Die Metaphysik der Balance
Ordnung aus dem Nichts
Heute
umgibt den Liberalismusbegriff ein von Kuehnelt-Leddihn so bezeichnetes
"semantisches Chaos sondergleichen." Ganz unterschiedliche
historische Strömungen haben liberales Gedankengut aufgenommen
und verstellen den Blick auf den gedanklichen Kern der liberalen
Metaphysik: "der Präliberalismus eines Adam Smith, noch
bevor das Wort im politischen Sinne aufgetaucht war; der Frühliberalismus,
der katholisch und aristokratisch war (Tocqueville, Montalembert,
Acton); der wirtschaftlich stark interessierte Altliberalismus (Cobden, Mill, Mises, Hayek), der einem politischen Relativismus
zuneigte und manchmal auch deistische Züge aufwies; der Neuliberalismus (Röpke, Rüstow, Briefs, Villey), der sich sehr wohl des Frühliberalismus
erinnerte und sich besonders im deutschen Raum entfaltete,
wo er auch für das Wirtschaftswunder primär verantwortlich
war und schließlich ein Pseudoliberalismus,
der amerikanische Wurzeln besitzt und zunehmend auch in
Europa sein Unwesen treibt."
[1]
Als "Pseudo-" bezeichnet
Kuehnelt-Leddihn, was sich heute in den USA unter "liberal"
tummelt, weil er als aristokratischer Frühliberaler mit den
scheußlichen Linksliberalen noch nicht einmal den Sammelnamen
gemein haben möchte.
Gerade
im Zeitalter des bürgerlichen Liberalismus waren viele unter anderem
auch ein bißchen liberal, oder sie waren liberal, aber nur auf
einem isolierten Gebiet wie dem der Ökonomie. Hier gilt es den
Kern der Gemeinsamkeiten zu erkennen, der den philosophischen
Liberalismus eigentlich ausmacht. Nur diesen idealtypischen,
zu Ende gedachten Liberalismus meinen wir. In den liberalen Ideenkreis
gehören alle Anschauungen, die allein aus prozeduralen Formprinzipien
so etwas wie Wahrheit, Gemeinwohl oder Gerechtigkeit schöpfen möchten. Die liberale Orthodoxie läßt nach
Donosos Bonmot die Gesellschaften sich selbst regieren durch
Vernunft, die auf eine allgemeine Weise den Finanzstarken
anvertraut ist und auf eine besondere Weise den Intellektuellen,
welche diese unterrichten und leiten. Diese verkünden kraft
des Dogmas von der Balance, daß die Wahrheit aus dem ewigen Gespräch
und daß die politische Ordnung aus dem Chaos der gesellschaftlichen
Kräfte ex nihilo hervorgeht, so wie die ungezügelten Einzelinteressen
das Gemeinwohl erzeugen. Einer dieser Intellektuellen ist
der Amerikaner Murray Rothbard gewesen. Sein Libertarianism "strebt die Maximierung
der individuellen Freiheit an und gliedert sich grob in Miniarchismus
(laissez-faire-liberaler Minimalstaat) und Anarchokapitalismus",
also "die Übernahme aller Staatsfunktionen wie Polizei,
Gerichtshöfe etc. durch Anbieter auf dem freien Markt."
[2]
Damit zeigt er idealtypisch die Tendenz liberaler Prämissen auf,
und wohin diese führen, wenn man sie konsequent durchhält und
absolut setzt.
Den
weltanschaulichen Kern dieses Liberalismus bildet der Glaube,
aus der freien Aktivität aller Kräfte und Gegenkräfte entstehe
von selbst im allgemeinen jede Art von Harmonie, in der Diskussion
die vollkommene Wahrheit und im Gesellschaftlichen das Gemeinwohl.
[3]
Kondylis hat diese Denkstruktur
aus dem polemischen Bedürfnis des Bürgertums des 18. Jahrhunderts
auf Teilhabe an der Macht abgeleitet: Es fand eine ständisch
gegliederte Gesellschaft vor. Sein sozialer Erfolg stieg mit
der ideologischen Durchsetzung einer Denkfigur, die ihm einen
aussichtsreichen gesellschaftlichen Platz sichern mußte. Die
mittelalterliche und frühneuzeitliche Adelsgesellschaft hatte
noch auf einer Hierarchie beruht, in der das Bürgertum nur einen
machtlosen Zuschauerplatz hatte. Dagegen richtete sich polemisch
sein neues Weltbild: In ihm bestanden zwar die Standesunterschiede
substanziell weiter. Sie verfestigten sich aber nicht, sondern
"gestalteten sich im Rahmen einer Konkurrenz, die ihrerseits
nicht in dem Kampf aller gegen alle, sondern in ein dynamisches
Gleichgewicht" münden sollten, in der das Bürgertum seinen
festen Platz hatte. Die "synthetisch-harmonisierende"
Denkfigur ist "grundsätzlich bestrebt, das Weltbild aus
einer Vielfalt von unterschiedlichen Dingen und Kräften zu konstruieren,
die zwar isoliert betrachtet sich im Gegensatz zueinander befinden
(können), doch in ihrer Gesamtheit ein harmonisches und gesetzmäßiges
Ganzes bilden, innerhalb dessen Friktionen oder Konflikte im Sinne
übergeordneter vernünftiger Zwecke ausgehoben werden. Dieser
Glaube gründet sich auf die teleologische Vorstellung einer
Heterogonie der Zwecke. Wir haben sie bereits als unentbehrliches
Requisit von Normativismen kennengelernt. Hier besagt er, "eine
unsichtbare Hand verwandle das Chaos der an sich eigennützigen
oder kurzsichtigen Handlungen der Einzelnen in ein harmonisches
Gleichgewicht."
[4]
Der
Liberalismus ist ein umfassendes und konsequentes metaphysisches
System.
[5]
Aus ihm folgt, daß aus dem "freien
Kampf der Meinungen die Wahrheit entsteht als die aus dem Wettbewerb
sich von selbst ergebende Harmonie." Es darf kein einziger
Meinungsbeitrag fehlen, sonst ist die Erkenntnis der Wahrheit
in Gefahr. Der Wesensgrundsatz liberaler Ordnung besteht darin,
schrieb Mercier de la Rivière 1767 ganz in diesem Sinne, "daß
der Vorteil des einzelnen niemals vom Vorteil aller getrennt
werden kann, und dies ergibt sich unter der Herrschaft der Freiheit.
Die Welt läuft dann von selbst."
Die
Diskurstheorie behauptet als moderne Variante dieses liberalen
Balanceglaubens, daß die Wahrheit aus dem freien Kampf der
Meinungen, selbst der dümmsten, und daß die politische Ordnung
aus dem Chaos der gesellschaftlichen Kräfte ex
nihilo hervorgeht. Ein Wunder ist das nur für Ungläubige.
Wer aber meint, daß aus jedem chaotischen Durcheinander und
Gegeneinander eine normative Ordnung von allein entsteht,
wenn man das Durcheinander bloß kausal frei walten läßt, wer
also an eine ordnende Teleologie glaubt, an ein werthaftes Prinzip,
das aus einem Nichts heraus ganz von allein unser Diesseits
sortiert: dem klingt das vernünftig.
Ob
jemand daran glaubt, bei gehörigem Beten schwebe unsichtbar
der heilige Geist durch die Decke und beehre uns mit seiner Anwesenheit,
oder ob ein anderer glaubt, bei der Diskussion stelle sich die
Wahrheit von selbst ein, erfordert quantitativ ein gleiches
Maß an Glaubensstärke. Und ob einer glaubt, Gott habe die Welt ex nihilo geschaffen,
oder ob ein anderer glaubt, das freie Kräftespiel erzeuge ex nihilo eine werthafte Ordnung: Das Prinzip Glauben ist dasselbe,
ob man an ein substanzhaftes Jenseits glaubt oder an die "geheimnisvolle
Urzeugung des Stoffs aus der Form."
[6]
Niemand kann sich aber durch einen
Akt reinen Denkens einen Wert schaffen, der außer in seinem
Kopf auch draußen wirklich vorhanden wäre. Es können darum auch
nicht Viele durch gemeinsames Denken und Übereinkunft eine moralische
Idee zu einem realen Ding machen.
Kant
hatte sich dasselbe sogar allein zugetraut: Durch monologisches
Nachdenken im stillen Studierstübchen wollte er wie mit einem
ins Transzendente gerichteten Fernrohr die Tugend am Ideenhimmel erkennen. Er überschätzte
menschliche Fähigkeiten ebenso maßlos, wie derjenige, der durch
gemeinsames Nachdenken und schließlichen Konsens einen Wert schaffen möchte. Genau diese alchimistische Idee aber hatte Kant:
Durch ein richtig angewandtes formales Verfahren lasse sich
die Vorstellung von etwas substanzhaft Wahrem gewinnen.
Richtig angewendete Verfahrensprinzipien schafften dasselbe,
glauben die prozeduralen Gerechtigkeitstheorien. Kant meinte
die Existenz allgemeingültiger Tugenden, ein substanzielles
ethisches Was, allein
aus dem prozeduralen Wie entwickeln zu können.
[7]
Das Wie lautete in seiner 'Kritik der praktischen Vernunft': Handle
so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als
Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung dienen könnte."
Am Anfang allen ethischen Nachdenkens steht danach nicht ein
"inhaltliches moralisches Prinzip, sondern ein Verfahren:"
[8]
Wie Athene dem Haupte des Zeus,
so entspringt Kants Moral ex nihilo dem Prozeß des reinen Nachdenkens.
Die Diskurstheorie brauchte daran nur anzuknüpfen und an
Stelle des einsam seinen kategorischen Imperativ ausbrütenden
Individuums eine fiktive Konsensfindungsgenossenschaft
zu setzen.
Ohne
mitgebrachte metaphysische Vorverständnisse sind die
konkreten Inhalte aller kategorischen Imperative und die
Resultate aller Diskurse aber inhaltlich beliebig. Kants Grundprämisse
besteht schon darin, daß es da überhaupt ein substanzhaftes,
transzendentes Was gebe: Eine Moral, die durch voraussetzungsloses Denken bloß erkannt
und nicht erst geschaffen werden muß. Überdies
durchschaute bereits Schopenhauer, daß Kants "kategorischer"
Imperativ tatsächlich nur ein hypothetischer ist, weil
er eine inhaltlichen Voraussetzung mitbringt: Jeder solle
zur Richtschnur seines Handelns machen, was zum allgemeinen
Gesetz für alle vernünftigen Wesen gemacht werden könnte, hat
nämlich einen egoistischen Zweck: Ich denke mir diejenige
Regel aus, bei der ich in möglichst vielen Fällen am besten dastehe.
Daß vorsichtshalber niemand einem anderen ein Leid antun soll,
sagt mir darum meine Vernunft, nachdem ich von den beiden Voraussetzungen ausgegangen bin:
Ich benötige eine möglichst allgemeingültige Regel zur
Wahrung meines Eigennutzes, und ich könnte einmal der Schwächere
sein. "Hebe ich aber diese Voraussetzungen auf und denke
mich, etwan im Vertrauen auf meine überlegenen Geistes- und
Leibeskräfte, stets nur als den aktiven und nie als den
passiven Teil
...
, so kann ich, vorausgesetzt daß es kein anderes Fundament
der Moral als das Kantische gebe, sehr Ungerechtigkeit und
Lieblosigkeit als allgemeine Maxime wollen und demnach
die Welt regeln."
[9]
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