Der
Liberalismus ist die letzte der drei großen Erlösungsutopien der Neuzeit.
Wie auch der Katholizismus und der Sozialismus möchte er die genuin
menschliche Tragik, die Feindschaft, den Kampf und den Tod aufheben.
Mit dem Sozialismus verbindet ihn gegenüber dem Katholizismus
die Vorstellung des an sich guten Menschen, wobei die spezifische
Güte des liberalen Menschen seine Vernunftbegabung ist. Dieser gilt
es nur zum Durchbruch zu verhelfen. Der Katholizismus hatte das Scheitern
des Menschlichen am Menschen auf die sündhafte Abkehr des Menschen
von Gottes Ordnung zurückgeführt. Er verspricht Erlösung des Menschen
durch seine Rückwendung zu dieser Ordnung. Die göttliche Ordnung
selbst wird, nach treffender Beobachtung Kondylis, als Fixpunkt
ins Jenseits verlegt und so unangreifbar gemacht. Nur unter dem
Walten dieser Ordnung auf Erden kann der Mensch und kann die Gesellschaft
sich auch im Diesseits der Erlösung nähern, woraus sich notfalls
die Diktatur derjenigen Menschen rechtfertigen läßt, die diese
Ordnung auf Erden durchsetzten.
Demgegenüber
setzen der Sozialismus und der Liberalismus als profane Heilsideologien
nicht einen persönlichen Gott oder eine göttliche Ordnung an den
Himmel eines vorgestellten Jenseits, sondern verlegen okkulte Prinzipien
ins Diesseits. Diese erfüllen für sie denselben Zweck wie für den
Christen die Maximen der göttlichen Ordnung. Für den Christen ist
die Seele das wesentliche am Menschen. Sie hat sich dem göttlichen
Geiste entfremdet und im Diesseits verfangen. Gott erlöst den vom
bösen Irdischen gefesselten Sünder, indem er seinen Geist davon
emanzipiert und in die himmlische Freiheit entläßt. Christlich verstanden
ist Freiheit das Freisein des Geistes vom empirischen, körperlichen
Diesseits.
Die
Aufklärung gebar zwei Kinder: Das eine ging den empiristischen
Weg zum P ositivismus und kehrte sich von jeder Metaphysik ab. Das
andere versetzte die alten metaphysischen Illusionen bloß in die
idealisierte Natur eines abstrakten Menschen an sich. Die wirklichen
Menschen erschienen im Lichte solcher fixen Ideen als unvollkommene,
erlösungsbedürftige Kreaturen, als von ihrem eigentlichen Wesen
entfremdet. Ihnen versprechen unterschiedliche Ideologien die
Aufhebung dieser Entfremdung, die Emanzipation vom unvollkommenen
konkreten Menschen und die Schaffung eines neuen. Hier liegt die
gemeinsame Wurzel von Liberalismus und Sozialismus. Bis zu diesem
Punkt bleiben sie im Wesenskern identisch; und an diesem Punkt müssen
Linke und Liberale sich zwangsläufig wieder treffen, wie das Beispiel
Habermas' exemplarisch zeigt: Als Vertreter einer neuen Linken zu
Einfluß gekommen, endete sein geistiger Weg folgerichtig in idealtypisch
liberalen Positionen wie dem Glauben an die Wahrheit durch ewigen
Diskurs. Der innerste Beweggrund ist aber die Sehnsucht nach einem
Ende von "Entfremdung" und "Herrschaft." Die
Entfremdung von einem idealen Sein und die nötige Emanzipation
von der ungeliebten Realität sind der gemeinsame Ausgangspunkt
der großen normativen Entwürfe: des theologischen und wie der modernen
Ersatzreligionen. Auf der anderen Seite der Barrikade dagegen
ist es einsam. Hier streiten immer nur wenige. Sie sind ohne Hilfe
und frei von Göttern und Geistern wie dem der Humanität.
In
einem unüberbrückbaren Gegensatz zueinander stehen Liberalismus
und Sozialismus nach Beobachtung Carl Schmitts aber, weil das liberale
Einzelmenschbewußtsein und das demokratische Gemeinschaftsbewußtsein
miteinander logisch unvereinbar sind. Hintergrund dieser Beobachtung
ist die Doppelnatur des Menschen als Individuum und Gemeinschaftswesen.
Für den reinen Verstand handelt es sich dabei um einen nicht a ufhebbaren,
kontradiktorischen Gegensatz. Eine auf wirkliche Menschen zugeschnittene
politische Theorie muß beide Gesichtspunkte berücksichtigen,
sonst hat entweder der Mensch unter alleiniger Geltung der Rousseau'schen volonté générale keine individuelle Freiheit
mehr, oder unter alleiniger Geltung individueller Autonomie
löst sich die Gemeinschaft auf, welcher das Individuum zur nachhaltigen
Sicherung seiner individuellen Freiheit aber bedarf. Gemeinschaft
und Gesellschaft sind also Gegenpole nur in der Idee. Tatsächlich
bilden alle konkreten Kollektive eine Gemeinschaft und eine Gesellschaft
zugleich: Gemeinschaft sind sie von außen als Ganzheit betrachtet,
und Gesellschaft sind sie bei Betrachtung ihrer Innenlebens.
An
dieser Stelle setzen die Gedanken Habermas an. Er möchte beide miteinander
in Widerspruch stehenden anthropologischen Grundbedürfnisse
des Menschen in einer einheitlichen politischen Theorie zusammenfassen
und die Widersprüchlichkeit aufheben. Das soll dadurch gelingen,
daß er gegenüber den anthropologischen Konstanten der individuellen
Autonomie und der Gemeinschaftsbezogenheit eine abstrakt konstruierte
und als moralisches Postulat verabsolutierte neue Sicht gewinnen
will: den Diskurs. Die beiden unvereinbaren Prinzipien sollen in
ihrer Unvereinbarkeit aufgelöst werden durch den übergeordneten
Gesichtspunkt des kommunikativen Diskurses und schließlich des
diskursiven Konsenses. Ein immerwährendes Gespräch soll die
beiden antagonistischen Prinzipien auflösen oder neutralisieren.
Es soll den Mensch erlösen von der Entfremdung: der Herrschaft des
Menschen über den Menschen. Die Herrschaft menschlicher Befehle
oder Normen über Menschen soll dadurch aufgehoben werden, daß alle
Normen in einem diskursiven Verfahren zustande kommen. Am
Ende steht der Konsens aller oder wenigstens ein fiktiver Konsens:
Es müsse praktisch ausreichen, in einem formalisierten Diskurs
Normen zu entwickeln, welche die Zustimmung aller Vernünftigdenkenden
finden könnten. Dann dürfe sich jedermann gleichzeitig als Normunterworfener
und als Normsetzer fühlen, womit tatsächlich die demokratische
Utopie der Selbstherrschaft des Menschen über sich selbst und die
Versöhnung der antagonistischen Prinzipien autonomer Selbstbestimmung
und Gemeinschaftsbezogenheit erreicht wäre.
Um
eine Utopie handelt es sich, weil die Realität bekanntermaßen der
kommunikativen Theorie nicht folgt und auch noch nie gefolgt ist.
Sie ist eine Ideologie, weil formell der Diskurs und materiell
eine Reihe für das Funktionieren der Diskurstheorie unentbehrlicher
und daher eigenem Eingeständnis nach nicht zu diskutierender
Werte normativ voraus- und absolut gesetzt wird. Ein Erlösungsglaube
ist die Diskursutopie, weil sie die Herrschaft des Menschen über
den Menschen als angebliche Ursache für allerhand Verdruß endgültig
aufheben will. Zugleich werden alle Interessengegensätze
und wird mit ihnen die Freund-Feind-Beziehung als solche im Konsensmodell
aufgehoben. Damit will Habermas seinem Erzschurken Schmitt
und einem Begriff des Politischen den intellektuellen Todesstoß
versetzen, der in gerade diesem Gegensatz das Kriterium des Politischen
sieht. Die beabsichtigte Aufhebung des Politischen als menschliches
Phänomen überhaupt ist Kern der utopischen Idee, auf die Habermas
Theorien von Anbeginn hinauslaufen.
Gegenüber
der auf die Wahrheitsfindung im ewigen Diskurs gestützten Erlösungshoffnung
wird zum Erzteufel, wer das Gegenprinzip der Entscheidung vertritt.
Die definitive Entscheidung und der ewige Diskurs sind antagonistische
Prinzipien. Wer wie Carl Schmitt einen aus religiösem Glauben gespeisten
Wahrheitsbegriff vertritt, für den kann und muß es eine Entscheidung
für oder gegen diese Wahrheit geben. Weil es nur Wahrheit und Falschheit
gibt, ist jede Diskussion darüber von vornherein sinnlos, und das
ewige Gespräch über dem Glauben evidente Wahrheiten ist eine gespenstische
und absurde Veranstaltung. Wer dagegen gerade den Verzicht auf
ein definitives Resultat im immerwährenden Diskurs für die Voraussetzung
hält, so etwas wie eine Wahrheit zu finden, dem wird jede Entscheidung,
die das Gespräch beendet, als entsetzlicher Fehler erscheinen: Er
muß zum Verlust des ewigen Wahrheitsfindungsprozesses führen.
Die
Diskursutopie muß allerdings immer mit dem Widerstand derjenigen
rechnen, die nicht den Diskurs und den Konsens sondern andere Kampfarten
bevorzugen. Diesen Gegnern gegenüber kann sie sich entweder unter
Verzicht auf ihre eigenen Voraussetzungen mit autoritativen Mitteln
durchsetzen und sich insoweit selbst aufgeben, oder sie bleibt eben
Utopie. Die Diskurstheorie kann nur zur allgemeinen Menschheitsharmonie
führen, wenn sie diese mit gar nicht diskursiven Waffen zu erzwingen
sucht und sich so selbst negiert. Solange sie das nicht geschafft
hat, muß sie mit der Existenz ihrer Gegner rechnen und leben. Vorläufig
ist, mit den Worten Donosos, die liberale Schule darum emsig damit
"beschäftigt, alle einander widerstreitenden Theorien und
alle Widersprüche der Welt zu verpflichten, miteinander Frieden
zu schließen"
[1]
und diskursiv zu besänftigen.
Wer
gesellschaftliche Vorgänge auf Selbstregulierung reduzieren möchte
und darauf vertraut, es werde sich die gewünschte Balance der Kräfte
von selbst einstellen, hebt die Politik nicht auf, wen n er das auch
gern möchte. Das könnte er auch nicht, weil Politik immer der Inbegriff
des konkurrierenden Wettstreits konkreter Menschen ist. Den wird
es geben, solange es Menschen gibt. Als Inbegriff der Auseinandersetzung
von Menschen gegeneinander hat die Politik einen jedem Domestizierungsversuch
widerstrebenden Kern. Dieser ist dem Liberalen unheimlich, und er
möchte gern die Politik als Phänomen und mit ihr die
agonale Auseinandersetzung von Menschen an sich abschaffen. So gibt
Habermas offen zu, worauf seine Utopie hinauslaufen soll: Die "Zähmung
naturwüchsiger politischer Gewalt" in einem diskursiven Gesetzgebungsverfahren
darf nicht nur "als Disziplinierung einer in ihrer Substanz
unbeherrschbar kontingenten Willensmacht begriffen werden. Sie
löst vielmehr diese Substanz auf und überführt sie in eine »Herrschaft
der Gesetze«, in der sich allein die politisch autonome Selbstorganisation
der Rechtsgemeinschaft ausdrückt."
[2]
- Da lacht Carl Schmitt und antwortet
mit Hobbes: Ein geschlossenes Legalitätssystem ist eine normativistische
Fiktion, die in auffälligem und unabweisbaren Gegensatz zu der Legitimität
eines wirklich vorhandenen Willens steht.
[3]
Herrschaft
des Rec hts kann daher nie etwas anderes bedeuten als Herrschaft
derjenigen Menschen, die dieses Recht setzen.
[4]
Wenn
Habermas die gesetzgebenden Menschen hinter einer fingierten
Herrschaft der Gesetze verstecken möchte, bewegt er sich argumentativ
in klassisch liberalen Denkgewohnheiten. Diese können nur immer
wieder auf dieselbe überholte Begriffsmetaphysik zurückgreifen:
"Man suchte zu Ehren der Entität, die mit dem Namen 'Gesetz'
geziert wurde, eine Art metaphysischen Kultus zu errichten, der
zur Herrschaft der Juristen geführt hat,"
[5]
war schon Comte aufgefallen. Sein
Zeitgenosse Stirner hatte sich über die Neigung der Liberalen
belustigt, lieber Fiktionen und Begriffen zu gehorchen als wirklichen
Menschen, und er hatte auf seinen Entstehungszusammenhang aus
dem Protestantismus hingewiesen: »Du sollst Gott mehr gehorchen
als den Menschen!« So gehorcht auch der Liberale lieber einer Idee:
"Was will das Bürgertum damit," fragte Stirner, "daß
es gegen jeden persönlichen, d.h. nicht in der 'Sache', der 'Vernunft'
usw. begründeten Befehl eifert? Es kämpft eben nur im Interesse
der 'Sache' gegen die Herrschaft der 'Personen'. Sache des Geistes
ist aber das Vernünftige, Gute, Gesetzliche usw.; das ist die 'gute
Sache'. Das Bürgertum will einen unpersönlichen Herrscher."
[6]
So möchte der Liberale die Existenz
des persönlichen Befehlshabers wie die des persönlichen Feindes
leugnen oder aus der Welt schaffen.
Unsichtbare
Feinde und stets imaginierte Gegner sind alle Realisten. Sie setzen
nämlich existentielle Feindschaft, Tragik und konkrete Entscheidung
als Elemente unserer erlebten Realität voraus oder begrüßen sie
gar. Ihr Wirklichkeitssinn sperrt sich gegen "die utopische
Komponente der westlichen Verheißung.
...
Die heutige westliche Zukunftsvision ist von ihrem universalen
Umfang und ihrem materiellen Gehalt her an Radikalität kaum zu
überbieten. Wer sich ihr verschrieben hat, hat sich einer geschichtsphilosophisch
getragenen Utopie verschrieben."
[7]
Kondylis zufolge besteht ihr Kern
in jenen "universalistisch-menschenrechtlichen Prinzipien,
die allen Individuen als Indivi duen gleiche Autonomie und
Würde zusprechen." Sie können aber nur gedeihen, wo "eine
hochdifferenzierte Arbeitsteilung das Kollektiv atomisiert"
und wo "Massenproduktion und -konsum auf vollen Touren laufen.
Entfallen diese Voraussetzungen, dann müssen die Freiräume zusammenschrumpfen,
in denen sich individuelle Selbstverwirklichung, Toleranz
und Konsens entfalten." Die kommenden Jahrzehnte werden weltweite
Verteilungskämpfe um Land, Bodenschätze, Arbeit und ökologische Lebensgrundlagen
mit sich bringen. Wir sollten uns dafür mit den angemessenen normativen
Waffen eindecken und die philanthropischen Blütenträume der Love-and-Peace-Generation
schnell vergessen.
Der
Diskurs als Waffe
Im
zwischenmenschlichen Ringen gibt es so viele unterschiedliche Waffengattungen,
wie es unterschiedliche menschliche Fähigkeiten gibt. Menschen
haben mit den Kräften roher Gewalt gegeneinander gekämpft und mit
List, mit Waffen des Geldes und der Intrige, mit Waffen der Medien
und der Justiz. Im Vorteil ist, wer die Waffen wählen kann. Die verbindliche
Entscheidung über die Wahl der erlaubten Waffen und das Verbot über
unerlaubte Methoden entscheiden die Auseinandersetzung. Die
Macht behält, wer die Regeln regelt. Das möchte auch die Diskurstheorie.
Alle politischen Beziehungen möchte sie in kommunikative Beziehungen
auflösen, so daß anstelle des Konflikts die Kommunikation tritt:
Es soll ein für beide Seiten "vernünftiges" Ergebnis
gefunden werden. Der Diskurs soll den Feind in einen Diskussionsgegner
verwandeln und damit das Phänomen des Politischen austilgen. - Sofern
ein realer Feind über stärkere Waffen verfügt als der Nur-Diskutant,
ist es tatsächlich vernünftig, ihn lieber in ein Gespräch zu verwickeln
als ihn seine Waffen ausspielen zu lassen. Aus seiner Sicht ist
aber unter Umständen durchaus unvernünftig, auf das Diskussionsangebot
e inzugehen. Eine beide Kontrahenten übergreifende Vernunft,
welche den Diskurs als alleiniges Kampfmittel gebietet, gibt
es nur im Ausnahmefall: wenn beide Gegner ausschließlich über solche
Waffen verfügen, deren beiderseitige Anwendung beide vernichten
würde. So erweist sich der Diskurs wieder einmal als konkrete Strategie,
als Waffe der Diskussionsstarken im menschlichen Konkurrenzkampf.
In
einer archaischen Umwelt roher Gewalt herrschten die Stärksten
und Brutalsten. Sie wären nie auf eine andere Idee gekommen, als
daß der Starke zu Recht herrscht. Zu Zeiten des Odysseus machte
ihnen aber schon die Schläue Konkurrenz. Sie konnten ihre Anwendung
nicht hindern, und so unterlagen sie. Die Allerschlausten der Schlauen
kamen auf die pfiffige Idee, Rohheit und Gewalt für immer aus dem
Arsenal der erlaubten Waffen zu verbannen und durch Schläue zu
ersetzen. Platon forderte einen durch Philosophen regierten
Staat, womit er natürlich sich selbst und seine Zunftbrüder meinte.
Er konnte sich allerdings nicht durchsetzen und landete sogar vorübergehend
auf dem Sklavenmarkt von Syrakus. Dort mußte er die bedrückende
Erfahrung machen, daß seine geistigen Waffen nicht zählten.
Daß
gegen die überlegene Gewalt keine Schläue hilft und keine Moral, mußten
die Bewohner der mit Sparta verbündeten Insel Melos in der Ägäis im
Jahre 415 v.Chr. lernen. Die athenische Flotte landete auf Melos und
wollte die Melier zu einem Bündniswechsel im Peloponnesischen Kriege
erpressen. Diese zogen die Athener in Verhandlungen. Sie beriefen
sich verzweifelt auf die Götter, die Ehre, die Treue, das Recht und
die Moral. Ungerührt antworteten die Athener: Daß alles dieses
auf Seiten der Melier ist, bestreiten wir überhaupt nicht. Doch wißt
ihr ebenso gut wie wir, "daß das Recht im menschlichen Verkehr
nur bei gleichem Kräfteverhältnis zur Geltung kommt, die Stärkeren
aber alles in ihrer Macht Stehende durchsetzen und die Schwachen
sich fügen.
...
Wir glauben nämlich, daß der Gott wahrscheinlich, der Mensch ganz
sicher allezeit nach dem Zwang der Natur überall dort, wo er die
Macht hat, herrscht. Wir haben dieses Gesetz weder aufgestellt noch
als bestehendes zuerst befolgt. Als gegeben haben wir es übernommen
und werden es als ewig gültiges hinterlassen."
[8]
Als sich die Melier trotzdem nicht
fügten, wurden nach heftigem Kampf alle Männer getötet und die Frauen
und Kinder in die Sklaverei verkauft.
Über
solch abgebrühtes Machtdenken mag ein Moralist bitter räsonieren.
Wichtig für uns ist aber, daß die Berufung auf diskursives Verhandeln,
auf Moral und Recht nicht nur in der Antike demjenigen gegen einen
Stärkeren nichts nützt, der seinerseits seine Existenz auf dem Spiel
stehen sieht und sein Handeln gar nicht von vernünftigem Verhandeln
abhängig machen will. Wie wir in jeder beliebigen Nachrichtensendung
an jedem beliebigen Tage nachvollziehen können, pflegen auch
heute noch allerorten in der Welt die Stärkeren den Sieg entschieden
dem Verhandeln vorzuziehen . Diese menschliche Neigung muß eine
politische Theorie in Rechnung stellen, die den Anspruch erhebt,
sich mit der Realität dieser Welt und dieser Menschen zu befassen
und nicht nur mit der Welt, wie wir sie lieber hätten, wie schon Machiavelli
[9]
süffisant bemerkt hatte.
Die
meisten Menschen bedienen sich, bewußt oder unbewußt, derselben uralten
und erfolgreichen Strategie: Sie bauen sich um ihre Fähigkeiten herum
ein Weltbild auf, das ihnen die Anwendung ihrer spezifischen Talente
erlaubt und die Waffen der Konkurrenten verbietet. Der Jurist packt
Streitigkeiten justizförmig an, der Lehrer pädagogisch, der Kaufmann
ökonomisch, und der Pfarrer empfiehlt gehöriges Beten. Sie alle
suchen sich mit einem Wall von Tugenden und Normen zu umgeben, die,
konsequent angewandt, alleinigen Gebrauch ihrer spezifischen Talente
erlauben und die Anwendung aller anderen Waffen verbieten. Die Grundidee
jeder Konfliktstrategie besteht immer darin, die eigenen Waffen
zur Anwendung und die gegnerischen in Verruf zu bringen. Diesen
Verruf leistet die Moral.
Um
Wertschätzungen herum baut der Mensch eine spezifische Tugend- und
Untugendlehre, eine Religion oder Philosophie, die aber bei allem
angewandten Scharfsinn immer nur auf das eine hinausläuft: Rechtfertigung
der eigenen angewandten Stärken und Tabuisierung der gegnerischen.
Die eigenen Fähigkeiten schätzt nämlich jeder hoch ein und fürchtet
die seiner Feinde. So sind Ideen und Ideologien stets Symbole und
Waffen im zwischenmenschlichen Ringen um Einfluß, Anerkennung
und Wohlstand. Sie dürfen nicht zum Nominalwert ihres Selbstverständnisses
genommen werden.
[10]
Dagegen hält die idealistische Geisteshaltung
ihre jeweiligen Ideen für wirklich seiende Gebilde, die an sich
selbst zu messen sind und aus sich selbst eigenberechtigte Wirksamkeit
entfalten. Es sind aber immer Menschen, die Gedanken denken
und zu ihrem Nutzen Ideen erzeugen. Ohne die soziologische Frage,
wem eine Philosophie, Religion oder Ideologie im realen Konkurrenzkampf
wirklicher Menschen gegen wen nützt, kann sie nicht verstanden
werden.
Jede
Ideologie hat einen verborgenen Zweck. Sie hat ihre Nutznießer und
Gegner, die sich für ihre Zwecke einer Gegenideologie bedienen.
Jede Ideologie nennt diejenige gesellschaftliche Herrschaftsordnung
legitim, in der sich ihre Normgeltungsansprüche verkörpern, und
alle abweichenden illegitim. So nennen es die Liberalen legitim,
formulierte Donoso schon 1851 unübertrefflich, "daß die Gesellschaften
sich regieren durch Vernunft, die auf eine allgemeine Weise den
wohlhabenden Klassen anvertraut ist und auf eine besondere Weise
den Philosophen, welche diese unterrichten und leiten."
[11]
Damit kommen die Liberalen den
Neigungen dieser Philosophen entgegen, weil sie ihrem Dünkel
schmeicheln. "Eine Rechtsordnung kann nur legitim sein,"
nickt Habermas zustimmend, "wenn sie moralischen Grundsätzen
nicht widerspricht."
[12]
Gern sind Philosophen bereit, ihr
moralisches Rüstzeug für eine Welt zu liefern, in der, wer Geld
hat, die Welt regiert, weil er alle Waffen erfolgreich tabuisiert
hat, mit denen man dagegen ankämpfen könnte. Erst muß natürlich
der Starke entwaffnet werden, der Kämpfer, indem die Gewalt dem
Staat vorbehalten bleibt. Als nächstes muß der Staat als Gewaltinhaber
gebändigt werden.
Dazu
liefert die systematische Theorie des Liberalismus eine Reihe von
Methoden, um die Staatsgewalt zum Schutz der individuellen Freiheit
und des Privateigentums zu hemmen und zu kontrollieren.
[13]
Ihre Krönung erfährt sie, wenn der
Staat vollständig dem jeweils stärksten privaten Interessendruck
folgt. Damit dieser Interessendruck auch wirklich rein ökonomischen
Prinzipien gehorcht, müssen selbstverständlich auch alle anderen
menschlichen Eigenschaften als soziale Waffen ausgeschaltet werden,
mit denen die reine Geldherrschaft überwunden werden könnte: Der
Entmachtung des erblichen Adels und seiner Vorrechte folgt die
systematische Gleichschaltung aller Talente:
Dem
Klugen nimmt man seinen Vorteil in einem gleichmachenden Bildungssystem,
dem Priester durch Säkularisierung, dem Soldaten durch den Primat
des Zivilen, bis wirklich alle, aber auch alle gleich sind bis auf
einen letzten Punkt: Sie haben unterschiedlich viel Geld. Wo aber
"eine gleichgültige, ohne das Korrelat einer Ungleichheit
gedachte Gleichheit ein Gebiet des menschlichen Lebens tatsächlich
erfaßt, verliert auch dieses Gebiet selbst seine Substanz und tritt
in den Schatten eines anderen Gebietes, auf welchem dann die Ungleichheiten
mit rücksichtsloser Kraft zur Geltung kommen." Weil eine Gleichheit
in allen Lebensbereichen nicht herzustellen ist - das schafften
noch nicht einmal die Schweine in Orwells "Farm der Tiere",
in der sie noch "gleicher waren als die anderen" - läuft
angebliche "Gleichheit" immer darauf hinaus: dem Konkurrenten
die Anwendung seiner Fähigkeiten und Waffen zu nehmen, um die
Bedeutung der eigenen zu erhöhen. Wenn nur noch der Diskurs erlaubt
ist, siegt, wer am besten diskutieren kann. Doch nur sehr dumme
Gänse werden sich mit dem schlauen Fuchs auf einen voraussetzungslosen
Diskurs darüber einlassen, wer auf die Speisekarte gesetzt wird.
Der
Liberalismus möchte die Entscheidung ersetzen durch das ewige Gespräch.
Ehrliche Liberale erkennen das durchaus und geben zu, daß der Liberalismus
keine andere Sinnstiftungen kennt außer dem einzigen: der immerwährenden
Debatte selbst. In deren Retorte wabert - ewig im Flusse - die Wahrheit.
Das bedeutet den endgültigen Verzicht auf die Entscheidung selbst,
also auf ein definitives Resultat.
[14]
Habermas nennt das die "Idee
eines unendlichen Argumentationsprozesses, der einem Limes
zustrebt", gerade als nähere sich eine Kette von Argumenten
wie eine gerade Linie einem idealen Grenzwert
[15]
. Diese Vorstellung erhöht vordergründig
die Bedeutung derjenigen Menschen, die ihre Stärke im Argumentieren
erblicken. Hintergründig führt sie aber zur ideologischen Verankerung
der Herrschaft derer, die Geld haben, über alle anderen, die bloß
noch ihre Meinung sagen dürfen und sonst nichts mehr. Wie jede
Utopie entwickelt die Diskurstheorie eine Sollensidee und reduziert
die komplexe Wirklichkeit auf die Ursachen und Wirkungen, die
sich in die eigene Theorie eingliedern und ihren Denkkategorien
entsprechen. Dabei muß sie zwangsläufig die soziologische Fragestellung
vernachlässigen, wem es konkret nützt, wenn man den Diskurs
zum alleinigen Prinzip erhebt.
Die
Wahnidee, durch immerwährendes Gespräch ließe sich irgendeine Art
von Wahrheit finden oder ließen sich reale Interessengegensätze
aufheben, dient als Beruhigungspille für alle, die als Denker
viel klüger, als Kämpfer viel stärker, als Kavaliere viel edelmütiger,
als Philosophen viel moralischer, als Priester viel gläubiger
oder als Künstler viel schöpferischer wären als diejenigen, die
alle anderen durch einen einfachen Trick von Denkern, Kämpfern,
Kavalieren, Philosophen, Priestern oder Künstlern zu Verbrauchern
herabgewürdigt haben. Sie alle zählen jetzt nichts mehr in ihren
besten Anlagen und gehorchen der Alleinherrschaft des schnödesten
aller Machtmittel: des Geldes. Wo der zahnlose Diskurs zur alleinigen
Moral erhoben wird, die finanzielle Beherrschung anderer aber
erlaubt bleibt, herrschen diejenigen, die finanziell zubeißen können.
Darum ist die Habermas'sche Diskurstheorie die "Rechtsphilosophie
für den moralisierenden Handelsstaat."
[16]
Der
Große Kommunikator
Wenn
das ganze Volk eine einzige große Diskursgesellschaft wird, in der
durch totale Kommunikation aus der Quersumme der Ideen die geltenden
Normen gebildet werden, herrschen in Wahrheit nicht die Kommunikation
oder der Diskurs; es herrscht vielmehr "Der Große Kommunikator",
also letztlich diejenigen konkreten Personen, die am diskurs- und
kommunikationsfähigsten sind. Sie empfehlen wärmstens den Diskurs
als alleinige Methode und artikulieren damit "in sublimierter
Form die Hoffnung der Kleinbürger des Geistes, sie könnten härteren
Kampfformen ausweichen, denen sie nicht gewachsen sind und in denen
ihre Stimme und Existenz bedeutungslos wäre."
[17]
So ist es kein Wunder, wenn die Geltung
gerade dieser Normen der totalen Diskursgesellschaft anempfohlen
wird vom selbsternannten Großmeister der von ihm so genannten
Kommunikationstheorie: Jürgen Habermas. Aber auch er und seinesgleichen
herrschen natürlich nur insoweit, als sie tatsächlich über die Massenkommunikation
verfügen. Wem ein Privatsender gehört, der braucht nicht lesen und
schreiben zu können. Er entscheidet aber, wer was zu Gehör bringen
darf. Wer sich nicht den Optionen der Medienmogule und Fernsehintendanten
unterordnet, für den bleiben die Mikrophone abgeschaltet. Keiner
fragt dann mehr nach seiner Diskursfähigkeit. Diskurstheoretiker
stehen ebenso unter Gesetz und Diktat des Geldes und seiner Inhaber
wie wir wehrlosen Zuschauer, die in mitternächtlichen Talkschauen
mit immerwährenden Diskursen beglückt werden.
Aus
Sicht des Kommunikationstheoretikers besteht der Hintersinn der Diskurstheorie
also, wie bei jeder Theoriebildung, in der Verabsolutierung des
eigenen Machtanspruchs: Allgemein dient philosophische Theoriebildung
denen, die als Theoretiker ihre Machtansprüche vornehmlich durch
das Entwerfen von Theorien erheben und befriedigen
[18]
. Im besonderen die Kommunikationstheorie
hat nicht zum Zweck, aufgrund empirischer Beobachtung gesellschaftliche
Realität zu beschreiben, sondern den Machtanspruch des Kommunikationstheoretikers
zu befriedigen, der innerhalb organisierter Gesellschaften als
Norm oder Wert auftreten muß.
[19]
So bleibt auch ihrem Hauptvertreter
Habermas nach einem Seufzer über das Absterben der Metaphysik
und des Normativismus nichts anderes übrig, als das zum Sollensprinzip
erhobene immerwährende Gespräch selbst normativ zu verklären:
Idealisiert und als behaupteter Inbegriff der Vernunft an sich wird
die Prozedur selbst zur Norm. Einerseits habe man mit dem Normativismus
gebrochen, andererseits bewahre "der Nachfolgebegriff
der kommunikativen Vernunft
...
sich noch idealistische Erbteile, die im veränderten Kontext
einer auf Erklärung verpflichteten Theoriebildung keineswegs
nur von Vorteil sind."
[20]
Die
Methode, einen Geltungsanspruch normativ vorzutragen, bleibt sich
aber gleich, ob man den Geltungsmodus inhaltlich oder prozedural
bestimmt: Wenn die katholische Kirche Kardinäle durch Papstentscheidung
beruft, die Kardinäle einen Papst wählen und dessen Wort für unfehlbar
wahr erklärt wird, hängt auch von einer bestimmten Prozedur ab,
was demnächst für wahr erklärt werden wird. Dieselbe Argumentationstaktik
finden wir beim leninistischen Glauben daran, daß die Partei immer
Recht hat, wenn prozedural richtig durch das Politbüro entschieden
wurde. Der formelle Ausweis zum Besitze der materiellen Wahrheit
war von alters her mit der Anwendung geregelter Prozeduren untrennbar
verbunden. Ohne bindende inhaltliche Vorgabe galten als berufene
Verkünder von Wahrheit Päpste, zum König Gesalbte ebenso wie Vorsitzende
von Politbüros.
An
anderer Stelle muß Habermas die Paradoxie seiner Theorie selbst
eingestehen: "Unter modernen Bedingungen komplexer Gesellschaften,
die in weiten Bereichen ein interessegeleitetes, mithin ein normativ
neutralisiertes Handeln erfordern, entsteht jene paradoxe Situation,
in der das entschränkte kommunikative Handeln die ihm zufallende
Bürde der sozialen Integration wieder abwälzen noch ernstlich tragen
kann. Aus eigenen Ressourcen kann es das in ihm angelegte Dissensrisiko
allein durch Risikosteigerung zähmen, nämlich dadurch, daß Diskurse
auf Dauer gestellt werden."
[21]
Da ist es also, jenes immerwährende
Gespräch als die zentrale neue Normativität. Ihr müssen Werte
funktional zugeordnet werden, ohne deren Geltung dieses immerwährende
Gespräch nicht stattfinden könnte: die freie Meinungsäußerung, die
allgemeine Kommunikationsfähigkeit und andere. Die Schlußfolgerung,
wer interessegeleitet handele, verhalte sich normativ neutral, verkennt
den typischen Vorgang, jedes interessegeleitetes Handeln normativ
zu überhöhen, um es so gerade nicht als interessebedingt und willkürlich
erscheinen zu lassen.
Das
Ausweichen vor einer Entscheidung durch immerwährendes Gespräch
ist aber für sich genommen auch bereits eine Entscheidung: Es stabilisiert
die gegenwärtigen Verhältnisse. Ausgerechnet ein Habermas vernebelt
mit seiner kommunikativen Rechtstheorie deren Urheber und Nutznießer,
dessen Jünger so stolz auf ihren Meister waren. Der junge Habermas
hatte den herrschaftsfreien Diskurs gefordert und immer wieder verschleierte
Herrschaftsstrukturen aufgedeckt. Alt geworden hat ihn der emanzipatorische
Elan offenbar verlassen: Statt auf die Medienpraktiker und ihre
Geldherren hinzuweisen, beeilt Habermas sich heute, seine
kommunikative Vernunft "nicht länger dem einzelnen Aktor
oder einem staatlich-gesellschaftlichen Makrosubjekt"
zuzuschreiben. Dahinter steht offenbar die Idee, nicht einzelne
Menschen oder Verbände seien die Lenker und Nutzni eßer der modernen
Kommunikationsgesellschaft, sondern es herrsche gewissermaßen
die Kommunikation bzw. die Vernunft selbst. So verschleiert der
große Kommunikator nur seine tatsächlicher Normierungsmacht,
um den Diskursunterworfenen die Illusion der Herrschaftsfreiheit
zu schenken.
Die
Bediener der großen Kommunikationsmaschine möchten gern so weit im
Hintergrund bleiben, weil sie gerade aus ihrer Tarnung und der Illusion,
es gebe gar keine Herrschaft mehr, ihren Vorteil ziehen. Der unsichtbare
Machthaber ist unangreifbar. Sie reden daher dem Publikum ein,
wenn alle nur immerfort miteinander reden würden, bis sie sich einig
sind, gebe es überhaupt keine entscheidende, also normsetzende
und damit herrschende Person oder Gruppe mehr. Es herrsche nur noch
die kommunikative Vernunft selbst, und die könne keinem "einzelnen
Aktor" oder "staatlich-gesellschaftlichem Makrosubjekt"
mehr zugeschrieben werden: "Es ist vielmehr das sprachliche Medium,
durch das sich Interaktionen vernetzen und Lebensformen strukturieren,
welches kommunikative Vernunft ermöglicht."
[22]
Wir dürfen uns demzufolge freier
fühlen, wenn wir nicht mehr von Menschen beherrscht werden, sondern
von einem "Medium"! Leider ist die Herrschaft solcher normativistischer
Fiktionen die allergefährlichste: Sie verbirgt ihre Urheber hinter
einem inhaltslosen Wortschwall.
Nur
diejenigen juridischen Gesetze könnten "legitime Geltung beanspruchen,
die in einem ihrerseits rechtlich verfaßten diskursiven Rechtsetzungsprozeß
die Zustimmung aller Rechtsgenossen finden können," weil sie
mit anderen Worten "im Lichte r ational gerechtfertigter und
daher universalistischer Grundsätze konstruiert und fortgebildet
werden können."
[23]
Damit nährt Habermas erneut die schon
von Carl Schmitt widerlegte Fiktion, in einem rechtlich verfaßten
diskursiven Prozeß könnte in jedem Fall so etwas wie ein allen
widerstreitenden Interessen genügendes Ergebnis erzielt werden.
Es gibt eben Fragen und existentielle Interessengegensätze, die
sich nicht in rationaler Entscheidung allein diskursiv lösen lassen.
Typisch liberal ist es Carl Schmitt zufolge, den Begriff des Feindes
von der wirtschaftlichen Seite her zum ökonomischen Konkurrenten
und von der ethischen Seite in einen Diskussionsgegner aufzulösen.
Daß es in der Realität unvereinbare Interessengegensätze bis hin
zur existentiellen Feindschaft geben kann, paßt nicht ins Konzept
- schlimm für die Wirklichkeit. Daß es auch unter Rechtsgenossen
und Bürgern widerstreitende Interessen gibt und daß sogar in jedem
einzelnen das Integritätsinteresse am Ganzen und das unmittelbare
Eigeninteresse widerstreiten,
[24]
hat Habermas vergessen. Dabei war
gerade er "sich einmal völlig bewußt, daß das Parlament 'zu einer
Stätte
wurde
, an der sich weisungsgebundene Parteibeauftragte treffen, um bereits
getroffene Entscheidungen registrieren zu lassen.' Und er war
so frei, hinzuzufügen: 'Ähnliches hatte schon Carl Schmitt während
der Weimarer Republik beobachtet.'"
[25]
Im
wirklichen "rechtlich verfaßten Rechtsetzungsprozeß"
befinden sich aber nicht philosophierende Kommunikatoren miteinander
in immerwährendem Gespräch auf Wahrheitssuche. Tatsächlich treffen
im Parlament als dem Forum, in dem Recht gesetzt wird, verschiedene
fraktionierte Interessen aufeinander. Hier setzen sie sich mit
Mehrheit durch oder schließen, wenn eine Fraktion allein keine Mehrheit
hat, auf Grundlage vorhandener Interessen Kompromisse ab. Was für
das Parlament im Kleinen gilt, gilt für die Gesellschaft im Großen.
Einen gesamtgesellschaftlichen Kommunikationsprozeß zwecks
rationaler Findung allgemeiner Normen gibt es in der Realität
ganz einfach nicht. Vielmehr stoßen Interessen aufeinander, und
aus ihrem Konflikt gehen Resultate hervor. Habermas' Neuauflage
der altbackenen liberalen Harmonielehre nimmt diese Konflikte,
Interessengegensätze und Entscheidungszwänge aus der
Perspektive des konsensstiftenden Diskurses nur noch mit
Argwohn wahr.
[26]
Die
Kommunikationstheorie hat eine idealistische Note, die gespenstisch
anmutet: Sie geht vom Sollensprinzip des totalen Diskurses aus
und will dadurch die herrschaftsfreie Gesellschaft erzielen: Das
heißt die Gesellschaft, bei der die einzelnen Personen möglichst
frei sind, womit wiederum gemeint ist: keinen Normen unterworfen,
an deren Geltung sie nicht als Normgeber mitgewirkt haben. Das Irreale
an dieser Theorie besteht darin, daß sie fingiert, tatsächlich
seien alle Mitglieder einer Gesellschaft diskursfähig, diskurswillig,
und vor allem, bereit, auch alle anderen am Diskurs teilnehmen zu
lassen. Davon kann natürlich in der Wirklichkeit keine Rede sein.
Es fehlt schon praktisch an der für das wirkliche Funktionieren
der Theorie nötigen allgemeinen Diskurs- und Kommunikationsfähigkeit.
Diskurstheoretiker wie der Amerikaner Parsons betonen "im
Zusammenhang mit der Herausbildung einer Zivilgesellschaft als
der Basis für die öffentlichen und inklusiven Meinungs- und Willensbildungsprozesse
freiwillig assoziierter Rechtsgenossen schließlich die Bedeutung
der Egalisierung von Bildungschancen, überhaupt der Entkoppelung
des kulturellen Wissens von Klassenstrukturen."
[27]
Damit
versucht die Diskurshypothese ihr spezifisches Dilemma, also das
Paradoxon des eigenen inneren Widerspruchs zu lösen: Weil sie
ihren eigenen Voraussetzungen nach nur unter der Prämisse wirklich
funktionieren kann, daß alle Diskursteilnehmer kommunikationsfähig
sind, muß sie diese Kommunikationsteilnehmer im Zweifelsfall
durch entsprechende Bildung erst kommunikationsfahig machen. Sie
sieht sich vor die funktionale Aufgabe de r Gesellschaftsveränderung
und Egalisierung gestellt, um ihren Normen das Bett zu bereiten.
Sie hebt sich so mit ihren Voraussetzungen selbst wieder auf: Die
erforderliche Egalisierung zur Herstellung der Kommunikationsfähigkeit
aller Rechtsgenossen steht nämlich im Widerspruch zum Anspruch
normativer Wertfreiheit und zum Pluralismusanspruch, beides
zentrale Postulate zum Beispiel der Habermas'schen Diskurstheorie.
Ihr Paradoxon und unentrinnbares logisches Dilemma wird deutlich
durch die Frage: Wenn schon Wertneutralität: Warum nicht auch Menschen,
die nicht kommunizieren?