Das
Dilemma der Vernunftherrschaft
Auszug
aus: Klaus Kunze, Mut zur
Freiheit, 1998, S.94 ff.
(Zurück zum vorangehenden Unterkapitel:
Wem nützt Liberalismus?)
Eine
beliebte Technik, die wirklich herrschenden Personen hinter
einem grauen Begriffsnebel verschwinden zu lassen, ist es,
die Herrschaft der Vernunft auszurufen. Unter der Herrschaft der Vernunft herrschen
aber unbedingt diejenigen Menschen, die darüber entscheiden,
was im Einzelfall für vernünftig gelten darf; wie unter der
Herrschaft der Natur diejenigen, die darüber entscheiden,
welchen Inhalt die Natur des Menschen konkret hat. Es liegen
nun einmal ganz unterschiedliche Möglichkeiten in der "Natur
des Menschen". Auch die Vernunft kann "kein Ersatz
für die göttliche Gnadenordnung sein. Sie ist ein weltanschaulich
geprägter Begriff, und es gibt daher - entgegen der rationalen
Naturrechtslehre - nicht nur eine Vernunft, sondern viele
konkurrierende »Vernünfte«".
[1]
Die Liberalen dagegen wollen nicht die jeweilige
Vernunft jedes einzelnen frei gelten lassen, sondern die Herrschaft
"der Vernunft, das heißt eine Vernunftsherrschaft, eine Herrschaft. Die Liberalen sind Eiferer,
nicht gerade für den Glauben, für Gott usw., wohl aber für
die Vernunft, ihre Herrin."
[2]
Historisch
hat sich der bedeutendste Versuch, Regeln des menschlichen Zusammenlebens
aus einer universalen Vernunft abzuleiten, Naturrecht genannt.
Es erhob den Anspruch, aufgrund abstrakter Vernunftschlüsse
universalisierbare Rechtsregeln aus der Natur des Menschen
abzuleiten. Je nach persönlichem Belieben, Gefühl oder Geschmack
des jeweiligen Normativisten sollte "Natur des Menschen"
seine Vernunft sein wie bei Kant
, Habermas
und vielen anderen; oder sein Wille
wie bei Kierkegaard
und Nietzsche
; seine Arbeit wie bei Marx
und seinen Epigonen.
Wie
zeitbedingt alle naturrechtlichen Normen aber waren, lehrt ein
Blick in alte Naturrechts-Lehrbücher. Was im einzelnen für
vernünftig erklärt und damit allen Menschen als Soll verordnet
wurde, unterschied sich je nach Gutdünken des einzelnen
Vernunftrechtlers beträchtlich vom Vernunftrecht des anderen
Vernunftrechtlers oder der Vernunft späterer Generationen.
So verstrickte sich heillos in wahre Vernunftknäuel zum
Beispiel Pufendorf:
Nach seiner vernünftigen Meinung "widerstreitet es zwar
eindeutig dem Naturrecht, wenn eine Frau mit mehreren Männern
gleichzeitig Verkehr hat, doch daß ein Mann zwei oder mehr
Frauen hat, ist bei vielen Völkern üblich und war einst auch
beim jüdischen Volk gebräuchlich. Trotzdem ergibt sich schon
aus vernünftiger Überlegung,
...
daß es weitaus angemessener ist, daß ein Mann mit einer
Frau zufrieden ist."
[3]
Mohler
hat den unvernünftigen Glauben an die Fähigkeit, die Wirklichkeit
allumfassend mit Mitteln der Vernunft zu erkennen, zu
deuten und zu gestalten, sehr hübsch als Intellegibilitätswahn
bezeichnet. An dieser Überschätzung hatten Natur- und Vernunftrechtler
seit dem 17. Jahrhundert gelitten und leiden
intellektualistische Vernunftstheorien noch heute.
Ohne
inhaltliches Gut und
Böse kommt keine Vernunftlehre
aus. Die reine Vernunft könnte sich ohne wertbezogenen Inhalt
nur mit sich selbst beschäftigen. Sie würde dann von einer
Vernunftlehre zur Vernunftleere. Rationalismus ist nur eine
Denkmethode, nämlich
"die zweckmäßige, formallogisch
einwandfreie Verwendung der argumentativen Mittel, die
das Denken zur Verfügung stellt."
[4]
Dagegen erliegt der Intellektualismus dem
Wahn, allein aus der formalen Anwendung von Vernunft Inhalte
schaffen zu können. Freilich möchte jede Doktrin sich mit
dem Lorbeer der Ratio schmücken und andere Ansichten als vernunftwidrig
abstempeln. In sich bietet tatsächlich manches Gedankengebäude
den Anblick wunderbarer gedanklicher Folgerichtigkeit;
alle gründen aber auf dem Sand wertender Vorentscheidungen. Inhaltlich steht nämlich jeder
"Rationalismus im Zeichen einer weltanschaulichen
Grundhaltung oder -entscheidung, die", formulierte
Kondylis, "ihrerseits ultra rationem liegt und auf letzten Wertungen beruht."
Fragen wie die nach dem konkreten Inhalt der Vernunft, der
Natur des Menschen, den konkreten Kriterien der Gerechtigkeit
und den moralischen Idealen lassen sich nur durch willkürliche
Entscheidung beantworten, welche die ideellen Achsen
der höchstpersönlichen Weltsicht festlegt.
[5]
Jeder Naturrechtslehre liegt primär
eine Ideologie zugrunde[6] , mit der erst sekundär
der Verstand seine selbstbefriedigenden Spielchen treiben
darf: Er bestätigt dem Gefühl vernünftig, was dieses vorher
schon wußte.
Die
Autorität einer abstrakten Vernunft an sich gibt also noch niemandem
einen konkreten Rat, wie er sich entscheiden soll. Sie ist
eine Leerformel, die mit beliebigem ideologischem Inhalt
gefüllt werden kann. "Nur ein naiver Rationalismus hält
die Vernunft für fähig, evidente Wahrheiten und unbestreitbare
Werte zu finden.
...
Weil jeder Wert willkürlich ist, gibt es keine absolute, vollständig
in der Vernunft begründete Gerechtigkeit."
[7]
Wer anderen eine konkrete Moral als vernünftig
anempfiehlt, will meistens betrügen. Der Betrug besteht darin,
daß die selbsternannten Hohepriester universalistischer
Menschheitsansprüche Unterwerfung unter ihre Moralforderungen
mit dem hinterlistigen Nebeneffekt beanspruchen, zugleich
ihr Interpretationsmonopol dieser Menschheitsmoral und
damit ihre weitere Priesterherrschaft zu akzeptieren.
Ihre "Vernunftmoral belastet
...
den einzelnen nicht nur mit dem Problem der Entscheidung
von Handlungskonflikten, sondern mit Erwartungen an seine
Willensstärke. Zum einen soll er in Konfliktsituationen
bereit sein, überhaupt nach einer konsensuellen Lösung zu
suchen, d.h. in Diskurse einzutreten oder solche advokatorisch
durchzuspielen. Zum anderen soll er die Kraft aufbringen,
nach moralischen Einsichten, gegebenenfalls auch gegen eigene
Interessen, zu handeln,"
[8]
und zwar statt dessen für die Interessen
dessen, der ihm die Vernunft gerade dieser, seiner
Moral listig andient.
Darum
tarnt die Ausrufung der Vernunftherrschaft immer den Wertsetzungsanspruch
dessen, der darüber befindet, im Lichte welcher Normen eine
Sache vernünftig betrachtet werden soll. Von den Aufklärern
des 18.Jahrhunderts über Liberale des 19. wie John Stuart
Mill
bis zum Libertarian Rothbard
des 20. Jahrhunderts halten daher alle Rationalisten einen
universalistischen Moralmaßstab im Hintergrund. Auf
einen naturrechtlichen Hintergrund ist jede Vernunftstheorie
angewiesen, die Wert darauf legt, zur gesellschaftlichen
Praxis zu werden. Nur die Geltung moralischer Normen kann
sie vor ihrer Abschaffung durch "Unvernünftige"
schützen. Der Inhalt von Rothbards Naturrecht besteht darin,
Eigentum haben zu dürfen, zu dem unter anderem das Eigentumsrecht
am eigenen Körper zählt. Menschenrecht und Eigentum sind
daher identisch. Aus der Libertarian
Party ist Rothbard ausgetreten - ihres "moralischen
Relativismus" wegen.
[9]
Sogar
eine möchtegern-selbstkritische Grundhaltung, die sich dem offenen
Denkstil verschreibt wie der kritische Rationalismus Poppers,
muß doktrinär werden, wo sie sich selbst rechtfertigt. Auch
der kritische Rationalismus behauptet, seine kritische Rationalität,
die ständige Falsifikationsbereitschaft sei der alleinige
Schlüssel zur Erfassung der Wirklichkeit, wenn das überhaupt
menschenmöglich sei. Seine Deutung der Geschichte kennt "finstere"
Zeitalter, in denen die Menschen noch unkritisch und nicht
ratinalistisch waren, und eine lichtvolle Zukunft, der wir
sicher entgegengehen, wenn wir nur kritisch und rationalistisch
sind. Der kritische Rationalist Karl Popper
möchte gern tolerant sein und empfiehlt Demut angesichts
der eigenen Fehlbarkeit. Sobald er aber die Toleranz als
Wert begründen soll, verwandelt er sich flugs vom kritischen
Rationalisten zum begnadeten Metaphysiker. Anders als
durch eine willkürliche Wertentscheidung und durch Erhebung
der Toleranz zum transzendenten Wert an sich kann er diese
nämlich ebensowenig begründen wie den kritischen Rationalismus.
"Auch
'kritische Rationalisten' erkennnen" daher "heute
den autoritären und dezisionistischen, ja geradezu 'religiösen'
Charakter neuzeitlicher Vernunft an.
Wenn sie dennoch glauben, sie könnten den dezisionistischen
Circulus vitiosus dadurch brechen, daß sie die polemische
Vernunft durch die kritische ersetzen, die sich selbst in Frage
stellen könne und müsse, dann legen sie teils ihre theoretische
Verlegenheit und teils ihre Ignoranz der konkreten geschichtlichen
Wirkungsweise von Ideen an den Tag." [11] - Warum überhaupt kritisch, warum rational
sein? Diese Frage muß sich auch der kritische Rationalismus
gefallen lassen, auf die er wieder nur mit einem Zirkelschluß
antworten kann: Vernünftig muß man sein, weil das vernünftig
ist. Wenn sich doch aus dem Wesen der kritischen Rationalismus
selbst der endgültige Verzicht auf den Wahrheitsanspruch
ergibt, wenn also alles relativ ist und wir aller Erkenntnis
deshalb kritisch gegenüber stehen sollen, gibt sich auch
diese Forderung selbst auf: Warum eigentlich noch kritisch
sein, wenn sowieso nichts endgültig feststeht und wenn wir
letztlich nichts beweisen können?
Sobald
es um die Anwendung des kritischen Rationalismus auf sich
selbst geht, verfängt sich der kritische Rationalist Popper
im Gestrüpp der unentrinnbaren Logik. Diese läßt nicht zu,
daß sich eine Norm mit sich selbst begründet: "Sobald
...
es um handfeste Konsequenzen geht, ist es mit seiner Demut
vorbei. Dann fällt er in die Rolle des Dogmatikers. Er weiß
dann, daß wir in der besten aller denkbaren Welten leben,
und er ruft auf zum Feldzug gegen die Ungläubigen, die Lügner,
Sünder und Verbrecher - das sind tatsächlich seine Worte -,
die den Menschen einreden, der Fortschritt sei gar nicht so
groß, wie er ausschaut.
...
In einer seiner früheren Sentenzen hatte er selbst bemerkt,
daß es die Pfade in den Himmel an sich haben, geradewegs
in der Hölle zu enden. Warum nur ist er nie auf den Gedanken
gekommen, diese Vermutung auch auf das anzuwenden, was er
selbst vorzutragen hatte?"
[12]
-
Weder
mit reiner, noch inhaltsleerer Vernunft, noch allein aus formalen
Gerechtigkeitsprinzipien läßt sich auch nur eine einzige
konkrete Rechtsfrage beantworten. Prinzipien wie die von
Dworkin
angebotene Gerechtigkeit, Fairneß und Rechtsstaatlichkeit sind ebensolche Leerformeln wie Thomas von Aquins
Appell, immer das Gute zu tun. Es ist immer der wertende
menschliche Wille, der die Inhalte setzt, mit denen abstrakte
und formale Gerechtigkeitsprinzipien dann weidlich spielen
können. Allein aus solchen Formprinzipien materielles Recht
schaffen zu wollen, gleicht dem Versuch der Jungfernzeugung
oder alchimistischen Versuchen, im Reagenzglas Gold zu machen,
ohne vorher Gold hineingetan zu haben. Gesetzgebung ist
darum Gegenstand der Politik, die Rechtsfindung dagegen
bloß ausführender Justizakt. Rechtsfindung bedeutet, anhand
eines konkreten Falles dem politisch gesetzten inhaltlichen
Wert nachzuspüren und anhand formaler Verfahren über seine
Anwendung auf den Einzelfall zu entscheiden.
Genau
so geht zum Beispiel das Bundesverfassungsgericht vor,
wenn es eine Wertordnung des Grundgesetzes annimmt und Grenzfälle
aus Perspektive ihrer gesetzten Werte entscheidet. Ihm
bleibt ja "gar nichts anderes übrig, als auf das dahinterstehende
Wertsystem zu rekurrieren." Während dieser Werte als
gesetzte Normen allgemein akzeptiert sind, wagt heute "kein
Denker, der ernst genommen werden will, die metaphysischen Voraussetzungen
der Verfassung anzuerkennen.
...
Jenes Wertesystem tritt auf diese Weise als feststehend, als
ontologisch vorgegeben in Erscheinung, und dagegen muß die
moderne Philosophie rebellieren.
...
Es gibt keine aktuelle, erfolgreiche philosophische Strömung,
die den Prinzipien der Verfassung die Hand reicht.
...
Deshalb ragt das Bundesverfassungsgericht wie ein Fossil
aus der Aufklärung in unser Jahrhundert hinein und steht dem
Wertrelativismus entgegen.
"
[13]
Moralisch
in den Bürgerkrieg
Wir
sollten uns aus der Perspektive unseres Kulturkreises nicht
der Täuschung hingeben, unsere Werte seien schlechthin universalisierbar.
"Schandgesetze"
[14]
- meint Kaufmann -
seien gar kein "wirkliches" Recht. Er folgt darin
Augustinus
und Thomas von Aquin,
nach deren Meinung die lex corrupta unbeachtlich und aus dem Rechtsbegriff
auszugrenzen sei. Doch wer entscheidet denn darüber, welches
Gesetz ein Schandgesetz ist? Wir sollten uns mit gezücktem
Hobbes
jeden Versuchs erwehren, einzelnen Andersgläubigen das Recht
einzuräumen, gegen den Staat ihr Privatrecht geltend zu
machen. Es birgt die Gefahr des Bürgerkriegs, wenn bibeltreue
Christen für sich in Anspruch nehmen, das derzeitige Abtreibungsrecht
für ein Schandgesetz zu halten, sofern sie daran die Legitimation
für einen Gesetzesbruch knüpfen. Ein Gesetzesstaat kann nicht
dulden, daß der vorpommersche Adelsnachkomme aus München
zum Hofe seiner Ahnen fährt und ihn "besetzt", weil
er das geltende Enteignungsrecht für ein Schandgesetz hält.
Es kann auch nicht geduldet werden, daß jeder Briefträger
die Postordnung nicht beachten und eine Zeitung nicht austragen
muß, nur weil er ein Presserecht für ein Schandgesetz hält,
das die Verbreitung seiner Gewerkschaft mißliebiger Zeitungen
erlaubt. Wenn jeder dem folgen darf, was er für legitim hält,
führt das zum Ende von Legalität und Rechtsstaatlichkeit.
Recht
und Moral müssen strikt auseinandergehalten werden. Es ist eine
legalistische Selbsttäuschung, an eine reine Herrschaft des
Gesetzes ohne moralische Vorgaben zu glauben. In jedem Gesetz
steckt eine bestimmte moralische Vorentscheidung. Wer das
abstreitet, schiebt die politische Verantwortung für die
Wertsetzung und damit die Normsetzungsmacht nur von sich auf
andere, zum Beispiel auf einen Richter. Und wenn dieser anfängt
zu glauben, seine Privatmoral zum Maßstab des Rechts machen
zu dürfen, ist die Rechtssicherheit ganz am Ende. Dann urteilt
er, wie das OVG Schleswig, aus dem selbstherrlichen Bewußtsein,
daß "die jeweils urteilenden Richter letztlich nach
ihrem eigenen Verständnis entscheiden, was 'billig und gerecht'
ist."
[15]
So erfand das Gericht auf Grundlage "der
Willkür seiner ideologischen Eigenwertung der Richter"
[16]
eine im Gesetz nicht vorgesehene Unterhaltspflicht zwischen
Verlobten.
Auch
die Nürnberger Gesetze, an die Kaufmann
wohl dachte, sind nun einmal Schandgesetze erst nach wertender Höchstschätzung der Würde des Menschen schlechthin.
Aus der islamischen Scharia soll nach Überzeugung Millionen
Gläubiger folgen, daß der Religionskritiker Rushdie
todeswürdig ist. Die Scharia wäre dann auch ein Schandgesetz
- aber nur für den, der Meinungsfreiheit höher wertschätzt
als die Ehre Allahs. Sollen wir etwa gegen alle Menschen moralische
Kreuzzüge führen, die andere Werte für heilig halten als wir,
und sollen wir ihr Recht in westlichem Wertegemeinschafts-Hochmut
für verbrecherisch erklären? Dürfen wir mit unserem Moralvorurteil
an einer Völkergesellschaft teilnehmen, in der unsere Moral
und unser Recht anderen Völkern die Rechtsqualität ihres Rechts
und die Moralqualität ihrer Moral rundweg abspricht? Wer
an das moralingefüllte Pulverfaß die Lunte legt, könnte
in einer Fünfmilliardenwelt voller Verelendeter, die nichts
mehr haben als einen fanatischen Glauben, einen beachtlichen
Knall erzeugen. Wer die Gesetze eines Landes für unmoralisch
und böse hält, mag das offen aussprechen; das Recht anderer
aber für gar kein Recht zu erklären, ist der erste Schritt
zur Rechtfertigung einer globalen Interventionsethik und
eines künftigen gerechten
Krieges, der nach Lage der Dinge nur ein weiterer Weltbürgerkrieg
wird sein können. "In einem schauerlichen Sinne ist der
Bürgerkrieg ein gerechter Krieg, weil jede der Parteien unbedingt
auf ihrem Rechte sitzt wie auf einer Beute."
[17]
Daß
moralischer Normativismus zur Intoleranz führt, verdeutlichte
Carl Schmitt
exemplarisch in seinen Überlegungen zum diskriminierenden
Kriegsbegriff der Angelsachsen. [18] Dieser kannte keinen einfachen Feind,
sondern nur den Verbrecher.
"Nur gegen ein Heiliges gibt es Verbrecher. Du gegen
mich kannst nie Verbrecher sein, sondern nur ein Gegner."
[19] Der Normendiener
dagegen verwandelt jeden Feind in einen Ungläubigen, gegen
den man unter dem Zwang eines moralischen Imperativs einen
Kreuzzug unternehmen soll. Aus dem Staatenkrieg wird ein
internationaler Bürgerkrieg. Jenseits transzendenter
Moralforderungen gibt es dagegen keinen wie auch immer
gearteten Imperativ, einen Feind zu vernichten. Den
Feind muß man nicht bekämpfen, wenn die Klugheit es verbietet;
den Verbrecher aber soll man beseitigen, gegen ihn sind
alle Mittel erlaubt. Die Berufung auf normativ verstandenes Recht und Wahrheit schafft nicht etwa Frieden,
sondern macht den Krieg erst ganz erbittert und bösartig.
[20] So geschah es im Dreißigjährigen
Krieg und exemplarisch wieder im 2.Weltkrieg: Um die Werte
und die Würde ihrer jeweiligen Idee vom Menschen
an sich zu retten, verwandelten beide Seiten ihre Feinde
in Unmenschen, die man mit gutem Gewissen bombardieren oder
ausrotten durfte.
Wer
es dagegen ablehnt, Krieg als Kreuzzug für die eigene Moral
aufzufassen, wird keine iusta
causa belli akzeptieren: Es gibt keinen gerechten Krieg. "Die physische Tötung von anderen Menschen, die
auf der Seite des Feindes stehen, hat keinen normativen,
sondern nur einen existentiellen Sinn, und zwar in der
Realität eines wirklichen Kampfes gegen einen wirklichen Feind,
nicht in irgendwelchen Idealen, Programmen oder Normativitäten.
Es gibt keinen rationalen Zweck, keine noch so richtige
Norm, kein noch so verbindliches Programm,
...
die es rechtfertigen könnte, daß Menschen sich gegenseitig
töten. Wenn eine solche physische Vernichtung menschlichen
Lebens nicht aus einer seinsmäßigen Behauptung der eigenen
Existenzform gegenüber einer ebenso seinsmäßigen Verneinung
dieser Form geschieht, so läßt sie sich eben nicht rechtfertigen."
[21]
Feind ist dann nur, wer "uns die Freiheit
nehmen oder eine andere Verfassung aufzwingen will."
[22]
Diese
Sätze gelten nicht nur für den äußeren, sondern auch für den
inneren Feind. Es ist ein Mißbrauch der Moral, mit ihr einen
angeblich gerechten Krieg oder Bürgerkrieg zu rechtfertigen.
Die Beliebigkeit subjektiver Wertsetzung läßt immer neue
ideologische Götter aus ihren Gräbern steigen und Menschen
im Namen dieser Götter aufeinander losgehen. Darum wollen
seit Jahrhunderten politische Theorien den mörderischen
Kampf beenden. Wer an einen alleinigen Gott oder eine alleinige
Moral glaubt, sieht den Ungläubigen als gottlos, böse, unmoralisch
und schlechthin verwerflich an. Wie der Kirchenvater Augustin
stellt er seine Moral über Freiheit und Lebensrecht Andersdenkender:
"»Es kommt nicht darauf an, ob jemand gezwungen wird,
sondern allein darauf, wozu er gezwungen wird, ob es nämlich
etwas Gutes oder etwas Böses ist.«
[23]
Dieser Satz, der wie bei Platon die souveräne
Nichtachtung der individuellen Freiheit und subjektiven Moralität
durch den, der sich im Besitze der absoluten Wahrheit glaubt,
zum Ausdruck bringt, hat historisch zur Rechtfertigung der Ketzerverfolgungen
gedient."
[24]
Aus dieser Geisteshaltung folgten die Greuel
der Religionskriege, die Robespierre'sche
Guillotinenmoral und die Schrecken des Archipels GULAG.
Thomas
Hobbes
hatte unter dem Eindruck der Bürgerkriege seiner Zeit 1651
die Idee des Leviathan entwickelt, des über den Weltanschauungen
stehenden Staates. In einer Welt, in der keine überstaatliche
Ordnung die friedliche Austragung unterschiedlicher
Vorstellungen von Moral oder der Natur des Menschen garantiert,
sieht Hobbes keinen Sinn, die eigene Vernunft oder Moral zu
verabsolutieren und zum Naturrecht zu erklären. Solange
jeder für sich entscheidet, was als vernünftig zu gelten
hat, hebt der Vernunftanspruch des einen den Vernunftanspruch
des anderen auf.
Weil
subjektive Wertsetzung und konfessioneller Glaube beliebig
sind, kommt es zur Erhaltung des Friedens nur darauf an, irgend
eine Entscheidung zu fällen. Das ist Aufgabe des Staates,
der mit Wirkung für alle diese Entscheidung durch eine allgemeingültige
Rechtsordnung trifft und den Glaubenskrieg autoritativ beendet.
Glauben darf im Rahmen dieser Rechtsordnung noch immer jeder,
was er möchte, nur erzwingt die staatliche Ordnung den inneren
Frieden: Ein Recht zum moralisierenden Bürgerkrieg darf
es nicht geben. Damit hat Hobbes sich den anhaltenden Haß
aller Fanatiker zugezogen, die nur für ihre Wahrheit, ihre
Religion und ihren persönlichen Glauben leben und jederzeit
zu sterben bereit sind. Gelangen sie an die Macht, lösen sie
das Problem des ideologischen oder des Glaubenskrieges
auf ihre Weise natürlich auch: Dann kommt es zu jenen Bartholomäusnächten
und zu "republikanischen Hochzeiten", bei denen
in der französischen Revolution ein Mönch und eine Nonne nackt
zusammengefesselt und ertränkt wurden. Die Ketzerverfolgungen
gipfeln letztlich in der physischen Ausrottung des weltanschaulichen
Feindes, sofern dieser nicht konvertiert. Das 20. Jahrhundert
hat mit seinen Lagern zur ideologischen Umerziehung die
Vergangenheit noch übertroffen. Hobbes hatte unter dem Eindruck
geifernder Glaubensfanatiker die äußerliche Anerkennung
einer staatlichen Rechts- und Moralordnung von dem einem jeden
erlaubten inneren Glaubensvorbehalt getrennt.
Recht
und Moral spalteten sich auf: Was von der Moral sich im Recht
verkörperte, gilt für alle; im übrigen geht die innere Moral
der Bürger den Staat nichts an: Wenn wir seinen Gesetzen auch
Gehorsam schulden, brauchen wir ihm noch lange nicht in allem
zu glauben.
Er soll sich aber davor hüten, uns einen Glauben aufzwingen
zu wollen. Daß wir unsere Handlungsfreiheit als soziale Wesen
wohl oder übel einschränken müssen, läßt sich nicht vermeiden.
Es gibt aber keinen Grund, uns mehr als formalen Gesetzesgehorsam
abzuverlangen.
Im
Gefolge der französischen Revolution kehrte der Weltanschauungshaß
wieder. Seitdem gilt das Wort Lagardes: "Wir leben mitten
im Bürgerkrieg.
...
Er ist ein Kampf der Geister."
[27]
Als sich im April 1995 Konservative in einem
öffentlichen Appell dagegen verwahrten, den 8. Mai als Tag
der Befreiung zu bejubeln, reagierte ein Zentralratsvorsitzender
einer einflußreichen Kultusgemeinde nach Formulierung Eckhard
Fuhrs mit einem "politisch-moralischen Overkill"
und "erklärte den geistigen Bürgerkrieg,"
[28]
indem er Konservative als "Nazis
minus Völkermord" hinstellte. Aber nicht nur Vertreter
handfester Interessen laufen im moralischen Kettenhemd
herum. Alle Feindschaft erreicht als normative Feindschaft
"ihren Siedepunkt in Religionskriegen und in Bürgerkriegen
mit ihren juristischen, moralischen und ideologischen Verfemungen,
d.h. in der Verabsolutierung des eigenen Rechts und der damit
verbundenen Kriminalisierung des Gegners, der nicht mehr als
Mensch anerkannt wird, sondern der als Störer, Schädling oder
letztes Hindernis des Weltfriedens beseitigt werden soll."
[29]
Normativistisch
inspirierte Gesellschaftstheoretiker haben es sich darum
auch nie verkneifen können, ihre Wahrheit mit staatlichen
Mitteln dem Volke einzupflanzen. Fichte
forderte ein staatliches Erziehungswesen mit nationalistischer
Moral: Ganz im Stile des 18. Jahrhunderts und seines Erziehungsoptimismus
solle die Freiheit "so eng als immer möglich beschränkt"
und "alle Regungen unter eine einförmige Regel"
gebracht und "immerwährender Aufsicht" unterstellt
werden.
[30]
Heutige Sozialtechniker finden hier eine
gewaltige Spielwiese vor, schon unseren Kindergartenkindern
ihre Betroffenheitsneurosen aufzupfropfen. Wie Pilze schießen
die Mahnmale einer Moral als Geßlerhüte aus dem Boden,
vor denen wir uns pflichtschuldigst zu verneigen haben. Dagegen
wandte sich Schopenhauer
unverändert aktuell: "Einige deutsche Philosophaster
dieses feilen Zeitalters möchten
den Staat
verdrehn zu einer Moralitäts-, Erziehungs- und Erbauungs-Anstalt:
wobei im Hintergrunde der jesuitische Zweck lauert,
die persönliche Freiheit und individuelle Entwicklung
des einzelnen aufzuheben, um ihn zum bloßen Rade einer
Chinesischen Staats- und Religions-Maschine zu machen.
...
Dies aber ist der Weg, auf welchem man weiland zu Inquisitionen,
Ketzerverbrennungen] und Religionskriegen gelangt
ist."
[31]
Die
"ungeheuere potentielle Aggressivität" des Normativen
und Moralischen
hatte Hobbes als erster in der Neuzeit durchschaut und zugunsten
des inneren Friedens neutralisieren wollen.
[32]
Sie ist jedem normativen Wert immanent.
[33]
Kondylis
vertritt als Dezisionist die nihilistische Grundthese "von
der Relativität und Fiktivität aller Werte;"
...
wenn die objektive Geltung des Sollens wegfällt, dann kann
Zerstörung eine Folge davon sein - aber auch nicht, wenn man
als konsequenter Nihilist nicht bereit ist, aus der Zerstörung
ein neues Sollen zu machen. Daß es zwischen Nihilismus und
Zerstörung keinen notwendigen logischen Zusammenhang gibt, erhellt
aus der einfachen, historisch unbestreitbaren Tatsache, daß
das größte Leiden in der bisherigen Geschichte nicht aus der
Zerstörungslust von Nihilisten, sondern aus den Kämpfen um
Durchsetzung der jeweils 'einzig wahren' Moral oder Religion
entstand. Konzentrationslager wurden im Namen der Klasse oder
Rasse - also im Namen von bestimmten Werten und nicht unter
Berufung auf die bittere Relativität alles Menschlichen errichtet."
[34]
Diesem
fundamentalistischen Fanatismus endgültig den Garaus zu machen,
behauptet von sich die Habermas'sche Theorie der kommunikativen
Vernunft: Jeder soll glauben und sagen dürfen, was er möchte,
und man soll sich über die für alle geltenden Regeln doch einfach
einigen. "Letztlich können die privaten Rechtssubjekte
nicht in den Genuß gleicher subjektiver Freiheiten gelangen,
wenn sie sich nicht selbst, in gemeinsamer Ausübung ihrer politischen
Autonomie, über berechtigte Interessen und Maßstäbe klarwerden
und auf die relevanten Hinsichten einigen, unter denen
Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt werden soll."
[35]
Doch wer lenkt den Willensbildungsprozeß
hin zur gemeinsamen Ausübung der politischen Autonomie?
Die friedliche gemeinsame Suche nach der blauen Blume der
Vernunft und des Gemeinwohls ist eine ideologische Fiktion,
eine moderne Erlösungshoffnung, eine der letzten großen Utopien.
Wer an sie glaubt, ist so beseligt wie jeder Gläubige, und wer
nicht, ist so klug wie zuvor.
Heute
wird uns Moral permanent von oben nach unten eingetrichtert.
Sie ist der Nasenring, an dem man uns von unseren Interessen
wegzerrt und zu einem Handeln verleitet, mit dem wir uns selbst
schaden. Das andere Ende der Leine halten die modernen Talk-Schau-Helden
in der Hand und reiben uns mit depressiv-verbiesterter Miene
ein, was wir gerade noch denken dürfen. Das wird von Jahr zu
Jahr weniger. Unsere Moralvorbeter leiten ihre Anmaßung,
Betroffenheiten zu erzeugen, aus einer Humanitätsideologie
ab, deren berufene Interpreten und Inquisitoren sie selbst
sind. Unter ihrer Herrschaft würden tatsächlich die alten Götter
wieder aus ihren Gräbern steigen. Wie unmittelbar Habermas
' Positionen die Bürgerkriegslage wieder möglich machen,
zeigen seine kaum verhüllten Rechtfertigungsversuche politischer
Gewalt. Hobbes wollte durch eine staatliche Entscheidung
über die allgemeine Geltung von Gesetzen, in denen sich
eine Moral notwendig verkörpert, die Bürgerkriegsgeißel
für immer begraben. Habermas gräbt sie wieder aus: Er fordert
für jeden das Recht, "»legale Verletzungen der Legitimität
zu erkennen, um notfalls aus moralischer Einsicht auch ungesetzlich
zu handeln.« Die politische Kultur fungiert hier also gleichsam
als 'Heiliger Geist' der Rechtswissenschaft, der die Erleuchtung
bringt und das wahre Recht erkennen läßt."
[36]
Genauer gesagt ist der Heilige Geist immer
diejenige Person, die für sich die Normierungs- und Auslegungsmacht
über moralische Gebote beansprucht.
[1]
Walter Schmitt Glaeser, Über Ursachen politisch
motivierter Privatgewalt, ZRP 1995, S.56 (61).
[2]
Stirner, Der Einzige, S.116.
[3]
Pufendorf, De officio hominis, 2.Buch,
Kap.2, § 5, S.149.
[4]
Kondylis, Die Aufklärung, S.36.
[5]
Kondylis, Die Aufklärung, S.40, bzw.ders.
Metaphysikkritik, S.543, 561.
[6]
Welzel, Naturrecht und..., S.243, Kelsen,
Was ist..., S.154.
[7]
Perelman, Über die Gerechtigkeit,
S.80.
[8]
Habermas, Faktizität und Geltung, S.148.
[9]
Winterberger, Einer der Väter des modernen
Libertarismus, Criticón 1995,22.
[10]
Popper, Conjectures, 7 f., 15 f.
[11]
Kondylis, Die Aufklärung, S.47 Fußnote
6 mit weiteren Nachweisen.
[12]
Adam, Fanatische Nüchternheit, FAZ 27.1.1995.
[13]
Zitate in diesem Absatz Sibylle Tönnies,
Der leere Wertehimmel über Karlsruhe, FAZ 22.11.1996.
[14]
Kaufmann, Grundprobleme der Rechtsphilosophie,
S. 30 f., 130 f.
[15]
OVG Schleswig, Urteil vom 1.8.1991, NJW
1992, 258.
[16]
Rüthers, Die Verbindlichkeit des Unverbindlichen,
NJW 1992, 879 (880).
[17]
Carl Schmitt, Amnestie oder die Kraft des
Vergessens (1949), in: ders., Staat, Großraum, Nomos, S.218.
[18]
Carl Schmitt, Die Wendung zum diskriminierenden
Kriegsbegriff, 1938.
[19]
Stirner, Der Einzige, S.224.
[20]
Carl Schmitt, Der Leviathan, S.68.
[21]
Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen,
S.49 f.
[22]
Quaritsch, Positionen und Begriffe, S.67.
[23]
Aurelius Augustinus, Ep.93 (V 16) ad Vicentinum
[24]
Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit,
S.65.
[25]
Hobbes, Leviathan, 2.Teil 26.Kap., S.240.
[26]
Spinoza, Ethik, IV., Lehrs.37, Anm.1, S.222.
[27]
De Lagarde, Deutsches Wesen, S.176.
[28]
Fuhr, Überwunden, nicht befreit, FAZ-Leitkommentar
S.1 v.11.4.1995.
[29]
Carl Schmitt, Die geschichtliche Struktur
des Gegensatzes von Ost und West (1955), in: ders., Staat,
Großraum, Nomos, S.522 (533).
[30]
Fichte, Reden an die deutsche Nation, 8.
Rede, S.138.
[31]
Schopenhauer, Die beiden Grundprobleme
der Ethik, § 17, S.242.
[32]
Kondylis, Die Aufklärung, S.157.
[33]
Carl Schmitt, Die Tyrannei der Werte, S.56.
[34]
Kondylis, Die Aufklärung, S.494.
[35]
Habermas, Faktizität und Geltung, S.12.
[36]
W.Schmitt Glaeser, Über Ursachen politisch
motivierter Privatgewalt, ZRP 1995, S.56 (S.58); Zitat in
»...« aus: Habermas, Ziviler Ungehorsam, 1983 (Hrg.Glotz).