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Die Diskursutopie

Auszug aus: Klaus Kunze, Mut zur Freiheit, 1998, S.94 ff.
(Zurück zum vorangehenden Unterkapitel: Das Dilemma der Vernunftherrschaft)

Im Rückblick war die Neuzeit die Epoche, in der mit zu­neh­men­dem em­pirischen Wis­sen die Glaubensgewißheiten nach­ließen. Zwar hatte sich der Horizont geweitet: Das geozentrische Welt­bild wurde durch ein kos­mo­lo­gi­sches ersetzt. Doch warf jede beant­wor­te­te Frage drei neue auf und trug vielen Menschen mehr Ver­un­siche­rung ein als Gefühle der Geborgen­heit. Die Dis­kurs­utopie bil­det die vor­erst letzte Nach­we­he der Epochen voller Erlösungshoffnungen und Glau­bens­ge­wiß­­hei­ten. In der mit­­tel­al­terli­chen Scho­lastik hatte die cer­ti­tudo ob­iec­ti ge­herrscht: der Glau­be an die si­che­re Erkennbarkeit des un­wan­del­bar Fest­­ste­henden. Für ewig fest­ste­hen­de Ob­jekte hatte man die abstrakte Ideen und vor allem de­ren höchste ge­halten: Gott. Die frühe Neu­zeit ersetzte diese Ge­­wiß­heit durch die cer­titudo mo­di proce­dendi, die ihre letzte Aus­prä­­gung in der Dis­kurs­uto­pie ge­fun­den hat. Inhalt dieser neuen Lehre war die Vor­stel­lung, durch be­stimm­te Verfahrenswei­sen si­che­re Ge­wiß­heit zu er­lan­gen: Wenn nur die richtige Prozedur des Erkenntnisgewinns eingehalten werde, stehe am Ende die Erkenntnis der Wahrheit. "Dem Axi­om, die Gewiß­heit der Er­kennt­nis wür­­de von der Be­stän­­dig­­keit des Er­kenntnis­gegenstandes ab­hän­gen, wur­de entgegen­ge­­hal­ten, daß die Zuverlässigkeit der Er­kenntnis auf die Stich­hal­tig­keit der da­bei ange­wand­ten Erkenntnismethode an­ge­wie­sen sei." [1]

Diese certitudo modi procedendi beseelt alle modernen "pro­ze­du­ra­­­­listi­schen" Rechts-, Gerechtigkeits- und Morallehren. Sie sind einig in der Glau­bensgewißheit: Es könne Gewißheit über ein uni­ver­sa­li­sier­ba­res Recht über­haupt geben, ebenso über die eine Gerechtigkeit und die ei­ne Moral. Dieser Glaube an einen Modus procedendi als si­che­­rer Weg zur Er­kenntnis ist in seinem Kern metaphysisch. Erst hatte der Glau­be an feste ideale Erkennt­nisgegenstände abtreten müs­sen. Spä­ter brachten uns mo­derne Physiker wie Heisenberg selbst um die Ge­wißheit, über alle realen phy­si­schen Vor­gänge sichere Aus­sa­gen tref­fen zu können.

Mit dem pro­ze­du­ra­listischen Glauben, durch An­­wen­dung dis­kur­siver Ver­fah­rens­tech­niken wenigstens im zwi­schen­­­­mensch­lichen Leben so et­was wie Si­cherheit über all­ge­mein­gül­ti­­ge Werte oder Prin­zi­pien gewinnen zu kön­nen, wird die vorerst letz­te Illusion abtreten, der teleologische Glau­be nämlich: Das Pro­ze­du­ra­le selbst sei die end­gültige Antwort und der Königs­weg zur Erkenntnis von irgend etwas Abso­lutem. Wenn die letzte "Wahr­heit" aus dem Feld ge­­schla­gen und die Illusion der Er­kenn­­bar­keit von irgend etwas zwi­­schen­­menschlich endgültig "Wah­rem" be­graben sein wird, werden wir frei sein.

Keine Legitimität durch Verfah­renstechnik

Alle Kommunikationstheorien sieht Habermas "unter den Bedin­gungen nachmeta­physischen Denkens" in einem spezifischen Di­lem­ma, in das sich jede Ethik verstric­ken muß, die allgemeine Gültig­keit be­­ansprucht. "Solange sie nämlich substantielle Aussagen macht, blei­ben ihre Prämis­sen dem Ent­ste­hungskontext be­stimmter hi­stori­scher oder gar persönlicher Selbst- und Weltdeutungen ver­haf­tet; so­bald sie hin­rei­chend formal ist, besteht ihre Sub­stanz aber nur noch darin, das Ver­­fahren ethischer Selbst­verstän­digungsdis­kurse zu er­läu­tern." Ha­­­bermas ' Dis­kurstheorie erhebt den An­spruch, "nach­me­ta­physisch" oh­ne amtlich zu verordnende Wertsetzun­gen aus­zu­kom­men: Aus­schließ­­lich das prozedurale Zustandekommen von Ge­set­zen ohne ir­gend­wel­che inhaltliche apriorische Rechtsprinzipien kön­ne so et­was wie Ge­rechtigkeit er­zeugen. Ganz richtig erkennt er zu­nächst an: wer für seine höchsten Güter und Werte universale Geltung be­an­spruche, vergegenständ­liche sie zu "ansichseienden Entitä­ten," [2] die wir uns ja dank Ockhams Rasiermesser vom Halse halten.

Nur "die Verfahrensbedin­gungen der demokratischen Genese von Ge­­set­zen si­chert die Legi­timität des gesatzten Rechts." Alle in­halt­li­chen Wertset­zungen ste­hen angeb­lich zur Disposition. Sie müssen das so­gar und dürfen we­der staatlich vorge­geben noch etwa durch ein staat­­liches Gericht judikativ aufgezwungen werden, sonst ver­wandelt sich das Verfassungs­gericht "dadurch, daß es sich von der Idee der Ver­­wirk­lichung verfas­sungs­rechtlich vorgegebener materialer Werte lei­­ten läßt, in eine autori­täre Instanz." Die Wertordnungslehre des Bun­­desverfassungsgerichts, die von vorge­gebenen Verfas­sungs­ent­schei­­­dungen für Werte wie der Menschen­würde ausgeht, berge die Ge­­fahr "irrationaler Urteile". Un­ter den "Be­din­gun­gen des kul­tu­rel­len und gesellschaftlichen Plu­ra­­lis­mus" dürfe die Ver­fas­sung nicht als ei­ne "kon­krete Ge­sam­t­rechts­ord­nung begriffen wer­den, die der Ge­sell­schaft a priori eine bestimmte Le­bens­form über­­stülpt." - Ha­ber­mas steigert sich ge­ra­dezu in einen kommunikativen Be­gei­ste­­rungs­taumel und schwärmt von ei­nem "Plu­ra­lis­mus der Über­zeu­gun­gen und In­ter­es­sen", der im "Ver­fahren voll­stän­dig pro­ze­du­ra­li­sier­ter Ver­nunft" zur Gel­tung kom­me. Kein Ver­fah­renser­geb­nis - hier ver­meidet er das ver­pönte Wort Ent­scheidung - sei legi­tim, das sich nicht unter "fal­li­bi­li­sti­schem Vor­behalt und auf der Grund­lage an­ar­chisch ent­fes­sel­ter kom­muni­kativer Frei­heit" ein­ge­­spielt ha­be. "Im Tau­mel dieser Frei­heit gibt es keine Fix­punkte mehr außer dem des de­mokrati­schen Ver­fahrens sel­ber." [3] Näh­men wir diese Utopie zum Nenn­wert, sprä­che nichts gegen ein formal ord­nungsgemäß zustan­de­ge­kom­me­nes Gesetz, in dem mit demokratischer Mehrheit allen "Fa­schisten" das Lebensrecht abge­sprochen und sie auf die Guillotine ge­schickt wer­­­den würden. Warum auch nicht, wenn es keine "Fix­punkte" mehr gibt? Sokrates war schließlich auch in demokratischer Ab­stimmung zum Schierlingsbecher verurteilt worden.

Tat­sächlich gleicht Habermas' Utopie der Quadratur des Kreises, und seine kom­munikative Rechtstheorie verstrickt sich in unauf­lös­li­che Selbst­widersprüche. Der zentrale Widerspruch besteht darin, daß sie die Voraus­setzungen eines faktisch be­ste­henden politischen Sy­stems, in dem sie gel­ten könnte, nicht erzeugen kann, ohne ge­gen ihre ei­ge­nen Prämissen zu versto­ßen. Entgegen ihrem Anspruch muß sie näm­­lich mehr sein als ein abstraktes Verfahren "vollständig pro­ze­du­ra­li­sierter Ver­nunft"; und zwar muß sie ihre eigenen Wirk­sam­keits­vor­aussetzungen als ethische Tugenden postulieren und durchsetzen. Denjenigen, die nicht an sie glauben, wer­den die kom­mu­nikativen Tugenden notfalls eingetrichtert: "in der Regel kein re­pressions­freier Vorgang." [4]

Nicht nur ihre Anwendungsvoraussetzungen, auch sich selbst muß die kommuni­kative Vernunft entweder metaphysisch begründen - Diskurs ist einfach gut, basta - oder mittels eines klassischen Zirkel­schlusses. Dieser könnte etwa lauten: Die Theorie der kommunikati­ven Vernunft stimmt, wie sich sofort ergibt, wenn man ih­re Richtig­keit mit den Mitteln kom­munikati­ver Vernunft nachprüft. Entgegen sol­chem Zirkel­schluß kann sich die zur normati­ven Regel erhobene Ver­nunft genau­sowenig an sich selbst legitimie­ren wie jede andere Norm: Keine nämlich "kann sich an sich selbst le­gitimie­ren." [5] Auf die skep­ti­schen Fragen: "Wa­rum eigentlich ver­nünftig sein - und wer ent­schei­det darüber, was konkret als vernünftig gelten darf?", ver­mag sie nur treu­herzig im Zirkel schließend zu antworten: "Ver­nünf­tig müs­sen wir sein, weil das vernünftig ist; und was konkret ver­nünftig ist, über­las­sen wir dem Wal­ten der kom­munikativen Ver­nunft." Bereits das ist aber eine "substantielle Aussage, deren Prämis­sen dem Ent­ste­hungs­kon­text ei­ner be­stimmten hi­sto­rischen und per­sönlichen Selbst- und Welt­deu­tungen verhaftet ist," wie Ha­bermas - bezogen auf ande­re - selbst formuliert.

Ohne es offen einzugestehen, geht Habermas von allen denjenigen Wert­prinzipi­en aus, ohne die man in der zwischenmenschlichen Wirk­lich­keit gar keinen Diskurs füh­ren kann: Konsensfähigkeit, Ratio­nalität, Fried­fertigkeit und andere mehr. In der Wirklichkeit findet er eine willkürliche Fülle von ethisch Relativem vor. Dieses ethisch Kontin­gente "schickt er durch die for­menden Prozesse des Diskurses, an deren Ende zufällig genau das heraus­kommt, was in den Augen einer materialen Wertethik vorge­ge­ben ist. Sollte ein Diskurs etwas anderes, weniger Wertvolles er­geben, so erklärt Haber­mas das damit, daß der Diskurs fehlerhaft war. Nur der ideale Diskurs er­zeugt richtige Ergebnisse, sagt er - und gelangt so durch die Hinter­tür denn doch in die Sphäre des Idealen, die 'unter den Bedingungen nach­meta­physi­schen Denkens' eigent­lich tabu ist. Hysteron proteron nannten die Griechen solche Schlüsse - das Abgelei­tete als erstes." [6]

Die Diskurstheorie er­hebt konkret den Geltungsan­spruch derjeni­gen Menschen, die ihre Iden­tität im kommunizierenden Diskurs fin­den und de­ren gesell­schaftlicher Ein­fluß unter den Bedingungen des im­merwähren­den Ge­sprächs wächst. Nur scheinbar ersetzen sie die konkrete Wertent­scheidung und die Normsetzung durch eine sich selbst steuernde kom­mu­nikative Ver­nunft. Es gibt nämlich über­haupt kei­ne kommunikative Ver­nunft als wirk­lich existierende oder steu­ern­de Per­son. Die Ver­nunft oder die Kommuni­ka­tion oder den Dis­kurs gibt es nicht - sie sind nichts als Begriffe, ein Hauch der Stim­­me, eine Fik­tion. Es gibt nur Men­schen, die ein bestimm­tes Tun für ver­nünftig halten, es gibt Menschen, die miteinander sprechen und so ihren Ein­fluß gegenein­ander mehr oder weni­ger erfolgreich geltend machen. Der "ideale Diskurs" ist "nur ein Denkpro­zeß", der "sich allein in den Köp­fen der Diskursethiker abspielt und prin­zipiell keine Inhalte hat." [7]

In der Nachfolge Rousseaus und seiner Idee des Gesell­schafts­ver­tra­ges fingiert das Vertragsmodell, zwischenmenschliches Recht kom­me durch freie Übereinkunft aller Rechtsgenossen zustande. Das "be­deu­tet keines­wegs eine Beschreibung des­sen, wie Recht und Staat wirk­lich entstanden sind, sondern sie stellt ein fiktives Ge­dan­ken­ex­pe­ri­ment dar, durchschaut Kauf­mann" [8] Ebenso gehe das Dis­kurs­mo­dell vor: "Auch hier werden die Re­geln in einer fiktiven Situa­tion, der 'idea­len Sprechsi­tuation', gewonnen, auch hier ist der Kon­sens nur ein ge­dachter." Aus Fiktionen können aber immer wieder nur Fik­tionen oder schlimmeres folgen, nicht Realitäten. Ei­ne aus einer Fik­tion ge­won­nene Norm kann ihrerseits nicht mehr als eine Fik­tion sein. Schon Pla­­ton hatte uns mit den Ideen und den Ideen von den Ideen gequält. Auf jeder erklommenen Abstraktionsebene meinte er der Wirk­lich­keit nä­­her zu kommen. Tatsächlich entfernen wir uns aber mit zu­neh­men­der Abstraktion von der Realität und gelangen in ein Wolken­kuckucks­­heim, in dem die Fik­­­tionen, die Uto­pien und die Geister der hi­storischen Götter spu­ken. So bleibt auch die Dis­kurstheorie ent­­we­der eine Utopie mit sozia­lem Sollwert, oder aber, wenn eine kon­krete Rechts­­­ord­nung wirklich auf ihr be­ruhen würde, ginge sie aus­­schließ­lich auf den exi­stentiellen Willen derjeni­gen Menschen zu­rück, die sie zu ihrem Nutzen er­lassen haben. Bisher hat es noch nie­man­den ge­ge­ben, der die Überzeu­gung, diese Theorie sei ihm nütz­lich, mit der für ihre praktische Durchset­zung nötigen sozialen Macht ver­binden konn­­te.

Die tat­sächlich menschliche Entscheidung über die Letzt­geltung einer Norm hinter Verfah­rensfra­gen zu verbergen, heißt seine Um­welt zum Nar­ren halten. Eine Rechtsordnung, in der als Norm nur gilt, was durch allsei­ti­ge Kom­munika­tion unter dem Vorbehalt der Nach­prü­fung durch die füh­ren­den Rationalisten rechtsförmig für vernünftig und zustimmungsfähig erklärt wurde, [9] muß gestiftet werden wie je­de andere Rechts­ord­nung auch. Wie jede Ordnung gilt sie nicht von allein, sondern kraft Entschei­dung derjenigen Perso­nen, die ihr durch ihren übereinstimmenden Rechts­setzungswillen Geltung verschaf­fen. Sie gelten also nicht allein auf­grund der Unterstellung eines ra­tional er­zielten Einver­ständ­nisses als legitim, sondern - mit den Wor­ten Max We­bers - auch 'kraft Oktroyierung auf­grund einer als legitim gel­ten­den Herrschaft von Menschen über Menschen - und Fügsam­keit.' [10] Da­­gegen kann nicht eingewandt werden, das Krite­rium der in­halt­li­chen Rich­tig­­keit und damit Maß­stab der Legitimation ei­ner Norm sei der im Verfahren gewonnene Kon­sens. [11] Fragen der mate­riellen Norm­­rich­tig­keit können eben nicht dadurch beantwortet werden, wo­bei noch dazu verschwiegen wird, wer über das konkrete an­zu­wen­den­de Ver­fahren ent­schei­det, in dem der Konsens gebildet wer­den soll. Dar­auf allein kommt es aber an.

Der Denkfehler der Kommunikationstheorie wird sichtbar, wenn Ha­ber­mas die prozedurale Offenheit, die norma­tive Neutralität und die Unpartei­lichkeit des Dis­kurses be­schwört: "In einer pluralistischen Ge­sellschaft wird die Theorie der Ge­rechtigkeit nur dann auf Ak­zep­tanz rechnen dür­fen, wenn sie sich auf eine Konzep­tion beschränkt, die im strikten Sinne nachmeta­physi­sch ist, nämlich vermeidet, im Streit konkur­rierender Le­bensformen und Weltanschauungen Partei zu ergreifen." [12] Ha­bermas er­kennt nicht, daß sich seine Ratio nur im­mer selbst bestätigt und daß er mit seinen Zirkel­schlüs­sen selbst Partei ist, als Herold einer mit anderen kon­kurrie­ren­den, der kom­munikativen, Lebensform auftritt und sich entspre­chend ver­­bissen auf­­führt: Nicht unparteiisch und neutral, son­dern mit me­ta­phy­­sischem Pathos ver­kündet er sein Gut und Böse, seine Moral, sei­ne Ver­nunft. "Der Feind ist das prä-, post-, gar anti-moderne Denken. Die Mo­der­ne, zu Habermas' Leidwesen unvollen­det, ist ihm identisch mit der Auf­klä­rung und beide wie­derum mit dem okzidentalen Ratio­nalismus. Bei solch un­genauer Optik ist die Zahl der feindlichen Mon­ster groß, auf die Habermas immer blindwüti­ger einschlägt." [13]

Günter Maschke hat bereits 1987 das wesentliche zu Habermas Theorie der kommunikativen Vernunft gesagt: "Es ist ... offenkun­dig, daß Haber­mas' gesamte Theorie auf der Illusion beruht, die auf ein relativ homogenes und eng begrenztes Publikum bezogenen Dis­kussionsprinzipien ließen sich, wie mit dem Storchen­schnabel, auf die gesamte Gesellschaft übertra­gen ... und auf der noch stupenderen Il­lusion, in diesem Prozeß könne und müsse es dann um Wahrheit ge­hen." Wer die inhaltliche Legitimität einer Norm voll­ständig auf die Fra­­ge ihres prozeduralen Zu­stande­kommens re­duziert, muß ge­gen­über allen Wert­ inhaltlich gleichgültig werden. Wenn allein die Me­thode des kommunikativ erzielten Konsenses die Rich­tig­keit der Norm ver­bürgte, "wäre jede aufgrund korrekter Pro­ze­­duren gefällte Mehr­­heitsent­scheidung demokratisch, unter Um­stän­den auch der Ent­schluß, alle Rothaa­rigen hinzurichten." [14]

Habermas möchte diesem Dilemma entgehen, indem er das be­lie­bi­ge pro­zedura­le Diskursergebnis unter den Vorbehalt der Nach­prü­fung durch die ei­gene, wertge­bundene Vernunft stellt. Dieses Vorgehen äh­nelt im Er­gebnis demjenigen Kants: [15] Auch der von diesem auf­ge­stell­te kategori­sche Impe­rativ ist "offenbar noch nicht das Mo­ral­prin­zip selbst, sondern erst eine heuristische Regel dazu, d.h. eine An­wei­sung, wo es zu suchen sei." [16] "Allerdings nimmt er nicht, wie dieser, eine vernunft­rechtliche Grundnorm an, die - rechts­staatliche Mi­ni­mal­be­din­gungen vorausgesetzt - gebietet, den po­­sitiven Gesetzen Folge zu leisten, wie unge­recht immer sie seien." [17] Ha­bermas' "Verfahren legi­timer Rechtsetzung ... besagt näm­lich, daß nur die juridischen Gesetze legitime Geltung beanspru­chen dür­fen, die in einem ih­rer­seits rechtlich verfaßten diskursiven Recht­set­zungs­prozeß die Zustim­mung aller Rechtsgenossen finden kön­nen." [18] Indem er die Normengeltung unter den Vorbe­halt stellt, daß diese vernünftigerweise die Zustim­mung der Vernünftigen finden kön­nen, katapultiert er sich als ra­tio­na­li­stischer Norm­in­terpret wieder an den nervus rerum: Die Herr­schaft der Vernunft auszuru­fen, indem auf die Zustimmungsfähig­keit sei­tens auf­geklärter Bürger abge­stellt wird, unterwirft die konkrete Ent­schei­dung über das, was ein auf­ge­klär­ter Bürger in concreto für zustim­mungs­fähig halten darf, der Ent­schei­dung des Rationalisten. Die Gel­tung einer "trans­zendenten Ver­nunft­autori­tät" weist Habermas weit von sich [19] , und mit Recht: in Wahr­heit herr­schen unter Geltung der Ver­nunft konkrete Menschen:

Die Habermas'sche Herr­schaft der zustimmungsfähigen Normen führt, wie die der Ver­nunft nach Carl Schmitts scharfsinniger Be­mer­kung, in letz­ter Konsequenz nur zur Dik­tatur der führenden Ra­tio­na­listen. [20] Eine derar­tige Vernunftdiktatur hat es im Verlauf der fran­zö­sischen Revo­lution zeit­weilig gegeben, und namens der Göttin Ver­nunft herrschten diejenigen Men­schen, die verbindlich zu bestimmen hat­­ten, was konkret als vernünf­tig gel­ten durfte. Ihre intellektuelle Aus­­for­­mung hatte diese Lehre von Mercier de la Rivière erfahren, der 1767 aus "all­ge­meinsten Ver­nunftprin­zipien" die Forderung nach ei­ner Ver­nunfts­dik­tatur offen erhob: "Die Ver­nunft diktiert. Ihr Des­po­­tismus hat nicht den Zweck, die Menschen zu Sklaven zu ma­chen, son­­dern im Gegen­teil ihnen wahre Freiheit und cul­ture zu brin­gen. ... Aber es bleibt trotz­dem ein persönlicher Despotismus, näm­lich desje­ni­gen, der die evi­dente Wahrheit erkennt. Wer die richtige, natürliche und we­sentli­che Einsicht hat, darf gegenüber jedem, der sie nicht hat oder sich ihr ver­schließt, Despot sein." [21] Weil er sich mit der Ver­nunft in vertrauter Einig­keit weiß, duldet er keiner­lei Wider­spruch. Da­zu neigen besonders Theoreti­ker der Vernunft, die noch nie ei­nen tatsäch­lichen zwi­schenmensch­lichen Konflikt lösen mußten. "Be­son­ders be­fällt diese Krankheit die Männer im Dämmer der Studierstube, die im Bücher­staub der Scho­lastik aufgewachsen sind und einsam ihren Spekulatio­nen nachhän­gen. Bei de­nen gilt als Tod­feind, wer ihre Überzeugun­gen nicht als Orakelsprüche nimmt." [22]

Die Paradoxa der Diskursutopie

Die Kommunikationstheorie ist eine Variante des Vernunft­glau­bens. Ih­re nicht hinterfragbare Voraussetzung ist es, daß Anwendung von Vernunft immer vernünf­tig ist. Die verabsolutier­te Vernunfts­theorie kann nicht die Frage beantworten, warum es nicht im Ein­zel­fall vernünftig sein kann, un­vernünftig zu sein. Zweifellos ist das Le­ben ohne Vernünftigsein manch­mal viel lustiger. Während der Ver­nunft­gläubige seine über staubtrockenen Bü­chern be­griffs­albinotisch ge­röteten Augen reibt und der Moralist mit ver­bie­sterter Miene seiner Hö­rergemeinde die letzten Feinheiten seiner Dis­kurs­mo­ral vor­nu­schelt, läßt sich der Jeck lieber den Orden wi­der den tieri­schen Ernst umhängen und glaubt an kein Amen, sondern nur an sein Alaaf und Helau. Sie alle sind wenig flexibel, wenn sie außer ih­rem je­wei­li­gen Gott keinen anderen haben dürfen. Wer sich zum Dog­­matiker und zum Gefange­nen sei­ner eigenen Wertentscheidungen macht, ist nicht frei, auch einmal fünf gerade sein zu lassen. Normati­visti­sche Dog­matiker sind aber nicht nur für sich selbst ge­fähr­lich, weil sie dem Kä­fig ihrer eigenen Hypothesen nicht entkommen kön­nen. Ihr mo­ra­li­scher Machtrausch bildet eine Gefahr für ihre Mit­men­schen. Ihr Dog­ma­tis­mus verkleidet sich heute als Kritik: [23] In der Nist­höhle seiner Mo­­ral durfte er nur Gewissen haben, hat sich aber dar­aus em­por­ge­schwun­­gen und will nichts weniger als das Gewissen selbst sein.

Für die Kommunikationstheorie sind alle Grundwerte aller Men­schen, die nicht die Kommunikationstheorie vertreten, dis­ponibel. Sie be­hauptet grund­sätzlich von sich, nur eine neutrale Ver­fah­renstechnik darzustellen, so daß sie keine anderen Wertsetzungen be­inhaltet als den einzi­gen des Diskurses. Damit ord­net sie also alle axio­matischen Werte derjenigen Menschen ihren ei­genen Werten unter, die nicht den Dis­kurs als obersten Wert haben. Folg­lich erklärt sie aber die zentra­len Grund­werte der Nicht­diskurs­gläubigen für disponibel, womit sie deren metaphysische Tod­feind­schaft auf sich zieht: Weder wird der re­ligi­öse Mensch ein Bedürfnis ver­spü­ren, über seinen Gott zu disku­tie­ren - er wird ihn viel­mehr ver­künden! - noch wird der funda­men­ta­li­stische Ökologe über die Be­rechti­gung der Artenvielfalt oder die me­ta­physisch transzendierte Na­tur diskutie­ren, oder aber ein aus­ge­­spro­chener Pa­triot sein Leben, das Leben seiner Familie oder seine Exi­­stenz zur dis­kursiven Dis­position stellen. Wer sich also darauf ein­läßt, handelt töricht, denn man ver­handelt nicht über seine eigene Iden­­tität oder sein eigenes Le­ben. Indem die Dis­kurstheorie andere Welt­­­an­schauungen dazu einlädt, ihren Wahr­heits­anspruch auf­zu­ge­ben, ver­langt sie ihnen nichts weniger ab als ih­re Selbstaufgabe zu­gun­­sten des Glaubens an den Diskurs. Religiöse und andere me­ta­phy­si­sche Weltbilder verlieren ihren fun­da­men­ta­li­sti­schen Charakter nur in der Wunschvorstellung des Dis­kurs­theo­re­ti­kers Ha­ber­mas . [24] Wür­den sie seinem Rat folgen und sich "auf die fal­libi­listischen Vor­aus­set­zun­gen des säkularisierten Denkens ein­las­sen," würden sie eben­so ih­ren Wahrheits­anspruch aufgeben wie ein Dis­kurstheoretiker, der die Exi­stenz einer göttli­chen Wahrheit an­erkennt.

Alle anderen Grundwerte anderer Menschen können sich nicht auf den An­spruch der Kommunikationstheorie einlassen, ohne sich selbst aufzu­ge­ben. Indem sie be­ginnen, über sich selbst oder ihren obersten Wert zu dis­ku­tieren, haben sie bereits den Dis­kurs als übergeordneten Wert akzeptiert. Damit be­finden sich alle diese Fundamentalisten aber in guter Ge­sellschaft des Dis­kurs­theo­re­ti­kers, der auch über alles dis­ku­tieren möchte. Nur daß die Ver­treter des totalen Diskurses über die Be­­rechti­gung der Diskussion im all­ge­meinen oder des dis­kursiven Ver­­fah­rens im be­sonderen dis­ku­tie­ren oder dieses ar­gu­men­tativ in Fra­ge stellen las­sen, wurde bisher nicht berich­tet. Damit teilt die Kom­muni­ka­tions­theorie das Schicksal, das dem Li­bera­lismus und sei­ner plura­li­stischen Theorie in allen sei­nen An­wendungsbe­rei­chen wi­der­fährt: Sie hebt sich in ihren Kon­se­quen­zen selbst auf. Begin­nen wir al­­so über ihre Berechti­gung zu diskutie­ren!

Auch halten es weder die Kommunikationstheoretiker noch die Kom­mu­ni­kati­onspraktiker in den Massenmedien für nötig, sich etwa durch Diskurs mit jenen un­reinen Geistern zu beflecken, die nicht dem Kultus des neuen Diskursgottes angehö­ren. Man redet nicht mit jenen, sondern allenfalls noch über sie wie über unheilbar Kran­ke, de­ren Gebrechen durch die Kunst der Gesellschafts­verän­derung all­mäh­lich aussterben sollen. Auch die umgekehr­te Vorstellung ist utopisch: Selbst die Kom­munikati­onsfreudigsten reden durchaus nicht mit je­dem; es gibt vor allem viele, die überhaupt nicht kom­munizieren wol­len, um ihre Konflikte zu lösen, und schon gar nicht mit Kom­mu­ni­ka­tions­aposteln. Wenn also die Antagonisten der sprachlosen Mas­sen­gesellschaft wie­der mit Keulen aufeinander los­ge­hen? Wer redet denn heut­zu­tage miteinan­der, um zu gemein­samen Normen zu kom­men? Ge­re­det wird nur jeweils innerhalb eng umgrenz­ter Lager, nicht aber zwi­schen den politi­schen La­gern. Die kommuni­kative Theorie kann sich nur selbst er­klären, also die internen Abläufe innerhalb der­je­ni­gen Gruppen, die den Ge­setzen des Diskur­ses gehor­chen.

Ihre Behauptung, sie kenne keine inhalt­lichen Wert­vor­ga­ben und sei weltan­schaulich neutral, ist zwar Bestandteil ihres eigenen ideo­lo­gi­schen Selbstverständ­nisses. Wäre sie aber wirklich wertneutral und wür­de sich auf die Verfahrensfragen be­schränken, würde sie das Ri­si­ko ihrer eigenen Ab­schaffung einge­hen. Dagegen sträubt sie sich aber "in­tuitiv": "Eingegrenzt wird das ins kommunikative Handeln ein­ge­bau­te Risiko durch jene intuitiven Gewißhei­ten, die sich fraglos von selbst verstehen, weil sie von allen kom­munikativ verfügbaren und mit Ab­sicht mobilisier­baren Gründen entkoppelt sind. ... Indem die kom­­munikative Verfügung über Grün­de und die Mobi­lisierung von Grün­den angehalten und damit Kritik still­gestellt wird, bilden die au­to­ri­tativ ausgezeichneten Normen und Werte für die kommuni­kativ Han­delnden einen Datenkranz, der dem Prob­lematisierungssog ihrer Ver­stän­di­gungs­prozesse entzogen bleibt." [25]

War das klar genug ausgedrückt? Dieses kommunikationsfeindli­che Kauder­welsch soll bedeuten, daß auch die Diskurstheorie ohne "einen Da­tenkranz" verord­neter Normen nicht auskommt, an die man einfach glau­ben muß - "intuitiv" eben. Carl Schmitt hat sie ein­mal als die gemeinsame, nicht diskutierte Grundlage be­zeichnet, auf der die Diskussion zur Wahr­heitsfin­dung beruht. [26] Es muß über alles dis­ku­tiert werden, nur die Dis­kussion selbst darf nicht zur Diskussion ste­hen. Im übrigen sind die intui­tiven Ge­wißhei­ten der Kommu­ni­ka­tions­theo­rie mit dem ver­wandt, was das histori­sche Natur­recht für a priori ver­nünf­­tig hielt. Mit der Natur­rechts­theorie teilt die Theorie der kom­mu­nikativen Vernunft das Di­le­mma, daß un­ter­schied­li­chen Erfah­rungs­­sub­­jekten ganz unter­schied­li­che Grund­ge­wißheiten als a priori ver­nünftig oder als intuitiv gewiß er­schei­nen. Was in con­creto als in­tuitiv gewiß oder a priori ver­­nünf­tig erscheint, ist eine Frage voraus­ge­hen­der wertender Ent­scheidung. Über ihre ideologischen Prämissen läßt auch die Theorie der kom­mu­nikativen Vernunft offenkun­dig keine Dis­­kussion zu, sondern stat­­tet sie mit autori­tativer Gel­tung aus. Es herrscht in der Konse­quenz, wer dar­über entscheidet, welche kon­kre­ten Fragen nicht zur Diskus­sion stehen.

Diese Entscheidungen trifft Habermas, indem er sie als "intuitive Ge­wiß­heiten dem Pro­ble­ma­ti­sie­rungs­sog entzieht." Nur vorder­grün­dig läßt er es "dabei bewen­den, daß es für jeden Diskurs auf­grund des be­sten Argu­ments eine Lösung gibt, oh­ne uns aber Hin­wei­se darauf zu geben, wie diese Lö­sung aussehen kann, das heißt ge­nauer, welche in­dividuelle Meta-Ord­nung die höchste Priorität er­hält." [27] Wer die hin­ter Habermas' nur an­geblich in­haltlich "leeren" Ver­fahrenskriterien stehenden aprio­ri­­schen Wertsetzungen nicht sieht, geht seiner funk­tio­nalistischen Fik­­tion auf den Leim, und genau das soll er ja auch. So wen­det Kaufmann [28] gegen das Dis­kursmodell nur ein: Um seine Un­be­­stimmt­heit und inhaltliche Leere zu be­heben, wäre eine Theorie der Prio­rität erforderlich, die Habermas aber nicht vorlege. Tat­sächlich aber gibt es eine solche Priorität für Ha­­bermas doch: seine letzten meta­­­phy­si­schen Gewißheiten. Diese bestehen - typisch liberal - im Dis­­kurs selbst und einem Naturrecht, das ihn bis in alle Ewig­keit be­schützen soll. Der Diskurs setzt sich selbst als letzten Zweck. Da­rum ist es zweck­­los, die Diskursutopie nach materiellen Wert­in­hal­ten zu be­­fra­gen. Sie schämt sich ihrer, weil sie ihrem Selbstverständnis wi­der­sprechen. Offiziell möchte die Dis­kurs­theorie die reine Lehre der Ver­nunft selbst sein. Das Prin­zip der De­zision aus Furcht vor ihren Kon­se­quen­zen ad in­fi­ni­­tum zu sus­pen­dieren, ist letztes Mo­tiv aller pro­zeduralen Theo­rien und ge­nügt sich selbst als Wert voll­stän­dig. "Religion wird zu einer Frage der diskursiven Überredung, der Diskurs dagegen zur Glaubenssache." [29]

Ha­­bermas' 'intuitive Ge­wiß­heiten' aber ha­ben es in sich: Wer von ei­­ner erschau­baren Wert­ord­nung spricht, von seiner Intuition, der We­­­senser­kenntnis oder der Ideen­schau, läßt da­hinter immer die pla­to­ni­­­­sche Ideen­lehre erkennen, die jedem nor­ma­ti­v­en Naturrechtssystem zu­­­­grunde liegt. [30] Wie subjektiv alles angeblich objek­tive Na­turrecht ist, entlarvt sich kraß, wenn es eingestehen muß: "Diese letz­te recht­li­che Ordnung kann nicht wissen­schaftlich zwingend be­wie­sen wer­den. ... Wohl kann sie durch die redliche Anspannung der Ver­nunft und des Gewissens ... mit verhältnis­mäßig gro­ßer intuitiver Si­cher­heit er­grif­fen werden. ... Das Kriterium ih­rer Wahrheit ist das Gefühl in­ne­rer Gewißheit, das sie vermitteln." [31]- Dieses woh­lige Gefühl dürfen wir den Naturrechtlern gerne lassen. Sie teilen es mit Haber­mas, aber auch mit Stalin oder Goebbels, die sich ihrer Wahrheit mindestens so ge­wiß waren wie alle, die ihr Wertgefühl als Inbe­griff einer objektiven Ord­nung ausgeben.

Der metaphysische Kern der Diskurstheorie begründet den libera­len Glauben: Die pluralistische Konkurrenz verschiedener Normen und Le­bens­entwürfe führe zum Gemeinwohl, nämlich zu einem Ideal­zu­stand, in dem "die privaten Rechtssub­jekte" in den "Genuß gleicher sub­jektiver Freiheiten gelangen", weil sie sich "selbst, in gemeinsamer Ausübung ihrer politischen Autonomie, über ihre berechtigten In­ter­es­sen und Maßstäbe" klargeworden sind und sich "auf die relevanten Hin­sichten" geeinigt ha­ben, "unter denen Gleiches gleich und Unglei­ches ungleich behandelt wer­den soll:" So will Habermas der herr­schafts­losen Gesellschaft freier Rechts­ge­nossen nahe­kommen, in der sich "die einzelnen Adressaten der Rechtsnormen zu­gleich in ihrer Ge­­samtheit als vernünftige Urheber dieser Normen verstehen dür­fen." [32] Die Konzeption ist in ihrem uto­pischen An­satz verwandt mit Rous­seaus Fiktion eines Gesell­schaftsvertrags, der am Anfang der Staatsbildung gestanden ha­ben soll. Der in dieser Idee voraus­ge­setzte freie Kom­munikati­onsprozeß, ohne den sich gerade nicht "je­der Ak­tor" als Mit­ur­heber fühlen darf, setzt die zunächst freie Kon­kur­renz der Gemein­­wohlkonzeptionen vor­aus. Wenn diese aber mehr sein soll als die Freiheit zum Bürgerkrieg, muß sich die Idee der dis­kursiven Einigung über Grundfragen zwangsläufig als alleinige Ge­mein­wohl­konzeption empfeh­len.

Darin sieht Huba mit Recht einen Selbstwiderspruch. Ihn suche die Pluralismus­konzeption mit der These zu verschleiern, sie gebe le­dig­lich Strukturprinzipien vor. Habermas hält diese Fiktion strikt durch, in­dem er die Wertsetzungen, ohne die der aus der Pluralität sich spei­sen­de Diskurs nicht funktio­nieren kann, mit Euphemis­men wie "in­tui­ti­ve Gewißheiten" und täu­schenden Bildern wie dem vom einem "dem Pro­ble­ma­tisierungssog ent­zoge­nen Datenkranz" verbirgt. Andere Plu­ra­­lis­mus­theoretiker sind da of­fen­herziger. Huba hat den Fun­dus solcher Glau­bens­ge­wiß­hei­ten bei an­deren Pluralismustheoretikern gesich­­tet und be­merkt, [33] daß sich der nor­ma­tive "»Minimalkonsens« im­­merhin nicht nur auf »die grund­legenden Men­schen­rechte" [34] erstrecken, son­dern auch auf po­litische De­mo­kratie und So­zial­staat­lich­keit [35], über­haupt auf einen »all­gemein an­er­kann­ten Wertkodex«, der of­­fen­sicht­lich auch das»di­rek­te Wahl­recht, das Prinzip der So­zial­ver­si­­che­rung, ... die Un­ent­gelt­lichkeit des Schulun­terrichts ... u.a.m.« [36] um­fassen soll. - Kurz­um, Für die plu­ra­listi­sche Demokratie ist "die Gel­tung ei­nes Na­tur­rechts un­ent­behr­lich." Dessen Früchte muß sie sich vom Baume der Transzendenz pflücken oder ganz auf sie verzichten.

Hier setzt sich die Kette der Para­doxien der Kommuni­kationstheo­rie fort: Diese Theorie will neutral sein und nur ein Verfahren zur ver­nünf­ti­gen Lö­sung von Dis­sensen zur Verfügung stellen, bedarf für ihr Funktio­nieren aber mate­rieller Nor­men und ist insoweit doch nicht neu­tral. Diese materiellen Normen sind konkret diejeni­gen diskursi­ven Primärtugenden, deren Anwen­dung als Verfahrensbedingung des to­­talen Diskurses uner­läßlich sind: Ha­bermas nennt die "vollkommene Zwang­­lo­sig­keit", die "unbegrenzte Teil­neh­mer­schaft", die Neigung, das eigene Wohl dem Er­gebnis eines Diskur­ses unterzuordnen, die Be­­reit­schaft, dem anderen zuzu­hören und an­dere mehr. - Die zweite un­­aufhebbare Pa­radoxie besteht darin, daß die ganze Theorie nur sich selbst erklären kann und unfähig ist, sich aus ihren eigenen Vor­aus­set­zun­gen sozial zu etablieren: Einerseits will die Dis­kurs­theorie "unter den Bedin­gungen nach­metaphysischen Den­kens" keine normativen In­­halte ver­künden, viel­mehr sollen sich "die Ak­­to­ren selbst" auf nor­ma­­tive Regelungen "verständigen". [37] An­der­er­seits gibt sie keine Ant­wort für den zu erwarten­den Fall, daß sich über­haupt nicht alle Ak­toren auf die Lösung von Norm­konflikten ver­stän­digen wollen. Hier bleibt der Diskurstheorie die Wahl, für alle Zei­ten prin­zi­pien­treue graue Theorie zu bleiben oder sich durch­zu­set­zen, in­dem sie das Dis­kur­sprinzip als Primärnorm ver­kündet, an wel­ches die Aktoren sich halten müssen, und unter dessen Geltung die Aktoren sich dann auf Sekundär­normen frei verständigen dürfen. Und: Warum sol­len sich die "Aktoren" überhaupt einigen, wenn nicht, weil der Dis­kurs­theo­retiker das will? Wer außer ihm legitimiert den Konsens? Nach der Diskursutopie müßte die Antwort lauten: "ein Kon­sens über den Kon­sens. Da dies jedoch zu einem infini­ten Regreß füh­­ren würde," [38] muß Habermas unterstellen, was doch erst zu be­wei­sen wäre: die Kraft seines "besseren Arguments," das eben darum das bessere sein soll, weil es aus dem Diskurs gewonnen wurde.

Die Diskurstheorie ist als Variante des Pluralitätsglaubens stolz auf sich, weil sie ein Rezept gegen das unfriedliche Austragen fundamen­taler Kon­flikte zu haben glaubt. Leider gebe es ja noch eine ganze Reihe zu­rückge­bliebener Staaten, in denen die Macht noch nicht durch liberale "Sozialisationsmuster" gezähmt sei und die Men­schen die entsprechende politische Kultur noch nicht ver­in­nerlicht haben. "Erst im Rahmen einer sol­chen politischen Kultur kön­nen näm­lich die konfliktreichen subkulturel­len Spannungen zwischen kon­kurrierenden Lebensformen, Identitäten und Weltbildern toleriert und gewaltlos ausgetragen werden." [39] Doch woher nimmt die Diskurs­theorie noch die Pluralität der Lebensentwürfe, über die sie kon­flikt­frei diskutieren möchte, wenn sie die konfliktfreie Austra­gungs­möglichkeit von Dis­sen­sen doch gerade erst dadurch herbeigeführt hat, daß alle Bür­ger durch "liberale So­zialisationsmuster" imprägniert wurden, also kon­kurrierende Le­bensformen und Weltbilder gar nicht mehr da sind? Ei­ne konfliktfreie Gesellschaft durch Einimpfen derselben So­zia­li­sa­ti­ons­muster schaffen kann jeder: Im katholischen Staat gibt es auch keine gewalttätige Austragung von Fundamentalkonflikten, denn wenn alle Menschen katho­lisch sind, gibt es keine Fun­da­men­tal­kon­flik­te, ebenso­wenig wie in der Mon­archie, wenn allen Bürger mon­ar­chi­sche "Sozialisationsmuster" anerzogen worden sind usw. Eine libe­rale Theorie, die sich selbst ernst nimmt und die Voraus­setzungen ih­rer faktischen Gel­tung erzwingen will, gerät in den alt­bekannten Sog pädagogischer Zwangsbeglückung durch Erziehungsdiktatur.

Wie zu jeder Utopie gelangt ihr Erfinder durch eine normative Ge­dan­kenkon­struktion: Aus der Fülle der vorgefundenen Phänomene sucht er sich ein ihm beson­ders passendes heraus, um es zum Eck­stein eines Sy­stems zu machen. Bei der Dis­kurs­uto­pie ist dieses Reali­tätssplitterchen die Beobach­tung, daß zuweilen zwei Menschen mit­einander reden und sich auf ein Re­sultat einigen, das ihnen beiden vernünftig erscheint. Dieses Bruchteilchen der Rea­li­tät gibt es tat­säch­­lich, so daß dieser Schritt noch ein empirischer ist. Im zweiten Schritt löst der Utopist es aus seinem sozia­len Zu­sam­men­hang und trans­zendiert es zum alleinigen ethischen Wert. Er hef­tet ihn wie ei­nen Stern an sein Ideenfirmament, himmelt sein strah­len­des Werk an und betet: "Wie schön du bist! Dir will ich künftig dienen!" Aus der Höhe meta­physischer Gefilde läßt der Uto­pist seine fixe Idee dann de­duktiv hernie­der­strahlen, und in seinem Lichte sieht er die Wirk­­lich­keit mit anderen Augen: Alles glänzt in demselben Lichte und den­sel­ben Far­ben wie seine Idee. In ei­nem dritten Schritt muß der Uto­pist denjenigen Elementen der Realität zu Leibe rücken, die sich noch sperren und verwei­gern.

Bei Habermas liest sich das dann so: Seine höchstpersönlichen Vor­lie­ben und Abneigungen erklärt er zur "normsetzenden und prü­fen­den Ver­nunft", die "eine pro­zedurale Gestalt angenommen" hat. [40] Nach­­dem er seine priva­ten Normsetzun­gen so zur Vernunft an sich erklärt und sie als normsetzende Gestalt hypostasiert hat, konfrontiert er sie in ihrer Pracht mit der von ihm ungeliebten Wirklichkeit. Die "Ge­gen­­über­stellung von Ideal und Wirklich­keit" ergibt leider, daß "em­pi­­ri­sche Un­tersuchungen" die "Politik in erster Linie als eine Arena von Macht­prozessen be­greifen." Über dieser häßlichen Arena zündet Ha­ber­mas nun das Licht seines Fixsternes an: "Eine rekon­struktiv ver­fah­rende Soziologie der Demokratie muß des­halb ihre Grundbe­griffe so wählen, daß sie in den politischen Praktiken, wie verzerrt auch im­mer, bereits verkörperte Partikel und Bruchstücke ei­ner »exi­stie­ren­den Ver­nunft« identifizieren kann." Wohl­gemerkt: Im Lichte sei­ner fixen Idee be­trachtet er­scheint nicht etwa die Idee selbst ver­­zerrt, son­dern die Wirklich­keit! Indem Haber­mas die "Grund­be­grif­fe so wählt", daß die Realität in ih­rem Lichte als verzerrt er­scheint, kann er in der Lebenswirklichkeit immer nur diejenigen Phä­no­­mene als un­ver­zerrt und der Idee gehorchend akzeptie­ren, die den Vor­­aus­set­zun­gen folgen, die er selbst willkürlich gesetzt hat. Mit an­de­ren Worten: Die Dis­kurstheorie hat den zweifelhaften Wert einer jeden Theorie, die nur das erklären kann, was sie selbst schon voraus­setzt. Sie erklärt nur sich selbst und ihren Anwendungsbereich: also die­jenigen Le­bens­la­gen, in de­nen im Gespräch Eini­gung erzielt wird, sonst nichts.

Geistesgeschichtlich greift Habermas auf Gedanken des 18. Jahr­hun­derts zurück: Er benutzt nämlich den normativ hoch geladenen Vernunft­begriff der auf­kläreri­schen Hauptströmung. Für deren Ra­tio­­na­lismus war Ver­nunft nämlich nicht ein formales Instrument der Er­kennt­nis ohne mit­ge­brachten Inhalt. Sie wandte sich po­lemisch ge­gen den car­tesianischen Intellektua­lismus und setzte dessen "kal­tem" In­­tellekt ihre wert­hafte Ratio entgegen. [41] Descartes hatte die Mo­ral ret­ten wollen, indem er ein dualisti­sches Weltbild mit Trennung von Dies­seits und Jenseits vertrat. Was sich intellektuell nicht er­schlie­ßen ließ wie die Moral, wurde ins Jen­seits geret­tet. Dagegen wen­­det sich ganz im Stile der rationalistischen Aufklärung Haber­mas: Im Rahmen sei­nes monistischen Weltbildes muß er ohne Jenseits aus­kom­men und ist daher gezwungen, die Geltung seiner Moral aus "dem wahren We­sen" des Diesseits abzuleiten. Er schreibt daher "der mensch­lichen Na­tur" selbst normative Inhalte zu. Diese kristallisieren sich um die op­timistische Behaup­tung, das "wahre" Wesen des Men­schen be­stehe darin, Konflikte vernünftig zu lösen. Wer sich anders ver­­hält, handelt nicht "wahrhaft human" und folg­lich unmoralisch. Die Auf­­­gabe der Ratio kann dann nur noch darin bestehen, dieses a priori ge­­glaubte Men­schen­bild deduktiv zu rationalisieren. [42] Sol­cher auf­klä­­re­ri­scher Ra­tio­na­lis­mus tritt also nicht für eine Erkenntnis durch rei­nes Denken ohne Rücksicht auf die Folgen für Werte und Moral ein; vielmehr liegt ihm ein Bekenntnis zu einer be­stimmten Wertskala zu Grunde. Aus sei­ner "Sicht kann ei­gent­lich niemand 'wahrer' Ra­tio­na­list bzw. 'wahr­haft' ver­nünftig sein, wenn er sich nicht zu den frag­li­chen Wer­ten be­kennt." [43]

Habermas' diskursiver Vernunftbegriff ist also unlösbar an sein Vorur­teil vom Wesen des Menschen gebunden. Die Ver­­nunft wird nur benutzt, um vorgegebene Werte nachträglich zu recht­­fer­ti­gen. Sie darf sich erst nach bestimmten normativen Vor­ga­ben betätigen, um diese im nachhinein zu stüt­zen, und sie darf sich nur im Ge­­häuse des vor­ge­ge­benen Werterah­mens ein­richten. Diesen Rahmen für seine "diskur­siv ge­filterte Normsub­stanz" zieht Habermas um die Ideale "von Selbst­­be­stim­mung und Selbst­verwirklichung." Wie weit die Selbst-Ver­wirklichung im Einzelfall gehen darf, ergibt sich wieder aus Ha­bermas' normativem Vorurteil über das "wahre Wesen" des Men­schen: Weil dieses in der Anwendung von "Vernunft" besteht, liegt die Grenze der erlaubten "Selbstbestimmung" dort, wo die Grenze dis­­kursiver Aus­einandersetzung überschritten wird. Die diskursive Ver­­­nunft ist also nicht inhalts­leer, sondern hat die dienende Auf­gabe, be­­stimm­te nor­ma­tive Wertvorgaben zu transportieren: Die "Kom­­mu­ni­­ka­tionsform dis­kursiver Meinungs- und Willensbil­dung" hat den "nor­­mativen Ge­halt eines Modus der Ausübung politischer Au­­to­­no­mie" zu sichern, der inhaltlich dem ent­spricht, was Habermas sich un­ter "Volks­­sou­ve­rä­nität und Menschenrechten" vorstellt. Die Men­­­schen­rechte sind "der demokrati­schen Selbstbestim­mungspraxis der Bür­ger einge­schrieben" [44], und nur innerhalb ihres Gel­tungs­an­spru­­ches darf die diskur­sive Vernunft walten.

 

Fortsetzendes Kapitel: Erlösung durch Diskurs



[1] Kondylis, Metaphysikkritik, S.49 u.a.; ders.: Die Aufklärung S.185.

[2] Habermas, Faktizität..., Zitate dieses Textabsatzes dort S.87 f., 232, 312.

[3] Habermas, Faktizität..., Zitate dieses Textabsatzes dort S.315, 316, 320, 228 f.

[4] Habermas, Faktizität und Geltung, S.91.

[5] Carl Schmitt, Verfassungslehre, S.90.

[6] Sibylle Tönnies, Der leere Wertehimmel über Karlsruhe, FAZ 22.11.1996.

[7] Kaufmann, Grundprobleme der Rechtsphilosophie, S.227.

[8] Kaufmann, Grundprobleme der Rechtsphilosophie, S.182, 213 f.

[9] Habermas, Faktizität und Geltung, S.162.

[10] Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1956/1964, S.26, zit. nach Haber­mas, Faktizität und Geltung, S.97 Fußnote 44.

[11] So aber Zippelius, Recht und Gerechtigkeit...,  S.68-78.

[12] Habermas, Faktizität und Geltung, S.83.

[13] Maschke, Sankt Jürgen und der triumphierende Drache, S.151.

[14] Maschke, Sankt Jürgen und der triumphierende Drache, S.146 f.

[15] Dreier, Bemerkungen zu 'Faktizität und Geltung', S.11.

[16] Schopenhauer, Über das Fundament der Moral, Werke Bd.7, § 7, S.183.

[17] Dreier, Bemerkungen zu 'Faktizität und Geltung', S.11.

[18] Habermas, Faktizität und Geltung, S.141.

[19] Habermas, Faktizität und Geltung, S.347.

[20] Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage, S.66.

[21] Carl Schmitt, Die Diktatur, S.111.

[22] Pufendorf, De statu Imperii Germanici, S.249.

[23] Marquard, Abschied vom Prinzipiellen, S,32.

[24] Habermas, Faktizität und Geltung, S.379 Fußnote 39.

[25] Habermas, Faktizität und Geltung, S.55.

[26] Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage, S.58.

[27] Kern, Von Habermas, S.84

[28] Kaufmann, Grundprobleme der Rechtsphilosophie, S.215.

[29] Christian Geyer, Dezentriert - Unbedingtes bei Habermas, FAZ 1.7.1998, S.N5.

[30] Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S.227.

[31] Weinkauff, Der Naturrechtsgedanke..., NJW 1960, 1689.

[32] Habermas, Faktizität und Geltung, S.13, 52.

[33] Huba, Zur Verfassung der Theorie des Pluralismus, S.584.

[34] Kremendahl, Pluralismustheorie in Deutschland, S.456.

[35] Fraenkel, Strukturanalyse, S.356 f.

[36] Fraenkel, Strukturanalyse, S.355.

[37] Habermas, Faktizität..., Zitate dieses Textabsatzes dort S.282, 281, 44.

[38] Kaufmann, Grundprobleme der Rechtsphilosophie, S.214.

[39] Habermas, Faktizität und Geltung, S.385.

[40] Habermas, Faktizität und Geltung, S.349.

[41] Kondylis, Die Aufklärung, S.336.

[42] Wie Kondylis, Die Aufklärung, S.342 am Beispiel Rousseaus zeigt.

[43] Kondylis, Die Aufklärung, S.330.

[44] Habermas, Faktizität..., Die Zitate dieses Abschnitts dort S.129, 133, 136.