politik
mehr. Diese setzt wenigstens zwei antagonistische Willen voraus.
Wo sich nicht mehr ein Wille gegen den anderen durchsetzt,
gäbe es auch keine Macht mehr. Sie wäre überflüssig.
Wirkliche
Willensübereinstimmung aller in allen konkreten Punkten
gibt es aber in der sozialen Wirklichkeit nicht. Aus alledem
folgt, daß es eine Freiheit, in der alle zugleich frei sind,
nicht gibt: Eine solche umfassende Freiheit ist utopisch.
Nur wer hinter jeder Regel die Regelungsmacht konkreter Menschen
erkennt, beschreibt die soziale Wirklichkeit.Damit
finden sich gewisse harmoniebedürftige Vertreter des Gedankens
der Herrschaftsfreiheit nicht ab. Weil sie selbst nicht gern
gehorchen, möchten sie unbedingt die Freiheit schlechthin für alle zur Sollensregel erheben. Schon
eine prinzipielle Freiheit schlechthin gibt es nicht. Sie führt,
wie in Schenkendorfs
Lied, ihren "Reigen nur am Sternenzelt." Die wirkliche
Freiheit gibt es nur im Plural:
[21]
Die des einen Menschen ist eine andere als
die des anderen Menschen. Freiheit schließt als Möglichkeit
immer die Unfreiheit des anderen ein. Alle wären nur dann
frei, wenn sie einmütig dieselben Regeln ihres Zusammenlebens
anerkennen würden. Die sogenannte Anerkennungstheorie
möchte die Übereinstimmung aller zur Regel erheben. Wie jeder
weiß, sind die meisten historischen Gesetze aber keineswegs
dadurch zustande gekommen, daß alle Beteiligten sich frei
auf sie geeinigt haben. Gesetze kämen durch allseitige
Akzeptanz zustande, ist also eine Sollensregel, eine fromme Wunschvorstellung, oder es ist bloße
Phantasterei. In Form der Fiktion vom Gesellschaftsvertrag
wurde sie jahrhundertelang als Steckenpferd von Naturrechtlern
geritten. Eine moderne Variante dieser Utopie ist die
Theorie der kommunikativen Vernunft. Sie fordert,
alle Teilnehmer am gesellschaftlichen Leben sollten
ihre ganz unterschiedlichen Vorstellungen dieses Zusammenlebens
durch ständige Kommunikation einem immerwährenden Diskurs
unterwerfen. In ihr verkörpert sich der Machtanspruch
derjenigen Theoretiker, die den Diskurs und die Kommunikation
zum alleinigen gesellschaftlichen Gesetz erheben möchten.
Die
Fiktion, alle Beteiligten hätten eine Regelung anerkannt und
seien darum frei, erfüllt überdies in besonderem Maße das Bedürfnis
jeder Herrschaft nach ideologischer Legitimierung. Die Zustimmung
der Rechtsobjekte zur Geltung des jeweiligen von einem
Rechtsetzungssubjekt gesetzten Rechts läßt sich in unterschiedlichen
Varianten fingieren. Je nach polemischem Bedürfnis behauptet
die jeweilige ideologische Fiktion eine ideelle Identität
zwischen dem Willen des Rechtsetzers und dem der Rechtsobjekte.
Gewöhnlich wird diese ideelle Verbindung dadurch hergestellt,
daß angeblich der Rechtsetzer "im Namen" aller Rechtsobjekte
handelt. Auf diesem Modell beruht der Gedanke der Repräsentation.
An die Stelle der Zustimmung aller Vertretenen tritt der
tatsächliche Rechtsetzungswille der Vertreter. Allen anderen
wird durch die Fiktion, sie hätten das Recht selbst mit gesetzt,
die Illusion der Freiheit geschenkt. So soll sich jeder, wenn
er schon nicht tatsächlich zugestimmt hat, wenigstens so
fühlen dürfen, als ob er nur selbstgesetzten Regeln unterworfen
wäre.
Tendenziell
dem Prinzip Ordnung entgegen steht der Liberale, jedenfalls
wenn man unter Ordnung eine verordnete, eine hergestellte Ordnung
meint. Der inhaltliche Mittelpunkt seines egozentrischen Wertekosmos
ist das autonome Individuum. Während jedem Egoisten aber
immer nur das eigene Selbst der höchste Wert ist, bildet diesen
für den Liberalen die Gedankenkonstruktion eines abstrakten Menschen schlechthin. Dessen Persönlichkeitswert
ist - "mathematisch gesprochen - ein unendlicher, also
nicht multiplizierbarer Wert."
[22]
Der Liberale ist ein Egoist, der seine Forderung
nach möglichster Freizügigkeit universalisiert hat. Um den
unendlichen Wert seines Menschenabstraktums herum bastelte
er eine spefizische Philosophie, die sich je nach Lage betroffen
gegen alles und jeden wendet, der auch nur irgendwo auf dem
Globus eines der verabsolutierten Egos in Frage stellt.
Wenn in Peking ein Chinese, der mühsam seinen Namen malen kann,
ein Protestschild nicht zeigen darf, wankt die liberale Weltordnung.
Der Bedauernswerte muß nur Dissident sein, dann ist er für
den Liberalen schon fast ein Heiliger, denn er leidet für die
liberale Doktrin. Nur die Dissidenten des Liberalismus in
dessen eigenem Lande sind das nicht: Sie sind Abtrünnige.Die
liberale Philosophie beruht auf dem Gedanken der Balance.
Sie kann nur in ihrer polemischen Funktion richtig verstanden
werden, also in ihrer dem Zentralwert Ego dienenden Funktion. Diese besteht darin, systematisch alle
anderen Wertträger, insbesondere eigenberechtigte Gemeinschaften,
zugunsten des Individuums lahmzulegen und aufzulösen.
So erhofft sich das absolute Ego größtmögliche Freiheit.
Liberaler Meinung nach stellt gesellschaftliche Ordnung
sich selbst her und braucht nicht von Menschen hergestellt
zu werden. Allenfalls die Bedingungen dafür sind vom Staat
zu schaffen. Mit dem Anarchisten gemeinsam ist ihm der
Wunsch nach möglichst ungezügelter, prinzipiell unbegrenzter
Freiheit, gegen dessen Gefährdung sich alles liberale
Pathos richtet.
[23]
Auch Radbruch
sah den Liberalismus folgerichtig in der Anarchie enden.
Treffend formulierte den gemeinsamen Ausgangspunkt Proudhon:
"Alle Menschen sind gleich und frei: Die Gesellschaft
ist also, sowohl durch ihre Natur wie durch die Funktion,
für die sie bestimmt ist, autonom, was soviel heißen will
wie unregierbar. Die Sphäre der Aktivität jedes Bürgers ist
zum einen das Ergebnis der natürlichen Arbeitsteilung
und zum anderen das der Berufswahl, die er trifft; die sozialen
Funktionen sind auf solche Weise eingerichtet, daß sie eine
harmonische Wirkung erzeugen, die Ordnung ist das Ergebnis
der freien Aktivität aller; hieraus ergibt sich die absolute
Negation jeder Regierung: Jeder, der seine Hand auf mich legt,
um mich zu regieren, ist ein Tyrann und Usurpator; ich erkläre
ihn zu meinem Feind."
[24]
Es
handelt sich bei Proudhons Formulierung um die "klassisch-liberalistische
Doktrin"
[25]
des autonomen, jede Einwirkung von außen
ablehnenden Individualismus. Sie führt geradewegs zum
Gedanken der Anarchie. "Logischerweise würde ein aus Rand
und Band geratener Liberaler ein Anarchist, nie aber ein
Sozialist werden."
[26]
Diesen Weg ging konsequent Proudhon,
und sein Epigone Habermas möchte ihn auch gehen, wenn er verschämt
zugibt: "Jedes System entfesselter kommunikativer
Freiheiten enthält einen anarchischen Kern."
[27]
Anarchismus und Liberalismus sind nicht
nur eng verwandt. Sie gehen auf dieselben Ideen zurück, nur
werden diese von wohlhabenden Vertretern dieser Ideen aus
naheliegenden Gründen nicht absolut durchgeführt: Liberale
nennen sich diejenigen Anarchisten, die Angst um ihr Eigentum
haben und darum ein Minimum an staatlichen Funktionen beibehalten
möchten. Doch "die revolutionäre Richtung dieser ökonomischen
Schule", erkannte Comte schon 1830 scharfsinnig, "ist
nicht zu bezweifeln, denn sie heiligt den Geist der Vereinzelung
und den regierungslosen Zustand."
[28]
Während die Angst vor der Ordnung den Liberalen
nach einem Bilde Carl Schmitts
erst vom Staate wegtreibt, treibt ihn schnell die Angst vor
dem Sozialismus wieder ein Stück weit zum Staate hin. "So
schwankt er zwischen seinen beiden Feinden und möchte beide
betrügen."
[29]
Der Liberalismus gehört zu den Konstruktionen,
die den Menschen als an sich gut voraussetzen, ohne konsequent
anarchistisch zu sein. "Beim offenen Anarchismus ist
es ohne weiteres deutlich, wie eng der Glaube an die 'natürliche
Güte' mit der radikalen Verneinung des Staates zusammenhängt,
das eine aus dem anderen folgt und sich gegenseitig stützt.
Für die Liberalen dagegen bedeutet die Güte des Menschen
weiter nichts als ein Argument, mit dessen Hilfe der Staat
in den Dienst der 'Gesellschaft' gestellt wird und nur ihr
mißtrauisch kontrollierter, an genaue Grenzen gebundener
Untergebener ist."
[30]
Wenn
der Staat den Anspruch aufgibt, ein nicht nur ökonomisch verstandenes
Gemeinwohl zu formulieren und durchzusetzen, führt dies zum
Rückzug des Staates aus der Politik überhaupt. Er hofiert und
bedient nur noch die jeweils stärksten Einzelgruppen und
fragt nicht mehr danach, "ob und wie sich aus der Vielfalt
der Interessen irgendeine Harmonie ergibt."
[31]
Diese Gedanken des Liberalen zeugen nicht
unbedingt von gefühliger Harmoniebedürftigkeit, sondern
entspringen realistischer Einschätzung der größtmöglichen
gesellschaftlichen Chancen des ökonomisch Starken in einer
Gesellschaft, die nur dem ökonomischen Gesetz des freien
Spiels der Geldmacht unterliegt.