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Die benutzte Norm

Auszug aus: Klaus Kunze, Mut zur Freiheit, 1998, S.94 ff.
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Die Entscheidung für Ordnung im allgemeinen ist noch keine Ent­schei­dung für eine bestimmte Ordnung. Ordnungen sind alle mensch­lichen Herr­schaftsfor­men, die mon­ar­chi­sche wie der Sozialismus, selbst der Libe­ralis­mus ist als insti­tutio­nali­sierte Form der Herr­schaft der Geldhabenden eine Art Ordnung im wei­testen Sinne. Sie unter­scheiden sich durch ihre verschie­de­nen, auf­grund konkreter Bedürf­nisse gebil­deten Weltan­schau­ungen oder Ideo­logien. Nachdem die Vertreter des Ordnungsdenkens den ge­meinsamen Feind des Chaos Seite an Seite bekämpft haben, muß daher nach ih­rem end­lichen Sieg der Streit darum entbrennen, welche konkrete Ord­nung gelten soll. Jetzt ver­lau­fen die Fronten plötzlich ungewohnt: Mit den normativisti­schen Ver­tretern reiner Lehren fechten Dezisio­ni­sten, die an diese Lehre nicht im Sinne eines ontologischen Realis­mus glau­ben, sie aber für höchst nützlich halten. Gegen sie beide ste­hen die nor­mativisti­schen Vertreter kon­kurrieren­der Ideologien und ihre dezi­si­onistischen Verbünde­ten. Es ist ein wesentli­cher Unter­schied, ob einer eine Ideologie glaubt oder ob er sie be­nutzt: So mag der eine sa­gen: "Ich ent­scheide mich für ein politi­sches Volks­be­wußt­sein, denn als Bau­stein des Volkes brauche ich es für meine Sicher­heit und mein Wohl­er­ge­hen," oder ob einer glaubt: "Die Nation ist unsere ver­locken­de und for­dernde Illusi­on, un­sere Chan­ce, die beschränkte Exi­stenz in einer höheren, ästhe­ti­schen Form zu über­win­den, und sym­bo­li­siert damit das, wo­nach jeder Mensch von Rasse strebt: das Tran­­s­zen­­­dente." [1] - Kann man sich hübscher zu Hirn­ge­spinsten be­ken­nen?

Hier trennt sich auch unser Weg von allen jenen fideistisch mo­ti­vierten Dezi­sio­ni­sten wie Carl Schmitt , die auf Grundlage ei­nes ra­benschwarzen Menschen­bildes nie­mals auf die Idee kä­men, eine an­de­re Entscheidung als die für ihren persönlichen Gott und seine Ord­nung zu treffen: "Schmitt sieht, wie sein großes Vorbild Do­noso , die Mo­derne im Zeichen des An­tichristen, ... der sich über alles erhebt, was Gott und Gottesdienst heißt, sich selbst zum Gott auf­wirft und ei­nen Zustand des Chaos, der Gesetzlo­sigkeit, der Lüge und der Bos­heit herbeiführt. Die Kräfte, deren er sich da­bei bedient, sind die Pro­zesse der Rationalisierung, Technisierung und Sä­ku­la­ri­sie­rung, die zu einer restlo­sen Funktionalisierung des Daseins, zur Er­stickung aller Trans­zen­denz in ei­nem egalitären, gegenüber dem Bö­sen indif­fe­ren­ten, nur auf die Befriedi­gung egoistischer Be­dürf­nis­se aus­gerich­teten Für­sorge- und Wohlfahrtsstaat füh­ren." [2] Damit ist deut­lich um­ris­sen, daß wir mit Schmitt die Positionen des ex­tremen Libe­ra­lismus ab­leh­nen, ihm aber nicht ins Reich seines Gottes fol­gen.

Der echte Normendiener neigt zum ideologischen Fundamentalis­mus. Er glaubt wirklich, daß es seine Werte unabhängig von Men­schen gibt, die sie den­ken. Darum wird ihm jeder radikale Dezisionist so­fort ver­­dächtig, der sich für die Normativis­men nur ent­schie­den hat und sie funktional be­nutzt, zu­gleich aber als Produkt seines eige­nen Selbst erkennt. Dem Nor­mativisten ist der Dezisionist also selbst dann ver­dächtig, wenn dieser das­selbe Gedan­ken­gebäude benutzt, an das er als Normendie­ner glaubt. Damit hat der Normati­vist zweifellos recht: Dem Dezi­sionisten ist die Anwen­dung der Ideolo­gie des Nor­ma­tivi­sten im Grunde disponibel. Er ist ein un­si­chererer Kantonist als der wirklich an die Ideologie Glaubende. Pathetisches Anrufen höherer Mächte oder ewiger Werte reizt ihn zum Lachen und nicht zur Demut. -In der Lebenswirklichkeit vermag der Dezisionist den Norma­ti­vi­sten zu führen. Durch die Herrschaft über die geglaubte Norm kann er den Nor­ma­ti­vi­sten lenken und beherrschen. So macht er sich die Norm dienstbar und den Normendi­ener indi­rekt zu seinem eigenen Die­ner. Es pflegt der Nor­mendie­ner, wie Lenins "nützlicher Idiot", dem Normenbenutzer un­­­wil­lent­lich zu fol­gen: Er muß das tun, sobald er an die vom De­zi­sio­­nisten erfun­dene Norm glaubt. Was dem in­tel­lek­tuellen Er­fin­der nur eine Phi­losophie oder dialekti­sche Übung ist, wird von den glau­bens­hungrigen Massen als Lehre aufge­saugt. Chri­stus war eben­sowenig ein Christ wie Marx ein Marxist. [3]

Das Er­fin­den von Nor­men, Religionen und Ideologien ist ein erprobtes Mittel der Herr­schafts­technik. Schon Machiavelli war aufgefal­len, daß der Fürst nicht an die offiziel­len Normen und Moralbegriffe glau­ben muß, er muß nur für gläu­big gehalten wer­den. [4] Durch den Glauben seiner Un­­­ter­ta­nen aber lenkt er sie in die von ihm vorge­gebene und ihm nützliche Rich­tung. Für Monar­chen emp­fiehlt sich der Un­ter­ta­nen­glau­­­­be an die Legitimität der Dynastie, für Par­teifunktio­näre der Glau­­­­­ben an die je­weilige Parteidoktrin und für Stubenge­lehrte, die zu nichts fähig sind als zum Debat­tieren und Inzwei­fel­ziehen, der Glau­ben an die Wunderwirkung des Diskurses.

Der Normenbenutzer entscheidet sich f ür eine ihm nützli­che Ideo­logie und schart Mitstreiter um sich. Diese müssen an die Normen, für die der Normen­be­nutzer sich entschieden hat, wirklich glauben, sonst ist ihr Kampfwert ge­ring. Normen er­füllen ei­ne Funkti­on sozia­ler Diszi­pli­nie­rung. Daher herrscht, wer sie aufstellt, über den, der so­dann an sie glaubt. Weil mensch­­li­ches Tun zweckhaft, also sinn­­er­füllt ist, vermu­ten diese Glauben­den, daß die Na­turge­setze zweck­haft ge­schaf­fene Teile ei­ner nor­mati­ven Wert­ord­nung sind. An eine konkre­te, als über-sinnlich ver­stan­dene Welt­ord­nung zu glau­ben, ent­spricht dem in­ne­ren Be­dürfnis der mei­sten Men­schen. Darum lassen sie sich willig in­dok­trinieren, sind sie doch stets auf der Su­che nach sinn­stif­ten­den Ange­bo­ten. Wer aber über die sitt­li­che Be­grün­dung sei­nes Tuns frei ent­schei­den will, darf an keine über­sinn­li­che Wert­ord­nung als Realität glau­ben.

Die Dezision hingegen läßt als harmlose Mög­lichkeit immerhin of­fen, aus trans­zen­dentem Be­dürfnis die ei­ge­ne Ethik zu per­so­ni­fi­zie­ren, an die Wand zu malen und zwei Ker­zen daneben zu stel­len. Wer dage­gen an das wirkli­che Walten ihm vor­ge­schrie­be­ner Normen glaubt, auf­grund de­ren alle Men­schen in eine über­sinnli­che morali­sche Ord­nung ge­stellt sind und diese zu ver­wirk­li­chen haben, liefert sich denje­ni­gen aus, die sich auf sie berufen und zu ih­rem Nut­zen konkrete Ver­hal­tens­anwei­sun­gen auf sie stüt­zen. Vor nor­mati­vi­sti­s­chen Fik­tio­nen ist Vor­sicht ge­bo­ten: Sie las­sen ihren In­ter­pre­ten ge­tarnt im Hin­ter­grund und recht­ferti­gen seine Macht über die Gläubigen. Wir dür­fen uns die freie Ent­schei­dung für eine unse­ren Be­dürf­nis­sen ent­spre­chen­de Ethik nicht ent­win­den lassen. Gegen sie funktionali­sieren Un­frei­heit und Fremd­be­stim­mung heute wie eh und je eine gegen uns ge­rich­­te­te Moral, de­ren Sprach­regelungen kal­te, graue Be­griffsnetze über uns werfen. [5] Wir sollten feinfüh­liger dar­­auf achten, ob wir durch ei­ne Moral benutzt und fremd­bestimmt wer­den.

Wer die Fäden die­ser Mo­ral zusam­menhält, gei­­ßelt uns mit Wahn­­vorstel­lun­gen von Sünd­haf­tigkeit, Böse­sein und Schuld: Be­­grif­fen, die es nur in­ner­halb seiner Glau­benslehre gibt. Ihr prak­ti­scher Sinn aber ist es, uns Ge­hor­sam ab­zu­ver­lan­gen, denn Sühne oder Bu­ße, je­den­falls aber Ge­hor­sam, ver­lan­gen sie alle. In solchen Wert- und Unwertsetzungen verkörpert sich in der ge­gen­wär­ti­gen hi­storischen Lage Deutschlands der Macht­anspruch der­jenigen Men­sche­n, die aus bio­graphischen Grün­den eine Urangst vor uns haben und die uns mit ihrer Moral fes­seln und harm­los machen wol­len; aber auch der Machtan­spruch der­je­nigen, die uns aus Haß oder Rachsucht leibhaftig da sehen möchten, wo ihre Hölle am tief­sten ist, und die uns von Herzen wün­schen, daß uns Angst, Scham und Verzweifelung nie wieder aus ihren Klau­en las­sen.

Am heim­­­tüc­kisch­­sten sind da­bei jene pseudobiolo­gisti­schen Leh­ren, die uns al­lein schon auf­grund un­se­rer Ab­stam­mung eine me­ta­phy­sische Schuld wie eine Erb­­sün­de auf­laden. Wer an ei­nen Gott und seine Moral glaubt, in des­sen Hölle der ei­ge­ne Groß­va­ter bereits schmort, der al­ler­­­dings ist wirk­­lich selbst schuld und ver­strickt sich un­ent­rinnbar in ei­nem La­by­rinth von er­ster, zweiter und drit­ter Schuld. Hier hilft nur ein gei­stiger Be­freiungs­schlag: Wir dürfen nicht an jenen Gott und seine gan­ze alt­te­sta­­­men­ta­ri­sche Schuldmetaphysik glauben. Schon Pu­fen­dorf hatte ge­arg­wöhnt: "Die Zahl der Sakramente wurde mit Bedacht ver­mehrt, da­mit die Menschen häufiger der Priester bedürfen. ... Ja ich glaube, auch das Fege­feuer ist nur zu dem Zweck angezündet, um die­jenigen mit einer Abgabe belegen zu können, die der Tod sonst von allen mensch­lichen Dingen be­freit." [6] Wir werden erst frei von je­nen Ab­ga­ben sein, wenn alle morali­schen Fegefeuer ge­löscht sind.

 

Die Indoktrinierung

Die mei­sten Men­schen wollen aus in­ne­rem Be­dürfnis ein­fach glau­ben und las­sen sich willig indoktrinieren, weil sie stets auf der Suche nach sinnstiften­den Angebo­ten sind und diese aus sich selbst heraus selten ent­wickeln kön­nen. Dok­trinen "beanspruchen Verbindlichkeit, ge­ben vor, in ih­ren zentralen Aussagen die Wirk­lich­keit selbst zu er­fas­­sen, 'ewige' Wahrhei­ten zu enthal­ten, vor allem einen Schlüs­sel für die Interpretation des Ge­schichtsverlaufes sowie die Deutung von Ge­­­genwart und Zukunft zu prä­sentieren." [7] Eibl-Ei­besfeldt hat auf­ge­zeigt, daß jede Doktrin bei ei­ner Hy­pothese ihren Anfang nimmt; doch der Weg von der Hypothese zur Doktrin ist kurz. Wir brauchen Hy­pothesen, um für die Erklärung des Un­erklärten und damit für un­se­re Ori­entierung in der Welt einen Schlüssel zu finden. Meinen wir ei­nen gefunden zu haben, gibt es uns ein Gefühl der Sicher­heit, wenn er von Fall zu Fall zu passen scheint.

Wir dürfen uns aber nicht zwang­­­haft an die Hypothese klam­mern und müssen, mit den Worten Lo­renz' , jeden Morgen zum Frühstück be­reit sein, eine Hypo­these über Bord zu werfen. Sonst sieht Eibl-Eibesfeldt die Ge­fahr, daß die Hy­po­the­sen zu Dok­trinen und damit zu Gefängnissen unseres Geistes wer­­den. Viele lassen sich gern indoktrinieren, wenn sie nur eine triste Rea­li­tät ge­gen den irrea­len Glauben an eine glückliche Zukunft ein­tau­schen dürfen. Eric Hoffer ist ih­ren seelischen Beweggründen in sei­nem Klassiker über den Fa­natiker nach­gegan­gen: "Für eine religiöse Be­wegung bedeutet die Gegen­wart einen Ort des Exils, ein Tränental auf dem Weg ins Himmel­reich; für ei­ne soziale Bewegung bedeutet sie eine armselige Haltestelle auf der Stra­ße nach Utopia." Je unwahr­schein­licher und mit dem Erleben der täglichen Sin­nes­welt unverein­ba­rer ein Glaube ist, desto mehr muß er sich mit doktri­nä­rem Gehabe ge­gen Kritik sichern. Sich ge­gen­über ei­ner Of­fenba­rung "auf das Zeug­nis der Sinne und des Ver­stan­des zu verlassen, ist Häre­sie und Ver­rat. ... Die Fähig­keit des 'Recht­­gläubigen', seine Au­gen zu ver­schlie­ßen und seine Ohren zu ver­stop­fen gegenüber Tatsa­chen, die es nicht verdienen, daß man sie an­sieht oder anhört, ist ihm eine Quelle un­er­­reichter Kraft und Stand­haf­tig­keit." [8] Darum beweisen "für vor­ein­­ge­nom­mene Men­schen, na­ment­lich für solche, deren Herz den Ver­stand be­siegt hat, Er­eig­nisse nichts. Da sie un­wi­der­ruf­lich Partei dafür oder da­ge­gen ge­nom­men ha­ben, sind Be­ob­ach­tun­gen und Be­weis­führung gleich ver­gebens." [9]

Je weniger ver­nünftig und nach­­voll­ziehbar eine Doktrin ist, de­sto mehr Glauben ver­langt sie. Aus­ge­feilte Religionen mit jahr­hun­der­teal­ter dog­matischer Tradition und Ideo­logien wie der Marxismus ba­sie­ren auf in sich ge­schlossenen Denk­­struktu­ren und Glau­bens­an­nah­men. Letztlich müssen wir die Fixierung eines Weltbildes schon im Kin­des­al­ter als Grundbedingung dafür hinnehmen, uns in dieser Welt zu orien­tieren und wirksam handelnd ins Geschehen einzugreifen. Die An­nahme ei­ner jeden Doktrin ist eine Ab­straktionsleistung des Ge­hirns, die schon das Kind benö­tigt, um sich zurecht­zu­finden.

Manche wer­den nie erwachsen. Die In­dok­­tri­nie­rung be­gann bereits, als ein stein­zeitli­cher Vorfahre seinen Sohn vor ei­nem niedlichen jungen Mie­zekätz­chen warnen mußte, weil des­sen sä­belzähnige Mami nicht weit sein konnte. Jede Ein­ge­wöh­nung in ein kulturel­les Milieu ist mit elter­licher Indoktrinierung ver­bun­den, wenn man darun­ter die kind­lich unkritische Annahme be­stimm­ter Erfah­rungs­erwar­tungen von Er­wach­senen versteht. Die Bereit­schaft zum kul­turell überlie­ferten Vor­ur­teil hat sich als ar­terhaltend erwiesen. Im Zeitalter hochkom­plexer Ideo­­logien und Massenbe­einflussung ist sie aber ein problemati­sches Erbe. "Der Mensch ist er­staunlich indok­tri­­nier­bar. Das macht ihn be­son­ders ver­letz­bar. Denn durch Pro­pa­gan­da las­sen sich in seinem Hirn Struk­turen auf­bauen, die ihn dazu brin­gen, gegen seine vitalen Ei­geninter­essen zu han­­deln." [10] Wer an das wirkliche Walten ihm vor­ge­­schrie­be­ner me­ta­phy­­sischer Nor­men glaubt, aufgrund deren alle Me­n­schen in eine über­­sinnliche morali­sche Ord­nung gestellt sind und diese zu ver­­wirk­li­chen haben, lie­fert sich den­jenigen aus, die sich auf sie be­ru­fen und zu ihrem Nut­zen konkrete Ver­haltensan­weisungen auf sie stüt­zen.

Wir dür­fen uns daher die freie Ent­scheidung für eine un­seren Be­­dürfnissen ent­spre­chen­de Ethik nicht entwinden lassen. Fremd­be­stim­mung be­ginnt mit der gegen uns ge­richte­ten Funk­­tiona­lisierung einer Moral, de­ren Bann uns fes­selt und bereits unsere Sprache den Gebo­ten seiner Rechtgläu­bigkeit un­ter­werfen will.    Un ­ser nüchterner Blick auf die kon­kre­te Funk­tion allen Rechtes als von Men­schen über Menschen ge­setz­tes Recht muß alle die­je­ni­gen un­be­frie­digt lassen, die nicht die Funk­tion je­der Idee als Waffe im Vor­der­grund se­hen, sondern aus dem Elfen­bein­­turm eso­terischer Moral- oder Got­ter­kenntnis her argumentieren. Ihr Reich ist nicht von die­ser Welt, und un­se­re Überlegungen sind un­fruchtbar für sie. Wir haben nichts, um sie zu trösten. Bewußt hinter­fragen wir hier je­de me­­ta­phy­si­sche Letzt­recht­ferti­gung des Rechts, um die An­ma­ßung der herrschenden Ideologie zu durch­schau­en: Man ver­lan­gt uns den Glauben an ihre Moral ab und grün­det dar­auf den An­spruch, an ih­rem Recht dürfe in Ewigkeit nie­mals ge­rüttelt wer­den. Neugie­rig wa­gen wir kri­tisch zu hinterfragen: Warum eigent­lich? Mit wel­cher hö­­he­ren Wei­he aus dem Arsenal der Herr­schafts­ideo­lo­gien ha­ben sie sich ver­se­hen? Und vor al­lem: Wem nützt ihre Herr­schaft?

Der Preis dieser Desillusionierung ist manchem zu hoch: "Eine Zerstörung je­der übergreifenden Idee, jeder ge­schichts­trans­zen­denten Norm," seufzt der liberale Graf von Krockow , "die Zerstörung al­ler na­tur­rechtli­chen Universalis­men kann fol­ge­rich­tig nur zu einer Re­duk­tion aller politischen und staats­theo­re­ti­schen Prob­leme auf die 'Macht der Tatsa­chen' bzw. die tat­sächliche Macht füh­ren." [11] Wie Adam und Eva vom Baume der Erkenntnis aßen und sa­hen, daß sie nackt waren, läßt das Durch­schau­en aller na­tur­recht­li­chen Uni­ver­sa­lis­men" deren Apo­stel in ih­rer Macht­aus­übung nackt da­stehen, ihrer Herr­schafts­ideo­logie entklei­det näm­lich. Nicht jeder verträgt den Verlust des trü­gerischen schönen Scheins und beginnt beim Er­ken­nen seines Nackt­seins zu frösteln. Es gehört zur Grund­be­schaf­fenheit un­seres sterbli­chen Seins, daß man an seiner völligen Er­kennntnis zugrunde ge­hen könnte, "so daß sich die Stärke des Geistes da­nach bemäße, wieviel er von der 'Wahrheit' gerade noch aus­hielte." [12]

 

Die volle Freiheit

Freiheit ist schon begrifflich immer die Abwesenheit von etwas. Sie kann nie dem genügen, der etwas vom Leben haben will. Nur wer kei­nen Befehlen oder Normgel­tungsansprüchen anderer Menschen un­terworfen ist, ist frei von ihnen. Es gibt keine andere politische und per­sönliche Frei­heit im zwi­schen­menschlichen Le­ben. Menschli­che Frei­heit ist immer die Frei­heit, allein über das eigene Tun zu ent­schei­den und im all­ge­mei­­nen selbst die Regeln aufzu­stel­len, denen der so­ziale Kontakt mit an­­deren Mens­chen unterliegt. Sie ist die "Macht, ent­spre­chend den ei­ge­nen Wil­lensentschei­dungen zu han­deln oder nicht zu han­deln." [13] Der Freie un­ter­­­liegt keiner sozia­len Ein­ord­nungs­pflicht und keinem ka­te­­go­ri­schen Im­pe­rativ. Völlige Frei­heit ermög­licht den nackten Selbst­­be­zug auf das eigene Ich, die un­ge­hemm­te Selbst­er­hal­tung so­wie die Macht, den darauf gerich­teten Wil­len auch durchzusetzen. Wenn es überhaupt ein na­türli­ches "Recht" und eine na­türliche Frei­­heit gibt, ist sie "die Frei­heit ei­nes je­den, seine ei­gene Macht nach sei­­nem Willen zur Er­hal­tung sei­ner ei­ge­nen Na­tur, das heißt seines ei­ge­nen Le­bens, ein­zusetzen und folg­lich alles zu tun, was er nach ei­ge­nem Urteil und ei­gener Ver­nunft als das zu diesem Zwec­ke ge­eig­net­ste Mittel an­sieht." [14]

Zwischen der persönlichen Freiheit und der Macht eines Menschen be­steht ein notwendiger Zusammenhang: Seine Freiheit besteht in der Abwe­senheit fremder Ent­scheidungsmacht über ihn. Alle Macht ist eine Fähig­keit, und ihre Ausübung ist eine Tätigkeit. Von der Stärke dieser Macht und ihrer Ausübung hängt es ab, wie frei einer von fremder Macht ist und wie frei er dazu ist, an­deren seinen Willen auf­zuzwingen: Bei geringer Macht ist jemand nicht frei von der Zumutung, ande­ren zu will­fah­ren. Ist er ebenso mächtig wie sie, so hat kei­ner Macht über den an­de­ren, und beide kön­nen voneinander frei sein. Aber was hätten die Men­schen davon, wenn jeder von je­dem völlig frei und al­ler Bindungen und aller Macht über den anderen ledig wä­re? Wir können uns die Abwesenheit jed­weder Bindung aneinander und Ge­bundenheit des ei­nen Menschen durch ei­nen an­deren Men­schen allen­falls denken, wenn jeder Mensch wie Robinson eine In­sel für sich hätte. Nur und erst dann wären alle völlig frei vonein­an­der. Abso­lute Freiheit ist absolute Bezie­hungslosigkeit. Wozu sollte eine solche Frei­heit gut sein? Wenn keiner mehr einen Einfluß auf den an­deren aus­üben könnte, wäre das die Asozialität schlechthin. Vom völligen Frei­sein allein be­säße niemand et­was. Jeder wäre isoliert auf sich selbst beschränkt. Wer könnte eine solche völlige Freiheit wol­len?

Das Zusammenleben führt zwangsläufig zu Beziehungen und Ein­fluß­nah­men. Schon indem einer der Anwesenheit eines anderen aus­gesetzt ist, ist er nicht mehr frei von ihm. Sofort stellt sich die Frage, wie sie mitein­ander um­gehen. Wollen beide zu­fällig in derselben Weise miteinander umgehen, braucht keiner dem ande­ren etwas nach­zugeben oder aufzu­zwingen. Fried­lich nebeneinanderher grasende Lämmer sind frei vonein­ander. Will der eine un­bedingt friedlich sein, der andere aber unfriedlich, entscheidet die Macht, ob der Fried­liche dem Unfriedlichen den Frieden aufzwingt oder ob die Macht des Un­fried­lichen größer ist. Je nach dem wird ihr weiteres Zu­sam­men­sein sich nach friedlichen oder unfriedlichen Spielre­geln richten. Wenn die an­ge­wandte Macht des einen stärker ist als die des ande­ren, ist der eine frei dazu, die Re­geln zu bestimmen. Weil die Freiheit von etwas bloß eine Abwesenheit ist, ein Nichts, hat von ihr allein niemand irgend etwas. Er hat zwar alleinige Selbst­bestim­mung, aber nichts sonst au­ßer sich. Wer Fremdbestimmung ab­weh­ren will, muß dazu aus­reichend mächtig sein. Die Freiheit zu ei­nem zwischen­menschlichen Handeln erfordert aber mehr. Wer mehr will als Selbstbezug, greift damit in das so­ziale Leben ein.

Frei zum will­kürlichen Handeln im Zusammenleben ist jeder nur je nach dem Ma­ße sei­ner ausgeübten Macht. Auf einer gedachten Plus-Minus-Ska­la wie bei einem Ther­mometer ent­sprä­che die Macht der Tem­pe­ra­tur: Der Tiefpunkt im Minus wäre die völ­lige Unfreiheit. Mit stei­gen­der Macht steigt das Maß an Frei­heit zum Null­punkt, an dem man keiner fremden Macht unterliegt, aber nichts hat außer der Selbst­be­stim­mung. Mit weiter steigender Macht wächst die Herr­schaft über andere. Zwei ganz unterschiedliche Charaktere wollen die volle Freiheit für je­den Men­s­chen: Die Anarchisten und die Egoisten. Die Anarchi­sten glau­ben, der Mensch sei ur­sprünglich und an sich eine Art fried­lich gra­sendes Lämm­chen, wenn kein Staat ihn ärgert. Ihrer Idee nach ist der Mensch an sich gut, und wenn man ihm freien Lauf läßt, wird sich eine Art harmoni­scher Ord­nung von selbst einstellen. Anarchie führe nicht zum Chaos, son­dern zur Ordnung ohne Herr­schaft.

Der Anar­­chist teilt diese Meinung mit dem fun­damentalistischen, dem "li­ber­tä­ren" Libe­ra­len. Über­haupt nicht auto-nom sind die selbst­er­nann­ten Auto­nomen. Áõôüò heißt selbst, und íüìïò steht für geord­nete Verhältnis­se. Der Na­me Auto­nome ist eine An­maßung. Um auto­nom zu sein, muß man zunächst "-nom" sein, also ir­gendeine konkrete Ord­nung herstellen wollen. Die Anarchisten kämp­­fen im Namen einer ein­gebildeten idealen Ordnung real für das Chaos. Sie strei­ten das allerdings ab: Die Abwesenheit von Herr­schafts­­ord­nun­gen werde eine "freie Ord­nung" [15] ganz von selbst ge­bären. Der un­auf­lösliche Wider­spruch von Frei­heit und Ordnung bleibt ihnen ver­bor­gen. Aus ganz anderen Gründen bevorzugt die seltene Gat­­tung des rei­nen Ego­isten die Herrschaftslosigkeit. Zu ihr zählen exem­­plarisch Nietz­sche und sein Vorden­ker Stir­ner . Wer nichts Hö­he­­res außer sei­nem Selbst aner­kennt und auch im liebevollen, freund­schaft­lichen oder sonst geselligen Leben kei­nen Wert an sich sieht, wird den Staat ebenso ablehnen wie jede Bindung an ir­gend­wel­che selbst­gesetzten oder gar an­befohlenen Werte. Er wird for­mu­lie­ren: "Ich bin zu allem be­rechtigt, dessen ich mächtig bin. Ich bin be­rech­tigt, Zeus, Jehova, Gott usw. zu stürzen, wenn Ich's kann; kann Ich's nicht, so wer­den die­se Götter stets gegen Mich im Rechte und in der Macht blei­ben, Ich aber werde Mich vor ihrem Rechte und ihrer Macht fürchten in ohn­mäch­tiger 'Gottesfurcht'." Auch über "mein Ver­­hältnis zu den Men­­schen" ent­scheidet "meine Befriedigung", so daß "ich auch der Macht über Leben und Tod aus keiner An­wand­lung von Demut ent­sa­ge." -

Um­gekehrt gegenüber Hobbes sah Stir­ner die Geselligkeit als den mensch­­li­chen Natur­zustand an, von dessen Fesseln er sich be­frei­en wollte: "Nimm, was Du brauchst! Damit ist der Krieg aller gegen alle er­­klärt. Ich allein be­stimme dar­über, was ich haben will." [16] - Ge­gen die­se Ma­xime hatte Hobbes mit Recht eingewandt: Wenn keine Macht der Will­kür des ein­zelnen Schranken setze, "so wäre das Le­ben der Men­schen ne­ben­ein­­an­der natürlich nicht bloß freudlos, son­­dern vielmehr auch höchst be­­schwer­­lich." Der Krieg aller gegen alle müß­te zum En­de jeder Kul­tur, Zi­vi­li­sa­tion und aller ge­sell­schaft­li­chen Ver­­­bin­dun­gen führen; "statt des­­sen ein tau­sendfaches Elend; Furcht, ge­mor­det zu werden, stünd­li­che Gefahr, ein ein­sames, küm­mer­liches, ro­hes und kurz dau­ern­des Le­ben." [17]

 

Die soziale Freiheit

Die volle Freiheit führt ins soziale Nichts. Wer sich die Freiheit für schlecht­hin alles nimmt, eröffnet den Krieg Aller gegen Alle. Die volle Frei­heit kann die Lö­sung nicht sein. Im sozialen Leben muß sie sich Be­schrän­kungen gefallen lassen. Wer die holde Freiheit nicht of­fen ein­schränken möchte, stutzt sie einfach begriff­lich zurecht: Frei­heit be­stehe bloß darin, "alles tun zu können, was einem ande­ren nicht scha­det," so lautet Ar­tikel 4 der Erklärung der Menschen- und Bür­ger­rech­te von 1789. Das ist eine lo­gisch absurde Be­haup­tung. Wie dürfte sich als frei bezeich­nen, wer anderen nicht schaden darf? Logisch möglich und als Sollen­s­prin­zip jeder mensch­li­chen Ge­mein­schaft vertretbar wäre dagegen die For­mu­lie­rung: Die Frei­heit darf einge­schränkt werden, wo ihr Ge­brauch ei­nem anderen scha­det. Kant formulierte das allgemeine Rechtsprinzip, wonach jede Hand­lung in ab­stracto Rechtens ist, die oder nach deren Maxime die Frei­heit der Willkür eines je­den mit Jedermanns Freiheit nach einem all­ge­mei­nen Ge­setz zusam­men beste­hen kön­nen. Ein uneingeschränkter Frei­heits­be­griff kann aber nur lauten, daß Freiheit die Abwesenheit jed­weden nor­mativen oder dezisioni­sti­schen Imperativs ist. Ein sol­cher­ma­ßen uni­ver­sales Rechtsprinzip, das jedem vollständige Freiheit er­mög­li­chen könnte, gibt es aber in concreto nicht. For­mulierun­gen wie die von Kant be­deuten im Klartext tatsächlich: Die uni­ver­sale Frei­heit der Will­kür darf im gesell­schaftlichen Kontext nur in­soweit aus­ge­übt wer­den, als sie anderen nicht schadet. Es han­delt sich also im en­gen Sinne nicht um eine Definition von Frei­heit, sondern um ei­ne nor­ma­tive Ma­xi­me, aufgrund deren die indivi­du­elle Freiheit im ge­sell­schaft­li­chen Kontext not­wendigerweise be­schränkt werden muß.Das Freisein von sozialen Einord­nungs­pflichten stell­te sich die Aufklä­rung vor, wenn sie von einem natürlichen Ur­zustand sprach, in dem die Menschen sich vor Er­findung so­zia­ler Gemein­schaften angeblich be­funden haben sollen.

Nun waren unsere Vorfahren, seit sie einst von ihren Bäu­men geklet­tert sein mögen, nachweis­lich immer sozial lebende We­­sen. Ei­nes aber ist an der Vor­stel­lung vom Naturzu­stand richtig: Wenn und so­bald wir kei­nerlei soziale Normen beachten würden, fie­len wir jedenfalls in einen asozia­len Zustand. Daß dies eine praktisch irrelevante Vorstellung ist, wird ange­sichts der Zu­stände in gewissen Stadt­tei­len gewisser Städte niemand be­haup­ten kön­nen. Alles soziale Leben rich­tet sich nach ir­gendwel­chen Regeln. Jede Er­wei­te­rung des ei­ge­nen sozialen Freiraums geht auf Kosten der Frei­räume an­de­rer. [18]

Wenn beide ebenbürtig sind und zufällig nach den­selben Re­geln mit­ein­an­der verkehren möchten, bleiben beide frei vom Un­ter­worfen­sein unter die Regeln des anderen. Wenn sich zwei Phi­loso­phen auf einer einsamen In­sel treffen und beide nichts lieber pfle­gen als den herrschafts­freien Diskurs, sind sie ebenso frei wie zwei Pi­raten auf derselben Insel, von denen jeder dem anderen den Schatz abjagen will. "Freiheit des ein­zelnen Men­schen ist, wenn alle einzel­nen frei sein sollen, nur soweit mög­lich, als sie mit der Frei­heit der anderen zu­gleich bestehen kann." [19] Frei von Fremdbestim­mung könn­­ten aber nur dann alle  sein, wenn sie einmü­tig dasselbe wollen wür­­den. Das können Menschen aber nicht. Wenn sich genügend viele, für sich oder kollek­tiv, für bestimmte Regeln des Zusam­menlebens ent­­­schei­den, setzen sie damit durch ihr fak­ti­sches, an derselben so­zia­len Norm ori­entiertes Verhal­ten deren Gel­tung durch. Indem sie die Gel­tung ih­rer Spielregeln durchset­zen, herrschen sie über die übrigen, die andere Vorstellungen haben. Mächtiger und somit freier ist immer derjenige, dessen Normen gelten, ge­­gen­über demjenigen, der ihnen und damit dem Willen des Freien un­­ter­worfen ist. So ist kon­krete Folge der Demokratie, daß der de­mo­­kratisch ge­sinnte Teil des Vol­kes den nicht demokratisch ge­sinn­ten beherrscht. In der Mon­ar­chie herrscht bekanntlich der Mon­arch, in der Aristokratie die Ari­sto­kraten und in der Demo­kratie die Demo­kra­ten. Unfrei sind also in der De­mokratie nicht et­wa dieje­nigen De­mo­kraten, deren Partei in der Wahl unter­legen ist und die vielleicht dem­nächst zur Mehrheit werden. Unfrei sind nur die An­hänger prin­zi­piell anderer sozialer Ord­nungs­ent­scheidungen. Unfrei ist da­her auch nicht ein monarchisch ge­sinntes Volk unter der Herr­schaft ei­nes ge­lieb­ten Königs, und unfrei sind nicht die Bür­ger unter Herrschaft einer Dik­tatur, wenn sie diese Dik­­tatur wollen. [20]

Unter der alleinigen Voraussetzung, daß die Legi­ti­mität ei­ner Herr­­schaft von der freien Zustim­mung ihrer Un­terworfenen abängt, ist eine Herr­schafts­ideologie so taug­lich wie die ande­re. Während sich nie nennenswert viele für das Aso­ziale schlechthin ent­schei­den, ha­ben Menschen doch ganz ver­schie­dene Vor­stel­­lungen vom konkreten Inhalt sozia­ler Normen. Stets streitet die po­liti­sche Freiheit des einen zur Normsetzung und Ge­stal­tung des so­zialen Lebens gegen die der anderen. Nur wenn alle das­selbe wollten, wä­ren alle gleich frei. Daß alle genau die­sel­ben Regeln wollen könnten, ist eine Illusion. Wo alle der­sel­ben Mei­nung wä­ren und dieselbe Entscheidung treffen würden, gäbe es kei­ne Po­litik mehr. Diese setzt wenig­stens zwei antagonistische Wil­len voraus. Wo sich nicht mehr ein Wille ge­gen den anderen durch­setzt, gäbe es auch keine Macht mehr. Sie wä­re über­flüssig.

Wirk­liche Wil­lensüber­ein­stimmung aller in allen konkreten Punk­­ten gibt es aber in der sozialen Wirklichkeit nicht. Aus alledem folgt, daß es eine Frei­heit, in der alle zu­gleich frei sind, nicht gibt: Eine sol­che um­fassende Frei­­heit ist uto­pisch. Nur wer hinter jeder Regel die Regelungs­macht kon­kre­ter Menschen er­kennt, beschreibt die soziale Wirklichkeit.Damit finden sich gewisse harmo­nie­bedürfti­ge Vertreter des Ge­dan­­­kens der Herr­schaftsfreiheit nicht ab. Weil sie selbst nicht gern ge­hor­­chen, möch­ten sie un­bedingt die Freiheit schlechthin für alle zur Sol­lensregel er­­h­eben. Schon eine prin­zipielle Freiheit schlechthin gibt es nicht. Sie führt, wie in Schenkendorfs Lied, ih­ren "Reigen nur am Ster­nenzelt." Die wirkli­che Frei­heit gibt es nur im Plural: [21] Die des einen Menschen ist eine ande­re als die des anderen Menschen. Frei­heit schließt als Möglich­keit immer die Un­freiheit des anderen ein. Alle wä­ren nur dann frei, wenn sie einmü­tig die­­sel­ben Re­geln ihres Zu­­­sammenlebens anerkennen wür­den. Die so­ge­­nannte An­er­­ken­nungs­theo­­­rie möchte die Über­­ein­stimmung aller zur Regel erheben. Wie je­der weiß, sind die meisten historischen Gesetze aber kei­neswegs da­durch zu­stan­de ge­­kommen, daß alle Beteiligten sich frei auf sie ge­ei­nigt ha­ben. Ge­se­t­ze kämen durch allseitige Akzeptanz zustande, ist al­so eine Sol­­lens­regel, eine fromme Wunschvorstel­lung, oder es ist blo­ße Phantasterei. In Form der Fik­tion vom Gesell­schafts­ver­trag wur­de sie jahr­­­­hun­­­der­telang als Stecken­pferd von Na­turrecht­lern ge­rit­ten. Eine mo­­­­der­­ne Variante dieser Utopie ist die Theorie der kom­mu­ni­­ka­tiven Ver­­­­­nunft. Sie fordert, alle Teil­neh­mer am ge­sell­schaft­li­chen Le­­ben soll­­ten ihre ganz un­terschiedlichen Vor­stel­lungen die­ses Zu­­sam­­men­le­be­ns durch ständige Kommunikation ei­nem im­mer­wäh­ren­den Dis­kurs un­­ter­­wer­fen. In ihr ver­körpert sich der Macht­an­spruch der­jenigen Theo­retiker, die den Diskurs und die Kom­mu­ni­ka­tion zum alleinigen ge­­sell­schaftli­chen Gesetz erheben möchten.

Die Fiktion, alle Beteiligten hätten eine Regelung anerkannt und sei­en darum frei, erfüllt überdies in besonderem Maße das Bedürfnis je­der Herr­schaft nach ideologi­scher Legitimierung. Die Zustimmung der Rechts­ob­jek­­te zur Gel­tung des jeweiligen von einem Recht­set­zungs­­sub­jekt ge­setz­­ten Rechts läßt sich in un­ter­schied­li­chen Va­ri­an­ten fin­gieren. Je nach pole­mischem Be­dürfnis behauptet die je­weilige ideo­­logische Fiktion eine ideelle Identität zwi­schen dem Wil­­len des Recht­setzers und dem der Rechtsobjekte. Gewöhnlich wird diese ideelle Verbin­dung da­durch herge­stellt, daß angeb­lich der Recht­setzer "im Namen" aller Rechts­objekte han­delt. Auf diesem Mo­­dell beruht der Gedanke der Repräsentati­on. An die Stelle der Zu­stim­­mung aller Ver­tretenen tritt der tatsächliche Recht­set­zungswille der Ver­tre­ter. Allen anderen wird durch die Fiktion, sie hätten das Recht selbst mit ge­setzt, die Illusion der Freiheit ge­schenkt. So soll sich jeder, wenn er schon nicht tatsäch­lich zuge­stimmt hat, we­nig­stens so fühlen dürfen, als ob er nur selbstgesetz­ten Re­geln un­ter­wor­fen wäre.

Tendenziell dem Prinzip Ordnung entgegen steht der Li­be­rale, je­den­falls wenn man unter Ordnung eine verordnete, eine hergestellte Ord­­­nung meint. Der inhalt­liche Mit­telpunkt seines egozentrischen Wer­­­te­kosmos ist das au­to­nome Indivi­duum. Während jedem Egoisten aber immer nur das eigene Selbst der höchste Wert ist, bildet diesen für den Liberalen die Ge­danken­konstrukti­on eines abstrak­ten Men­schen schlecht­hin. Dessen Per­sön­lich­keits­wert ist - "mathe­ma­tisch ge­­sprochen - ein unendlicher, also nicht mul­ti­­pli­zierbarer Wert." [22] Der Liberale ist ein Egoist, der seine For­derung nach möglichster Frei­zügigkeit universalisiert hat. Um den unend­lichen Wert sei­nes Men­schen­abstraktums herum bastelte er eine spe­fizi­sche Philo­sophie, die sich je nach Lage betroffen gegen alles und jeden wen­det, der auch nur irgendwo auf dem Globus eines der verab­so­lu­tier­ten Egos in Fra­­ge stellt. Wenn in Peking ein Chinese, der mühsam seinen Na­men malen kann, ein Protestschild nicht zei­gen darf, wankt die libe­ra­le Weltordnung. Der Bedau­ernswerte muß nur Dis­si­dent sein, dann ist er für den Libera­len schon fast ein Heiliger, denn er leidet für die libe­rale Dok­trin. Nur die Dissidenten des Liberalismus in dessen ei­ge­nem Lande sind das nicht: Sie sind Abtrünnige.Die liberale Phi­­lo­so­phie beruht auf dem Gedanken der Balance. Sie kann nur in ih­rer polemischen Funk­tion richtig verstanden werden, al­so in ihrer dem Zen­tralwert Ego die­nen­den Funktion. Diese besteht darin, sy­ste­ma­tisch alle anderen Wert­trä­ger, insbesondere eigen­be­rech­tigte Ge­mein­schaf­ten, zu­gun­sten des In­­­dividuums lahmzu­le­gen und aufzulösen. So er­hofft sich das ab­so­lute Ego größt­mögliche Frei­heit. Li­bera­ler Meinung nach stellt gesell­schaftliche Ord­nung sich selbst her und braucht nicht von Menschen herge­stellt zu werden. Al­len­­falls die Bedingungen dafür sind vom Staat zu schaf­fen. Mit dem An­­ar­chi­sten gemeinsam ist ihm der Wunsch nach mög­lichst un­ge­zü­gel­­ter, prin­zipiell unbegrenzter Frei­heit, ge­gen des­sen Ge­fähr­dung sich alles libe­rale Pathos richtet. [23]

Auch Rad­bruch sah den Li­be­ra­lis­mus folge­rich­tig in der Anarchie enden. Treffend formu­lierte den ge­mein­samen Aus­­gangs­punkt Proud­hon: "Alle Men­schen sind gleich und frei: Die Gesell­schaft ist al­so, sowohl durch ihre Natur wie durch die Funkti­on, für die sie be­stimmt ist, autonom, was so­viel hei­ßen will wie un­re­gier­bar. Die Sphäre der Aktivität jedes Bürgers ist zum ei­nen das Er­geb­nis der natürl­ichen Ar­beits­teilung und zum ande­ren das der Be­rufs­wahl, die er trifft; die sozialen Funk­tionen sind auf solche Weise ein­ge­richtet, daß sie eine harmonische Wirkung er­zeu­gen, die Ordnung ist das Er­gebnis der freien Aktivität aller; hier­aus er­gibt sich die ab­so­lu­­te Negati­on jeder Regierung: Jeder, der seine Hand auf mich legt, um mich zu regie­ren, ist ein Tyrann und Usurpa­tor; ich er­kläre ihn zu mei­­nem Feind." [24] Es handelt sich bei Proud­hons Formulierung um die "klassisch-li­bera­li­sti­sche Doktrin" [25] des au­to­nomen, jede Einwirkung von außen ab­lehnen­den Individua­lis­mus. Sie führt ge­ra­dewegs zum Gedanken der Anarchie. "Logischerweise würde ein aus Rand und Band gerate­ner Liberaler ein An­ar­chist, nie aber ein Sozialist wer­den." [26]

Diesen Weg ging kon­se­quent Proud­hon, und sein Epi­gone Habermas möchte ihn auch ge­hen, wenn er ver­schämt zugibt: "Jedes Sy­stem entfes­selter kom­mu­ni­kativer Freihei­ten enthält einen an­archi­schen Kern." [27] Anar­chis­mus und Libe­ralismus sind nicht nur eng ver­wandt. Sie gehen auf die­selben Ideen zurück, nur werden diese von wohlha­benden Ver­tre­tern dieser Ideen aus naheliegenden Grün­den nicht ab­solut durch­ge­führt: Liberale nen­­nen sich die­jenigen Anarchi­sten, die Angst um ihr Eigentum haben und darum ein Minimum an staat­lichen Funk­tio­nen bei­be­hal­ten möch­ten. Doch "die revolutionäre Richtung dieser öko­no­mischen Schule", erkannte Comte schon 1830 scharfsinnig, "ist nicht zu bezweifeln, denn sie heiligt den Geist der Vereinzelung und den regierungslo­sen Zu­stand." [28] Wäh­rend die Angst vor der Ord­nung den Li­be­ralen nach einem Bilde Carl Schmitts erst vom Staate weg­­treibt, treibt ihn schnell die Angst vor dem So­zia­lismus wie­der ein Stück weit zum Staate hin. "So schwankt er zwi­schen seinen beiden Fein­den und möchte beide betrü­gen." [29] Der Libera­lismus ge­hört zu den Konstruktio­nen, die den Men­schen als an sich gut vor­aus­­set­­zen, oh­ne konse­quent anar­chistisch zu sein. "Beim of­fenen Anar­chis­­mus ist es oh­ne weiteres deutlich, wie eng der Glau­be an die 'na­­tür­­li­che Gü­te' mit der radi­ka­len Verneinung des Staa­tes zu­sammen­hängt, das eine aus dem anderen folgt und sich ge­­gen­­seitig stützt. Für die Li­be­ra­len dage­gen be­deutet die Güte des Men­­schen weiter nichts als ein Ar­­gu­ment, mit dessen Hilfe der Staat in den Dienst der 'Ge­sell­schaft' ge­stellt wird und nur ihr miß­trau­isch kon­trollierter, an ge­naue Gren­­zen gebundener Untergebener ist." [30] Wenn der Staat den Anspruch aufgibt, ein nicht nur öko­no­misch ver­stan­denes Ge­mein­wohl zu formulieren und durchzusetzen, führt dies zum Rück­zug des Staates aus der Politik überhaupt. Er hofiert und bedient nur noch die je­weils stärksten Ein­zel­gruppen und fragt nicht mehr danach, "ob und wie sich aus der Vielfalt der Inter­essen ir­gendeine Harmonie er­gibt." [31] Diese Ge­danken des Liberalen zeugen nicht unbedingt von ge­füh­liger Har­moniebe­dürftigkeit, sondern ent­springen realisti­scher Ein­schät­zung der größt­mögli­chen gesell­schaftli­chen Chancen des öko­nomisch Star­ken in einer Ge­sell­schaft, die nur dem öko­nomi­schen Ge­setz des freien Spiels der Geld­macht unter­liegt.

fortsetzendes Kapitel:
Die Metaphysik der Balance



[1] Luge, Antwort eines konservativen Revolutionärs, Sleipnir 1/1995, S.4.
[2] Stefan Breuer FAZ 27.2.1995 in Zusammenfassung der Thesen G.Meuters.
[3] Eric Hoffer, Der Fanatiker, S.119.
[4] Niccolo Machiavelli, Der Fürst, XVIII, S.139.
[5] Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 1.Hauptstück Kap.14.
[6] Samuel von Pufendorf, De statu Imperii Germanici, S.259.
[7] Backes/ Jesse, Extremismus, S.172.
[8] Hoffer, Der Fanatiker, S.60, 68.
[9] De Maistre, Betrachtungen über Frankreich, S.52.
[10] Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Wider die Mißtrauensgesellschaft, S.135.
[11] Christian von Krockow, Die Entscheidung, S.19.
[12] Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr.39.
[13] David Hume, Eine Untersuchung, 8.Abschnitt, 1.Teil, S.124.
[14] Thomas Hobbes, Leviathan, Kap. XIV, S.118.
[15] Was ist eigentlich Anarchie? Karin Kramer Verlag Berlin, 1986,S.7.
[16] Max Stirner, Der Einzige, und sein Eigentum, S.207 ff., 357, 286.
[17] Hobbes, Leviathan, 1.Teil, 13. Kap., S.114 ff.
[18] Eibl-Eibesfeldt, Der Mensch, das riskierte Wesen, 1988, S.159.
[19] Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, S.156.
[20] Becker, Die Freiheit, die wir meinen, München 1982, S.61.
[21] Marquard, Abschied vom Prinzipiellen, S.19.
[22] Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie, GRGA S.145.
[23] Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, S.70.
[24] Proudhon, Bekenntnisse eines Revolutionärs (Les Confessi­ons d'un Révo­lu­tion­naire, 1849) zit. nach Donoso Cortés, Essay, S.175.
[25] Dürig in Maunz-Dürig, Komm.zum GG, Art.1 Rdn.46, 48.
[26] Kuehnelt-Leddihn, Liberalismus auf amerikanische Art, Criticón 1991,105.
[27] Habermas, Faktizität und Geltung, S.10.
[28] Comte, Die Soziologie, S.316.
[29] Carl Schmitt, Politische Theologie, S.77.
[30] Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, S.60.