Im
Rückblick war die Neuzeit die Epoche, in der mit zunehmendem
empirischen Wissen die Glaubensgewißheiten nachließen. Zwar
hatte sich der Horizont geweitet: Das geozentrische Weltbild
wurde durch ein kosmologisches ersetzt. Doch warf jede beantwortete
Frage drei neue auf und trug vielen Menschen mehr Verunsicherung
ein als Gefühle der Geborgenheit. Die Diskursutopie bildet
die vorerst letzte Nachwehe der Epochen voller Erlösungshoffnungen
und Glaubensgewißheiten. In der mittelalterlichen
Scholastik hatte die certitudo
obiecti geherrscht: der Glaube an die sichere Erkennbarkeit
des unwandelbar Feststehenden. Für ewig feststehende
Objekte hatte man die abstrakte Ideen und vor allem deren
höchste gehalten: Gott. Die frühe Neuzeit ersetzte diese Gewißheit
durch die certitudo modi
procedendi, die ihre letzte Ausprägung in der Diskursutopie
gefunden hat. Inhalt dieser neuen Lehre war die Vorstellung,
durch bestimmte Verfahrensweisen sichere Gewißheit zu
erlangen: Wenn nur die richtige Prozedur des Erkenntnisgewinns
eingehalten werde, stehe am Ende die Erkenntnis der Wahrheit.
"Dem Axiom, die Gewißheit der Erkenntnis würde von
der Beständigkeit des Erkenntnisgegenstandes abhängen,
wurde entgegengehalten, daß die Zuverlässigkeit der Erkenntnis
auf die Stichhaltigkeit der dabei angewandten Erkenntnismethode
angewiesen sei."
[1]
Diese
certitudo modi procedendi beseelt alle modernen "prozeduralistischen"
Rechts-, Gerechtigkeits- und Morallehren. Sie sind einig in
der Glaubensgewißheit: Es könne Gewißheit über ein universalisierbares Recht überhaupt geben, ebenso über
die eine Gerechtigkeit
und die eine Moral.
Dieser Glaube an einen Modus procedendi als sicherer Weg
zur Erkenntnis ist in seinem Kern metaphysisch. Erst hatte
der Glaube an feste ideale Erkenntnisgegenstände abtreten
müssen. Später brachten uns moderne Physiker wie Heisenberg
selbst um die Gewißheit, über alle realen physischen Vorgänge sichere Aussagen treffen zu können.
Mit
dem prozeduralistischen Glauben, durch Anwendung diskursiver
Verfahrenstechniken wenigstens im zwischenmenschlichen
Leben so etwas wie Sicherheit über allgemeingültige
Werte oder Prinzipien gewinnen zu können, wird die vorerst
letzte Illusion abtreten, der teleologische Glaube nämlich:
Das Prozedurale selbst sei die endgültige Antwort und der
Königsweg zur Erkenntnis von irgend etwas Absolutem. Wenn
die letzte "Wahrheit" aus dem Feld geschlagen
und die Illusion der Erkennbarkeit von irgend etwas zwischenmenschlich
endgültig "Wahrem" begraben sein wird, werden wir
frei sein.
Keine
Legitimität durch Verfahrenstechnik
Alle
Kommunikationstheorien sieht Habermas "unter den Bedingungen
nachmetaphysischen Denkens" in einem spezifischen Dilemma,
in das sich jede Ethik verstricken muß, die allgemeine Gültigkeit
beansprucht. "Solange sie nämlich substantielle Aussagen
macht, bleiben ihre Prämissen dem Entstehungskontext bestimmter
historischer oder gar persönlicher Selbst- und Weltdeutungen
verhaftet; sobald sie hinreichend formal ist, besteht ihre
Substanz aber nur noch darin, das Verfahren ethischer Selbstverständigungsdiskurse
zu erläutern." Habermas ' Diskurstheorie erhebt den
Anspruch, "nachmetaphysisch" ohne amtlich zu
verordnende Wertsetzungen auszukommen: Ausschließlich
das prozedurale Zustandekommen von Gesetzen ohne irgendwelche
inhaltliche apriorische Rechtsprinzipien könne so etwas wie
Gerechtigkeit erzeugen. Ganz richtig erkennt er zunächst
an: wer für seine höchsten Güter und Werte universale Geltung
beanspruche, vergegenständliche sie zu "ansichseienden
Entitäten,"
[2] die wir uns ja dank Ockhams
Rasiermesser vom Halse halten.
Nur
"die Verfahrensbedingungen der demokratischen Genese von
Gesetzen sichert die Legitimität des gesatzten Rechts."
Alle inhaltlichen Wertsetzungen stehen angeblich zur Disposition.
Sie müssen das sogar und dürfen weder staatlich vorgegeben
noch etwa durch ein staatliches Gericht judikativ aufgezwungen
werden, sonst verwandelt sich das Verfassungsgericht "dadurch,
daß es sich von der Idee der Verwirklichung verfassungsrechtlich
vorgegebener materialer Werte leiten läßt, in eine autoritäre
Instanz." Die Wertordnungslehre des Bundesverfassungsgerichts,
die von vorgegebenen Verfassungsentscheidungen für Werte
wie der Menschenwürde ausgeht, berge die Gefahr "irrationaler
Urteile". Unter den "Bedingungen des kulturellen
und gesellschaftlichen Pluralismus" dürfe die Verfassung
nicht als eine "konkrete Gesamtrechtsordnung begriffen
werden, die der Gesellschaft a
priori eine bestimmte Lebensform überstülpt." -
Habermas steigert sich geradezu in einen kommunikativen
Begeisterungstaumel und schwärmt von einem "Pluralismus
der Überzeugungen und Interessen", der im "Verfahren
vollständig prozeduralisierter Vernunft" zur Geltung
komme. Kein Verfahrensergebnis - hier vermeidet er das
verpönte Wort Entscheidung - sei legitim, das sich nicht unter "fallibilistischem
Vorbehalt und auf der Grundlage anarchisch entfesselter
kommunikativer Freiheit" eingespielt habe. "Im
Taumel dieser Freiheit gibt es keine Fixpunkte mehr außer
dem des demokratischen Verfahrens selber."
[3]
Nähmen wir diese Utopie zum
Nennwert, spräche nichts gegen ein formal ordnungsgemäß zustandegekommenes
Gesetz, in dem mit demokratischer Mehrheit allen "Faschisten"
das Lebensrecht abgesprochen und sie auf die Guillotine geschickt
werden würden. Warum auch nicht, wenn es keine "Fixpunkte"
mehr gibt? Sokrates war schließlich auch in demokratischer Abstimmung
zum Schierlingsbecher verurteilt worden.
Tatsächlich
gleicht Habermas' Utopie der Quadratur des Kreises, und seine
kommunikative Rechtstheorie verstrickt sich in unauflösliche
Selbstwidersprüche. Der zentrale Widerspruch besteht darin,
daß sie die Voraussetzungen eines faktisch bestehenden politischen
Systems, in dem sie gelten könnte, nicht erzeugen kann, ohne
gegen ihre eigenen Prämissen zu verstoßen. Entgegen ihrem
Anspruch muß sie nämlich mehr sein als ein abstraktes Verfahren
"vollständig prozeduralisierter Vernunft"; und
zwar muß sie ihre eigenen Wirksamkeitsvoraussetzungen als
ethische Tugenden postulieren und durchsetzen. Denjenigen, die
nicht an sie glauben, werden die kommunikativen Tugenden
notfalls eingetrichtert: "in der Regel kein repressionsfreier
Vorgang."
[4]
Nicht
nur ihre Anwendungsvoraussetzungen, auch sich selbst muß die
kommunikative Vernunft entweder metaphysisch begründen - Diskurs
ist einfach gut, basta
- oder mittels eines klassischen Zirkelschlusses. Dieser könnte
etwa lauten: Die Theorie der kommunikativen Vernunft stimmt,
wie sich sofort ergibt, wenn man ihre Richtigkeit mit den
Mitteln kommunikativer Vernunft nachprüft. Entgegen solchem
Zirkelschluß kann sich die zur normativen Regel erhobene Vernunft
genausowenig an sich selbst legitimieren wie jede andere Norm:
Keine nämlich "kann sich an sich selbst legitimieren."
[5] Auf die skeptischen Fragen:
"Warum eigentlich vernünftig sein - und wer entscheidet
darüber, was konkret als vernünftig gelten darf?", vermag
sie nur treuherzig im Zirkel schließend zu antworten: "Vernünftig
müssen wir sein, weil das vernünftig ist; und was konkret vernünftig
ist, überlassen wir dem Walten der kommunikativen Vernunft."
Bereits das ist aber eine "substantielle Aussage, deren
Prämissen dem Entstehungskontext einer bestimmten historischen
und persönlichen Selbst- und Weltdeutungen verhaftet ist,"
wie Habermas - bezogen auf andere - selbst formuliert.
Ohne
es offen einzugestehen, geht Habermas von allen denjenigen Wertprinzipien
aus, ohne die man in der zwischenmenschlichen Wirklichkeit
gar keinen Diskurs führen kann: Konsensfähigkeit, Rationalität,
Friedfertigkeit und andere mehr. In der Wirklichkeit findet
er eine willkürliche Fülle von ethisch Relativem vor. Dieses
ethisch Kontingente "schickt er durch die formenden Prozesse
des Diskurses, an deren Ende zufällig genau das herauskommt,
was in den Augen einer materialen Wertethik vorgegeben ist.
Sollte ein Diskurs etwas anderes, weniger Wertvolles ergeben,
so erklärt Habermas das damit, daß der Diskurs fehlerhaft war.
Nur der ideale Diskurs erzeugt richtige Ergebnisse, sagt er
- und gelangt so durch die Hintertür denn doch in die Sphäre
des Idealen, die 'unter den Bedingungen nachmetaphysischen
Denkens' eigentlich tabu ist. Hysteron
proteron nannten die Griechen solche Schlüsse - das Abgeleitete
als erstes."
[6]
Die
Diskurstheorie erhebt konkret den Geltungsanspruch derjenigen
Menschen, die ihre Identität im kommunizierenden Diskurs finden
und deren gesellschaftlicher Einfluß unter den Bedingungen
des immerwährenden Gesprächs wächst. Nur scheinbar ersetzen
sie die konkrete Wertentscheidung und die Normsetzung durch
eine sich selbst steuernde kommunikative Vernunft. Es gibt
nämlich überhaupt keine kommunikative Vernunft als wirklich
existierende oder steuernde Person. Die Vernunft oder die
Kommunikation oder den Diskurs gibt es nicht - sie sind nichts
als Begriffe, ein Hauch der Stimme, eine Fiktion. Es gibt
nur Menschen, die ein bestimmtes Tun für vernünftig halten,
es gibt Menschen, die miteinander sprechen und so ihren Einfluß
gegeneinander mehr oder weniger erfolgreich geltend machen.
Der "ideale Diskurs" ist "nur ein Denkprozeß",
der "sich allein in den Köpfen der Diskursethiker abspielt
und prinzipiell keine Inhalte hat."
[7]
In
der Nachfolge Rousseaus und seiner Idee des Gesellschaftsvertrages
fingiert das Vertragsmodell, zwischenmenschliches Recht komme
durch freie Übereinkunft aller Rechtsgenossen zustande. Das
"bedeutet keineswegs eine Beschreibung dessen, wie
Recht und Staat wirklich entstanden sind, sondern sie stellt
ein fiktives Gedankenexperiment dar, durchschaut Kaufmann"
[8] Ebenso gehe das Diskursmodell
vor: "Auch hier werden die Regeln in einer fiktiven Situation,
der 'idealen Sprechsituation', gewonnen, auch hier ist der
Konsens nur ein gedachter." Aus Fiktionen können aber
immer wieder nur Fiktionen oder schlimmeres folgen, nicht Realitäten.
Eine aus einer Fiktion gewonnene Norm kann ihrerseits nicht
mehr als eine Fiktion sein. Schon Platon hatte uns mit den
Ideen und den Ideen von den Ideen gequält. Auf jeder erklommenen
Abstraktionsebene meinte er der Wirklichkeit näher zu kommen.
Tatsächlich entfernen wir uns aber mit zunehmender Abstraktion
von der Realität und gelangen in ein Wolkenkuckucksheim,
in dem die Fiktionen, die Utopien und die Geister der historischen
Götter spuken. So bleibt auch die Diskurstheorie entweder
eine Utopie mit sozialem Sollwert, oder aber, wenn eine konkrete
Rechtsordnung wirklich auf ihr beruhen würde, ginge sie
ausschließlich auf den existentiellen Willen derjenigen
Menschen zurück, die sie zu ihrem Nutzen erlassen haben. Bisher
hat es noch niemanden gegeben, der die Überzeugung, diese
Theorie sei ihm nützlich, mit der für ihre praktische Durchsetzung
nötigen sozialen Macht verbinden konnte.
Die
tatsächlich menschliche Entscheidung über die Letztgeltung
einer Norm hinter Verfahrensfragen zu verbergen, heißt seine
Umwelt zum Narren halten. Eine Rechtsordnung, in der als Norm
nur gilt, was durch allseitige Kommunikation unter dem Vorbehalt
der Nachprüfung durch die führenden Rationalisten rechtsförmig
für vernünftig und zustimmungsfähig erklärt wurde,
[9] muß gestiftet werden wie
jede andere Rechtsordnung auch. Wie jede Ordnung gilt sie
nicht von allein, sondern kraft Entscheidung derjenigen Personen,
die ihr durch ihren übereinstimmenden Rechtssetzungswillen
Geltung verschaffen. Sie gelten also nicht allein aufgrund
der Unterstellung eines rational erzielten Einverständnisses
als legitim, sondern - mit den Worten Max Webers - auch 'kraft
Oktroyierung aufgrund einer als legitim geltenden Herrschaft
von Menschen über Menschen - und Fügsamkeit.'
[10] Dagegen kann nicht eingewandt
werden, das Kriterium der inhaltlichen Richtigkeit und
damit Maßstab der Legitimation einer Norm sei der im Verfahren
gewonnene Konsens.
[11] Fragen der materiellen
Normrichtigkeit können eben nicht dadurch beantwortet werden,
wobei noch dazu verschwiegen wird, wer über das konkrete anzuwendende
Verfahren entscheidet, in dem der Konsens gebildet werden
soll. Darauf allein kommt es aber an.
Der
Denkfehler der Kommunikationstheorie wird sichtbar, wenn Habermas
die prozedurale Offenheit, die normative Neutralität und die
Unparteilichkeit des Diskurses beschwört: "In einer
pluralistischen Gesellschaft wird die Theorie der Gerechtigkeit
nur dann auf Akzeptanz rechnen dürfen, wenn sie sich auf
eine Konzeption beschränkt, die im strikten Sinne nachmetaphysisch
ist, nämlich vermeidet, im Streit konkurrierender Lebensformen
und Weltanschauungen Partei zu ergreifen."
[12]
Habermas erkennt nicht, daß
sich seine Ratio nur immer selbst bestätigt und daß er mit
seinen Zirkelschlüssen selbst Partei ist, als Herold einer
mit anderen konkurrierenden, der kommunikativen, Lebensform
auftritt und sich entsprechend verbissen aufführt: Nicht
unparteiisch und neutral, sondern mit metaphysischem Pathos
verkündet er sein Gut und Böse, seine Moral, seine Vernunft.
"Der Feind ist das prä-, post-, gar anti-moderne Denken.
Die Moderne, zu Habermas' Leidwesen unvollendet, ist ihm
identisch mit der Aufklärung und beide wiederum mit dem okzidentalen
Rationalismus. Bei solch ungenauer Optik ist die Zahl der
feindlichen Monster groß, auf die Habermas immer blindwütiger
einschlägt."
[13]
Günter Maschke
hat bereits 1987 das wesentliche zu Habermas Theorie der kommunikativen
Vernunft gesagt: "Es ist ... offenkundig, daß Habermas' gesamte Theorie
auf der Illusion beruht, die auf ein relativ homogenes und eng
begrenztes Publikum bezogenen Diskussionsprinzipien ließen
sich, wie mit dem Storchenschnabel, auf die gesamte Gesellschaft
übertragen ... und auf der noch stupenderen Illusion, in
diesem Prozeß könne und müsse es dann um Wahrheit gehen."
Wer die inhaltliche Legitimität einer Norm vollständig auf
die Frage ihres prozeduralen Zustandekommens reduziert,
muß gegenüber allen Wert inhaltlich gleichgültig werden.
Wenn allein die Methode des kommunikativ erzielten Konsenses
die Richtigkeit der Norm verbürgte, "wäre jede aufgrund
korrekter Prozeduren gefällte Mehrheitsentscheidung demokratisch,
unter Umständen auch der Entschluß, alle Rothaarigen hinzurichten."
[14]
Habermas
möchte diesem Dilemma entgehen, indem er das beliebige prozedurale
Diskursergebnis unter den Vorbehalt der Nachprüfung durch
die eigene, wertgebundene Vernunft stellt. Dieses Vorgehen ähnelt im Ergebnis demjenigen
Kants:
[15] Auch der von diesem aufgestellte
kategorische Imperativ ist "offenbar noch nicht das Moralprinzip
selbst, sondern erst eine heuristische Regel dazu, d.h. eine
Anweisung, wo es zu suchen sei."
[16] "Allerdings nimmt
er nicht, wie dieser, eine vernunftrechtliche Grundnorm an,
die - rechtsstaatliche Minimalbedingungen vorausgesetzt
- gebietet, den positiven Gesetzen Folge zu leisten, wie ungerecht
immer sie seien."
[17] Habermas' "Verfahren
legitimer Rechtsetzung ... besagt nämlich, daß nur die juridischen Gesetze
legitime Geltung beanspruchen dürfen, die in einem ihrerseits
rechtlich verfaßten diskursiven Rechtsetzungsprozeß die Zustimmung
aller Rechtsgenossen finden können."
[18]
Indem er die Normengeltung unter
den Vorbehalt stellt, daß diese vernünftigerweise die Zustimmung
der Vernünftigen finden können, katapultiert er sich als rationalistischer
Norminterpret wieder an den nervus rerum: Die Herrschaft der Vernunft
auszurufen, indem auf die Zustimmungsfähigkeit seitens aufgeklärter
Bürger abgestellt wird, unterwirft die konkrete Entscheidung
über das, was ein aufgeklärter Bürger in
concreto für zustimmungsfähig halten darf, der Entscheidung
des Rationalisten. Die Geltung einer "transzendenten
Vernunftautorität" weist Habermas
weit von sich
[19]
, und mit Recht: in Wahrheit
herrschen unter Geltung der Vernunft konkrete Menschen:
Die
Habermas'sche Herrschaft der
zustimmungsfähigen Normen führt, wie die der Vernunft nach Carl Schmitts
scharfsinniger Bemerkung, in letzter Konsequenz nur zur Diktatur
der führenden Rationalisten.
[20]
Eine derartige Vernunftdiktatur
hat es im Verlauf der französischen Revolution zeitweilig
gegeben, und namens der Göttin Vernunft herrschten diejenigen Menschen, die verbindlich zu bestimmen
hatten, was konkret als vernünftig gelten durfte. Ihre intellektuelle
Ausformung hatte diese Lehre von Mercier de la Rivière
erfahren, der 1767 aus "allgemeinsten Vernunftprinzipien"
die Forderung nach einer Vernunftsdiktatur offen erhob:
"Die Vernunft diktiert. Ihr Despotismus hat nicht den
Zweck, die Menschen zu Sklaven zu machen, sondern im Gegenteil
ihnen wahre Freiheit und culture zu bringen.
...
Aber es bleibt trotzdem ein persönlicher Despotismus, nämlich
desjenigen, der die evidente Wahrheit erkennt. Wer die richtige,
natürliche und wesentliche Einsicht hat, darf gegenüber jedem,
der sie nicht hat oder sich ihr verschließt, Despot sein."
[21]
Weil er sich mit der Vernunft
in vertrauter Einigkeit weiß, duldet er keinerlei Widerspruch.
Dazu neigen besonders Theoretiker der Vernunft, die noch nie
einen tatsächlichen zwischenmenschlichen Konflikt lösen
mußten. "Besonders befällt diese Krankheit die Männer
im Dämmer der Studierstube, die im Bücherstaub der Scholastik
aufgewachsen sind und einsam ihren Spekulationen nachhängen.
Bei denen gilt als Todfeind, wer ihre Überzeugungen nicht
als Orakelsprüche nimmt."
[22]
Die
Paradoxa der Diskursutopie
Die
Kommunikationstheorie ist eine Variante des Vernunftglaubens.
Ihre nicht hinterfragbare Voraussetzung ist es, daß Anwendung
von Vernunft immer vernünftig ist. Die verabsolutierte Vernunftstheorie
kann nicht die Frage beantworten, warum es nicht im Einzelfall
vernünftig sein kann, unvernünftig zu sein. Zweifellos ist
das Leben ohne Vernünftigsein manchmal viel lustiger. Während
der Vernunftgläubige seine über staubtrockenen Büchern begriffsalbinotisch
geröteten Augen reibt und der Moralist mit verbiesterter
Miene seiner Hörergemeinde die letzten Feinheiten seiner Diskursmoral
vornuschelt, läßt sich der Jeck lieber den Orden wider den
tierischen Ernst umhängen und glaubt an kein Amen, sondern
nur an sein Alaaf und Helau. Sie alle sind wenig flexibel, wenn
sie außer ihrem jeweiligen Gott keinen anderen haben dürfen.
Wer sich zum Dogmatiker und zum Gefangenen seiner eigenen
Wertentscheidungen macht, ist nicht frei, auch einmal fünf gerade
sein zu lassen. Normativistische Dogmatiker sind aber nicht
nur für sich selbst gefährlich, weil sie dem Käfig ihrer
eigenen Hypothesen nicht entkommen können. Ihr moralischer
Machtrausch bildet eine Gefahr für ihre Mitmenschen. Ihr Dogmatismus
verkleidet sich heute als Kritik:
[23] In der Nisthöhle seiner
Moral durfte er nur Gewissen haben, hat sich aber daraus emporgeschwungen und will nichts
weniger als das Gewissen selbst sein.
Für
die Kommunikationstheorie sind alle Grundwerte aller Menschen,
die nicht die Kommunikationstheorie vertreten, disponibel.
Sie behauptet grundsätzlich von sich, nur eine neutrale Verfahrenstechnik
darzustellen, so daß sie keine anderen Wertsetzungen beinhaltet
als den einzigen des Diskurses. Damit ordnet sie also alle
axiomatischen Werte derjenigen Menschen ihren eigenen Werten
unter, die nicht den Diskurs als obersten Wert haben. Folglich
erklärt sie aber die zentralen Grundwerte der Nichtdiskursgläubigen
für disponibel, womit sie deren metaphysische Todfeindschaft
auf sich zieht: Weder wird der religiöse Mensch ein Bedürfnis
verspüren, über seinen Gott zu diskutieren - er wird ihn
vielmehr verkünden! - noch wird der fundamentalistische
Ökologe über die Berechtigung der Artenvielfalt oder die metaphysisch
transzendierte Natur diskutieren, oder aber ein ausgesprochener
Patriot sein Leben, das Leben seiner Familie oder seine Existenz
zur diskursiven Disposition stellen. Wer sich also darauf
einläßt, handelt töricht, denn man verhandelt nicht über seine
eigene Identität oder sein eigenes Leben. Indem die Diskurstheorie
andere Weltanschauungen dazu einlädt, ihren Wahrheitsanspruch
aufzugeben, verlangt sie ihnen nichts weniger ab als ihre
Selbstaufgabe zugunsten des Glaubens an den Diskurs. Religiöse
und andere metaphysische Weltbilder verlieren ihren fundamentalistischen
Charakter nur in der Wunschvorstellung des Diskurstheoretikers
Habermas
.
[24] Würden sie seinem Rat
folgen und sich "auf die fallibilistischen Voraussetzungen
des säkularisierten Denkens einlassen," würden sie ebenso
ihren Wahrheitsanspruch aufgeben wie ein Diskurstheoretiker,
der die Existenz einer göttlichen Wahrheit anerkennt.
Alle
anderen Grundwerte anderer Menschen können sich nicht auf den
Anspruch der Kommunikationstheorie einlassen, ohne sich selbst
aufzugeben. Indem sie beginnen, über sich selbst oder ihren
obersten Wert zu diskutieren, haben sie bereits den Diskurs
als übergeordneten Wert akzeptiert. Damit befinden sich alle
diese Fundamentalisten aber in guter Gesellschaft des Diskurstheoretikers,
der auch über alles diskutieren möchte. Nur daß die Vertreter
des totalen Diskurses über die Berechtigung der Diskussion
im allgemeinen oder des diskursiven Verfahrens im besonderen
diskutieren oder dieses argumentativ in Frage stellen
lassen, wurde bisher nicht berichtet. Damit teilt die Kommunikationstheorie
das Schicksal, das dem Liberalismus und seiner pluralistischen
Theorie in allen seinen Anwendungsbereichen widerfährt:
Sie hebt sich in ihren Konsequenzen selbst auf. Beginnen
wir also über ihre Berechtigung zu diskutieren!
Auch
halten es weder die Kommunikationstheoretiker noch die Kommunikationspraktiker
in den Massenmedien für nötig, sich etwa durch Diskurs mit jenen
unreinen Geistern zu beflecken, die nicht dem Kultus des neuen
Diskursgottes angehören. Man redet nicht mit jenen, sondern
allenfalls noch über sie wie über unheilbar Kranke, deren
Gebrechen durch die Kunst der Gesellschaftsveränderung allmählich
aussterben sollen. Auch die umgekehrte Vorstellung ist utopisch:
Selbst die Kommunikationsfreudigsten reden durchaus nicht
mit jedem; es gibt vor allem viele, die überhaupt nicht kommunizieren
wollen, um ihre Konflikte zu lösen, und schon gar nicht mit
Kommunikationsaposteln. Wenn also die Antagonisten der
sprachlosen Massengesellschaft wieder mit Keulen aufeinander
losgehen? Wer redet denn heutzutage miteinander, um zu
gemeinsamen Normen zu kommen? Geredet wird nur jeweils innerhalb
eng umgrenzter Lager, nicht aber zwischen den politischen
Lagern. Die kommunikative Theorie kann sich nur selbst erklären,
also die internen Abläufe innerhalb derjenigen Gruppen, die
den Gesetzen des Diskurses gehorchen.
Ihre
Behauptung, sie kenne keine inhaltlichen Wertvorgaben und
sei weltanschaulich neutral, ist zwar Bestandteil ihres eigenen
ideologischen Selbstverständnisses. Wäre sie aber wirklich
wertneutral und würde sich auf die Verfahrensfragen beschränken,
würde sie das Risiko ihrer eigenen Abschaffung eingehen.
Dagegen sträubt sie sich aber "intuitiv": "Eingegrenzt
wird das ins kommunikative Handeln eingebaute Risiko durch
jene intuitiven Gewißheiten, die sich fraglos von selbst verstehen,
weil sie von allen kommunikativ verfügbaren und mit Absicht
mobilisierbaren Gründen entkoppelt sind. ... Indem die kommunikative Verfügung über Gründe
und die Mobilisierung von Gründen angehalten und damit Kritik
stillgestellt wird, bilden die autoritativ ausgezeichneten
Normen und Werte für die kommunikativ Handelnden einen Datenkranz,
der dem Problematisierungssog ihrer Verständigungsprozesse
entzogen bleibt."
[25]
War
das klar genug ausgedrückt? Dieses kommunikationsfeindliche
Kauderwelsch soll bedeuten, daß auch die Diskurstheorie ohne
"einen Datenkranz" verordneter Normen nicht auskommt,
an die man einfach glauben muß - "intuitiv" eben.
Carl Schmitt hat sie einmal als die gemeinsame, nicht diskutierte
Grundlage bezeichnet, auf der die Diskussion zur Wahrheitsfindung
beruht.
[26] Es muß über alles diskutiert
werden, nur die Diskussion selbst darf nicht zur Diskussion
stehen. Im übrigen sind die intuitiven Gewißheiten der Kommunikationstheorie
mit dem verwandt, was das historische Naturrecht für a priori vernünftig hielt. Mit der Naturrechtstheorie teilt die
Theorie der kommunikativen Vernunft das Dilemma, daß unterschiedlichen
Erfahrungssubjekten ganz unterschiedliche Grundgewißheiten
als a priori vernünftig oder als intuitiv
gewiß erscheinen. Was in
concreto als intuitiv gewiß oder a
priori vernünftig erscheint, ist eine Frage vorausgehender
wertender Entscheidung. Über ihre ideologischen Prämissen läßt
auch die Theorie der kommunikativen Vernunft offenkundig
keine Diskussion zu, sondern stattet sie mit autoritativer
Geltung aus. Es herrscht in der Konsequenz, wer darüber entscheidet,
welche konkreten Fragen nicht zur Diskussion stehen.
Diese
Entscheidungen trifft Habermas, indem er sie als "intuitive
Gewißheiten dem Problematisierungssog entzieht."
Nur vordergründig läßt er es "dabei bewenden, daß es
für jeden Diskurs aufgrund des besten Arguments eine Lösung
gibt, ohne uns aber Hinweise darauf zu geben, wie diese Lösung
aussehen kann, das heißt genauer, welche individuelle Meta-Ordnung
die höchste Priorität erhält."
[27]
Wer die hinter Habermas'
nur angeblich inhaltlich "leeren" Verfahrenskriterien
stehenden apriorischen Wertsetzungen nicht sieht, geht seiner
funktionalistischen Fiktion auf den Leim, und genau das
soll er ja auch. So wendet Kaufmann
[28] gegen das Diskursmodell
nur ein: Um seine Unbestimmtheit und inhaltliche Leere zu
beheben, wäre eine Theorie der Priorität erforderlich, die
Habermas aber nicht vorlege. Tatsächlich aber gibt es eine
solche Priorität für Habermas doch: seine letzten metaphysischen
Gewißheiten. Diese bestehen - typisch liberal - im Diskurs
selbst und einem Naturrecht, das ihn bis in alle Ewigkeit beschützen
soll. Der Diskurs setzt sich selbst als letzten Zweck. Darum
ist es zwecklos, die Diskursutopie nach materiellen Wertinhalten
zu befragen. Sie schämt sich ihrer, weil sie ihrem Selbstverständnis
widersprechen. Offiziell möchte die Diskurstheorie die reine
Lehre der Vernunft selbst sein. Das Prinzip der Dezision
aus Furcht vor ihren Konsequenzen ad
infinitum zu suspendieren, ist letztes Motiv aller
prozeduralen Theorien und genügt sich selbst als Wert vollständig.
"Religion wird zu einer Frage der diskursiven Überredung,
der Diskurs dagegen zur Glaubenssache."
[29]
Habermas'
'intuitive Gewißheiten' aber haben es in sich: Wer von einer
erschaubaren Wertordnung spricht, von seiner Intuition, der
Wesenserkenntnis oder der Ideenschau, läßt dahinter immer
die platonische Ideenlehre erkennen, die jedem normativen
Naturrechtssystem zugrunde liegt.
[30] Wie subjektiv alles angeblich
objektive Naturrecht ist, entlarvt sich kraß, wenn es eingestehen
muß: "Diese letzte rechtliche Ordnung kann nicht wissenschaftlich
zwingend bewiesen werden. ... Wohl kann sie durch die redliche Anspannung
der Vernunft und des Gewissens ... mit verhältnismäßig großer intuitiver Sicherheit
ergriffen werden. ... Das Kriterium ihrer Wahrheit ist das Gefühl
innerer Gewißheit, das sie vermitteln."
[31]- Dieses wohlige Gefühl
dürfen wir den Naturrechtlern gerne lassen. Sie teilen es mit
Habermas, aber auch mit Stalin oder Goebbels, die sich ihrer
Wahrheit mindestens so gewiß waren wie alle, die ihr Wertgefühl
als Inbegriff einer objektiven Ordnung ausgeben.
Der
metaphysische Kern der Diskurstheorie begründet den liberalen
Glauben: Die pluralistische Konkurrenz verschiedener Normen
und Lebensentwürfe führe zum Gemeinwohl, nämlich zu einem
Idealzustand, in dem "die privaten Rechtssubjekte"
in den "Genuß gleicher subjektiver Freiheiten gelangen",
weil sie sich "selbst, in gemeinsamer Ausübung ihrer politischen
Autonomie, über ihre berechtigten Interessen und Maßstäbe"
klargeworden sind und sich "auf die relevanten Hinsichten"
geeinigt haben, "unter denen Gleiches gleich und Ungleiches
ungleich behandelt werden soll:" So will Habermas der
herrschaftslosen Gesellschaft freier Rechtsgenossen nahekommen,
in der sich "die einzelnen Adressaten der Rechtsnormen
zugleich in ihrer Gesamtheit als vernünftige Urheber dieser
Normen verstehen dürfen."
[32] Die Konzeption ist in ihrem
utopischen Ansatz verwandt mit Rousseaus Fiktion eines Gesellschaftsvertrags,
der am Anfang der Staatsbildung gestanden haben soll. Der in
dieser Idee vorausgesetzte freie Kommunikationsprozeß, ohne
den sich gerade nicht "jeder Aktor" als Miturheber
fühlen darf, setzt die zunächst freie Konkurrenz der Gemeinwohlkonzeptionen
voraus. Wenn diese aber mehr sein soll als die Freiheit zum
Bürgerkrieg, muß sich die Idee der diskursiven Einigung über
Grundfragen zwangsläufig als alleinige Gemeinwohlkonzeption
empfehlen.
Darin
sieht Huba mit Recht einen Selbstwiderspruch. Ihn suche die
Pluralismuskonzeption mit der These zu verschleiern, sie gebe
lediglich Strukturprinzipien vor. Habermas hält diese Fiktion
strikt durch, indem er die Wertsetzungen, ohne die der aus
der Pluralität sich speisende Diskurs nicht funktionieren
kann, mit Euphemismen wie "intuitive Gewißheiten"
und täuschenden Bildern wie dem vom einem "dem Problematisierungssog
entzogenen Datenkranz" verbirgt. Andere Pluralismustheoretiker
sind da offenherziger. Huba hat den Fundus solcher Glaubensgewißheiten
bei anderen Pluralismustheoretikern gesichtet und bemerkt,
[33] daß sich der normative
"»Minimalkonsens« immerhin nicht nur auf »die grundlegenden
Menschenrechte"
[34]
erstrecken, sondern auch auf
politische Demokratie und Sozialstaatlichkeit
[35], überhaupt auf einen »allgemein
anerkannten Wertkodex«, der offensichtlich auch das»direkte
Wahlrecht, das Prinzip der Sozialversicherung, ... die Unentgeltlichkeit des Schulunterrichts ... u.a.m.«
[36] umfassen soll. - Kurzum,
Für die pluralistische Demokratie ist "die Geltung
eines Naturrechts unentbehrlich." Dessen Früchte
muß sie sich vom Baume der Transzendenz pflücken oder ganz auf
sie verzichten.
Hier
setzt sich die Kette der Paradoxien der Kommunikationstheorie
fort: Diese Theorie will neutral sein und nur ein Verfahren
zur vernünftigen Lösung von Dissensen zur Verfügung stellen,
bedarf für ihr Funktionieren aber materieller Normen und
ist insoweit doch nicht neutral. Diese materiellen Normen sind
konkret diejenigen diskursiven Primärtugenden, deren Anwendung
als Verfahrensbedingung des totalen Diskurses unerläßlich
sind: Habermas nennt die "vollkommene Zwanglosigkeit", die "unbegrenzte Teilnehmerschaft", die Neigung, das eigene Wohl dem
Ergebnis eines Diskurses unterzuordnen, die Bereitschaft,
dem anderen zuzuhören und andere mehr. - Die zweite unaufhebbare
Paradoxie besteht darin, daß die ganze Theorie nur sich selbst
erklären kann und unfähig ist, sich aus ihren eigenen Voraussetzungen
sozial zu etablieren: Einerseits will die Diskurstheorie "unter
den Bedingungen nachmetaphysischen Denkens" keine normativen
Inhalte verkünden,
vielmehr sollen sich "die Aktoren selbst" auf
normative Regelungen "verständigen".
[37]
Andererseits gibt sie keine
Antwort für den zu erwartenden Fall, daß sich überhaupt nicht
alle Aktoren auf die Lösung von Normkonflikten verständigen wollen. Hier bleibt der
Diskurstheorie die Wahl, für alle Zeiten prinzipientreue
graue Theorie zu bleiben oder sich durchzusetzen, indem
sie das Diskursprinzip als Primärnorm verkündet, an welches
die Aktoren sich halten müssen, und unter dessen Geltung die Aktoren sich dann auf Sekundärnormen
frei verständigen dürfen.
Und: Warum sollen sich die "Aktoren" überhaupt
einigen, wenn nicht, weil der Diskurstheoretiker das will? Wer außer ihm legitimiert den Konsens?
Nach der Diskursutopie müßte die Antwort lauten: "ein Konsens
über den Konsens. Da dies jedoch zu einem infiniten Regreß
führen würde,"
[38] muß Habermas unterstellen,
was doch erst zu beweisen wäre: die Kraft seines "besseren
Arguments," das eben darum das bessere sein soll, weil
es aus dem Diskurs gewonnen wurde.
Die
Diskurstheorie ist als Variante des Pluralitätsglaubens stolz
auf sich, weil sie ein Rezept gegen das unfriedliche Austragen
fundamentaler Konflikte zu haben glaubt. Leider gebe es ja
noch eine ganze Reihe zurückgebliebener Staaten, in denen
die Macht noch nicht durch liberale "Sozialisationsmuster"
gezähmt sei und die Menschen die entsprechende politische Kultur
noch nicht verinnerlicht haben. "Erst im Rahmen einer
solchen politischen Kultur können nämlich die konfliktreichen
subkulturellen Spannungen zwischen konkurrierenden Lebensformen,
Identitäten und Weltbildern toleriert und gewaltlos ausgetragen
werden."
[39] Doch woher nimmt die Diskurstheorie
noch die Pluralität der Lebensentwürfe, über die sie konfliktfrei
diskutieren möchte, wenn sie die konfliktfreie Austragungsmöglichkeit
von Dissensen doch gerade erst dadurch herbeigeführt hat,
daß alle Bürger durch "liberale Sozialisationsmuster"
imprägniert wurden, also konkurrierende Lebensformen und Weltbilder
gar nicht mehr da sind? Eine konfliktfreie Gesellschaft durch
Einimpfen derselben Sozialisationsmuster schaffen kann
jeder: Im katholischen Staat gibt es auch keine gewalttätige
Austragung von Fundamentalkonflikten, denn wenn alle Menschen
katholisch sind, gibt es keine Fundamentalkonflikte,
ebensowenig wie in der Monarchie, wenn allen Bürger monarchische
"Sozialisationsmuster" anerzogen worden sind usw.
Eine liberale Theorie, die sich selbst ernst nimmt und die
Voraussetzungen ihrer faktischen Geltung erzwingen will,
gerät in den altbekannten Sog pädagogischer Zwangsbeglückung
durch Erziehungsdiktatur.
Wie
zu jeder Utopie gelangt ihr Erfinder durch eine normative Gedankenkonstruktion:
Aus der Fülle der vorgefundenen Phänomene sucht er sich ein
ihm besonders passendes heraus, um es zum Eckstein eines Systems
zu machen. Bei der Diskursutopie ist dieses Realitätssplitterchen
die Beobachtung, daß zuweilen zwei Menschen miteinander reden
und sich auf ein Resultat einigen, das ihnen beiden vernünftig
erscheint. Dieses Bruchteilchen der Realität gibt es tatsächlich,
so daß dieser Schritt noch ein empirischer ist. Im zweiten Schritt
löst der Utopist es aus seinem sozialen Zusammenhang und
transzendiert es zum alleinigen ethischen Wert. Er heftet
ihn wie einen Stern an sein Ideenfirmament, himmelt sein strahlendes
Werk an und betet: "Wie schön du bist! Dir will ich künftig
dienen!" Aus der Höhe metaphysischer Gefilde läßt der
Utopist seine fixe Idee dann deduktiv herniederstrahlen,
und in seinem Lichte sieht er die Wirklichkeit mit anderen
Augen: Alles glänzt in demselben Lichte und denselben Farben
wie seine Idee. In einem dritten Schritt muß der Utopist denjenigen
Elementen der Realität zu Leibe rücken, die sich noch sperren
und verweigern.
Bei
Habermas liest sich das dann so: Seine höchstpersönlichen Vorlieben
und Abneigungen erklärt er zur "normsetzenden und prüfenden
Vernunft", die "eine prozedurale Gestalt angenommen"
hat.
[40] Nachdem er seine privaten
Normsetzungen so zur Vernunft an sich erklärt und sie als normsetzende Gestalt hypostasiert hat, konfrontiert
er sie in ihrer Pracht mit der von ihm ungeliebten Wirklichkeit.
Die "Gegenüberstellung von Ideal und Wirklichkeit"
ergibt leider, daß "empirische Untersuchungen"
die "Politik in erster Linie als eine Arena von Machtprozessen
begreifen." Über dieser häßlichen Arena zündet Habermas
nun das Licht seines Fixsternes an: "Eine rekonstruktiv
verfahrende Soziologie der Demokratie muß deshalb ihre Grundbegriffe
so wählen, daß sie in den politischen Praktiken, wie verzerrt
auch immer, bereits verkörperte Partikel und Bruchstücke einer
»existierenden Vernunft« identifizieren kann." Wohlgemerkt:
Im Lichte seiner fixen Idee betrachtet erscheint nicht etwa
die Idee selbst verzerrt, sondern die Wirklichkeit! Indem
Habermas die "Grundbegriffe so wählt", daß die
Realität in ihrem Lichte als verzerrt erscheint, kann er in
der Lebenswirklichkeit immer nur diejenigen Phänomene als
unverzerrt und der Idee gehorchend akzeptieren, die den Voraussetzungen
folgen, die er selbst willkürlich gesetzt hat. Mit anderen
Worten: Die Diskurstheorie hat den zweifelhaften Wert einer
jeden Theorie, die nur das erklären kann, was sie selbst schon
voraussetzt. Sie erklärt nur sich selbst und ihren Anwendungsbereich:
also diejenigen Lebenslagen, in denen im Gespräch Einigung
erzielt wird, sonst nichts.
Geistesgeschichtlich
greift Habermas auf Gedanken des 18. Jahrhunderts zurück:
Er benutzt nämlich den normativ hoch geladenen Vernunftbegriff
der aufklärerischen Hauptströmung. Für deren Rationalismus
war Vernunft nämlich nicht ein formales Instrument der Erkenntnis ohne
mitgebrachten Inhalt. Sie wandte sich polemisch gegen den
cartesianischen Intellektualismus und setzte dessen "kaltem"
Intellekt ihre werthafte Ratio entgegen.
[41] Descartes hatte die Moral
retten wollen, indem er ein dualistisches Weltbild mit Trennung
von Diesseits und Jenseits vertrat. Was sich intellektuell
nicht erschließen ließ wie die Moral, wurde ins Jenseits
gerettet. Dagegen wendet sich ganz im Stile der rationalistischen
Aufklärung Habermas: Im Rahmen seines monistischen Weltbildes
muß er ohne Jenseits auskommen und ist daher gezwungen, die
Geltung seiner Moral aus "dem wahren Wesen" des Diesseits
abzuleiten. Er schreibt daher "der menschlichen Natur"
selbst normative Inhalte zu. Diese kristallisieren sich um die
optimistische Behauptung, das "wahre" Wesen des
Menschen bestehe darin, Konflikte vernünftig zu lösen. Wer
sich anders verhält, handelt nicht "wahrhaft human"
und folglich unmoralisch. Die Aufgabe der Ratio kann dann
nur noch darin bestehen, dieses a priori geglaubte Menschenbild deduktiv zu rationalisieren.
[42] Solcher aufklärerischer
Rationalismus tritt also nicht für eine Erkenntnis durch
reines Denken ohne Rücksicht auf die Folgen für Werte und Moral
ein; vielmehr liegt ihm ein Bekenntnis zu einer bestimmten
Wertskala zu Grunde. Aus seiner "Sicht kann eigentlich
niemand 'wahrer' Rationalist bzw. 'wahrhaft' vernünftig
sein, wenn er sich nicht zu den fraglichen Werten bekennt."
[43]
Habermas'
diskursiver Vernunftbegriff ist also unlösbar an sein Vorurteil
vom Wesen des Menschen gebunden. Die Vernunft wird nur benutzt,
um vorgegebene Werte nachträglich zu rechtfertigen. Sie
darf sich erst nach bestimmten normativen Vorgaben betätigen,
um diese im nachhinein zu stützen, und sie darf sich nur im
Gehäuse des vorgegebenen Werterahmens einrichten. Diesen
Rahmen für seine "diskursiv gefilterte Normsubstanz"
zieht Habermas um die Ideale "von Selbstbestimmung
und Selbstverwirklichung." Wie weit die Selbst-Verwirklichung
im Einzelfall gehen darf, ergibt sich wieder aus Habermas'
normativem Vorurteil über das "wahre Wesen" des Menschen:
Weil dieses in der Anwendung von "Vernunft" besteht,
liegt die Grenze der erlaubten "Selbstbestimmung"
dort, wo die Grenze diskursiver Auseinandersetzung überschritten
wird. Die diskursive Vernunft ist also nicht inhaltsleer,
sondern hat die dienende Aufgabe, bestimmte normative
Wertvorgaben zu transportieren: Die "Kommunikationsform
diskursiver Meinungs- und Willensbildung" hat den "normativen
Gehalt eines Modus der Ausübung politischer Autonomie"
zu sichern, der inhaltlich dem entspricht, was Habermas sich
unter "Volkssouveränität und Menschenrechten"
vorstellt. Die Menschenrechte sind "der demokratischen
Selbstbestimmungspraxis der Bürger eingeschrieben"
[44], und nur innerhalb ihres
Geltungsanspruches darf die diskursive Vernunft walten.