Wem nÜtzt
Liberalismus?
Das
umfassende metaphysische Rechtfertigungssystem der in den westlichen
Ländern herrschenden Personen und Gruppen ist der Liberalismus.
[1]
Sein Regierungssystem ist der Parlamentarismus,
der uns in Deutschland heute als Parteienstaat vor Augen steht.
Beide, das Phänomen Parlamentarismus und seine liberale Herrschaftsideologie,
dienen letztlich der Aufrechterhaltung eines bestimmten Status
quo, in dem sich faktische Machtpositionen normativ ausprägen
[2]
und stabilisieren. Es ist die Macht derer, die
ihren ökonomischen Vorteil aus einer Wirtschaftsverfassung
ziehen,
[3]
in der ein freies Spiel der Kräfte weitestmöglich
ist. Für sie hat sich die Bezeichnung Kapitalismus eingebürgert.
Ihre Gesetzmäßigkeiten führen innerstaatlich und international
zu analogen Wirkungen: Freie Geldwirtschaft begünstigt den ökonomisch
Starken dadurch entscheidend, daß er alle anderen als ökonomische
Kräfte wirksam aus dem Kreis der allgemein akzeptierten Spielregeln
ausschließt. Der ökonomisch Schwache soll sich nicht mehr mit
anderen als ökonomischen Mitteln wehren dürfen: vor allem
nicht mit Gewalt.
Eine
ideologische Fiktion dient dazu, ihm diesen Verzicht schmackhaft
zu machen: Die Utopie der angeblichen government by discussion, der Regierung der aus der Diskussion
geborenen Vernunft selbst. Diese war schon in der Frühzeit des
Liberalismus bloße Idee, die "so zwar der Ideologie des
liberalen Honoratiorenregimes, nicht jedoch dessen Praxis
historisch entsprach. Denn auch zu einer Zeit, als der Parlamentarismus
noch
...
auf weitreichend homogener, sozial privilegierter Basis beruhte,
ging es um handfeste Eigeninteressen, war »government by
discussion« die Ideologie, »government by corruption« jedoch
sehr häufig die Wirklichkeit."
[4]
Um ihre finanzielle Überlegenheit voll ausspielen
zu können, mußten theoretisch alle entgegenstehenden Wertvorstellungen
ausgeschaltet und nur die harmlose Diskussion übrig gelassen
werden.
Zur
Disposition mußten konsequenterweise also alle diejenigen eigentlichen
Wertinhalte gestellt werden, die sich nicht im formellen freien Kräftespiel
von selbst einstellen. Doch welche Ideen schützen den Liberalismus
noch vor seiner eigenen Abschaffung, wenn sich zum Beispiel der
Respekt vor dem Privateigentum des anderen eines Tages einmal nicht
aus der freien Diskussion ergibt? Ratlos seufzt Habermas:
"In modernen Wirtschaftsgesellschaften spitzt sich dieses
allgemeine Problem in besonderer Weise zu auf die normative Einbindung
der aus traditioneller Sittlichkeit entlassenen strategischen Interaktionen."
[5]
Offiziell erklärt sich der Liberalismus für unzuständig,
eine geistige und moralische Ordnung herzustellen.
[6]
Das Problem ist auf alleiniger Grundlage der
liberalen Vorstellung einer Ordnung nicht zu lösen, die sich
angeblich von selbst einstellt, wenn sie die "aus der traditionellen
Sittlichkeit entlassenen" internationalen Finanzstarken
machen läßt, was sie wollen. Sie kann man allenfalls durch eine
staatliche Ordnung auf Grundlage von Ordnungsideen einbinden,
deren zentraler Wert ein anderer ist als das freie Kräftespiel.
Wem
also nützt Liberalismus konkret? "Die liberalen Rechte, die sich,
historisch gesehen, um die gesellschaftliche Stellung des privaten
Eigentümers kristallisiert haben, lassen sich unter funktionalen
Gesichtspunkten als die Institutionalisierung eines marktgesteuerten
Wirtschaftssystems begreifen, während sie unter normativen
Gesichtspunkten bestimmte private subjektive Freiheiten gewährleisten."
[7]
Diese normativen Freiheiten haben aber, wie
alle Normen, auch einen funktionalen Zweck: Sie sind einerseits
den marktwirtschaftlichen Prinzipien zugeordnet, andererseits
besteht ihr materieller Wertgehalt darin, alle mit dem freien Kapitalmarkt
unvereinbaren Prinzipien zu vernichten. So hält der normative
Kern des bürgerlichen Liberalismus letztlich eine bestimmte Eigentumsordnung
und eine Chancenverteilung aufrecht: Begünstigt ist beim Erwerb
materieller Güter, wer bereits materielle Güter besitzt. Die liberale
Ethik fordert so viel wirtschaftliche Privatautonomie wie möglich,
und bewahrt gerade noch so viel Staat, wie nötig ist, um das Eigentum
als solches und das marktgesteuerte Wirtschaftssystem zu erhalten.
Der
normative Kernbestand des Liberalismus läßt sich nur verstehen durch
eine Gesetzmäßigkeit, der nicht nur der Liberalismus unterliegt: Ein
komplexes soziales System läßt sich nur aufrecht erhalten, wenn
seine funktionalen Voraussetzungen normativ aufgeladen werden. So
wandelt sich das Geldhaben-Dürfen zum heiligen Recht des Kapitalisten,
und alle konkurrierenden Wertprinzipien wurden zu Unwerten. Auf
der anderen Seite des wirtschaftlichen Zyklus mußte dem Verbraucher
ein ebenso heiliges Recht zugesprochen werden: Es dient funktional
dazu, die Voraussetzungen der massenhaft produzierenden Industriegesellschaft
zu sichern. Inhaltlich tritt es als Werthaltung auf, indem es den
Begriff der Menschenwürde uminterpretierte: Mit ihm verbindet sich
jetzt die Vorstellung egalitärer Teilhabe am Massenkonsum als Voraussetzung
sogenannter Selbstverwirklichung. Die Menschenrechte sind also "entgegen
dem teleologischen Geschichtsverständnis der Demokraten keine
endgültige geistige und ethische Errungenschaft nach langen Jahrhunderten
der Unterdrückung und der Finsternis, sondern" stellen "im
Grunde die Funktions- und Überlebensweise der Massendemokratie
dar" und sind mit ihr "auf Gedeih und Verderb verbunden."
[8]
Die
liberale Ethik des Parteienstaats dürfen wir als die Ethik derjenigen
begreifen, die unter den konkreten Bedingungen des Parteienstaates
wirtschaftliche und sonstige Vorteile genießen, weil sie Parteiungen
angehören, die unter einem löcherig gewordenen staatlichen Dach
ihre Schäfchen ins Trockene bringen. Sie setzen ihr spezifisches
Recht eigennützig so, daß es sie und ihren weiteren Machterhalt begünstigt.
Die Geldmacht ist angewiesen auf ein System, das funktional alle
nicht ökonomischen Machtmittel ausschaltet, indem es sie in ihrem
materiellen Wertgehalt negiert und tabuisiert. "Weil das Recht
auf diese Weise mit dem Geld und administrativer Macht ebenso verzahnt
ist wie mit Solidarität, verarbeitet es in seinen Integrationsleistungen
Imperative verschiedener Herkunft."
[9]
Das Recht ist in einem politischen System, das
den Regeln der Theorie der kommunikativen Vernunft folgt, aus
demjenigen Grund mit Geld und administrativer Macht verzahnt,
weil es das Geld und die administrative Macht kraft seiner eigenen
Spielregeln zu den ausschlaggebenden, letztlich alleinige Geltung
beanspruchenden Regeln erhebt. Demgegenüber ist die von Habermas
beschworene Solidarität als weiterer Imperativ eine pure Fiktion
in einem Gesellschaftssystem, welches die Prämie auf egoistisches
und nicht auf solidarisches Handeln setzt.
Die
liberale Theorie befaßt sich eingehend mit dem Problem der Herrschaft:
"Wer soll regieren?" Sie will innergesellschaftliche
Konflikte regulieren und die Gesellschaft trotz aller Gegensätze
zusammenhalten, weil sie das ganz einfach für "vernünftig"
hält.
[10]
Weiter reicht ihr Ehrgeiz nicht. Der Liberalismus
stellt eine Theorie zur Minimierung staatlicher Funktionen dar.
Natürlich gibt es ordoliberale Wirtschaftswissenschaftler und
Manager wie den von Kommunisten ermordeten Alfred Herrhausen,
die Marktwirtschaft und Gemeinwohlbezug miteinander verbinden.
Es gab auch Ludwig Erhard
, der den liberalen Gedanken der freien Marktwirtschaft mit dem
Sozialstaat versöhnen wollte und die soziale Marktwirtschaft erfand. Männer
dieses Schlages sind unideologische Pragmatiker. Weit entfernt
vom libertären Fundamentalismus benutzten sie auch liberale Prinzipien,
verabsolutierten sie aber nicht.
Wie
jede Idee muß aber auch die liberale darauf geprüft werden, wohin
ihre absolute Dominanz über andere Prinzipien führt. Man kann sie
wie jede Idee ideologisch einseitig aus einem Prinzip entwickeln:
dem der Harmonie, die sich von unsichtbarer Hand aus dem Nichts
einstellt. Dieses idealtypische Bild eines normativen Liberalismus
muß in gedanklicher Klarheit entwickelt werden, um das Walten liberaler
Vorstellungen zu erhellen und aufzuzeigen, wohin sie gedanklich
konsequent führen. So können wir den libertären "Nur-Liberalen"
skizzieren: Sein Wertegerüst ist denkbar mager. "Laß doch
jeden machen, was er will!", lautet sein Motto. Eine Gesellschaft
der Wölfe schreckt ihn nicht. Für überindividuelle und nicht materiell
verstandene Sinnfragen ist er vollständig blind, und zwar
ganz bewußt.
[11]
Gegen eine multikulturelle Gesellschaft
aus Muselmanen, Christen, Pornographen und Satansanbetern hätte
der Liberale keine prinzipiellen Einwände, solange ihm niemand
aus religiösen Gründen das Geldverdienen verbieten würde.
Gesellschaftliche
Bindungen und Pflichten gegenüber der Gemeinschaft stören da nur.
Man denkt sich dann ein Weltbild aus, das vom sozialen Wesen des
Menschen nicht viel übrig läßt.
[12]
So werden sich potentielle Räuber, Plünderer,
Mafiosi oder Finanzhaie nicht nach einer effektiven Staatsgewalt
sehnen, die sie in ihrem Eifer nur behindern könnte. Ihre Ethik
wird eine kriminelle, anarchische, autonome oder liberale sein,
jedenfalls eine gemeinschafts- und tendenziell staatsfeindliche.
Wer sich dagegen durch Räuber etc.pp. oder durch einen äußeren Feind
bedroht fühlt, wird seinen Schutz unter einem starken Staat suchen
und eine dementsprechende Gemeinschaftsideologie bzw. -ethik entwickeln.
Der Liberalismus reduziert den Menschen auf Ökonomie und fungiert
damit als Herrschaftsideologie der ökonomisch Starken gegenüber
den ökonomisch Schwachen. Sie redet ihnen ein, das freie Walten
rein ökonomischer Gesetze führe auch zu ihrem Vorteil, und diesen
Vorteil sieht er ausschließlich im Geldverdienen: So bezeichnet
Fukuyama ihn ganz richtig als dasjenige "Regelsystem, in
dem das materielle Eigeninteresse und die Anhäufung von Reichtum
als legitim gelten."
[13]
Der
Liberalismus ist die Ideologie des ökonomisch Starken nicht nur im
privaten und innerstaatlichen, sondern auch im internationalen
Maßstab. Seine Endzeitvision ist der globale Markt in der liberalen One World. "Der Erwerbssinn, die
Hauptkraft der jetzigen Kultur, postuliert eigentlich schon um des
Verkehrs willen den Universalstaat."
[14]
Dessen heutiger Verfechter Fukuyama,
sieht die menschliche Entwicklung linear mit einem Anfangs-
und Endzustand geradewegs ins Finale der reinen Ökonomie abrollen.
[15]
Im unmittelbaren Interesse der ökonomisch
stärksten Macht liegt es, alle nicht ökonomisch vorgetragenen
Angriffe dadurch unmöglich zu machen, daß die Ökonomie zum allein
legitimen Austragungsort von Konflikten erklärt wird. Das ist
die klassische Strategie der USA.
Sie
wird allerdings erst funktionieren, sobald alle unliberalen Störenfriede
befriedet sind. Solange die Gegner des globalen Kapitalflusses
mit anderen als ökonomischen Mitteln kämpfen, muß die Alleingeltung
des Ökonomischen notfalls gewaltsam hergestellt werde; zum Beispiel
durch einen kleinen Einmarsch in irgendeiner Bananenrepublik.
Das Freihandelsprinzip verlangt freien Zugang aller Anbieter zu
allen Märkten. Es begünstigt daher die Wirtschaftsmächte, welche
aufgrund ökonomischer Stärke billiger anbieten und die Wirtschaft
der ausländischen Konkurrenz zum Bankrott treiben können. Haben
sie auf diese Weise ein faktisches Monopol errungen, können sie
im wesentlichen frei über die Preise verfügen. Bei kriegswichtigen
oder zivil unentbehrlichen Rohstoffen ist das Embargo dessen,
der über den Rohstoff oder seine Handelswege verfügt, ein erprobtes
Mittel gegen andere Staaten, die nicht über den Rohstoff verfügen.
Unter Geltung rein handelsmäßiger Gesetze kann ein Staat so den
anderen ruinieren oder zur Eröffnung militärischer Feindseligkeiten
nötigen. Die Vorgeschichte des japanischen Angriffs auf Pearl
Harbour ist nur eines von vielen anschaulichen Beispielen für eine
Strategie, mit den scheinbar friedlichen Mitteln des Wirtschaftsboykotts
und der Handelsblockade einen Gegner in die Knie oder zum Krieg
zu zwingen.
Durchgesetzt
hat sich auch im internationalen Wettbewerb erst, wer seine Macht
normativ begründet und seine Gegner zur Anerkennung derjenigen
Normen bewegt, deren Geltung die Macht weiter stabilisiert. Wo
ausschließlich ökonomische Gesetze herrschen, ist militärische
Macht nutzlos; ebenso wie umgekehrt in einer von militärischen
Gesetzen erfüllten Welt der bloße Händler machtlos ist und wie in
einer von göttlichen Geboten erfüllten Welt der Ketzer nichts zu
melden hat. Das Ende der Geschichte und die Heraufkunft einer
"friedlichen" Handelsepoche auszurufen bedeutet also
nichts anderes, als den Machtanspruch derjenigen konkreten Menschen
und Menschengruppen anzumelden, die ihre Stärke und ihren Vorteil
in einer Weltordnung sehen, die allein unter handelsmäßigen Gesetzen
steht. In fortgeschritteneren Ländern vermag man ein anderes als
das Händlerethos schon gar nicht mehr zu denken. Anders außerhalb
der westlichen Wertschöpfungsgemeinschaft: Diese eignet sich
offenbar hervorragend dazu, eine Zeitlang den materiellen Wohlstand
von Industriestaaten zu sichern. Unter den Gesetzen eines globalen
Marktes verwandeln sich die Güter aller Nationen in käufliche Waren.
Darin liegt eine krämerselige Wertentscheidung, die philosophisch
zum Liberalismus, wirtschaftlich zum Kapitalismus und politisch
zum Parlamentarismus führt.
Der
verhausschweinte Konsument
|
Bis
ins 19.Jahrhundert wurde der Liberalismus vom Bürgertum getragen. In der doppelten Frontstellung gegen
die monarchische Legitimität hier und gegen den Sozialismus dort blieb
er politisch aktiv und durfte aus polemischen Gründen nicht auf Bekenntnisse
zu ewigen Werten verzichten. Er blieb wertgebunden und politisch,
solange er Gegner hatte. Spätestens nach dem ersten Weltkrieg wurde
er unter den Bedingungen der Massengesellschaft umgedeutet. Die
hohe Zeit des Bürgertums war abgelaufen. Seitdem herrscht ein ganz
anderer Menschentypus vor. Der politische Liberalismus hatte
nur mit Werthaltungen erfolgreich sein können. Als er sich in
Gestalt der modernen Massendemokratie durchgesetzt hatte, warf er
die ungeliebten Phänomene des Politischen und des Moralischen
ab.
Sein
in ihm angelegter Kern schälte sich unter den Bedingungen der Massengesellschaft
heraus: Nach seiner massendemokratischen Umdeutung
[16]
wurde er die Weltanschauung des radikal selbstbezüglichen
Nur-Individuums, des autistischen Hedonisten. Seinen methodischen
Individualismus hat Adam
treffend als neue Volksreligion bezeichnet. Diese redet Menschen
ein, mit gutem Gewissen das zu tun, was sie sonst mit schlechtem
getan hätten. Gemeinwohl ist nach dieser Lehre ein Phantom, ein
ideologischer Tick, der die Leute dazu bringen soll, gegen ihre Interessen
zu handeln.
[17]
Wer die Existenz eines Gemeinwohls bestreitet,
stellt diese gerne als ideologisches Konstrukt dar. Ein Gemeinwohl
zu behaupten, sei sogar möglicherweise totalitär. Dieselben
Leute aber, die ungeniert und ohne ideologische Gewissensbisse
ein gemeinsames Wohl aller Gewerkschaftler oder aller Beamten
oder aller Stewardessen oder gar aller Frauen annehmen, bekommen
die schlimmsten Bedenken bei der Vorstellung, ein ganzes Volk
oder ein Staat könnte ein Gemeinwohl haben. Die Verbindung des
Individualinteresses mit dem Wohl einer Personengruppe, welcher
auch immer, ist der neuralgische Punkt jedes Liberalismus.
Er sagt nur: "Ubi bene,
ibi patria", und wenn "die Kasse stimmt", - seine Kasse! - stimmt auch die Moral.
Bert Brecht
sprach ihm aus der Seele: "Erst kommt das Fressen, dann die
Moral."
Gerade
das Fressen wurde zur alleinigen die Moral des libertären Liberalen.
Er beschritt bisher konsequent den Weg vom Prinzip Ordnung zur
individuellen Beliebigkeit, die keine Ordnung über ihm anerkennt
und damit auf das Prinzip Chaos zusteuert. Ziel dieses Weges ist ihm das Anhäufen von Eigentum.
Er möchte es maximieren, um es dann ungestört zu konsumieren.
Dieser Konsum ist letzter und alleiniger Lebenszweck, das finale
Ziel und der innerste Beweggrund all' seines Handelns, Ziel seiner
Wünsche und Traum seiner schlaflosen Nachmittage. Daß ihm
jemand etwas wegnehmen könnte, quält ihn in seinen schlimmsten
Alpträumen. Daher löst er systematisch die geistigen und staatlichen
Ordnungen eben soweit auf, wie sie ihn an der Verwirklichung
seiner hedonistischen Gelüste hindern. Er bildet sich statt dessen
seinen eigenen Wertekosmos, in dessen Allerheiligstem die Schatztruhen
seiner materiellen Güter wohlbewacht sind von einer Moral, deren
Quintessenz im "Nimm mir bloß nichts weg!" besteht.
Der Weg der zunehmenden Liberalisierung brachte die Auflösung
aller anderen metaphysischen und moralischen Werte und führte
zu einer allgemeinen Ökonomisierung des geistigen Lebens. Damit
beschränkte man sich auf eine Geistesverfassung, die in Produktion
und Konsum die zentralen Kategorien menschlichen Daseins findet."
[18]
Um
diesen Zustand endlich zu erreichen, müssen alle normierenden geistigen
Ordnungen und menschlichen Kontrollinstanzen aufgehoben werden
außer denen, die dem Haben und dem Konsumieren funktional zuarbeiten.
"Auf Kosten der Identität, auf Kosten einer bewußten, kritischen
und aktiven Haltung gegenüber der Realität," formulierte
Böckelmann,
"werden uneingeschränkte
Triebbefriedigung gewährt und die lähmende Kontrolle des Gewissens
und der Gesellschaft entfernt." Unabhängig geworden von
den Institutionen staatlicher und moralischer Ordnung verfällt
der homo oeconomicus hilflos den neuen gesellschaftlichen
Machtträgern, die über die Ressourcen des Konsums verfügen. "Unsozialisiert
und deshalb gefügig nährt sich der Lustverbraucher an der Konsumbrust.
Die Reizqualitäten der mit unterschwelligen Appellen übersättigten
Außenwelt erlauben ihm nicht, aus dem Traum zu erwachen. Aber
der Traum ist die Wirklichkeit. Um aus der Wirklichkeit zu erwachen,
müßte er eine innere Vergewaltigung vollbringen, die einem
Selbstmord gleichkäme."
[19]
So wird die Grundhaltung des Nurverbrauchers
begleitet von einer Wahrnehmungsverweigerung, die alle anderen
möglichen Werte ergreift.
Diese
Wahrnehmungsverweigerung führt, wie bei jedem einseitigen
Weltbild, zum gezielten Ausblenden störender Fakten aus dem Bewußtsein.
Es sind alle diejenigen unliebsamen Begleitumstände sozialen Lebens,
auf die andere Menschen mit konkreten Werthaltungen antworten.
Auf die Empfindung der überwältigenden Menge an Leid und Elend
dieser Erde antwortet der Christ mit dem tröstenden Glauben an
einen erlösenden Heiland. Auf das in der Geschichte schon immer
bestehende Phänomen des Krieges und des Kampfes antwortet der
heroische Realist mit einer idealisierten Kampfbereitschaft.
Er entwickelt die Vorstellung von einem unentrinnbaren Schicksal,
aufgrund dessen wir am Ende der Dinge eben nie siegen können, und
antwortet dem Schicksal mit einem trotzigen Dennoch. Der Sozialist
beobachtet die ungleiche Verteilung von Gütern und Lebenschancen
und entwickelt daraus sein Ethos der Menschengleichheit. -
Der
Liberale des Zeitalters der Massendemokratie sieht gar nichts. Er
beobachtet nur das Anschwellen seines Wohlstandsbauches, und nur
um seinen Bauchnabel dreht sich der selbstbezügliche Kosmos seiner
Metaphysik. Ohne inneren Halt an einer Norm, ohne Weg und Ziel,
gibt es für den infantilisierten Nurverbraucher darum kein
Zurück ins Reich der Normen, zu deren neuerlichen Akzeptanz
er keine Kraft hat. Das entlockte sogar einem antiautoritären
Marxisten den Stoßseufzer: "Der Mensch in der automatisierten
Überflußgesellschaft besitzt im Vergleich zum Individuum vergangener
Epochen ein sehr viel größeres inneres Gleichgewicht, das er
sich mit absoluter Hörigkeit erkauft hat. Die Psyche des Autoritären
war in einem bestimmten Sinne noch potentiell revolutionär.
Im modernen Narziß, der weder von Schuldangst noch von heftiger
Wunschvereitelung gequält wird, lehnt sich nichts mehr auf."
[20]
Die
gezielte Abkehr von der überkommenen bürgerlichen Geisteswelt
und ihren normativen Imperativen sollte zur Selbstverwirklichung
führen. "Die Absicht dabei war emanzipatorisch, das Ergebnis
aber war, daß sich die mentalen Einstellungen herausbildeten,
die eine massenhaft produzierende und massenhaft konsumierende
Massendemokratie tragen."
[21]
Die beabsichtigte Selbstverwirklichung führte nicht zu einer
Steigerung der geistigen, kulturellen, moralischen, religiösen
oder schöpferischen Potenzen im Menschen. Sie befreite nur die
stammesgeschichtlich sehr tief liegenden Antriebe auf unmittelbare
Befriedigung animalischer Bedürfnisse. So geriet der von geistigen
und kulturellen Bindungen emanzipierte Mensch ohne Umweg in die ebenso
sichere Abhängigkeit von allen jenen atavistischen Gelüsten, deren
Zähmung seit 2000 Jahren der Stolz der abendländischen Kultur war.
Indessen
setzt auch solcher Hedonismus ein metaphysisches Vorverständnis
voraus. Wie jede Lebenshaltung muß sie nicht auf einer bewußten
Wertsetzung beruhen, aber doch mindestens auf dem unreflektierten
Beharren auf einer bestimmten seelischen Grundhaltung. Die industrielle
Massengesellschaft bedarf für ihr Funktionieren "hedonistischer
Einstellungen und Werte, die den wirtschaftlich notwendigen massiven
Verbrauch der massenweise produzierten Konsumgüter teils psychologisch
nahelegen, teils ethisch rechtfertigen."
[22]
Es ist ein pharisäerhafter Irrtum, Ethik und Moral
immer nur bei sich selbst zu suchen: Auch der Hedonismus läßt sich
mit einer bis in die Antike zurückreichenden Tradition begründen.
An sie mußte nur angeknüpft werden, um die aus Produzentensicht
erwünschte Konsumentenmentalität ethisch zu legitimieren.
Sie
stieß nach dem Wegfall traditioneller ethischer Imperative auf keinen
Widerstand. Es fällt nicht schwer, jemanden von der ethischen Richtigkeit
eines Verhaltens zu überzeugen, das angeborenen lustbetonten Verhaltensmustern
entspricht. Die Reifung und das Erwachsenwerden des Menschen und seiner
nächsten tierischen Verwandten wird von einem Prozeß begleitet,
der von der Fütterungsbereitschaft des infantilen, pflegebedürftigen
Jungen wegführt zum aktiven, für sich selbst sorgenden Erwachsenen.
Ein Mensch, der durch das Ausbleiben der Reifung sozialer Verhaltensnormen
in einem infantilen Zustand verharrt, wird notwendigerweise
zum Parasiten der Gesellschaft.
[23]
So gesehen ist es Merkmal einer von der Evolution
nicht als Dauerzustand vorgesehenen Infantilisierung, wenn
Erwachsene in einer Haltung verharren, in der sie vom Staat, "der
Gesellschaft" oder anderen anonymen Kollektiven ständige
materielle Zuwendung ohne eigene Anstrengung und Leistungsbereitschaft
erwarten. Ihr Denken reduziert sich, wie bei den Schnabel aufsperrenden
Jungvögeln im Nest, auf dauernde Konsumerwartung.
Wir
sollten solchen Individuen nicht leichtfertig unterstellen, jemals
eine bewußte Entscheidung getroffen zu haben, doch liegt der ausschließlichen
Konsumbereitschaft eine Lebenseinstellung unreflektiert zugrunde,
die das persönliche anstrengungslose Wohlleben zum zentralen
Wert erhebt. Dieser hat nichts als die umgehende Befriedigung
des elementaren Bedürfnisses nach dem Haben von Dingen zum Inhalt,
das sich von Fall zu Fall auf materielle Güter richtet, auf den Konsum
immaterieller Güter wie einen Film, auf menschliche Konsumobjekte,
jedenfalls aber immer auf anstrengungsloses "Sichhineinziehen"
irgendwelcher Produkte, wie das heute bezeichnenderweise heißt.
Gehlen
hat darauf hingewiesen, daß ein ethischer Wandel hin zu einem
derartigen Ideal des Wohllebens seit der Neuzeit stattgefunden
hat: "Nicht die bloße Abweisung von Not und Leiden, sondern
das Erfüllungsglück selbst, das Wohlhaben und Wohlleben werden
hier zu Sollforderungen
erhoben." Die "Ethisierung des Komplexes Lebensglück"
führte zur moralischen und damit öffentlichkeitswirksamen Disqualifizierung
aller dem Glücksanspruch entgegenstehenden Werte und Ansprüche.
Besonders in der anglo-amerikanischen Tradition wurde ein
so verstandenes individuelles Recht auf Glück zu einem Zentralwert,
und der Staat wurde zum stets bereiten Diener und "Adressaten
der Erfüllungswünsche und die Politik der Idee nach zu einer
Technik des Glücks."
[24]
Nach Meinung liberaler Erzväter wie Bentham
und Mill
ist ihr letzter Zweck the greatest happiness of the greatest number - das größtmögliche Glück möglichst vieler Leute.
Der
Liberale ist damit der politische Spießbürger, wie ihn Max Weber
genannt und beschrieben hat: ein Menschenschlag, dem die großen
Machtinstinkte fehlen, der charakterisiert ist durch die Beschränkung
des politischen Strebens auf materielle Ziele oder doch auf das
Interesse der eigenen Generation und durch das fehlende Bewußtsein
für die Verantwortung gegenüber unserer Nachkommenschaft
.
[25]
Die Reduzierung des Menschen auf den Konsumenten,
in dem eine geldgierige Großindustrie mittels Reklame Konsumwünsche
erzeugt, um sie schnell zu befriedigen, die ganze Lebensphilosophie
des "Ich will Genuß - sofort!" verwandelt ihn zum "zur
Masse degradierten, naturentfremdeten, nur an kommerzielle
Werte glaubenden, gefühlsarmen, verhaustierten,"
politisch indoktrinierbaren und durch die Großindustrie manipulierbaren
[26]
Einheitsverbraucher; Sie ebnet den american
way of life. Ihren logischen Endpunkt bildet der Typus des
aus der Wirklichkeit fliehenden Süchtigen. Dem "Automatismus
einer zunehmenden Glücksgefräßigkeit"
[27]
verfallen, verschafft er sich mit minimalem
Aufwand an "Stoff" ein Maximum an Lustgewinn und kann
sehr böse werden, wenn man ihm sein Leckerchen vorenthält.
Daß
der liberale Verbrauchertypus teilweise unter Wahrnehmungsverlust
leidet, erzeugt mittelbar ganz spezifische politische Einstellungen
und Forderungen. Diese beschränken sich ebenso wie die "Metaphysik"
des Liberalen auf bestimmte Phänomene und Vorstellungen. Beobachtungen
und Wertungen, die anderen Menschen evident sind, leugnet der
Liberale rundweg. Evidenzen gibt es immer nur innerhalb des eigenen
weltbildlichen Rahmens. Was dem einen evident ist, kann der andere
heftig leugnen. So hat Carl Schmitt
darauf hingewiesen, daß ein direkter Zusammenhang besteht zwischen
Regierungsform und theozentrischem oder gottlosem Weltbild:
[28]
Das Mittelalter hat an ein Jenseits geglaubt,
in dem eine hierarchische Ordnung der Ideen besteht. Das Gute ist
die oberste Idee und regiert als Gott das Diesseits und das Jenseits. Wer
das glaubt, dem ist unmittelbar evident, daß auch das Diesseits und
daß die Gesellschaft von einer hierarchischen Ordnung erfüllt
ist, an deren Spitze ein Monarch steht und sie regiert.
Der
Liberale leugnet aber nicht nur die konkreten Phänomene, Beobachtungen
und Wertungen, die anderen Menschen evident sind. Er leugnet aus ideologischen
Gründen die Möglichkeit der Evidenz an sich. Er verzichtet angeblich
auf den Anspruch, die Wahrheit zu erkennen, und löst die Entscheidung
für eine Wahrheit in einen nie endenden Wahrheitsfindungsprozeß auf. Daraus folgt die ideologisch generierte Unmöglichkeit
des Liberalismus, etwas offenkundig Richtiges zu sagen und
zu tun.
[29]
Indessen liegt für ihn in seiner Vorstellung
gerade im Verzicht auf das definitive Resultat, und im Verzicht
auf die Entscheidung für eine Wahrheit und im immerwährenden Gespräch
sucht er seine Wahrheit.
[1]
Carl
Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage, S.45.
[2]
Jellinek,
Allgemeine Staatslehre, S.337 ff.
[3]
Carl
Schmitt, Der Begriff des Politischen, S.66.
[4]
Kremendahl,
Pluralismustheorie, S.108 unter Berufung auf Karl Loewenstein.
[5]
Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung,
S.23.
[6]
Comte, Die
Soziologie, S.59, "Die stationäre Lehre".
[7]
Habermas,
Faktizität und Geltung, S.104.
[8]
Kondylis,
Der Niedergang.., S.209.
[9]
Habermas,
Faktizität und Geltung, S.59.
[10]
Vgl. ebenso
bei Dettling, Demokratisierung, S.15.
[11]
Ebenso z.B.
Joachim Fest, Offene Gesellschaft mit offener Flanke, FAZ 21.10.1992; Ernst
Nolte, Die Fragilität des Triumphs, FAZ 3.7.1993.
[12]
Adam, Die
Ohnmacht der Macht, S.187.
[13]
Fukuyama,
Die Zukunft des Krieges, FAZ-Magazin 16.12.1994, S.16 ff. (17).
[14]
Burckhardt,
Weltgeschichtliche Betrachtungen, S.126, 65.
[15]
Fukuyama,
Der Mensch braucht das Risiko, DER SPIEGEL Nr.15/1992, S.256; ders. Das Ende der
Geschichte.
[16]
Kondylis,
Der Niedergang..., S.169.
[17]
Adam, Die
Ohnmacht der Macht, S.190.
[18]
Carl
Schmitt, Der Begriff des Politischen, S.83.
[19]
Böckelmann,
Die schlechte Aufhebung..., S.58,69.
[20]
Böckelmann,
Die schlechte Aufhebung..., S.74.
[21]
Kondylis, Damit
die Kannibalen draußen bleiben, FAZ 4.9.1996.
[22]
Panajotis Kondylis, Der Niedergang der bürgerlichen
Denk- und Lebensform,1991, S.202 f.
[23]
Lorenz, Die
acht Todsünden der zivilisierten Menschheit, S.65.
[24]
Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, S.66, 61.
[25]
Konrad Adam, Ich kenne nur noch Parteien, FAZ
3.9.1992.
[26]
Konrad Lorenz, Die acht Todsünden, S.84 ff.,
94 f., 96.
[27]
Gehlen,
Moral und Hypermoral, S.64.
[28]
Carl
Schmitt, Politische Theologie, S.59 f.
[29]
Specht, Rezension des Essays von Donoso Cortés,
in: Der Staat, 1994, S.633.